120275.fb2 10 SCIENCE FICTION KRIMINALGESCHICHTEN - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 3

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2. Tod einer Blondine

Falls Sie glauben, Zyankali sei schwer zu beschaffen, irren Sie sich gewaltig. Ich hielt jedenfalls ein Pfundglas davon in der Hand. Braunes Glas und ein deutlich geschriebenes Etikett mit dem Wort >Zyankali< über einem Totenkopf und gekreuzten Knochen.

Der Mann, dem das Glas gehörte, polierte seine Brillengläser und zwinkerte mich an. Er war außerordentlicher Professor an der Carmody Universität und hieß Helmut Rodney. Er war mittelgroß, dicklich, hatte ein weiches Kinn, Hängebacken, Stirnglatze und schien sich nichts daraus zu machen, daß ich genügend Gift in der Hand hielt, um ein ganzes Regiment zu vergiften.

»Soll das heißen, daß dieses Glas einfach auf Ihrem Regal steht, Professor?« fragte ich.

Er nickte geduldig, als habe er es mit einem Studenten im ersten Semester zu tun. »Ja, es steht immer dort, Inspektor. Die Chemikalien sind alphabetisch geordnet.«

Ich sah mich in dem engen Raum um. Auf den Regalen standen Tausende von ähnlich braunen und weißen Gläsern. »Aber das hier ist Gift«, sagte ich.

»Viele der Chemikalien sind giftig«, antwortete Rodney gelassen. »Führen Sie irgendwie Buch über die Bestände?«

»Nur ganz allgemein.« Er rieb sich das Kinn. »Ich weiß, daß ich dieses Glas habe.«

»Aber nehmen wir einmal an, jemand käme herein und holte sich einen Teelöffel von diesem Zeug - würde Ihnen das auffallen?« Professor Rodney schüttelte den Kopf. »Selbstverständlich nicht.« »Schön, wer hat also hier Zutritt? Ist das Labor normalerweise abgeschlossen? «

»Ich schließe es abends ab, wenn ich es nicht vergesse«, antwortete er. »Tagsüber ist es nicht abgesperrt, und ich bin nicht immer hier.« »Mit anderen Worten, Professor, könnte jeder von der Straße hereinkommen und sich bedienen, ohne daß Sie etwas davon merken.« »Hmmm, ganz recht.«

»Sagen Sie mir, Professor, warum bewahren Sie überhaupt soviel Zyanid im Labor auf? Benützen Sie das Zeug als Rattengift?«

»Nein, nein!« Er schien diese Vorstellung abstoßend zu finden. »Zyanid ist ein wertvoller Katalysator bei organischen Reaktionen und wird...« »Danke, das genügt«, unterbrach ich ihn. »In welchen anderen Labors ist Zyankali auf ähnliche Weise zugänglich?«

»In den meisten«, erklärte er mir. »Sogar an den Arbeitsplätzen der Studenten. Schließlich handelt es sich um eine gewöhnliche Chemikalie, die oft bei Synthesen verwendet wird.«

»Heute ist sie aber nicht wie gewöhnlich verwendet worden«, erinnerte ich ihn.

Rodney seufzte leise. »Nein, das kann man nicht sagen.« Er fügte nachdenklich hinzu: »Die beiden waren als >Büchereizwillinge< bekannt.« Ich nickte. Dieser Spitzname lag nahe, denn die beiden Mädchen in der Bücherei sahen sich sehr ähnlich.

Selbstverständlich nur aus einiger Entfernung. Eine hatte ein rundes Gesicht mit kleinem Kinn; die andere hatte ein eckiges Kinn und eine lange Nase. Aber beide trugen ihr honigblondes Haar in der Mitte gescheitelt und locker auf die Schultern herabfallend. Sah man ihnen ins Gesicht, blickte man in beiden Fällen in große dunkelblaue Augen. Die Mädchen waren gleichgroß, schlank und sportlich. An diesem Tag waren sie sogar ähnlich gekleidet. Beide trugen Blau.

Aber jetzt waren sie nicht mehr zu verwechseln. Das Mädchen mit dem runden Gesicht und dem kleinen Kinn hatte eine Dosis Zyankali geschluckt und war tot.

Diese Ähnlichkeit fiel mir sofort auf, als ich mit meinem Partner Ed Hathaway eintraf. Das tote Mädchen war mit offenen Augen am Tisch zusammengesackt; der rechte Arm hing schlaff nach unten und schien auf die zerbrochene Teetasse zu deuten, die dort lag. Die Tote hieß Louella-Marie Busch. Das zweite Mädchen, das ihr so ähnlich sah, war kreidebleich, zitterte am ganzen Leib und starrte blicklos vor sich hin. Es hieß Susan Morey.

