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»Ich werde allein reisen«, erwiderte Azzie. »Lassen Sie mich nur noch einmal einen Blick auf die Adresse werfen. Gut, ich habe sie mir gemerkt.«
Und an den Mann mit dem leeren Augen gewandt, fügte er hinzu: »Dann bis später, Tom.«
KAPITEL 3
So wurde Thomas Scrivener nach Hause zurückgebracht. Zum Glück war es dem Sanitätsdämon gelungen, den Transfer zu erledigen, bevor sein Körper irreparable Schäden erleiden konnte. Der Arzt, der die Leiche erworben hatte, schickte sich gerade an, ihr den Hals aufzuschneiden, um die Arterien für seine Studenten zu entnehmen. Doch bevor er damit beginnen konnte, öffnete Scrivener die Augen und sagte: »Guten Morgen, Doktor Moreau.« Dann verlor er das Bewußtsein.
Moreau erklärte ihn für lebendig und verlangte eine Rückzahlung von Scriveners Witwe.
Die Frau zahlte zähneknirschend. Ihre Ehe mit Scrivener war nicht sonderlich erfreulich gewesen.
Azzie war auf anderem Weg zur Erde gereist, um nicht im Untotenwagen mitfahren zu müssen, in dem der Verwesungsgestank selbst für ein übernatürliches Wesen eine Tortur darstellt. Er traf unmittelbar nach Scriveners Wiedererweckung ein. Niemand konnte ihn sehen, da er das Unsichtbarkeitsamulett trug.
Unsichtbar für alle Menschen, die nicht das Zweite Gesicht besaßen, folgte er der Prozession, die Scrivener nach Hause zurückbrachte. Die Dorfbewohner, ohne Ausnahme Bauern, sprachen von einem Wunder. Nur Scriveners Frau Mildau murrte ständig vor sich hin: »Ich habe doch gleich gewußt, daß er alles nur vorgetäuscht hat, der gemeine Hund!«
Durch seine Unsichtbarkeit geschützt, durchstöberte Azzie das Haus, in dem er bis zum Ablauf von Scriveners Reklamationsfrist wohnen würde. Wahrscheinlich nur eine Sache von ein paar Tagen. Es war ein ziemlich großes Haus mit mehreren Zimmern auf jeder Etage und einem schönen feuchten Keller.
Azzie richtete sich im Keller ein. Es war genau der richtige Ort für einen Dämon. Er hatte sich ein paar Schriftrollen als Lektüre und einen Sack voller verfaulter Katzenköpfe als Proviant mitgebracht und stellte sich auf eine geruhsame Zeit ein. Aber er hatte es sich kaum bequem gemacht, als auch schon die Störungen begannen.
Zuerst kam Scriveners Frau in den Keller, um Lebensmittel zu holen. Sie war eine große Matrone mit struppigem Haar, breiten Schultern und einem gewaltigen Busen. Der nächste Störenfried war Hans, der älteste Sohn der Familie, ein lang aufgeschossener Lümmel, der seinem Vater sehr ähnlich sah und sich am Honigtopf zu schaffen machte. Dann folgte Lotte, das Dienstmädchen. Sie sammelte ein paar Kartoffeln von der Vorjahresernte ein.
Diese Störungen beeinträchtigten Azzies Ruhe erheblich. Am Morgen des nächsten Tages sah er nach Scrivener. Der wiedererweckte Mann schien sich auf dem Weg der Genesung zu befinden. Er hatte sich im Bett aufgesetzt, trank Kräutertee, zankte sich mit seiner Frau und schimpfte mit den Kindern. Noch ein Tag, und er würde sich vollständig erholt haben, entschied Azzie. Dann würde es Zeit werden, weiterzuziehen und sich interessanteren Dingen zuzuwenden.
Die beiden Hunde der Familie wußten, daß ein Dämon im Haus war, und stahlen sich jedes Mal davon, wenn Azzie auftauchte. Das war zu erwarten gewesen. Doch was als nächstes geschehen sollte, hatte er nicht eingeplant.
An diesem Abend bereitete er sich in einer schimmligen Ecke des Kellers, wo ein paar Rüben vergammelt waren, ein muffiges Nachtlager und erwachte abrupt, als er spürte, daß Licht auf ihn fiel. Es war der Schein einer Kerzenflamme. Irgend jemand stand im Keller und beobachtete ihn. Ein Kind. Wie unerträglich! Azzie versuchte aufzustehen und kippte gleich wieder um. Irgend jemand hatte einen Strick um eins seiner Fußgelenke geschlungen!
Er wich instinktiv zurück. Ein Kind. Ein kleines pausbäckiges, flachsblondes Mädchen von vielleicht sechs Jahren. Aus irgendeinem Grund mußte sie ihn sehen können. Und nicht nur das: Sie hatte ihn gefangen.
Azzie sagte sich, daß es das beste war, das Kind von Anfang an einzuschüchtern, und blähte sich zu seiner vollen Größe auf. Er versuchte, sich drohend vor ihm aufzubauen, aber der merkwürdig leuchtende Strick, dessen anderes Ende das Mädchen an einem Balken festgebunden hatte, straffte sich und ließ ihn erneut umkippen. Das kleine Mädchen lachte, und Azzie erschauderte. Nichts kann einen Dämon wütender machen, als junges unschuldiges Gelächter.
»Hallo, kleines Mädchen«, sagte er. »Kannst du mich sehen?«
»Ja«, erwiderte sie. »Du siehst wie ein garstiger alter Fuchs aus!«
Azzie warf einen Blick auf die winzige Anzeige in seinem Unsichtbarkeitsamulett. Wie er befürchtet hatte, war die Energie fast erschöpft. Diese Idioten in der Abteilung für Ausrüstung und Zubehör! Aber natürlich hätte er das Amulett gleich nach Erhalt selbst überprüfen sollen.
