121906.fb2 Das Erbe der Phaetonen - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 17

Das Erbe der Phaetonen - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 17

Der Flug zum Festland

In der zweiten Hälfte des langen Venustages erstarb das Leben am Ufer der Insel. Die „Aktinien“, die „Bänder“ und „Lianen“ schienen wie tot. Man konnte sie berühren, sooft man wollte, mit den Händen greifen und umbiegen — sie reagierten nicht.

Auch die längsten Regengusse erregten keine Bewegung bei ihnen.

„Der Vorgang der Anabiose ist auch auf der Erde oft zu beobachten“, erklärte Korzewski. „Allerdings hängt er dort von der Jahreszeit, hier jedoch von der Tageszeit ab. Viele Gewächse der Erde ersterben für die Dauer des Winters und feiern im Frühling Wiederauferstehung. Auch einige Tiere halten Winterschlaf. Auf der Venus aber ist der Tag die für Lebensprozesse ungünstige Zeit. Natürlich spielen hier auf der Insel Ebbe und Flut eine entscheidende Rolle. Die Meeresorganismen sind eingeschlafen, weil ihnen das Wasser fehlt. Auf dem Meeresgrund brodelt das Leben, wie wir gesehen haben, auch bei „Tage“. Die Inselbewohner haben sich an das besondere Leben auf einem Korallenriff, das bald im Wasser versinkt, bald wieder daraus emporsteigt, gewöhnt. Das ist sehr interessant, für einen Biologen tut sich hier ein weites Schaffensfeld auf.“ Er lächelte und rieb sich vor Freude die Hände.

„Leider werden wir nur anderthalb Monate auf der Venus bleiben“, entgegnete Balandin.

„Wir müssen darauf dringen, daß so schnell wie möglich eine zweite Expedition vorbereitet wird, und zwar für eine längere Zeit. Sie wollen das doch auch. Das Leben in den Meeren dieses Planeten ist für Sie doch ebenso interessant wie für mich.“ „Was kann man schon studieren, wenn man aus dem Boot nicht herauskommt?“ Der Professor seufzte tief.

Melnikows Vorhersage hatte sich bewahrheitet. Belopolski untersagte kategorisch, daß die Taucheranzüge benutzt würden.

Er ließ sie sogar wieder aus dem Boot ausladen und im Lagerraum verschließen, weil er Grund hatte zu befürchten, die Gelehrten würden im Eifer ihres Forscherdranges die Gefahr vergessen.

Der überraschende Tierreichtum im Ozean der Venus hatte den ganzen, von Balandin und Korzewski auf der Erde sorgfältig aufgestellten Arbeitsplan zunichte gemacht. Darauf war die Expedition nicht vorbereitet. Ihr fehlten die Mittel, Muster der Fauna und Flora des Meeresgrundes einzufangen. Das Unterseeboot war nicht mit Spezialfanggeräten ausgerüstet. Die leichten und bequemen Taucheranzüge, die vor allem für größte Bewegungsfreiheit gearbeitet waren, boten keinen Schutz gegen die Angriffe der gefährlichen Raubtiere, von deren Existenz man ebensowenig etwas geahnt hatte wie von der anderer hochorganisierter Organismen.

„Sie haben ja recht!“ sagte Balandin. „Aber wir sind da in eine dumme Lage geraten.“ „Und daran sind zum nicht geringen Teil Sie selbst schuld“, erklärte Belopolski. „Sie haben die Vorbereitungen für die Arbeit in der Tiefsee geleitet. Ich entsinne mich genau, daß die Konstrukteure vorschlugen, das Boot mit mechanischen Fanggeräten auszurüsten, aber Sie sagten, Sie brauchten keine. Wer — wenn nicht Sie — hat denn behauptet, daß es im Venusmeer kein organisches Leben gäbe? Es ist also kein Wunder, wenn beschlossen wurde, das Boot nicht mit einer überflüssigen Anlage zu belasten.“ „Ich habe mich auf die Taucheranzüge verlassen. Ich konnte nicht voraussehen, daß Sie uns verbieten würden, sie anzuziehen.“ Die Umstehenden lachten unwillkürlich.