»Verwandte?« fragte ich sofort.

Die beiden waren nicht einmal Cousinen zweiten Grades.

Ich sah mich in der Bücherei um. Auf den Regalen standen Tausende von Fachbüchern, gebundene Jahrgänge verschiedener Zeitschriften, Nachschlagewerke und Monographien. Hinter dem Ausgabeschalter schloß sich ein kleiner Raum an, der ebenfalls voller Bücher und Zeitschriften stand. Zwischen den Regalen der Bibliothek waren lange Tische aufgestellt, an denen etwa hundert Studenten Platz hatten. Zum Glück waren die Tische um diese Zeit fast leer.

Susan Morey machte ihre Aussage mit schleppender Stimme.

Mrs. Nettier, die verantwortliche Bibliothekarin, hatte sich den Nachmittag freigenommen und die beiden alleingelassen. Das war offenbar nicht außergewöhnlich.

Gegen zwei Uhr war Louella-Marie in den kleinen Raum hinter der Theke gegangen. Dort standen nicht nur Bücher, die erst katalogisiert oder gebunden werden mußten, sondern auch eine Heizplatte, ein Wasserkessel und Teegeschirr.

Auch der Tee um zwei Uhr war offensichtlich normal. »Hat Louella-Marie jeden Tag den Tee gekocht?« wollte ich wissen. Susan sah mit blauen Augen zu mir auf. »Manchmal hat Mrs. Nettier den Tee gekocht, aber meistens war es Louella-Marie.«

Susan wurde benachrichtigt, als der Tee fertig war, und die beiden Mädchen zogen sich in den kleinen Raum zurück.

»Beide?« fragte ich erstaunt. »Und wer hat sich um die Bibliothek gekümmert?«

Susan zuckte mit den Schultern und antwortete: »Die Tür stand offen. Wir hätten hinausgehen können, wenn jemand an die Theke gekommen wäre.« »Ist jemand gekommen?«

»Nein. Während der Semesterferien ist nie viel los.«

Der Rest war schnell erzählt. Die Teebeutel waren bereits aus den Tassen genommen, die schon Zucker enthielten.

»Nehmen Sie beide Zucker?« fragte ich.

»Ja«, antwortete Susan langsam. »Aber in meiner Tasse war keiner.« »Nein?«

»Sie hat ihn sonst nie vergessen. Sie weiß, daß ich Zucker nehme. Nach dem ersten Schluck wollte ich nach der Zuckerdose greifen, aber dann...« Dann stieß Louella-Marie einen erstickten Schrei aus, ließ die Tasse fallen und war eine Minute später tot.

Daraufhin stieß Susan einen lauteren Schrei aus, und wir wurden verständigt.

Die Routinearbeit war bald getan. Fotografien und Fingerabdrücke wurden angefertigt. Die Namen und Adressen der im Gebäude anwesenden Männer und Frauen wurden notiert. Als Todesursache war Zyanidvergiftung anzunehmen, und die Zuckerdose enthielt offenbar das Gift. Sie wurde als Beweismittel sichergestellt.

Als der Mord geschah, hielten sich sechs Männer in der Bibliothek auf. Fünf waren Studenten, die erschrocken, verwirrt oder aufgeregt waren. Der sechste Mann war etwa vierzig, sprach mit deutschem Akzent und hatte nichts mit der Universität zu tun. Er war erschrocken, verwirrt und aufgeregt.

Hathaway führte sie hinaus. Sie sollten im Aufenthaltsraum warten, bis wir Zeit für sie hatten.

Einer der Studenten ging an mir vorbei, ohne mich anzusehen. Susan eilte ihm entgegen und nahm seine Hände. »Pete, Pete«, sagte sie.

Pete hatte die Statur eines Footballspielers, obwohl er seinem Profil nach nur als Zuschauer an den Spielen teilnahm. Für meinen Geschmack sah er zu gut aus, aber Susan schien er so zu gefallen. Jetzt sah er über die Schulter, riß die Augen auf und wandte sich ab. Seine Stimme klang heiser und erstickt. »Wie ist Lolly nur...«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht«, flüsterte Susan.

Pete wandte sich ab. Er hatte Susan nicht ein einziges Mal in die Augen gesehen. Nun ließ er sich von Hathaway hinausführen.

»Freund?« wollte ich wissen.

