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Selbst wenn ich wollte, dürfte ich Ihnen meinen wahren Namen nicht verraten, und ich habe unter den gegenwärtigen Umständen auch gar keine Lust dazu.
Ich bin kein Schriftsteller, deshalb habe ich Isaac Asimov dazu gebracht, diese Story für mich niederzuschreiben. Meine Wahl ist aus zwei Gründen auf ihn gefallen. Erstens ist er Biochemiker und versteht, was ich ihm sage; zumindest einen Teil davon. Zweitens kann er schreiben; er hat jedenfalls schon einen Haufen Bücher veröffentlicht.
Ich war nicht der erste Mensch, der die Ehre hatte, Die Gans kennenzulernen. Das war ein Baumwollpflanzer in Texas namens Jan Angus MacGregor, dem sie gehörte, bevor sie Regierungseigentum wurde. Bis zum Sommer des Jahres 1955 hatte er genau ein Dutzend Briefe an das Landwirtschaftsministerium geschickt, in denen er sich nach der Aufzucht von Gänsen erkundigte. Das Ministerium schickte ihm alle Broschüren, die auch nur entfernt dieses Thema behandelten, aber MacGregors Briefe wurden immer drängender und enthielten häufig Hinweise auf seinen >Freund<, den Kongreßabgeordneten seines Wahlkreises. Ich wurde in die Sache verwickelt, weil ich Angehöriger des Landwirtschaftsministeriums bin. Da ich im Juli 1955 an einer Konferenz in San Antonio teilnahm, wies mich der Boß an, MacGregor zu besuchen und ihm nach Möglichkeit zu helfen. Wir sind schließlich für die Öffentlichkeit da, und außerdem hatte MacGregors Abgeordneter uns einen bösen Brief geschrieben.
Am 17. Juni 1955 lernte ich Die Gans kennen.
Zuerst machte ich MacGregors Bekanntschaft. Er war etwa fünfzig, ein großer, hagerer Mann, der mich mißtrauisch empfing. Ich erwähnte die vielen Broschüren, die wir ihm geschickt hatten, und fragte dann höflich, ob ich die Gänse sehen dürfe.
»Nicht die Gänse, Mister«, antwortete er. »Es ist nur eine Gans.« »Darf ich diese eine Gans sehen?« fragte ich. »Lieber nicht.«
»Hmmm, so kann ich Ihnen leider nicht helfen. Offenbar fehlt Ihrer Gans irgend etwas. Aber warum machen Sie sich wegen einer Gans Sorgen. Essen Sie sie einfach!« Ich stand auf und griff nach meinem Hut. »Warten Sie!« sagte MacGregor. Er schien mit sich zu kämpfen. »Kommen Sie mit«, forderte er mich dann auf.
Ich folgte ihm hinaus, und er führte mich zu einem mit Stacheldraht geschützten Verschlag, der eine Gans enthielt - Die Gans. »Das ist Die Gans«, sagte MacGregor.
Ich starrte sie an. Sie sah wie alle Gänse aus: fett, selbstzufrieden und reizbar.
»Und hier ist ein Ei«, fuhr MacGregor fort. »Es hat im Brutapparat gelegen. Ohne Erfolg.« Er hatte es aus einer Tasche seines Overalls geholt. Mir fiel auf, daß er es jetzt in beiden Händen hielt.
Ich runzelte die Stirn. Mit dem Ei war irgend etwas nicht in Ordnung. Es war kleiner und runder als normale Gänseeier.
»Da«, sagte MacGregor.
Ich streckte die Hand aus und nahm das Ei.
Nun wußte ich, weshalb MacGregor es in beiden Händen gehalten hatte. Das Ei wog fast zwei Pfund.
Ich starrte es sprachlos an. MacGregor grinste säuerlich. »Lassen Sie es fallen«, forderte er mich auf.
Als ich nicht reagierte, nahm er mir das Ei aus der Hand und ließ es selbst fallen.
Es plumpste satt zu Boden. Es zerbrach nicht. Aus der Schale quollen weder Eiweiß noch Dotter. Es blieb in einer leichten Vertiefung liegen. Ich hob es wieder auf. Die Schale war an der Unterseite zersplittert. Einige Stücke hatten sich gelöst, und ich erkannte darunter eine gelbliche Masse. Meine Finger zitterten, als ich einen Teil der Schale entfernte. Dann hatte ich das gelbe Zeug vor mir. Ich brauchte es nicht zu analysieren. Ich wußte sofort Bescheid.