„Was wollen Sie eigentlich?“ Belopolski wurde wütend. „Die Erlaubnis, einem Haifisch geradewegs in den Rachen zu steigen?“ So blieb Balandin und Korzewski infolge der Fehlentscheidung, die sie auf der Erde getroffen hatten, nichts anderes übrig, als sich damit zu begnügen, die Tiefsee der Venus durchs Schauglas des Unterseebootes zu beobachten.

Saizew hielt sein Versprechen und fuhr Balandin und Korzewski schon am Tage nach ihrer Rückkehr von den Stromschnellen wieder zu jener Stelle, an der sie den rätselhaften roten Schildkröten begegnet waren.

Aber diese ließen sich zum großen Kummer der Wissenschaftler nicht mehr blicken. Ungeheure Mengen von Schildkröten lagen und krochen auf dem Meeresgrund umher, nur ellipsoide Panzer waren nirgends zu entdecken. Sie waren spurlos verschwunden.

Diese besonderen Schildkröten fanden die Männer auch am zweiten und dritten Tage nicht.

„Wo sind die Tiere nur geblieben?“ fragte Balandin verständnislos. „Es waren doch mehrere von der Sorte zu sehen. Warum haben sie sich verzogen, während die anderen geblieben sind?“ „Wirklich schade!“ klagte Korzewski. „Ihren Schilderungen nach sind es ganz besondere Lebewesen.“ „Also — wieder ein Rätsel.“ Saizew seufzte.

Der Tag ging zur Neige. Am westlichen Horizont verglomm die unsichtbare Sonne. Die Flut stieg von Stunde zu Stunde.

Langsam schien die Koralleninsel in den Wellen zu versinken.

Der Laufsteg mußte an der unteren Luftschleuse neu installiert werden, dann wurde er ganz überflüssig, und schließlich brauchte man schon eine Treppe, um an Land zu gelangen. Am 21. Juli war die Insel vollends vom Meer verschlungen. Kaum ein Drittel der Korallenstämme ragte noch aus dem Wasser.

Das Motorboot konnte mühelos zwischen ihnen hin und her fahren.

Der Wind kam immer häufiger aus dem Osten. Von den Felsenklippen am Ausgang der Bucht nicht mehr geschützt, schlingerte das Raumschiff in der Dünung. Schließlich mußten die Fahrten mit dem Unterseeboot eingestellt werden. Es wurde gefährlich, von der Luftschleuse in das Boot hinüberzusteigen.

Außerdem nahm der Dunst über dem erhitzten Wasser so zu, daß das Boot, sobald es sich einige Meter vom Schiff entfernte, nicht mehr zu erkennen war.

Beim Abendessen teilte Belopolski mit, daß sie am nächsten Tag zum Kontinent fliegen würden.

„Um welche Zeit?“ fragte Toporkow hastig.

„Um zehn.“ „Können wir den Termin nicht auf halb eins verschieben?“ Konstantin Jewgenjewitsch zuckte verständnislos mit den Schultern. „Wir können. Aber warum? Bleibt es sich nicht gleich, ob wir um zehn oder um zwölf starten?“ Toporkow drehte nervös die Gabel in seiner Hand.

„Ich finde, es würde unserem Schiff, wenn es sowieso aufsteigt, nichts ausmachen, eine Weile über den Wolken zu fliegen.“ „Ich verstehe — Sie wollen einen Funkspruch an die Erde schicken. Die Wolken würden uns nicht daran hindern, wohl aber die ionisierte Schicht, die sich Ihren eigenen Berechnungen zufolge in einer Höhe von zweihundertfünfundvierzig Kilometern befindet.“ Alle am Tisch hatten aufgehört zu essen. Gespannt verfolgten sie die Unterhaltung. In den Blicken, die sich auf den Kommandanten richteten, waren Erregung, Hoffnung und inständiges Bitten zu lesen. Nur Melnikow hob den Kopf nicht. Er kannte Belopolski besser als die anderen.