Susan riß sich von Pete los. »Was?«

»Ist er Ihr Freund?«

Sie senkte den Kopf. »Wir gehen manchmal miteinander aus.« »Wie ernst?«

»Ziemlich ernst«, flüsterte sie.

»Kennt er das andere Mädchen auch? Er hat es Lolly genannt.«

Susan zuckte mit den Schultern. »Nun...«

»Ist er mit Louella-Marie ausgegangen?«

»Manchmal.«

»Ernst?«

»Woher soll ich das wissen?« antwortete sie. »War sie eifersüchtig auf Sie?« bohrte ich weiter. »Was meinen Sie damit?«

»Irgend jemand hat Gift in den Zucker gemischt und die Mischung nur in eine Tasse getan. Nehmen wir einmal an, Louella-Marie sei eifersüchtig genug gewesen, um Sie ermorden zu wollen, damit Freund Pete nicht mehr mit Ihnen ausgehen konnte. Und nehmen wir an, sie habe aus Versehen selbst die Tasse mit dem Gift erwischt.«

»Unsinn«, widersprach Susan. »Das hätte Louella-Marie nie getan.« Aber ihre Lippen waren schmal, ihre Augen blitzten, und der Haß in ihrer Stimme war unüberhörbar.

Professor Rodney kam in die Bibliothek. Er war der erste Mann, der mir in diesem Gebäude begegnet war, und ich fand ihn jetzt keineswegs sympathischer.

Er hatte mir mitgeteilt, daß er sich als Angehöriger des Lehrkörpers für die weitere Entwicklung verantwortlich fühle. »Dafür bin ich da, Professor«, sagte ich.

»Sie führen die Untersuchung, Inspektor«, antwortete er, »aber ich bin dem Dekan verantwortlich und werde meine Pflicht tun.«

Und obwohl er nicht wie ein Aristokrat, sondern eher wie ein Krämer aussah, wenn Sie wissen, was ich meine, brachte er es fertig, mich zu betrachten, als sei ich ein interessantes Objekt unter seinem Mikroskop. Nun sagte er: »Mrs. Nettier ist in meinem Büro. Sie hat anscheinend die Nachrichten gehört und ist sofort gekommen. Sie ist sehr erregt. Sprechen Sie gleich mit ihr?« Das klang wie ein Befehl. »Bringen Sie sie herein, Professor.« Das klang wie eine Erlaubnis. Mrs. Nettier benahm sich wie eine durchschnittliche ältere Dame in dieser Situation. Sie wußte nicht, ob sie der ganze Fall erschreckte oder faszinierte. Nachdem sie einen Blick auf das zerbrochene Teegeschirr geworfen hatte, gewann das Entsetzen Oberhand. Die Leiche war natürlich bereits abtransportiert worden.

Sie ließ sich in einen Stuhl fallen und begann zu weinen. »Ich habe hier selbst Tee getrunken«, klagte sie. »Es hätte auch mir...«

»Wann haben Sie hier Tee getrunken, Mrs. Nettier?« fragte ich so ruhig wie möglich.

Sie zupfte an ihrem Taschentuch. »Nun, kurz nach eins, glaube ich. Richtig, ich habe Professor Rodney eine Tasse angeboten. Das war kurz nach eins, nicht wahr, Professor Rodney?«

Rodney nickte ungeduldig. »Ich war nach dem Mittagessen in der Bibliothek, um etwas nachzuschlagen«, sagte er zu mir. »Mrs. Nettier hat mir eine Tasse angeboten, aber ich war zu beschäftigt, um anzunehmen oder auf die Zeit zu achten.«

Ich wandte mich wieder an die alte Dame. »Nehmen Sie Zucker, Mrs. Nettier?«

»Ja, Sir.«

»Haben Sie Zucker genommen?« Sie nickte und begann wieder zu weinen.

Ich wartete eine Minute. »Ist Ihnen an der Zuckerdose etwas aufgefallen?« fragte ich dann.

Sie war... sie war...« Mrs. Nettier hob überrascht den Kopf. »Sie war leer, und ich habe sie selbst gefüllt. Ich erinnere mich noch daran, weil ich daran gedacht habe, daß die Mädchen nie Zucker nachfüllen, obwohl sie doch...«

Der Gedanke an die Mädchen gab ihr den Rest. Sie heulte los, und ich gab Hathaway ein Zeichen, er solle sie hinausführen.