Ich stand nicht vor einer gewöhnlichen Gans. Ich hatte Die Gans vor mir! Die Gans, die goldene Eier legt! Zunächst mußte ich MacGregor das Ei entreißen. Ich wurde fast hysterisch.
»Ich gebe Ihnen eine Quittung«, sagte ich. »Sie bekommen Ihr Geld dafür, das garantiere ich! Tun Sie, was Sie wollen - aber geben Sie mir das Ei!« »Ich will nichts mit der Regierung zu schaffen haben«, sagte er mürrisch. Aber ich war hartnäckiger und ließ nicht nach, bis er mir das Ei überließ. Er kam mit auf die Straße hinaus und sah mir lange nach, als ich davonfuhr. Mein Abteilungsleiter im Landwirtschaftsministerium heißt Louis P. Bronstein. Ich war immer gut mit ihm ausgekommen, deshalb hoffte ich, er werde mich nicht gleich für verrückt halten. Trotzdem ging ich kein Risiko ein. Ich hatte das Ei mitgebracht und legte es ihm auf den Schreibtisch. »Es ist ein gelbliches Metall«, sagte ich. »Es könnte Messing sein, aber es reagiert nicht auf Salpetersäure.«
»Das ist eine Art Jux«, meinte Bronstein. »Das muß ein Jux sein.«
»Mit echtem Gold? Überlegen Sie nur, daß ich die Eierschale unbeschädigt gesehen habe. Es ist ganz leicht, Eierschalen zu überprüfen. Kalziumkarbonat.«
Das Projekt Gans begann am 20. Juli 1955.
Ich leitete die Untersuchung und blieb auf diesem Posten, obwohl ich bald nicht mehr viel zu sagen hatte.
Wir begannen mit dem Ei, das MacGregor mir gegeben hatte. Sein durchschnittlicher Radius betrug 35 mm (große Achse: 72 mm; kleine Achse: 68 mm). Die Goldschicht war 2,45 mm stark. Wir untersuchten später weitere Eier und stellten fest, daß die Schicht im Durchschnitt nur 2,1 mm stark war.
Darunter begann Ei. Es sah wie Ei aus und roch wie Ei.
Eine Analyse ergab einigermaßen normale Bestandteile. Das Eiklar enthielt
9,7 Prozent Albumin. Das Eigelb enthielt die üblichen Mengen Vitellin, Cholesterol, Phospholipid und Karotenoid. Wir hatten nicht genug Eigelb zur Verfügung, um alle Bestandteile zu analysieren, aber später zeigte sich, daß keine meßbaren Unterschiede zwischen diesen und normalen Gänseeiern bestanden. Eine wichtige Abnormität zeigte sich, als ein Teil des Eis erhitzt wurde. Dieser Teil war fast augenblicklich >hartgekocht<. Wir gaben ihn einer Maus zu fressen. Sie überlebte den Versuch.
Ich aß selbst ein kleines Stück. Es war winzig, aber ich mußte mich übergeben. Rein psychosomatisch, nehme ich an.
Boris W. Finley, ein Biochemiker der Temple University, der als Berater des Landwirtschaftsministeriums tätig ist, überwachte diese Tests. »Die Geschwindigkeit, mit der Proteine in diesem Fall denaturiert werden, läßt auf eine teilweise Denaturierung von Anfang an schließen, die angesichts der intakten Schale nur auf eine Anreicherung mit Schwermetallen zurückzuführen sein kann«, stellte Finley mit gerunzelter Stirn fest.
Ein Teil des Eigelbs wurde also auf anorganische Bestandteile untersucht. Es enthielt ungewöhnlich viele Chloraurationen, Ionen mit einfacher Ladung, einem Goldatom und vier Chloratomen, dessen chemisches Zeichen AuCl4 heißt. Wenn ich sage, daß der Gehalt in Chloraurationen hoch war, meine ich damit 0,32 Prozent, was bereits genügt, um unlösliche Komplexe von >Goldprotein< zu bilden, die leicht gerinnen würden. »Dieses Ei läßt sich offensichtlich nie ausbrüten«, stellte Finley fest. »Es ist mit Schwermetallen vergiftet. Gold ist hübscher als Blei, aber für Proteine ebenso giftig.«
Ich nickte trübselig. »Zumindest kann es nicht verwesen.«
»Richtig«, stimmte er zu. »Keine anständige Bakterie würde in dieser Chlorauratbrühe leben wollen.«
Dann kam die Spektralanalyse des Goldes in der Schale. Praktisch chemisch rein. Die einzige Verunreinigung waren 0,23 Prozent Eisen. Auch der Eidotter enthielt ungewöhnlich viel Eisen, aber das wurde vorläufig vernachlässigt.
