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»Wo sollen wir uns begegnet sein?« fragte Scrivener.
»Was ich wirklich will«, begann Brigitte, »ist…«
»Warte!« schrie Scrivener. »Wenn du irgend etwas Lächerliches verlangst, gerbe ich dir das Fell, kleines Fräulein.«
»Ich wünschte, du würdest aufhören, mich anzuschreien!« heulte Brigitte.
»Das kann ich für dich erledigen«, sagte Azzie und vollführte eine Geste.
Thomas Scrivener öffnete den Mund, brachte jedoch kein Wort hervor. Er mühte sich ab, seine Zunge bewegte sich hektisch, seine Wangen blähten sich auf und erschlafften wieder, doch er konnte keinen Laut von sich geben.
»Was hast du gemacht?« fragte Brigitte.
»Deinen Wunsch erfüllt«, antwortete Azzie. »Er wird dich jetzt nicht mehr anschreien. Weder dich noch sonst jemanden.«
»Das ist unfair!« protestierte Brigitte. »Ich habe mit meinem Papa und nicht mit dir gesprochen! Du schuldest mir immer noch einen Wunsch!«
»Komm schon, Brigitte«, sagte Azzie. »Also gut, dann nenn mir endlich deinen Wunsch. Ich muß von hier verschwinden.«
Thomas Scrivener versuchte zu sprechen. Sein Gesicht war purpurrot angelaufen, seine Augen traten wie hartgekochte Eier aus ihren Höhlen. Er bot einen spektakulären Anblick, und Brigitte brach in Gelächter aus, verstummte dann aber urplötzlich wieder. Irgend etwas tauchte in der Luft auf.
Es nahm feste Gestalt an, und da stand Ylith. Sie wirkte zerzaust. Rauchfäden kräuselten sich vom Ende ihres Besens hervor.
»Azzie!« rief sie. »Nur gut, daß du mir von dieser Wunschgeschichte erzählt hast und ich mich daran erinnert habe. Gibt es Probleme?«
»Das ist doch offensichtlich, oder?« fragte Azzie zurück. »Ich versuche schon ziemlich lange, die Kleine dazu zu bringen, mir ihren Wunsch zu nennen, damit ich ihn erfüllen und wieder verschwinden kann. Aber sie und ihr Vater streiten sich die ganze Zeit darüber, was für ein Wunsch das sein sollte.«
Thomas Scrivener machte eine flehende Geste in Yliths Richtung.
»Was hast du mit ihm angestellt?« wollte Ylith wissen.
»Tja, Brigitte wollte, daß er den Mund hält, und das habe ich für sie erledigt.«
»O Azzie, laß diesen Unfug. Kleines Mädchen, was möchtest du werden, wenn du groß bist?«
Brigitte überlegte. »Als ich klein war, wollte ich eine Prinzessin werden.«
»Ich weiß nicht, ob Azzie das bewerkstelligen kann«, sagte Ylith.
»Aber das will ich jetzt nicht mehr«, fuhr Brigitte fort. »Jetzt möchte ich eine Hexe werden!«
»Warum willst du das?«
»Weil du eine Hexe bist«, erklärte Brigitte. »Ich möchte so wie du sein, auf einem Besenstiel reiten und Leute verzaubern.«
Ylith lächelte. »Was meinst du, Azzie?«
»Eine Hexe mehr, was für eine Rolle spielt das schon?« fragte Azzie. »Ist das dein Wunsch, Kleine? Du möchtest eine Hexe werden?«
»Ja!« erwiderte Brigitte fest.
Azzie sah Ylith an. »Und was meinst du?«
»Nun, ich nehme tatsächlich hin und wieder eine Schülerin an. Brigitte ist zwar noch etwas zu jung, aber in einigen Jahren…«
»O ja, bitte!« bettelte Brigitte.
»Also gut«, gab Ylith nach.