„Aber könnten wir nicht höher steigen?“ fragte Toporkow.

Belopolski zog die Brauen zusammen.

„Wir könnten“, sagte er. „Aber ich darf das Raumschiff nicht grundlos der Gefahr des Absturzes aussetzen.“ Mit einem Ruck richtete Melnikow sich auf. Bleich sah er Belopolski an. Die gewohnte Selbstbeherrschung ließ ihn diesmal im Stich.

„Grundlos?“ stieß er scharf akzentuiert hervor. „Die Sorgen unserer Verwandten und Bekannten, ihre quälende Ungewißheit, ihre schlaflosen Nächte, ihr Kummer und ihre Verzweiflung — sind das keine Gründe?“ Es wurde still in der Kajüte. Alle schlugen die Augen nieder.

Belopolski schien nicht im geringsten gekränkt zu sein. Ruhig und ausgeglichen wie zuvor sagte er: „Ich trage vor unserem Land die Verantwortung für den Erfolg der Fahrt. Wenn das Schiff nicht zur Erde zurückkehrt, würden Verwandte und Bekannte sich noch viel mehr grämen. Wenn du schon jemand Egoismus vorwerfen willst, Boris, dann nicht mir.“ Das Abendessen endete in drückendem Schweigen.

Nachdem die ersten aufgestanden waren, wandte sich Belopolski, schon an der Tür stehend, an Saizew.

„Konstantin Wassiljewitsch“, sagte er so selbstverständlich wie möglich, „rechnen Sie aus, wieviel Treibstoff wir noch haben und wieviel wir brauchen würden, um eine Stunde in dreihundert Kilometer Höhe über den Wolken zu fliegen. Boris Nikolajewitsch wird Ihnen dabei helfen.“ Am nächsten Tag, dem 22. Juli, wurde die „SSSR-KS 3“ von den Motorbooten mit dem Bug nach Osten gedreht, damit die Kronen der Korallenbäume beim Start nicht störten, und zwölf Uhr zwanzig breitete sie die Tragflächen aus. Nachdem sie über anderthalb Kilometer auf dem Wasser dahingerast war, erhob sie sich in die Lüfte.

Belopolski und Melnikow saßen nebeneinander am Steuerpult. In weiten Spiralen stieg das Schiff immer höher. Über die kleine Unstimmigkeit vom vorhergehenden Tag fiel kein Wort, aber Konstantin Jewgenjewitsch sprach mit seinem Schüler besonders freundlich, und Melnikow bat, indem er jedes Wort des Kommandanten äußerst bereitwillig aufnahm, seiner Schroffheit wegen gleichsam um Entschuldigung. Kleinliche Eitelkeit, die jeder lebendigen Sache so abträglich ist, war beiden fremd.

Weit unter ihnen blieben die Wellen des Ozeans zurück, die düsteren Wolken, die Gewitterfronten und die zahllosen Blitze, die auf den Wellen tanzten. Über dem Raumschiff spannte sich das blaßblaue reine Himmelsgewölbe, in dem blendendhell und riesengroß die Sonne ruhte.

Sie stiegen noch höher. Immer mehr verdunkelte sich der Himmel. Seine Farbe ging allmählich in kräftiges Blau, dann in Dunkelblau und schließlich in Violett über.

In einer Höhe von achtzig Kilometern sackte das Schiff plötzlich ein Stück ab. Die verdünnte Luft bot seinen Tragflächen nicht mehr genügend Widerstand. Daraufhin wurden die beiden Haupttriebwerke eingeschaltet. Mit ihrer Hilfe stieg die „SSSR-KS 3“ weitere hundert Kilometer.