Eine Woche nach Beginn des Projekts Gans wurde eine Expedition nach Texas geschickt. Sie bestand aus fünf Biochemikern, drei Lastwagen voller Ausrüstungsgegenstände und einem Zug Soldaten. Ich fuhr selbstverständlich mit.
Als erstes riegelten wir MacGregors Farm von der Außenwelt ab. Das war ein glücklicher Zufall, wie sich später herausstellte. Wir gingen von falschen Voraussetzungen aus, aber das Ergebnis war gut.
Das Ministerium wollte unser Projekt zu Anfang geheimhalten, bis absolut feststand, ob es sich nicht doch um einen Jux handelte, den die Presse breittreten würde. Und falls es sich nicht um einen Jux handelte, waren Reporter erst recht unerwünscht. Die ganze Tragweite des Falls stellte sich allerdings erst sehr viel später heraus, als wir längst auf MacGregors Farm etabliert waren.
MacGregor war natürlich nicht davon begeistert, plötzlich überall Fremde und alle möglichen Apparate auf seiner Farm zu sehen. Er war nicht begeistert, als er hörte, Die Gans sei jetzt Regierungseigentum. Und er war nicht begeistert, als die Eier beschlagnahmt wurden. Er war nicht davon begeistert, aber er stimmte schließlich doch zu - falls man von Zustimmung sprechen kann, wenn während der Verhandlungen Maschinengewehre in Stellung gebracht und Schützengräben ausgehoben werden.
Er wurde natürlich entschädigt. Was bedeutet schon Geld für die Regierung? Auch Der Gans paßten einige Dinge nicht - zum Beispiel ließ sie sich nicht gern Blutproben entnehmen. Wir durften sie nicht betäuben, um ihren Metabolismus nicht zu stören, deshalb wurde sie jeweils von zwei Männern festgehalten. Schon mal versucht, eine wütende Gans festzuhalten? Diese Blutproben wurden nach allen bekannten Methoden untersucht. Das Blut enthielt 0,002 Prozent Chloraurationen. Blut aus der Lebervene war stärker angereichert; es enthielt fast 0,004 Prozent. Finley grunzte. »Die Leber«, sagte er.
Wir machten Röntgenaufnahmen. Auf dem Negativ erschien die Leber als hellgrauer Fleck, etwas heller als die Eingeweide; sie hielt mehr Röntgenstrahlen auf, weil sie mehr Gold enthielt. Blutgefäße erschienen noch heller, und die Eierstöcke waren reinweiß. Keine Röntgenstrahlen hatten das Negativ an dieser Stelle erreicht.
Das schien logisch zu sein, und Finley stellte in einem vorläufigen Bericht fest: »Das Chlorauration wird von der Leber in den Blutkreislauf ausgeschieden. Die Eierstöcke halten dieses Ion zurück, das dort zu metallischem Gold reduziert und in entstehenden Eiern abgelagert wird. Diese Eier enthalten relativ hohe Konzentrationen des unreduzierten Chloraurations. Dieser Vorgang erweist sich zweifelsohne nützlich für Die Gans, denn sie scheidet dadurch Goldatome aus, von denen sie sonst im Laufe der Zeit vergiftet würde.
Unglücklicherweise werden die Eierstöcke gleichzeitig lokal so sehr vergiftet, daß nur wenige Eier heranreifen. Vermutlich werden nur so viele erzeugt, wie zur Goldausscheidung notwendig sind, und diese Eier können nicht ausgebrütet werden.«
Soweit der offizielle Bericht. Inoffiziell ergänzte Finley: »Das läßt natürlich eine peinliche Frage unbeantwortet.«
Ich kannte diese Frage. Wir alle kannten sie.
Woher kam das Gold?
Zunächst konnten wir nur verschiedene Möglichkeiten ausschalten. Die Gans erhielt kein goldhaltiges Futter, und der Boden in ihrem Auslauf war ebenfalls nicht mit Nuggets durchsetzt. Das Erdreich, die Farmgebäude und die nähere Umgebung wurden gründlich abgesucht. Nirgends Goldmünzen, Goldschmuck, goldene Teller, goldene Uhren oder irgend etwas aus Gold. Auf der Farm gab es nicht einmal Goldzähne. Nur Mrs. MacGregor besaß einen goldenen Ehering, den sie aber ständig trug. Wo kam also das Gold her? Der erste Hinweis zeigte sich am 16. August 1955.