»Na schön«, sagte Azzie. »Du sollst deinen Wunsch haben, Kleines. Und jetzt laß mich hier raus.«
»Gib meinem Vater zuerst die Stimme zurück.«
Azzie kam ihrer Aufforderung nach. Thomas Scrivener holte aus, um seiner Tochter eine saftige Ohrfeige zu verpassen, mußte aber die unerfreuliche Erfahrung machen, daß sein Arm von einer unsichtbaren Kraft festgehalten wurde.
»Was hast du mit ihm gemacht?« wollte Brigitte von Ylith wissen.
»Das war ganz einfache Magie«, erwiderte Ylith. Sie drehte sich zu Scrivener um und sagte: »Behandle dein kleines Mädchen anständig. In ein paar Jahren wird sie in der Lage sein, dich in Mäusepastete zu verwandeln. Und du wirst auch mit mir rechnen müssen.«
TERZ
KAPITEL 1
Nachdem Brigitte Azzie aus seiner Gefangenschaft erlöst hatte, band Ylith zwei Besenstiele mit einem kräftigen Hanfseil zusammen und flog mit Azzie, der hinter ihr saß und sich an ihr festklammerte, zurück nach Augsburg. Es war ein herrliches Gefühl, die Arme des jungen virilen Dämons um ihren Körper zu spüren. Als seine Klauen versehentlich ihre Brüste streiften, überlief sie ein wohliger Schauder. Was für eine Wonne es war, mit dem Geliebten hoch über den Wolken dahinzufliegen! Für eine Weile vergaß sie alle Gedanken an Sünde und Sünder, an Gut und Böse, während sie ausgelassen durch das klare Blau des Himmels schoß und über violettgetönte Wolken hinwegsetzte, die sich vor ihren Augen auflösten und erneut formten. Auch Azzie genoß die Kapriolen, drängte Ylith aber, sich zu beeilen. Sie mußten das Pärchen von den Harpyien abholen.
In Azzies Anwesen zurückgekehrt, blieb Ylith gerade Zeit genug, ihr Haar zu waschen und es festzustecken. Dann war sie reisefertig.
Sie schwang sich auf einem frisch aufgeladenen Besenstiel in die Höhe und jagte allein dahin – eilig, aber aufmerksam. Die Erde schrumpfte unter ihr zusammen, und schon bald befand sie sich im funkelnden Reich des Himmels, wo sie sich auf die Suche nach den Harpyien machte, ohne allerdings die geringste Spur von ihnen entdecken zu können. Sie umkreiste den äußersten Rand der Welt und fand nichts. Doch dann näherte sich ihr ein Pelikan im langsamen Flug und fragte: »Sucht Ihr die Harpyien mit den beiden Leichen? Sie haben mir aufgetragen, Euch zu sagen, daß ihnen langweilig geworden ist und sie die Körper an einem sicheren Platz abgestellt haben. Sie selbst sind zu ihren Schwestern zurückgekehrt.«
»Haben sie sonst noch irgend etwas gesagt?« erkundigte sich Ylith und führte eine Reihe spiralförmiger Wenden aus, um ihre Geschwindigkeit der des langsam fliegenden Pelikans anzupassen.
»Nur irgend etwas von einem Mah-Jongg-Spiel«, erwiderte der Vogel.
»Haben sie gesagt, wo dieser sichere Ort ist?«
»Nicht ein Wort«, sagte der Pelikan. »Ich wollte sie noch danach fragen, aber da waren sie schon weg, und man kann sie unmöglich einholen. Ihr wißt ja, wie schnell sie mit diesen neumodischen Bronzeflügeln fliegen können.«
»Aus welcher Richtung sind sie gekommen?« wollte Ylith wissen.
»Aus Norden«, antwortete der Pelikan und deutete mit einer Flügelspitze in die entsprechende Richtung.
»Geografischer oder magnetischer Norden?«
»Geografischer Norden.«