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Durch den menschlichen Organismus fließen ununterbrochen nach Spannung, Frequenz und Stärke unterschiedliche elektrische Ströme. Bei jeder Tätigkeit des lebenden Gewebes kommt es zu einer Veränderung des elektrischen Potentials. Jeden Befehl des Gehirns, der durch das Zentralnervensystem an die Muskeln weitergegeben wird, kann man durch einen Spezialapparat in Form eines Elektrogramms aufzeichnen.
In der Wissenschaft werden diese Ströme des Organismus als „Bioströme“ bezeichnet.
Unsere Technik hat längst gelernt, die in den Muskeln entstehenden Bioströme für das Funktionieren künstlicher Gliedmaßen — Arme oder Beine — auszunutzen. Heute steht die Herstellung von Maschinen, die unmittelbar durch Hirnströme gelenkt werden, auf der Tagesordnung von Wissenschaft und Technik. Schwierigkeiten ergeben sich jedoch daraus, daß die zahllosen Impulse, die gleichzeitig von den Milliarden Nervenzellen des Gehirns ausgehen, voneinander getrennt werden müssen.
Im Jahre 19…, als die „SSSR-KS 3“ zur Venus flog, gingen in der UdSSR, in den USA und anderen Ländern die ersten Muster hirngesteuerter Maschinen in Produktion. Sie waren noch sehr einfach, aber die Entwicklung komplizierterer und vollkommenerer zeichnete sich bereits ab. Selbstbewußt stattete der Mensch die Technik mit der Kraft seines Denkens aus.
Der Ausdruck „mit Gedankenschnelle“ ist allgemein bekannt.
Und in der Tat entsteht der Gedanke praktisch in einem Augenblick. Die durch den Gedanken ausgelöste Handlung aber erfolgt unvermeidlich mit Verzögerung. Um einen Befehl des Gehirns in Bewegung umzusetzen, benötigen die Muskeln Zeit.
Eine gut konstruierte Maschine jedoch kann ebensoschnell arbeiten, wie der Mensch denkt. Daraus erhellt, welche Vorteile die unmittelbare Übertragung eines Befehls vom Gehirn zur Maschine bietet. Das Zwischenglied, die Handbewegung des Menschen, entfällt. Durch diese Steuermethode werden Schnelligkeit und Genauigkeit erheblich gesteigert. Das Denken wird unmittelbar in Handlung umgesetzt, ohne Entstellungen, wie sie die Organe unseres Körpers — Gelenke, Muskeln und schließlich die Finger, die nicht biegsam und gehorsam genug sind — ständig hervorrufen.
Den Kommandanten von Weltraumschiffen eröffnen sich angesichts der ungeheuren Fluggeschwindigkeit und der häufigen Notwendigkeit, blitzschnelle Entschlüsse fassen und sie ebenso blitzschnell in die Tat umsetzen zu müssen, durch die gedankliche Steuerung ungeahnte Möglichkeiten. Es verwundert daher nicht, daß sich die Phaetonen, deren wissenschaftliche und technische Entwicklung der irdischen weit voraus war, für dieses, das vollkommenste Prinzip der Raumschifflenkung entschieden hatten.
Die auf Bioströmen beruhende Technik war auch auf der Erde bereits bekannt. Deshalb kamen Melnikow und Wtorow verhältnismäßig leicht hinter das Rätsel der fremden Steuerungstechnik, das ihnen anfangs unlösbar erschienen war.
Die entscheidende Rolle spielte dabei die Ähnlichkeit zwischen den Menschen des Phaeton und denen der Erde. Sie waren gleich gebaut, die Natur hatte sie nach ein und demselben Muster geschaffen. Das Gehirn der Phaetonen — das ließ sich mit Sicherheit sagen — war dem des Menschen analog, ein Unterschied bestand lediglich im Entwicklungsstand. Die Denkweisen unterschieden sich nicht voneinander. Was die Phaetonen konnten, konnten auch die Menschen. Natürlich dachten die Phaetonen konkreter, genauer, war ihre Phantasie reicher und mannigfaltiger, ihre Vorstellungskraft deutlicher und plastischer.
Dennoch handelte es sich um das gleiche Denken, die gleiche Phantasie, die gleichen Vorstellungen. Das bewies die Tatsache, daß die Mechanismen Wtorows Gedanken gehorcht hatten.