Albert Nevis schob unserem Versuchstier einen Magenschlauch ein - Die Gans wehrte sich auch dagegen nach Leibeskräften -, um den Inhalt des Verdauungskanals zu untersuchen. Das gehörte zu unserer Suche nach exogenem Gold.
Er fand tatsächlich Gold - allerdings nur in geringen Mengen -, und wir hatten allen Grund zu der Annahme, daß diese Spuren in Drüsensekreten auftraten und deshalb endogen waren, was bedeutete, daß sie im Körper selbst erzeugt wurden. Noch etwas anderes fiel auf, weil es fehlte.
Nevis kam in Finleys Büro im Erdgeschoß des einstöckigen Farmhauses und sagte: »Die Gans produziert nicht genug Gallenpigment. Im Zwölffingerdarm ist kaum etwas festzustellen.«
Finley runzelte die Stirn. »Offenbar funktioniert die Leber wegen des hohen Goldgehalts nicht mehr richtig. Wahrscheinlich wird gar keine Galle abgesondert.«
»Doch, sie sondert genügend Galle ab«, antwortete Nevis. »Ich habe Gallensäure in normalen Mengen festgestellt. Aber das Gallenpigment fehlt völlig. Auch eine gründliche Untersuchung der Körperausscheidung hat das gleiche Ergebnis gebracht.«
An dieser Stelle möchte ich eine kurze Erklärung einschieben. Gallensäuren sind Steroide, die von der Leber abgesondert und in der Gallenblase gespeichert werden, von wo aus sie in den Dünndarm gelangen. Die Galle hat die Aufgabe, Fett zu emulgieren und in winzige Tröpfchen aufzuteilen, um die Verdauung zu erleichtern.
Das Gallenpigment, das Die Gans offenbar nicht erzeugte, ist etwas anderes. Die Leber produziert es aus Hämoglobin, dem eisenhaltigen Farbstoff der roten Blutkörperchen, der Sauerstoff transportiert. Verbrauchtes Hämoglobin wird in der Leber zerlegt, wobei Hämatin abgespalten wird. Hämatin ist der eisenhaltige Bestandteil des roten Blutfarbstoffes und besteht aus quadratischen Molekülen - Porphyrine - mit einem Eisenion im Mittelpunkt. Die Leber speichert das Eisen und zerstört das restliche Molekül. Dieses aufgespeicherte Porphyrin ist das Gallenpigment, das mit der Galle in den Dünndarm gelangt und als Abfallprodukt ausgeschieden wird.
Finleys Augen begannen zu glitzern.
»Anscheinend ist der Porphyrinkatabolismus in der Leber irgendwie gestört«, meinte Nevis. »Glauben Sie nicht auch?« Wir stimmten alle zu.
Diese Entdeckung verursachte beträchtliche Aufregung. Dies war die erste metabolische Abnormalität unseres Versuchsobjekts, die nichts mit Gold zu tun hatte!
Wir führten eine Leberbiopsie durch und erhielten ein Stück Gänseleber. Die Gans versuchte sich zu wehren, aber wir waren stärker. Außerdem zapften wir ihr wieder Blut ab.
Diesmal isolierten wir Hämoglobin aus dem Blut und Cytochrome in geringen Mengen aus unserem Stück Leber. (Cytochrome sind oxydierende Enzyme, die ebenfalls Hämatin enthalten.) Wir schieden das Hämatin aus und erhielten in saurer Lösung einen leichten orangeroten Niederschlag. Am 22. August 1955 besaßen wir endlich fünf Mikrogramm dieser Verbindung. Der orangerote Niederschlag hatte Ähnlichkeit mit Hämatin und war doch keines. Das Eisen in Hämoglobin kann in Form von Ionen mit zwei (Fe++) oder drei Ladungen (Fe+++) auftreten; im zweiten Fall handelt es sich um Hämatin.
Dieser orangerote Stoff war wie Porphyrin aufgebaut, aber das Metall im Molekülkern war Gold, Goldionen mit drei Ladungen (Au+++), um es genau zu sagen. Wir nannten diese Verbindung >Auratin<, was eine Kombination aus >Aurum< und >Hämatin< war.
Auratin war die erste in der Natur vorkommende organische Verbindung, die Gold enthielt. Normalerweise hätte diese Entdeckung in Fachkreisen gewaltiges Aufsehen erregt, aber für uns bedeutete sie damals wenig; ihre Bedeutung war tatsächlich gering, wenn man die Konsequenzen dieser Entdeckung berücksichtigte.