Zwischen ein und zwei Uhr nachmittags hatte offenbar jemand die Zuckerdose geleert und drei Teelöffel vergifteten Zucker hineingefüllt. Mrs. Nettiers Erscheinen bewirkte, daß Susan sich auf ihre Pflichten als Bibliothekarin besann, denn als Hathaway zurückkam und sich eine Zigarre anzünden wollte, sagte sie: »Hier ist das Rauchen verboten, Sir.« Hathaway war so verblüfft, daß er die Zigarre wieder einsteckte. Das Mädchen ging zu einem der langen Tische und griff nach dem Buch, das dort aufgeschlagen lag.

Hathaway kam ihm zuvor. »Was wollen Sie damit, Miß?« fragte er.

Susan warf ihm einen verblüfften Blick zu. »Ich will es an seinen Platz zurückstellen.«

»Warum?« Er starrte die aufgeschlagene Seite an. Ich sah ihm über die Schulter.

Es war ein deutscher Text. Ich kann nicht Deutsch, aber ich erkenne die Sprache, wenn ich sie sehe. Zwischen kleingedruckten Wörtern standen geometrische Figuren mit vielen Buchstaben und Zahlen. Ich erkannte chemische Formeln.

Ich legte einen Finger in das Buch, klappte es zu und las den Titel auf dem Einband: Beilstein - Organische Chemie - Band VI - Systemnummer 499608. Die Seite 233 war aufgeschlagen gewesen. Die ersten Worte dieser Seite hießen: 4'-Chlor-4-brom-2-nitrodiphenyläther-Ci2H7O3NCIBr. Hathaway machte eifrig Notizen.

Inzwischen war auch Professor Rodney heran. Er zeigte auf das Buch und erklärte uns, als stehe er auf seinem Katheder: »Das ist ein Band Beilstein, eine Art Lexikon der organischen Verbindungen, das Hunderttausende enthält.«

»In diesem Buch?« fragte Hathaway.

»Dieser Band ist nur einer von über sechzig«, antwortete der Professor. »Das gewaltige deutsche Werk ist leider wegen der Fortschritte der organischen Chemie und der Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs veraltet. Trotzdem gibt es im Englischen nichts Vergleichbares, und wer auf diesem Gebiet arbeitet, ist auf den Beilstein angewiesen, um...« Ich weiß nicht, wie lange sein Vortrag noch gedauert hätte, aber ich hatte keine Lust, mit ihm über Bücher zu diskutieren, solange der Fall nicht gelöst war. Deshalb sagte ich plötzlich: »Professor, ich möchte Sie in Ihrem Labor sprechen.«

Ich hatte mir eingebildet, alle gefährlichen Chemikalien würden in einem Giftschrank aufbewahrt und nur gegen Unterschrift ausgehändigt. Dann wäre jeder verdächtig gewesen, der sich das Gift auf andere Weise verschaffen konnte.

Aber jetzt hielt ich selbst ein Pfund in der Hand und erfuhr, daß jedermann sich hier ohne Erlaubnis bedienen konnte.

Und Rodney sagte nachdenklich: »Die beiden waren als >Büchereizwillinge bekannt.«

Ich nickte. »Und?«

»Das zeigt nur, wie schlecht die meisten Menschen beobachten. Die Mädchen hatten blondes Haar und blaue Augen, aber sonst nichts gemeinsam. Was ist in der Bibliothek passiert, Inspektor?« Ich erzählte ihm Susans Story.

Er schüttelte den Kopf. »Und Sie halten die Tote für die Mörderin?« »Sie nicht?« fragte ich sofort.

»Nein«, sagte er. »Sie wäre nicht dazu imstande gewesen. Außerdem hatte sie kein Motiv.« Oder vielleicht doch? »Der Student heißt Pete«, warf ich ein.

»Peter van Norden«, sagte Rodney sofort. »Nicht dumm, aber menschlich wertlos.«

»Mädchen sehen diese Dinge anders, Professor. Beide waren offenbar an ihm interessiert. Vielleicht hat Susan mehr Erfolg gehabt, so daß Lolly zu anderen Mitteln greifen mußte.«

»Und dann soll sie die falsche Tasse genommen haben?«

»Vielleicht war sie der nervlichen Belastung nicht gewachsen«, meinte ich.

»Das war kein Zufall«, widersprach Rodney. »Die Mörderin ist kein Risiko eingegangen. Da nur eine Tasse Zucker enthielt, hätte der Geschmack sie jedenfalls rechtzeitig gewarnt. Sie hätte nicht auszutrinken brauchen.«

»Beide Mädchen haben normalerweise Zucker genommen«, stellte ich fest.