Durch seine Vorstellungskraft hatte er das Raumschiff veranlaßt, von der Venus fortzufliegen, hatte er die fünfeckigen Türen geöffnet, die Wände durchsichtig und dann wieder undurchsichtig gemacht, hatte er schließlich das Licht wunschgemäß zum Aufflammen und zum Erlöschen gebracht. Das bedeutete, daß die Bioströme seines Gehirns genau denen des Phaetonengehirns entsprachen.
War das ein glücklicher Zufall? Konnte man sagen, daß Melnikow und Wtorow nur dank diesem Zufall Aussicht auf Rettung hatten? Natürlich nicht! Hätten sich Wtorows Bioströme von denen der Phaetonen unterschieden, wäre eine Rettung überhaupt nicht notwendig geworden. Dann läge das Raumschiff noch immer auf der Venus. Was geschehen war, hatte dieselbe Kraft hervorgerufen, die sie jetzt retten sollte.
Die Aufgabe war einfach, aber nicht leicht. Praxis in der gedanklichen Steuerung hatte Wtorow natürlich nicht. Diese Kunst mußte er sozusagen im Fluge, während des Steuerns selbst erlernen. Angesichts der ungeheuren Geschwindigkeit, mit der das Raumschiff flog, barg das große Gefahren in sich. Eine scharfe Kurve zum Beispiel konnte ihnen durch Überlastung den Tod bringen. Wtorows Vermutung, die Phaetonen hätten sich unmöglich ganz und gar auf ihre eigene Vorstellungskraft verlassen und die Automatik ihres Raumschiffs würde solch scharfe Kurven nicht zulassen, bedurfte noch der Überprüfung.
Die „Qualität“ des Denkens der Phaetonen, seine Diszipliniertheit waren vorläufig unbekannt.
Um diese Überprüfung kamen Melnikow und Wtorow nicht herum. Ohne zu zögern, entschlossen sie sich daher zu einem gefährlichen Experiment.
„Unsere Rettung hängt von dir ab“, sagte Melnikow. „Aber übereil nichts, sei äußerst vorsichtig. Übereilung wäre unser sicheres Verderben.“ „Das weiß ich“, erwiderte Wtorow.
„Wir müssen den Stier bei den Hörnern packen. Versuchen wir, eine Wendung von hundertachtzig Grad auszuführen. Wenn du recht hast und die Automatik läßt keine scharfe Kurve zu, sind wir gerettet. Vollführt das Raumschiff aber diese knappe Wendung, ist alles aus.“ „Ich weiß“, wiederholte Wtorow. „Ich bin bereit.“ „Es kann auch passieren, daß das Raumschiff deinem ‚Befehl‘ überhaupt nicht gehorcht. Dann …“ „Dann ist ebenfalls alles aus“, unterbrach ihn Wtorow. „Nur daß der Tod dann nicht sofort eintritt. Ich weiß das alles, Boris Nikolajewitsch, und ich bin ganz ruhig. Gehen wir zum Pult.
Verlieren wir keine Zeit mehr.“ Mit Verwunderung registrierte Melnikow die feste Stimme seines Kameraden. Keine Spur von Aufregung war auf Wtorows Gesicht festzustellen. Er war nach den wenigen Stunden der Ruhe wie umgewandelt, glich in nichts mehr jenem Menschen, der noch wenige Stunden zuvor beinahe in Hysterie verfallen wäre. Eine erstaunliche Veränderung!
„Ja, gehen wir!“ Sie hatten volle acht Stunden fest und traumlos geschlafen.
Zu gleicher Zeit waren sie wieder aufgewacht, und Wtorow hatte sofort für Licht gesorgt; es war gehorsam aufgeflammt, sobald er es wünschte. Ebenfalls waren die Wände sofort wieder durchsichtig geworden.
Wo mochten sich die erstaunlichen Mechanismen der Phaetonen befinden? Höchstwahrscheinlich waren es jene langgestreckten, flachen Kästen, die in allen Räumen standen. Sie mußten über eine wahrhaft märchenhafte Empfindlichkeit verfügen, wenn sie die schwachen Bioströme des Gehirns noch über eine Entfernung von mehreren Metern empfingen. Welch einen Riesensprung vorwärts würde die Wissenschaft der Erde machen, wenn sie hinter das Geheimnis von Konstruktion und Arbeitsweise dieser Mechanismen kam. Das Raumschiff der Phaetonen, eine Gipfelleistung wissenschaftlichen und technischen Denkens, war eine wahre Schatzkammer des Wissens der älteren Brüder des Menschen. Und dieser Schatz war durch den Willen des Schicksals zwei Menschen anvertraut. Von ihnen hing es ab, ob er erhalten blieb oder verlorenging. Nachdem sie sich hierüber klargeworden waren, erschien ihnen ihr eigenes Schicksal bedeutungslos. Der anfängliche Wunsch, nur sich selbst zu retten, wurde allmählich durch einen anderen verdrängt: das Raumschiff zu retten, koste es, was es wolle — für die Wissenschaft, für die Menschheit, für die Heimat.