Die Leber spaltete das Hämatin offenbar nicht in Gallenpigmente auf, sondern verwandelte es statt dessen in Auratin; sie ersetzte also Eisen durch Gold. Das Auratin gelangte in den Blutkreislauf, kam in die Eierstöcke und wurde dort zurückgehalten, bis das Gold ausgeschieden war. Der Rest des Moleküls wurde auf vorläufig ungeklärte Weise verwertet. Weitere Analysen zeigten uns, daß 29 Prozent des Goldes im Blutplasma des Versuchstieres in Form von Chloraurationen enthalten war. Die restlichen 71 Prozent wurden in den roten Blutkörperchen als >Auremoglobin< nachgewiesen. Wir machten den Versuch, Die Gans mit geringen Mengen radioaktivem Gold zu füttern, um auf diese Weise festzustellen, wie rasch Auremoglobinmoleküle in den Eierstöcken zu Gold wurden. Wir waren der Meinung, das Auremoglobin müsse wesentlich langsamer verarbeitet werden als die Chloraurationen des Blutplasmas. Der Versuch schlug jedoch fehl, weil es uns nicht gelang, den Weg des radioaktiven Goldes im Körper zu verfolgen. Da keiner von uns Erfahrungen mit Isotopen hatte, kamen wir von dieser Idee wieder ab; das war ein schwerer Fehler, denn auf diese Weise verloren wir mehrere Wochen Zeit.
Das Auremoglobin war selbstverständlich wertlos, was den Sauerstofftransport betraf, aber es machte nur 0,1 Prozent des gesamten Hämoglobingehalts der roten Blutkörperchen aus, so daß Die Gans keinerlei Atemschwierigkeiten hatte.
Die Frage nach der Herkunft des Goldes war noch immer nicht beantwortet, aber Nevis machte bald darauf einen Vorschlag.
»Vielleicht«, sagte er während einer Besprechung am Abend des 25. August 1955, »ersetzt Die Gans gar nicht Eisen durch Gold. Vielleicht verwandelt sie Eisen in Gold.«
Ich kannte Nevis als gewissenhaften, pedantischen und klar denkenden Mann von hoher Intelligenz. Er war eigentlich sogar übervorsichtig, und ich hätte ihm eine Bemerkung dieser Art nie zugetraut. Das zeigt nur, wie demoralisiert und verzweifelt wir damals bereits waren. Unsere Verzweiflung beruhte auf der Tatsache, daß wir nicht feststellen konnten, woher das Gold eigentlich kam. Die Gans schied täglich 38,9 Gramm Gold aus - und das seit Monaten! Das Gold mußte von irgendwoher kommen oder irgendwie hergestellt werden.
Unsere Demoralisierung, die den Gedanken an die zweite Möglichkeit überhaupt erst aufkommen ließ, beruhte auf der Tatsache, daß wir es unzweifelhaft mit der Gans, die goldene Eier legt, zu tun hatten. In diesem Fall schien nichts unmöglich. Wir lebten alle in einer Märchenwelt und reagierten auf diese neue Erfahrung, indem wir die Verbindung zur Wirklichkeit verloren.
Finley dachte ernsthaft über diese Möglichkeit nach. »Hämoglobin«, sagte er, »gelangt in die Leber, die daraus kleine Mengen Auremoglobin produziert. Das Gold der Eier ist nur durch Eisenspuren verunreinigt; der Dotter selbst enthält viel Gold und Eisen. Das alles ist erschreckend logisch. Wir brauchen Hilfe, meine Herren.«
Wir bekamen auch Hilfe, und damit begann der dritte Teil der Untersuchung. Zuerst hatte ich den Fall allein bearbeitet. Dann waren fünf Biochemiker auf der Bildfläche erschienen. Und nun folgte die Invasion der Atomphysiker.
Am 5. September 1955 stieß John L. Billings von der University of California zu uns. Er brachte einige Apparate mit und ließ sich in den folgenden Wochen weitere schicken. Auf der Farm wurde überall gebaut, und man sah bereits jetzt, daß hier innerhalb eines Jahres das reinste Forschungsinstitut entstehen würde. Billings nahm an einer unserer Besprechungen teil.
Finley informierte ihn über die letzten Ereignisse und fügte hinzu: »Diese Idee einer Umwandlung von Eisen in Gold bringt einige Probleme mit sich. Die Gans nimmt beispielsweise täglich höchstens ein halbes Gramm Eisen zu sich; sie scheidet aber fast vierzig Gramm Gold aus.« Billings nickte. »Das Energieproblem dieser Umwandlung ist noch schwieriger«, sagte er dann. »Um aus einem Gramm Eisen ein Gramm Gold zu machen, braucht man etwa die Energie, die bei der Kernspaltung eines Gramms Uran frei wird.«
Finley zuckte mit den Schultern. »Das ist jetzt Ihr Problem.«
»Lassen Sie mich darüber nachdenken«, sagte Billings.