»Auch die Tote war daran gewöhnt. In der Aufregung hat der süße Geschmack sie nicht gewarnt.«

»Das kann ich nicht glauben.«

»Gibt es eine andere Möglichkeit, Professor? Der Zucker ist vergiftet worden, nachdem Mrs. Nettier ihren Tee getrunken hatte. Hat sie ihn vergiftet?«

Er hob den Kopf. »Warum?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hatte sie Angst, die Mädchen hätten es auf ihren Job abgesehen.«

»Unsinn! Sie wird im Herbst dieses Jahres pensioniert.«

»Sie waren auch dort, Professor«, sagte ich.

Er ließ sich nicht verblüffen. »Motiv?« fragte er nur.

»Sie sind nicht zu alt, um sich für Louella-Marie zu interessieren«, stellte ich fest. »Nehmen wir einmal an, sie hätte Ihnen gedroht, sich beim Dekan über Sie zu beschweren.«

Er schüttelte den Kopf. »Wie hätte ich dafür sorgen können, daß das richtige Mädchen vergiftet wird? Warum wäre eine Tasse ohne Zucker geblieben? Ich hätte den Zucker vergiften können, aber ich habe den Tee nicht zubereitet.«

Allmählich gefiel mir dieser Professor Rodney. Er hatte sich nicht aufgeregt, sondern hatte einfach die schwachen Punkte bloßgelegt.

»Was ist Ihrer Meinung nach geschehen?« erkundigte ich mich.

»Ich glaube, daß die Überlebende die Wahrheit verdreht hat. Nehmen wir einmal an, Louella-Marie habe mehr Erfolg bei dem jungen Mann gehabt.

Nehmen wir weiterhin an, Susan habe ausnahmsweise Tee gekocht, während Louella-Marie an der Theke blieb. In diesem Fall hätte Susan natürlich die richtige Tasse bekommen und wäre am Leben geblieben. Dann wäre alles logisch, anstatt lächerlich unlogisch zu sein.«

Ich war ganz seiner Meinung. »Aber das müssen wir beweisen«, sagte ich.

»Wie?«

»Stellen Sie fest, welches Mädchen um zwei Uhr an der Theke war«, schlug der Professor vor.

Er las offenbar Kriminalromane und hielt viel von Zeugen. Ich war skeptisch, stand aber trotzdem auf und nickte. »Okay, wird gemacht, Professor.«

Ed Hathaway wartete auf mich. Er saß allein in der Bibliothek. Er sagte: »Ich hab's.«

»Was hast du?« fragte ich. »Ich weiß, wie alles passiert ist.« »Oh?«

Er achtete nicht auf Rodney. »Das Gift muß hereingeschmuggelt worden sein. Von wem? Von dem Kerl mit dem komischen Akzent... wie heißt er noch gleich?«

Ich wußte, wen er meinte, deshalb warf ich ein: »Schon gut, der Name ist unwichtig. Was bedeutet schon ein Name? Weiter, Ed.«

»Okay, der Kerl kommt also herein und hat das Gift in einem kleinen Umschlag bei sich. Diesen Umschlag klebt er in das deutsche Buch, das organische Dingsda mit den vielen Bänden...«

Der Professor und ich nickten.

»Er ist deutscher Abstammung, und das Buch ist deutsch gedruckt«, fuhr Hathaway fort. »Wahrscheinlich kennt er es sogar. Er hat den Umschlag auf eine bestimmte Seite geklebt, und das Mädchen hat sich das Gift dort abgeholt, um es in den Tee zu tun. In der Aufregung hat sie nur vergessen, das Buch wieder zu schließen...«

»Hör zu, Ed«, unterbrach ich ihn. »Warum soll der kleine Kerl das getan haben? Warum ist er überhaupt hier?« »Er ist angeblich Kürschner und wollte sich hier über Mottenschutzmittel und Insektizide informieren. Na, ist das vielleicht kein Blödsinn? Schon mal größeren Blödsinn gehört?«

»Klar«, antwortete ich, »deine Theorie. Hör zu, kein Mensch versteckt einen Umschlag mit Gift in einem Buch. Man braucht keine bestimmte Seite zu vereinbaren, wenn sich das Buch an dieser Stelle von selbst öffnet. Das ist ein verdammt unsicheres Versteck.« Hathaway runzelte die Stirn.