Wie es schien, steckte er in der Klemme. Aber nicht so tief, daß er sich nicht würde herausreden können.
»Aber wie ein netter Fuchs, nicht wahr, Schnäuzelchen?« gab er zurück und benutzte dabei ein unter Dämoneneltern geläufiges Kosewort. »Wie schön, dich zu sehen! Mach doch bitte diesen Strick los, und ich gebe dir einen ganzen Sack voller Süßigkeiten.«
»Ich mag dich nicht«, sagte das Kind. »Du bist böse. Ich werde dich gefesselt lassen und den Priester holen.«
Sie starrte ihn anklagend an. Azzie begriff, daß es einiges an List und Klugheit erfordern würde, um sich aus dieser Lage herauszuwinden.
»Sag mir, kleines Mädchen, woher hast du diesen Strick?« fragte er.
»Den hab’ ich in den Lagerräumen der Kirche gefunden«, erwiderte sie. »Er hat zwischen ein paar Knochen auf einem Tisch gelegen.«
Die Relikte von Heiligen! Das bedeutete, daß dieser Strick ein Geistfänger war! Die besten Geistfänger wurden aus den Stricken gemacht, mit denen die Heiligen ihre Gewänder gürteten. Es würde nicht leicht sein, diesen Strick wieder loszuwerden.
»Kleines Mädchen, ich bin hier, um auf deinen Vater aufzupassen. Es geht ihm nicht so gut, wegen dem Sterben und Wiederauferstehen und all diesen Dingen. Und jetzt sei lieb und nimm den Strick weg, wie es sich für ein nettes braves Mädchen gehört.«
»Nein«, sagte das kleine Mädchen auf jene unerbittliche Art, die kleinen – und einigen großen – Mädchen zu eigen ist.
»Also, bei der ewigen Verdammnis!« stieß Azzie hervor. Er mühte sich nach Kräften, konnte seinen Fuß aber nicht aus dem Geistfänger befreien, der sich zu seinem Ärger jedes Mal noch fester zuzog, wenn er versuchte, ihn abzustreifen. »Komm schon, kleines Mädchen, Spaß ist Spaß, aber jetzt solltest du mich gehen lassen.«
»Nenn mich nicht kleines Mädchen«, sagte das kleine Mädchen. »Ich heiße Brigitte, und ich weiß alles über dich und deinesgleichen. Der Priester hat uns alles erzählt. Du bist ein böser Geist, stimmt’s?«
»Aber ganz und gar nicht«, widersprach Azzie. »Ich bin sogar ein guter Geist. Oder zumindest ein neutraler Geist. Ich bin geschickt worden, um aufzupassen, daß es deinem Vater gutgeht. Ich muß mich jetzt um ihn kümmern und dann weiterziehen, um anderen Menschen zu helfen.«
»Oh, ich verstehe«, sagte Brigitte. Sie dachte eine Weile nach. »Du siehst aber ganz furchtbar wie ein Dämon aus.«
»Das Aussehen kann täuschen«, erklärte Azzie. »Laß mich gehen! Ich muß nach deinem Vater sehen.«
»Was gibst du mir dafür?« fragte Brigitte.
»Spielzeug«, sagte Azzie. »Mehr Spielzeug, als du jemals gesehen hast.«
»Gut«, erwiderte das kleine Mädchen. »Ich brauche aber auch noch neue Kleider.«
»Du bekommst eine völlig neue Garderobe. Aber laß mich jetzt frei!«
Brigitte kam näher und berührte den Knoten mit einem schmutzigen Zeigefinger. Dann hielt sie plötzlich inne. »Wenn ich dich freilasse, kommst du dann zu mir zurück, wenn ich dich rufe, und spielst mit mir?«
»Nein, das geht zu weit. Ich habe besseres zu tun. Ich kann nicht ständig für ein kleines rotznäsiges Dorfmädchen auf Abruf bereitstehen.«
»Na schön. Dann versprich mir, daß du mir drei Wünsche erfüllst, wann immer ich darum bitte.«
Azzie zögerte. Wünsche zu gewähren, kann einen in arge Schwierigkeiten bringen. Ein Dämon muß ein solches Versprechen einhalten. Und die Menschen und ihre Wünsche waren oft so extravagant!
»Ich gewähre dir einen Wunsch«, sagte er. »Solange er vernünftig ist.«
»Gut, einverstanden«, gab Brigitte nach. »Aber nicht zu vernünftig, ja?«
»Einverstanden! Und jetzt binde mich los!«
Brigitte löste den Knoten. Azzie rieb sich das Fußgelenk und kramte in seiner Tasche herum. Er fand eine Ersatzbatterie für sein Unsichtbarkeitsamulett, wechselte sie gegen die leere aus und verschwand.
»Und nicht vergessen, du hast es versprochen!« rief das kleine Mädchen.
Azzie wußte, daß er sein Versprechen nicht vergessen konnte, selbst wenn er es gewollt hätte. Versprechen, die übernatürliche Wesen gegenüber einem Menschen machen, werden im Amt für Ausgleichende Gerechtigkeit, das von Ananke geleitet wird, genau registriert. Vergißt ein Dämon ein gegebenes Versprechen, wird er von den Kräften der Notwendigkeit sehr schnell und schmerzhaft wieder daran erinnert.
Scrivener war in guter Verfassung. Er aß eine Schüssel Haferbrei und erteilte seinen Gehilfen und seiner Frau Anweisungen. Azzie verzog sich. Es wurde Zeit, daß er wieder sein gewohntes Leben aufnahm.
KAPITEL 4