Er dachte nicht nur nach, sondern unternahm etwas. Zum Beispiel schickte er Hämatin aus dem Blut unserer Gans nach Brookhaven und ließ dort eine Isotopenanalyse durchführen. Das war nur ein Teil der gründlichen Untersuchung, aber sie brachte erstmals greifbare Resultate.
Als der Untersuchungsbericht zurückkam, schüttelte Billings den Kopf.
»Kein Fe56«, stellte er fest.
»Wie steht es mit den anderen Isotopen?« fragte Finley sofort. »Alle vorhanden«, antwortete Billings. »Etwa im richtigen Verhältnis zueinander, aber kein (richtige Schreibweise oder muß die Zahl kleingeschrieben werden? Kommt nachfolgend noch einige Male)Fe56.« Ich muß wieder erklären: Eisen kommt in der Natur als eine Mischung von vier Isotopen vor. Diese Isotope sind Abwandlungen von Atomen mit verschiedenem Atomgewicht. Eisenatome mit einem Atomgewicht 56 - also Fe56 - stellen 91,6 Prozent aller Atome in Eisen dar. Die übrigen Atomgewichte sind 54, 57 und 58.
Das Eisen im Hämatin unserer Gans bestand nur aus Fe54, Fe57 und Fe58. Diese Schlußfolgerung daraus war unvermeidlich: Fe56 verschwand, während andere Isotopen erhalten blieben, und das bedeutete eine nukleare Reaktion. Jede chemische Reaktion hätte nicht nur ein Isotop angegriffen, sondern alle gleichmäßig zum Verschwinden gebracht. »Aber das ist von der Energie her unmöglich!« behauptete Finley. Billings schüttelte den Kopf und ließ sich zwei Tage lang nicht mehr blicken.
Als er wieder auftauchte, sagte er: »Hören Sie, Finley, ich habe mir die Sache überlegt. Wir haben es offenbar mit zwei parallel ablaufenden Reaktionen zu tun, von denen die eine genausoviel Energie erzeugt wie die andere verbraucht. Produziert die erste weniger Energie, bleibt das bekannte Ergebnis aus. Produziert sie jedoch nur etwas mehr, müßte die überschüssige Energie Die Gans im Bruchteil einer Sekunde pulverisieren.« »Und?« sagte Finley nur.
»Deshalb ist die Zahl der möglichen Reaktionen sehr begrenzt. Ich habe nur ein wahrscheinliches System feststellen können. Bei der Verwandlung von Sauerstoff 18 in Eisen 26 entsteht soviel Energie, daß Eisen 56 zu Gold 197 wird. Diese Theorie müssen wir testen.« »Wie?«
»Zunächst durch eine Isotopenanalyse des Sauerstoffs im Blut unserer Gans.«
Sauerstoff besteht aus drei Isotopen, aber vor allem aus O16. Nur ein Sauerstoffatom von 250 besteht normalerweise aus O18. Wieder eine Blutprobe, die mit dem Massenspektrographen untersucht wurde. Dabei zeigte sich O18 - aber nur in einem Atom von 1300, so daß 80 Prozent des erwarteten Gehalts an O18 fehlten.
»Das ist ein wirklicher Beweis«, stellte Billings fest. »Sauerstoff 18 wird verbraucht. Es ist in der Nahrung und dem Wasser enthalten, aber es wird trotzdem verbraucht. Die Gans erzeugt Gold 197. Eisen 56 ist ein Zwischenprodukt, aber da die Reaktion, die Eisen 56 verwandelt, rascher als die andere abläuft, die es erzeugt, tritt es praktisch nie in größeren Mengen auf und ist deshalb nicht meßbar.«
Wir waren damit noch nicht zufrieden und stellten einen weiteren Versuch an. Als wir unserer Gans eine Woche lang nur Wasser gaben, das mit O18 angereichert war, stieg ihre Goldproduktion sprunghaft an. Nach fünf Tagen erzeugte sie täglich 45,8 Gramm, während der O18-Gehalt ihres Körpers gleichblieb.
»Jetzt ist kein Zweifel mehr möglich«, sagte Billings.
Er zerbrach seinen Bleistift und stand auf. »Die Gans ist ein lebender Atomreaktor.«
Die Gans war offenbar eine Mutation.