»Außerdem braucht kein Mensch Gift hereinzuschmuggeln«, erklärte ich ihm. »Hier liegt das Zeug tonnenweise herum. Jeder kann sich selbst bedienen.«

»Was?«

»Der Professor kann es bestätigen.«

Hathaway nahm kopfschüttelnd einen Umschlag aus der Tasche. »Was tue ich dann damit?« »Was ist das?«

Er zeigte mir eine engbedruckte Buchseite. »Das ist die Seite aus dem deutschen Buch, das...«

Professor Rodney lief rot an. »Sie haben eine Seite aus dem Beilstein gerissen?« kreischte er plötzlich los.

»Ich dachte, wir würden Klebstoff oder Giftspuren daran finden«, sagte Hathaway.

»Geben Sie her!« brüllte Rodney. »Sie Tölpel!« Er strich die Seite glatt und überzeugte sich, daß kein Buchstabe fehlte. »Vandale!« zischte er dabei, und ich bin überzeugt davon, daß er Hathaway am liebsten an die Gurgel gesprungen wäre.

Professor Rodney war von Susans Schuld überzeugt. Ich war es auch. Aber die Geschworenen wollten Beweise sehen, die wir beibringen mußten. Da ich kein rechtes Vertrauen zu Zeugenaussagen habe, ließ ich die Verdächtige hereinholen, damit sie die Aussagen der anderen verfolgen konnte. Vielleicht würden ihre Nerven unter dieser Belastung nachgeben... Ich brauchte nur einen Blick auf Susan Moreys Gesicht zu werfen, um zu wissen, daß ihre Nerven aus Stahl waren.

Der kleine Deutsche war zuerst an der Reihe. Er war grün vor Angst. »Ich habe nichts getan«, beteuerte er aufgeregt. »Bitte. Ich habe viel Arbeit. Wie lange muß ich bleiben?«

Hathaway hatte Namen und Adresse bereits aufgeschrieben, deshalb konnte ich gleich zur Sache kommen. »Sie haben die Bibliothek kurz vor zwei Uhr betreten, stimmt's?«

»Ja. Ich wollte etwas über Mottenschutzmittel nachschlagen und...« »Schon gut. Sie sind gleich an die Theke gegangen. Richtig?« »Ja. Ich habe ihr meinen Namen gesagt, wer ich war, was ich wollte...« »Wem haben Sie das gesagt?« Das war die entscheidende Frage. Der kleine Mann starrte mich an. »Ihr«, antwortete er dann verständnislos. »Ich habe es ihr gesagt. Der jungen Dame dort drüben.« »Ganz recht«, stimmte Susan tonlos zu. »Er hat mit mir gesprochen.« Professor Rodney, der sie aufmerksam beobachtet hatte, runzelte die Stirn. »Wissen Sie bestimmt, daß es dieses Mädchen war?« fragte ich den Kürschner.

»Ja«, erwiderte er sofort. »Ich habe ihr meinen Namen und meinen Beruf gesagt, und sie hat gelächelt. Dann hat sie mir beschrieben, wo Bücher über Insektizide stehen. Als ich fortgehen wollte, kam ein zweites Mädchen aus dem kleinen Raum.«

»Ausgezeichnet!« sagte ich. »Hier ist eine Fotografie dieses zweiten Mädchens. Mit welchem Mädchen haben Sie gesprochen? Welches Mädchen ist aus dem Raum hinter der Theke gekommen?« Der Kürschner starrte abwechselnd Susan, die Fotografie und mich an. »Die Mädchen sehen gleich aus«, meinte er schließlich.

Ich hätte am liebsten geflucht. Susan lächelte fast unmerklich und wurde sofort wieder ernst. Sie mußte mit dieser Ähnlichkeit gerechnet haben. Die wenigen Besucher der Bibliothek würden sich nicht daran erinnern können, wen sie an der Theke gesehen hatten.

Ich wußte jetzt, daß sie den Mord begangen hatte, aber das half uns nicht weiter.

»Schön, welches Mädchen hat mit Ihnen gesprochen?« fragte ich den Kürschner.

»Die junge Dame hier«, sagte er unsicher lächelnd. »Ganz recht«, warf Susan gelassen ein. »Können Sie das beschwören?« fragte ich ihn. »Nein«, antwortete er sofort.

»Hmmm. Na schön, meinetwegen können Sie nach Hause gehen.«

Professor Rodney zupfte mich am Ärmel. »Warum hat sie gelächelt, als er den Zweck seines Besuchs nannte?« flüsterte er.

»Warum nicht?« antwortete ich leise. Dann fragte ich doch danach.