Der Himmel wurde beinahe schwarz, und auf seinem Grund funkelten die Sterne.

Nachdem auch das dritte und danach das vierte Triebwerk eingeschaltet waren, fuhr Melnikow die Tragflächen ein. Sie waren überflüssig geworden; das Düsenflugzeug hatte sich wieder in eine Rakete verwandelt.

Die ionisierte Schicht, die den Funkwellen den Weg verlegte, begann zweihundert Kilometer über der Oberfläche des Planeten und endete in zweihundertsechzig Kilometer Höhe.

Kaum zeigten die Geräte an, daß das Ziel erreicht war, da schaltete Toporkow schon den Sender ein. Die Richtantenne war bereits ausgefahren und auf die Erde eingestellt. Nach der Sonne und den Sternen hatte Paitschadse die genaue Richtung leicht ermitteln können.

Die Schiffsbesatzung war überzeugt, daß die Funkstation des Kosmischen Instituts täglich erwartungsvoll auf ihre Wellenlänge eingestellt war. Es konnte gar nicht anders sein.

Genau zwölf Uhr fünfundfünfzig Moskauer Zeit trat ein Funkspruch, der knapp, aber aufschlußreich über die Ereignisse auf der Venus berichtete, seinen langen Weg an.

„Wann könnte Antwort hier sein?“ fragte Melnikow.

„Als wir auf der Venus landeten“, antwortete Belopolski ausführlich wie immer, „betrug die Entfernung zwischen den beiden Planeten neunzig Millionen Kilometer. Seitdem sind zweihundertachtzig Stunden vergangen. Die Venus holt die Erde ein, und die Entfernung verringert sich. Zur Zeit sind es einundachtzig Millionen Kilometer. Die Funkwellen brauchen viereinhalb Minuten, um diese Entfernung einmal zurückzulegen.“ „Also wird die Antwort in neun Minuten hier eintreffen?“ „Rechne noch eine Minute fürs Lesen des Funkspruchs und eine weitere Minute fürs Zusammenstellen der Antwort hinzu.

In elf Minuten werden wir die Antwort erhalten. Wenn unser Funkspruch sein Ziel erreicht“, schloß Belopolski.

„Warum sollte er nicht ankommen? Die ionisierte Schicht liegt doch unter uns!“ „Wir kennen die Atmosphäre der Venus nur ungefähr. Vielleicht besitzt sie eine zweite ionisierte Schicht, die gar noch mächtiger als die erste ist?“ Außer den Kommandanten hatte sich die ganze Besatzung in der Funkkabine eingefunden. Neun Männer verfolgten den Lauf des Sekundenzeigers auf der Uhr.

Neun, zehn, elf Minuten vergingen. Keine Antwort kam.

Zwölf…

Niemand sprach. Alle hielten den Atem an. Der Mißerfolg schien eindeutig, der Funkspruch hatte offenbar die Erde nicht erreicht. Das Schiff hätte noch höher steigen und in den interplanetaren Raum hinausfliegen müssen.

Alle wehrten sich gegen den Gedanken, die Funkstation auf der Erde sei vielleicht nicht besetzt. Das war unmöglich, undenkbar __ Den zutiefst aufgewühlten Menschen kamen die Sekunden wie Minuten vor.

Als es schließlich für alle schon feststand, daß der Versuch gescheitert wäre, antwortete jemand deutlich aus dem Lautsprecher: „Haben euren Funkspruch erhalten. Danken euch, daß ihr das Risiko eingegangen seid, um uns zu beruhigen. Raten, unverzüglich auf die Venus zurückzukehren. Wünschen vollen Erfolg in der Arbeit und ihren glücklichen Abschluß. Die Familien der Besatzungsmitglieder sind gesund, und bei ihnen ist alles in Ordnung. Bestätigt den Empfang unseres Funkspruchs und landet sofort wieder. Sehr herzlichen Gruß! Sergej Kamow.“ Als flammten die elektrischen. Lampen heller auf und als würde selbst die Luft klarer — so war den Männern plötzlich zumute. Eine drückende Last war von ihren Herzen genommen.