Mutationen werden unter anderem durch Bestrahlung hervorgerufen, was auf die Atombombenexplosionen hinzuweisen schien, die 1952 und 1953 etwa sechshundert Kilometer von MacGregors Farm entfernt durchgeführt worden waren. (Sollten Sie der Meinung sein, in Texas seien keine Versuchsexplosionen erfolgt, beweist das nur, daß ich Ihnen nicht alles erzähle und daß Sie nicht alles wissen.)
Ich bezweifle sehr, daß die Auswirkungen eines Bombentests auf Boden und Atmosphäre jemals so gründlich wie in diesem Fall untersucht worden sind. Sämtliche Berichte, Aufzeichnungen und Messungen wurden studiert. Die meisten waren streng geheim, aber das Projekt Gans war noch geheimer und erhielt deshalb Vorrang.
Die Untersuchung brachte zwei wichtige Ergebnisse: Die Strahlungsintensität in der Umgebung von MacGregors Farm war etwas höher als normal. Der Wert war keineswegs gefährlich, aber eben doch höher, und wir stellten fest, daß die Farm in einem Gebiet lag, das mindestens zweimal radioaktive Niederschläge abbekommen hatte, während Die Gans ausgebrütet wurde. Selbstverständlich waren diese Niederschläge für Menschen ungefährlich gewesen - das möchte ich ausdrücklich betonen. Nur: Die Gans wies nicht die geringste Radioaktivität auf, obwohl wir alle Lebewesen der Farm untersuchten. Normalerweise ist alles schwach radioaktiv, aber Die Gans zeigte keinerlei Anzeichen. Finley verfaßte am 6. Dezember 1955 einen Zwischenbericht, aus dem ich zitiere:
»Die Gans ist eine außergewöhnliche Mutation; sie besitzt Enzymsysteme, die verschiedene nukleare Reaktionen katalysieren. Wir wissen nicht, ob dieses System aus mehreren Enzymen besteht. Auch ihre Zusammensetzung und Wirkungsweise ist vorläufig ungeklärt, da es sich hier um wesentlich energiereichere Reaktionen handelt, als sonst von Enzymen katalysiert werden.
Der Prozeß beruht auf einer Umwandlung von Sauerstoff 18 in Gold 197. Der Sauerstoff 18 ist in der Nahrung des Tieres und im Wasser reichlich vorhanden. Das Gold 197 wird über die Eierstöcke ausgeschieden. Die Vorteile dieser Verwandlung sind nicht auf den ersten Blick erkennbar. Der Sauerstoff 18 wäre harmlos, aber das Gold 197 ist schwierig zu beseitigen, potentiell giftig und behindert die Fortpflanzung. Andererseits wird dadurch vielleicht eine größere Gefahr vermieden. Diese Gefahr...« Aber der ruhige, nachdenkliche Ton dieses Berichts täuscht gewaltig.
Billings wurde fast vom Schlag getroffen, als er von unseren ersten Versuchen mit radioaktivem Gold hörte, die wir ergebnislos abgebrochen hatten, als Die Gans keine Radioaktivität zeigte. Er konnte nicht begreifen, weshalb wir diese Tatsache für unwichtig gehalten hatten.
»Sie sind wie der junge Reporter«, sagte er wütend, »der zu einer großen Hochzeit geschickt wurde und nach seiner Rückkehr sagte, es gebe nichts darüber zu schreiben, da der Bräutigam nicht gekommen sei.«
Billings schlug mit der Faust auf den Tisch. »Sie haben Die Gans mit radioaktivem Gold gefüttert, das spurlos verschwunden ist. Nicht nur das, sondern Die Gans ist nicht im geringsten radioaktiv. Kein Kohlenstoff 14. Kein Kalium 40. Und das bezeichnen Sie als Fehlschlag?«
Wir fütterten Die Gans mit radioaktiven Isotopen. Zuerst waren wir noch vorsichtig, aber gegen Ende Januar 1956 schaufelten wir das Zeug geradezu in sie hinein.
Die Gans wurde nicht radioaktiv.
»Das heißt also«, sagte Billings, »daß Die Gans es fertigbringt, jedes labile Isotop in ein stabiles zu überführen.« »Eigentlich ganz nützlich«, meinte ich.
»Nützlich? Hören Sie, das ist herrlich! Das ist der beste Schutz gegen unser Atomzeitalter. Bei der Umwandlung von Sauerstoff 18 in Gold 197 müßten pro Sauerstoffatom acht Positronen freigesetzt werden. Daraus entstehen acht Gammastrahlen, sobald das Positron mit einem Elektron zusammentrifft. Aber wir haben nichts von Gammastrahlen gemerkt. Folglich kann Die Gans auch Gammastrahlen absorbieren.« Wir bombardierten Die Gans mit Gammastrahlen. Bei steigender Intensität bekam Die Gans etwas Fieber, und wir hörten erschrocken auf. Am nächsten Tag hatte Die Gans jedoch kein Fieber mehr und war so gut wie neu. »Merken Sie, was das bedeutet?« fragte Billings. »Ein Wunder der Natur«, sagte Finley.