Susan zog die Augenbrauen hoch. »Ich war einfach freundlich. Ist das verboten?«

Ich hätte schwören können, daß sie sich glänzend amüsierte. Der Professor schüttelte leicht den Kopf. »Sie gehört nicht zu den Mädchen, die Fremden gegenüber freundlich sind«, flüsterte er mir zu. »Louella-Marie muß an der Theke gewesen sein.«

Ich zuckte mit den Schultern. Was würden die Geschworenen zu solchen Beweisen sagen?

Vier der Studenten waren offenbar unschuldig und unbeteiligt. Sie hatten zu arbeiten; sie wußten, wo die Bücher standen, die sie brauchten; sie waren nicht erst an der Theke stehengeblieben. Ihren Aussagen nach hatten sie nichts gesehen oder gehört, bis jener Schreckensschrei sie auffahren ließ. Der fünfte Student war Peter van Norden. Er betrachtete angestrengt seinen rechten Daumen, dessen Nagel abgebissen war. Er sah nicht zu Susan hinüber, als er hereingebracht wurde.

Ich ließ ihn einige Minuten lang warten. Dann erkundigte ich mich: »Was hatten Sie um diese Zeit in der Bibliothek zu suchen? Jetzt sind doch Semesterferien, nicht wahr?«

»Meine Prüfung beginnt nächsten Monat«, murmelte er. »Ich arbeite dafür. Wenn ich sie bestehe, kann ich promovieren, wissen Sie.« »Ich nehme an, daß Sie an die Theke gegangen sind, als Sie hereinkamen«, sagte ich.

Er murmelte irgend etwas. »Was?« fragte ich.

»Nein«, antwortete er leise. »Nein, ich glaube nicht, daß ich an die Theke gegangen bin.«

»Sie glauben es nicht?«

»Ich bin nicht an die Theke gegangen.«

»Ist das nicht seltsam?« fragte ich. »Sie sind doch mit Susan und Louella-Marie gut befreundet. Wollten Sie einfach an ihnen vorbeigehen?« »Ich hatte Sorgen. Ich war mit der Prüfung beschäftigt. Ich mußte arbeiten. Ich... «

»Sie hatten also nicht einmal Zeit für ein freundliches Wort«, stellte ich fest und sah zu Susan hinüber. Sie schien blasser geworden zu sein, aber vielleicht täuschte ich mich auch.

»Waren Sie nicht mit einem der beiden Mädchen praktisch verlobt?« wollte ich wissen.

Er hob den Kopf. »Nein! Ich kann mich erst verloben, wenn ich fertig bin.

Wer hat Ihnen das erzählt?«

»Ich habe >praktisch verlobt< gesagt.«

»Nein! Ich bin ein paarmal ausgegangen. Aber was heißt das schon?« »Kommen Sie, Pete, welche von den beiden war Ihre Freundin?« erkundigte ich mich lächelnd.

»Ich sage Ihnen doch, daß es nicht so war!« Er wollte unter keinen Umständen etwas damit zu tun haben.

»Wie steht es damit?« fragte ich plötzlich Susan. »Ist er an die Theke gekommen?«

»Er hat im Vorbeigehen gewinkt«, sagte sie. »Haben Sie das getan, Pete?«

»Ich kann mich nicht erinnern«, antwortete er mürrisch. »Vielleicht habe ich es getan. Und?«

»Schon gut«, wehrte ich ab. Ich wünschte Susan viel Freude mit diesem Kerl. Falls sie seinetwegen gemordet hatte, war alle Mühe vergebens gewesen. Er war offenbar fest entschlossen, sie in Zukunft völlig zu ignorieren.

Auch Susan war sich darüber im klaren. Aus ihrem Blick schloß ich, daß Peter van Norden bei nächster Gelegenheit vergiftet werden würde - falls Susan in Freiheit blieb, was durchaus wahrscheinlich war.

Ich gab Hathaway ein Zeichen, er solle den jungen Mann hinausführen.

Hathaway erhob sich, deutete auf die über sechzig Bände des Chemielexikons und fragte: »Hören Sie, benützen Sie diese ganzen Bücher wirklich?«

»Klar«, antwortete der Student verblüfft. »Das tut jeder von uns. Du lieber Gott, seit wann ist es ein Verbrechen, im Beilstein eine...« »Schon gut, schon gut«, warf ich ein. »Verschwinde, Ed.« Ed Hathaway warf mir einen bösen Blick zu, als er hinausging. Er gibt ungern eine Theorie auf.