„Funkspruch empfangen. Verstanden. Nächste Verbindung 27. August. Schalte Sender ab“, sagte Toporkow.

Kaum waren die Worte verhallt, als das Raumschiff die Flughöhe verringerte und dorthin zurückflog, wo sich in weiter Ferne wie eine schneeweiße Masse der endlose Wolkenozean breitete.

Zufällig streifte Melnikows Blick den Kommandanten, und der junge Wissenschaftler staunte über das ungewöhnliche Bild, das sich ihm bot: Konstantin Jewgenjewitsch lächelte. Das war nicht nur der Anflug eines Lächelns, wie er es schon mehrmals auf dem strengen Antlitz Belopolskis wahrgenommen hatte, sondern es war das breite, freundliche Lächeln eines Menschen, dem ein Stein vom Herzen gefallen ist. Noch eine Sekunde — so schien es —, und Belopolski würde aus vollem Halse lachen.

Wenn ich das Arsen erzähle, wird er es nicht glauben wollen!

dachte Melnikow.

Die Landung dauerte bei weitem nicht so lange wie der Start.

Nach achtzehn Minuten tauchte das Schiff bereits in die Wolken, und nachdem es sie hinter sich gelassen hatte, geriet es — wie vor zwölf Tagen — mitten hinein in ein Gewitter. Die Venus schien ihre Gäste nicht anders empfangen zu können.

„Zum dritten Male nähern wir beide uns nun der Venus“, sagte Melnikow. „Wenn ich bedenke, daß wir in wenigen Minuten den orangeroten Wald wieder vor uns haben… Wenn es doch wenigstens etwas Grün dort gäbe!“ „Bei Ihnen zeigt sich das Resultat der geistigen Verbindung mit der Erde“, entgegnete Belopolski leicht spöttisch.

„Nicht einen einzigen Augenblick habe ich diese Verbindung jemals verloren“, stieß Melnikow beleidigt hervor.

„Das glaube ich Ihnen gern. Aber bisher unterdrückte das Interesse an der Arbeit alles andere. Was für ein Unterschied ist das schon — Grün oder Orange!“ Er ist trotz allem ein sonderbarer Mensch, dachte Melnikow.

Man durchschaut ihn nicht ganz.

Das Festland lag zu dieser Zeit beinahe auf der Grenze zwischen der Tag- und Nachthälfte des Planeten. Wenn sie nach Westen flogen, konnten sie es nicht verfehlen. Und wirklich war nach zwanzig Minuten Flug auf dem Bildschirm orangeroter Wald zu sehen, Melnikow, der das Schiff gerade steuerte, drehte nach Norden ab, um die Flußmündung zu suchen.

Minuten vergingen, aber der Fluß kam noch immer nicht in Sicht. Da bemerkten die Männer, daß sich der Wald lichtete.

Ebenen dehnten sich, die von Bord des U-Bootes aus nicht zu sehen gewesen waren.

„Wir sind entweder bedeutend weiter südlich oder nördlich des Flusses“, erklärte Melnikow. „Die Gegend kenne ich nicht.“ „Eher wohl nördlich“, antwortete Belopolski. „Wenden wir.“ Melnikow zog die Ruder. Das Schiff beschrieb einen weiten Halbkreis und ging auf Gegenkurs.

Eine halbe Stunde etwa flogen sie an der Küste entlang, ohne auf ein einziges Gewitter zu stoßen. Zwar waren überall finstere Wolkengebirge zu sehen, aber diese schienen ebenfalls nach Süden abzuziehen.