»Mann, denken Sie lieber an die praktische Anwendung! Wenn wir diesen Mechanismus im Labor kopieren könnten, hätten wir endlich eine zuverlässige Methode zur Vernichtung radioaktiver Abfälle. Dieser Atommüll ist eigentlich der Grund dafür, daß unsere Energieversorgung nicht schon längst auf der Kernspaltung beruht. Wir brauchten nur diesen Mechanismus zu beherrschen! Schon eine geringe Veränderung müßte dazu führen, daß Die Gans Eier legt, die nicht Gold 197, sondern Uran 235 enthalten oder jedes andere gewünschte Element. Finden Sie diesen Mechanismus, meine Herren, stellen Sie fest, was dabei vor sich geht!« Wir starrten alle Die Gans an.
Wenn sich die Eier nur ausbrüten ließen... Wenn wir ein halbes Dutzend dieser Gänse zur Verfügung hätten...
»Das muß es schon früher gegeben haben«, meinte Finley. »Die Sage von der Gans, die goldene Eier legte, muß so entstanden sein.«
»Wollen Sie auf die nächste warten?« fragte Billings.
Wenn wir zehn oder zwölf solcher Gänse hätten, könnten wir einige sezieren. Wir könnten ihre Eierstöcke untersuchen. Wir könnten Hunderte von Gewebeschnitten anfertigen.
Das würde vielleicht nichts helfen. Unsere Probe des Lebergewebes reagierte trotz aller Bemühungen nicht mit Sauerstoff 18.
Aber wir könnten den Versuch mit einer intakten Leber wiederholen. Wir könnten die Entwicklung eines Gänsekükens verfolgen und genau beobachten, wie der Mechanismus entstand und funktionsfähig wurde.
Aber wir hatten nur eine Gans, mit der wir keine Versuche anstellen durften.
Wir wagten es nicht, die Gans zu töten, die goldene Eier legte.
Das Geheimnis lag in der Leber dieser fetten Gans.
Die Leber einer fetten Gans! Pate de foie gras! Keine Delikatesse für uns!
»Wir brauchen eine Idee«, meinte Nevis nachdenklich. »Eine völlig neuartige Idee. Eine entscheidende Idee.«
»Damit können wir noch nichts anfangen«, sagte Billings.
»Wir könnten doch Anzeigen in den Zeitungen aufgeben«, schlug ich vor, um einen schwachen Witz zu machen. Das brachte mich auf eine Idee.
»Science-fiction!« sagte ich.
»Was?« fragte Finley.
»Science-fiction-Magazine bringen oft verrückte Artikel. Die Leser halten sie für amüsant. Sie interessieren sich dafür.« Ich erzählte von einem Beitrag von Asimov, den ich kürzlich gelesen hatte. Mißbilligendes Schweigen.
»Wir verstoßen nicht einmal gegen Sicherheitsvorschriften«, fuhr ich fort, »denn niemand glaubt ein Wort davon.« Ich erwähnte Cleve Cartmill, der schon 1944 eine Story veröffentlicht hatte, in der die Atombombe beschrieben wurde. Das FBI hatte sich damals klugerweise beherrscht, anstatt einen großen >Fall< daraus zu machen.
»Und Science-fiction-Leser haben Ideen«, versicherte ich meinen Kollegen. »Unterschätzen Sie diese Leute nicht. Selbst wenn sie den Artikel für einen Jux halten, schreiben sie Leserbriefe und teilen dem Herausgeber mit, was sie sich zu diesem Thema überlegt haben.« Sie waren keineswegs überzeugt.
Deshalb fügte ich hinzu: »Und Sie wissen doch, meine Herren... Die Gans lebt nicht ewig.«
Das gab den Ausschlag.
Wir mußten noch Washington überzeugen; dann setzte ich mich mit John Campbell, dem Herausgeber des Magazins, in Verbindung, der mich an Asimov weiterempfahl.
Nun ist der Artikel fertig. Ich habe ihn gelesen, ich habe ihn genehmigt, und ich bitte Sie alle, kein Wort davon zu glauben. Bitte, glauben Sie nichts davon.
Nur... Hat vielleicht jemand eine Idee?