Es war bereits sechs Uhr, und ich wußte nicht, was ich tun sollte. Vorläufig konnten wir uns nur an Susans Wort halten. Wäre sie vorbestraft oder gar eine Berufsverbrecherin gewesen, hätte ich die Wahrheit irgendwie aus ihr herausgeholt. Aber diese Methode kam hier natürlich nicht in Frage. Ich wandte mich an den Professor und sah, daß er Hathaways Karteikarten anstarrte, auf denen die Personalien der Zeugen vermerkt waren. Jedenfalls starrte er eine an, die er in der Hand hielt. Und diese Hand zitterte vor Erregung.

Er räusperte sich. »Darf ich ihr eine Frage stellen?« bat er. »Meinetwegen«, sagte ich. Jetzt war nichts mehr zu verlieren. Er legte die Karte mit der Vorderseite nach unten auf den Tisch und sagte heiser: »Miß Morey?«

Susan hatte ihn nervös beobachtet, aber nun war sie wieder gefaßt. »Ja, Professor?«

»Miß Morey, Sie haben gelächelt, als der Kürschner Ihnen den Zweck seines Besuchs erklärte«, begann der Professor. »Warum haben Sie gelächelt?«

»Das habe ich bereits erklärt, Professor Rodney«, antwortete Susan. »Ich war nur freundlich.«

»Hat er sich vielleicht merkwürdig ausgedrückt? War irgend etwas ungewöhnlich oder amüsant?«

»Ich war nur freundlich«, wiederholte Susan.

»War vielleicht sein Name ungewöhnlich, Miß Morey?« »Eigentlich nicht«, antwortete sie.

»Nun, sein Name ist bisher nicht erwähnt worden. Ich habe ihn erst auf dieser Karte gelesen.« Rodney machte eine Pause und fragte dann scharf: »Wie heißt der Mann überhaupt, Miß Morey?«

Susan überlegte kurz. »Ich kann mich nicht an seinen Namen erinnern.« »Wirklich nicht? Er hat Ihnen doch seinen Namen gesagt, nicht wahr?« »Und wenn schon?« fragte Susan irritiert. »Es ist schließlich nur ein Name. Sie können nicht verlangen, daß ich einen komischen ausländischen Namen behalte, den ich nur einmal gehört habe.« »Er war also ausländisch?«

Susan ging nicht in die Falle. »Das weiß ich nicht mehr«, antwortete sie. »Soviel ich mich erinnere, war es ein typisch deutscher Name, aber das kann ich nicht beschwören. Meinetwegen könnte der Mann John Smith heißen.« Ich wußte nicht, was der Professor beabsichtigte. »Was versuchen Sie zu beweisen, Professor Rodney?« erkundigte ich mich. »Ich versuche nicht zu beweisen, sondern ich beweise, daß Louella-Marie an der Theke stand, als der Kürschner hereinkam«, erklärte er mir. »Er hat ihr seinen Namen gesagt, und Louella-Marie hat daraufhin gelächelt. Miß Morey ist aus dem Nebenraum gekommen, als er die Theke verließ. Es war Miß Morey, diese junge Dame, die eben den vergifteten Tee zubereitet hatte.«

»Das behaupten Sie nur, weil ich mich nicht an den Namen des Mannes erinnern kann!« warf Susan ihm erregt vor. »Lächerlich!« »Nein, durchaus nicht«, widersprach der Professor. »Wären Sie an der Theke gewesen, wüßten Sie seinen Namen noch. Sie hätten ihn unmöglich vergessen können.« Er hielt Hathaways Karte hoch. »Unser Mann heißt mit Vornamen Ernest, aber sein Nachname ist Beilstein. Sein Nachname ist Beilstein!«

Susan wurde kreidebleich.

Der Professor sprach laut weiter. »Niemand, der mit Chemiebüchern zu tun hat, könnte den Namen eines Mannes vergessen, der hereinkommt und sich mit >Beilstein< vorstellt. Das sechzigbändige Lexikon, das heute nachmittag mehrmals erwähnt wurde, trägt den Namen seines Herausgebers, und dieser Name muß jeder Fachkraft einer chemischen Bibliothek vertrauter als die Namen George Washington oder Christoph Kolumbus sein. Wenn dieses Mädchen den Namen vergessen zu haben behauptet, kann es ihn nie gehört haben. Und es hat den Namen nie gehört, weil es zu diesem Zeitpunkt nicht an der Theke stand.«

Ich stand auf und ging um den Schreibtisch herum. »Nun, Miß Morey«, sagte ich und benützte absichtlich nicht mehr ihren Vornamen, »wie steht es damit?«

Sie begann hysterisch zu schluchzen. Eine halbe Stunde später hatte ich ihr Geständnis unterschrieben in der Tasche.