Aus sechshundert Meter Höhe eröffnete sich ein weiter Rundblick, und Belopolski und Melnikow entdeckten zu gleicher Zeit den gesuchten Fluß. Er bog unweit der See scharf nach Nordwesten ab und verschwand hinter einem Waldmassiv. Der Horizont war von dieser Seite mit Gewitterwolken verhangen.

„Immer und überall diese Gewitter“, murrte Melnikow verdrießlich.

Das Landschaftsbild der Venus, ihm längst vertraut, regte ihn diesmal auf. Ähnlich empfanden auch die anderen Genossen.

Alle maßen den bleigrauen Himmel und den‘‘ orangeroten Küstenstreifen mit trübseligen Blicken. Sie sehnten sich nach etwas, was wenigstens entfernt an die Heimat erinnerte. Aber außer den Wassern des Ozeans war alles von fremder Art.

„Warten wir ab“, murmelte Konstantin Jewgenjewitsch ruhig.

„Wir haben ja keine Eile.“ Mit geringster Geschwindigkeit kreiste das Raumschiff in Küstennähe und wartete, daß die Gewitter abzögen. Bald wurde der Weg frei.

Noch zwanzig Minuten Flug, dann mußten sich in der Ferne die Stromschnellen abzeichnen, die aus der Höhe wie ein dünner weißer Strich aussahen.

„Sehen Sie dort — ein See!“ rief Belopolski plötzlich.

Melnikow warf einen Blick auf den Bildschirm. Tatsächlich war ganz in der Nähe der Stromschnellen inmitten der Bäume ein Waldsee zu erkennen, der, soweit man es aus dieser Entfernung schätzen konnte, einen Durchmesser von zwei Kilometern hatte. Als sie näher kamen, zeigte sich, daß das nördliche Ufer des Sees flach war, das südliche aber steil aus dem Wasser emporstieg. Der Wald reichte beinahe bis ans Wasser heran.

Das Raumschiff glitt hinab zu den Baumkronen. Die Triebwerke arbeiteten mit der für diese geringe Höhe minimalsten Geschwindigkeit, sie betrug aber immer noch über fünfzig Meter pro Sekunde.

Als die „SSSR-KS 3“ den See erreicht hatte, folgte Melnikow der Uferlinie.

„Ich sehe Balken am Nordufer“, teilte Paitschadse durch den Lautsprecher mit.

Er stand zusammen mit den anderen im Observatorium und konnte die Landschaft nicht nur durch den Bildschirm, sondern auch durchs Fenster beobachten.

In diesem Augenblick entdeckte auch Melnikow einen hohen Holzstapel — nicht nur einen, sondern mehrere. Sie lagen gleichweit voneinander entfernt und waren aus ebensolchen Stämmen geschichtet, wie Balandin und er sie an den Stromschnellen gesehen hatten. Aber das Schiff flog so schnell darüber hinweg, daß man sie nicht genau betrachten konnte.

„Ich sehe einen Staudamm aus Holz!“ Saizews Stimme zitterte vor Erregung. Das gleiche meldeten Balandin und Knjasew.

Das Raumschiff flog gerade auf den Westzipfel des Sees zu und drehte, über die linke Tragfläche geneigt, nach Süden.

Weder Belopolski noch Melnikow hatten den Staudamm sehen können.

„Wo sehen Sie einen Staudamm?“ fragte Konstantin Jewgenjcwitsch.

„Er liegt schon hinter uns“, antwortete ihm Balandin. „Aus dem See fließt ein kleiner Fluß ab, den ein Wehr aus fest zusammengefügten Balken absperrt.“ „Dieser See ist noch rätselhafter als die Stromschnellen“, sagte Melnikow. „Aber er ist lang genug. Wir werden hier landen.“ „Auf keinen Fall auf dem Wasser“, entgegnete Belopolski in ungewöhnlichem Tonfall. „Nur am Ufer.“ „Am Ufer ist kein Platz, es ist zu schmal.“ „Dann am Fluß, dort, wo wir ursprünglich landen wollten.“ „Aber warum denn nicht hier?“ fragte Melnikow, jedoch nach einem Blick auf den Kommandanten verstummte er. Solch einen Ausdruck wie in diesem Augenblick hatte er bei seinem Lehrer und Freund noch nie bemerkt. Sein Gesicht war mit tiefen Runzeln bedeckt, er wirkte strenger als sonst, und jeder Zug darin, der Glanz der Augen und das Zittern der Lippen verrieten, daß der Gelehrte zutiefst aufgewühlt war. Unablässig musterte er den spiegelglatten See, und auf seinem Gesicht verhärtete sich gespannte Erwartung.

Reglos lag der See. Nicht das geringste Lebenszeichen war zu erkennen. Ebenso tot lag das flache Ufer, auf dem riesige Bäume und orangefarbene Sträucher wuchsen. Nichts rührte sich. Nur das dichte Laub tanzte im Wind.

Ohne weitere Fragen zu stellen, steuerte Melnikow auf den Fluß zu. Er lag ganz in der Nähe des Sees. Nicht mehr als einen Kilometer entfernt.

Schon als sie das erstemal zu den Stromschnellen kamen, hatte Melnikow eine Stelle ausfindig gemacht, die sich zur Landung eignete. Es war ein langer und breiter Uferstreifen, ein Feld, auf dem das Schiff ungehindert landen und von dem es auch wieder starten könnte. Das Gelände war eben und schien völlig trocken zu sein; dort wuchs das gelbbraune Gras.

„Beeil dich!“ sagte Belopolski. „Ein Gewitter zieht auf!“ Melnikow verständigte die Besatzung durch ein Klingelzeichen von der bevorstehenden Landung.

Als die vorgesehene Stelle in Sicht kam, wurden die Triebwerke abgestellt. Das riesige Schiff glitt, rasch langsamer werdend, auf das Ufer zu. Das schwere Achterschiff sank tiefer.

Kamows Konstruktion, die eine Landung mit Hilfe von Stützarmen vorsah, verlangte vom Piloten äußerste Konzentration und Präzision jeder Bewegung. Das Landemanöver war so schwierig, daß der Autopilot trotz aller Anstrengungen der Konstrukteure den Menschen dabei nicht ersetzen konnte. Belopolski und Melnikow hatten lange Zeit gebraucht, um diese Kunst zu erlernen; denn es war keine Technik mehr, sondern Kunst. Mit außerordentlicher Genauigkeit mußte der Augenblick abgepaßt werden, in dem das Schiff im Zustand labilen Gleichgewichts gleichsam in der Luft stillzustehen schien. In einem kleinen Übungsraumschiff hatten sie Dutzende Male dieses Manöver auf der Erde ausgeführt.

Aber es war unvergleichlich schwieriger, solch ein gigantisches Schiff wie die „SSSR-KS 3“ mit Hilfe der Stützarme zu landen.

Der Kommandant übertrug diese verantwortungsvolle Aufgabe daher in Anbetracht seines Alters dem jüngeren Kollegen, dessen Hand sicherer war und der, wie man allgemein sagte, überhaupt keine Nerven besaß.

Melnikow sah nicht mehr auf den Bildschirm. Er konzentrierte sich ganz auf den Höhenmesser und das Tachometer. Die beiden Zeiger sanken rasch auf Null.

„Eins“, sagte Belopolski gepreßt.

Das hieß, daß das Achterschiff noch einen Meter über dem Erdboden hing. Noch eine Sekunde … zwei Sekunden …

„Die Stützarme“, kommandierte Melnikow.

Belopolski drückte auf einen Knopf.

Sie verspürten einen sanften Stoß — das Heck hatte den Boden berührt. Im selben Augenblick wurden die Stoßdämpfer ausgefahren. Zitternd kam das Raumschiff zum Stillstand. Mächtige Motoren fuhren die Stützarme schnell wieder ein. Die Tragflächen verschwanden in den entsprechenden Aussparungen, und das Schiff legte sich mit seinem ganzen Leib auf den Boden.

„Bravo!“ rief Paitschadse durch den Sprechfunk. „Boris, du bist ein Prachtkerl!“ „Scheint alles glatt gegangen zu sein“, sagte Melnikow zurückhaltend. „Sergej Alexandrowitschs Konstruktion hat die letzte und schwerste Prüfung bestanden.“ Die „SSSR-KS 3“ war genau in der Mitte zwischen Wald und Fluß gelandet. In etwa anderthalb Kilometer Entfernung stromaufwärts lagen die Stromschnellen.

„Konstantin Jewgenjewitsch, wissen Sie noch: Als wir mit der,SSSR-KS 2‘ flogen, glaubten wir, auf dem Festland der Venus gäbe es keine Stelle, die sich für eine Raumschifflandung eignet.

Doch es gibt solche Stellen in Hülle und Fülle.“ „Ja, da haben wir uns geirrt“, bestätigte Belopolski. „Aber das ist kein Wunder. Um einen Planeten kennenzulernen, genügt es nicht, ihn kurze Zeit zu überfliegen. Wir sind jetzt schon zwölf Tage hier und wissen trotzdem noch nicht viel. Die Venus bereitet uns eine Überraschung nach der anderen. Und die größte Überraschung steht uns noch bevor… Auf dem See.“ Das letzte Wort hatte er fast geflüstert, und Melnikow sah in seinem Gesicht abermals Erregung aufflackern.

„Warum haben Sie uns nicht auf dem See landen lassen?“ Belopolski ließ sich Zeit mit der Antwort. Er schien unschlüssig.

„Wissen Sie, mir ist da so ein Gedanke gekommen“, sagte er zögernd und beinahe zaghaft. „Ein sehr merkwürdiger Gedanke … Dieser See…“ „Was ist mit ihm?“ „… ist gar kein See. Genauer gesagt — er ist nicht das, was wir gewöhnlich darunter verstehen.“ Ohne seine Worte näher zu erklären, verließ der Kommandant die Kajüte.

„Was wollte er damit sagen?“ fragte Balandin.

„Ich weiß es wahrhaftig nicht“, gestand Melnikow verstört.

„Ich habe keine Ahnung.“ „,… ist gar kein See‘“, wiederholte der Professor. „Sonderbar! Meiner Meinung nach ist das ein ganz gewöhnlicher Waldsee, wenn man von dem Wehr und den Stapeln am Ufer absieht. Aber der See selbst…“ Sie unterhielten sich über Sprechfunk. Melnikow sah seinen Gesprächspartner nicht, malte sich aber aus, wie Balandin verständnislos die Schultern hob.

„Konstantin Jewgenjewitsch hat sicherlich etwas entdeckt, was… wir müssen uns bei ihm eingehend erkundigen.“ „Das führt zu nichts!“ sagte Melnikow überzeugt. „Er wird es nicht verraten.“ Der Professor versuchte trotzdem zu erfahren, was der Expeditionsleiter hatte andeuten wollen. Wie nicht anders zu erwarten, erreichte er nichts.

„Es wird sich bald zeigen“, antwortete Belopolski. „Man darf nicht voreilig Schlüsse ziehen.“ „Ich bin sicher, daß er etwas weiß“, sagte Balandin, als er von seinem ergebnislosen Erkundungsvorstoß zurückkehrte.

„Aber schlagt mich tot — ich kann mir nicht vorstellen, was es sein könnte.“ „Wir werden es schon noch erfahren“, tröstete ihn Melnikow.

Es war vier Uhr Moskauer Zeit. Auf der Venus näherte sich die lange Nacht, die elf Erdentage und elf Erdennächte währen würde.