„Sei äußerst vorsichtig“, wiederholte Melnikow, als sie vor der Wand standen, hinter der sich das geheimnisvolle Steuerpult befand.
Erneut flammte der blaue Ring mit dem gelben Kreuz auf.
„Jetzt ist seine Bedeutung ganz klar“, sagte Wtorow. „Achte auf deine Gedanken, mahnte er.“ „Wenn es wirklich so ist, steigen unsere Erfolgsaussichten beachtlich. Das Signal gilt ja nicht nur uns. Es hat auch den Phaetonen gegolten. Folglich wäre ihr Denken gar nicht so diszipliniert gewesen, wie wir angenommen haben. Ich fange an zu glauben, daß das Raumschiff durch eine Art Autopiloten gesteuert wird. Nur daß diesem Autopiloten gedankliche Befehle erteilt werden. Das ist der einzige Unterschied, ansonsten durfte er genauso funktionieren wie unserer.“ „So wird‘s sein“, pflichtete Wtorow ihm bei.
Ebenso plötzlich wie die fünfeckige Öffnung aufgetaucht war, überzog sie sich wieder mit Metall und verschwand. Melnikow sah Wtorow fragend an.
„Ja, ich habe sie wieder geschlossen“, sagte der junge Ingenieur. „Solche Versuche festigen mein Selbstvertrauen.“ „Da tust du ganz recht. Üb dich nur sooft wie möglich.“ „Warum verlassen Sie sich nur auf mich? Vielleicht könnten Sie selbst…“, fragte Wtorow.
„Ich hab‘s schon probiert. Aber ergebnislos. Entweder habe ich nicht begriffen, worauf es ankommt, oder die Mechanismen sprechen auf die Bioströme meines Gehirns nicht an. Wie dem auch sei, nur du kannst auf sie einwirken.“ Erneut öffnete sich die Tür, nachdem zuvor der blaue Ring mit dem gelben Kreuz erschienen war.
Sie begaben sich in den Steuerraum.
„In welchen Sessel soll ich mich setzen?“ „In denselben wie gestern. Ich nehme an, die Phaetonen hatten vier Piloten, jeder mit seinem eigenen Platz. Die Bioströme sind bei den einzelnen Menschen unterschiedlich. Dieses Ding da besteht wahrscheinlich aus vier gleichartigen Steuerpulten, die aber auf verschiedene Ströme ansprechen!“ „Wahrscheinlich. Also los, Boris Nikolajewitsch, machen wir den ersten Versuch. Halten Sie sich irgendwo fest.“ „Hier ist nichts zum Festhalten“, erwiderte Melnikow. „Ich lege mich auf den Steg.“ Bei dem Wort „legen“ lächelten beide unwillkürlich. Keiner von der Besatzung der „SSSR-KS 3“ konnte sich Worte wie „gehen“, „sich setzen“ und „sich legen“ abgewöhnen, obgleich die entsprechenden Handlungen in der Welt der Schwerelosigkeit unmöglich waren.
Wtorow stieß sich leicht von der Wand ab und schwebte durch die Luft auf den Sessel zu. Er hielt sich an ihm fest und nahm darauf eine sitzende Stellung ein. Sofort erstarrten die flimmernden Punkte auf der Facette vor ihm, und der blaue Ring mit dem gelben Kreuz flammte auf. Sobald er wieder verschwunden war, wurden die Wände der Kugel durchsichtig.
„Das habe nicht ich veranlaßt“, sagte Wtorow. „Das ist automatisch erfolgt.“ „Versuch die Wände zu zwingen, wieder undurchsichtig zu werden“, forderte Melnikow ihn auf.
Wtorow konzentrierte sich. Aber was in den anderen Räumen so leicht gegangen war, gelang hier nicht. Die Wände blieben durchsichtig.
„Irgend etwas stimmt nicht.“ „Das ist ganz in Ordnung“, beeilte sich Melnikow zu versichern, da er befürchtete, der Mißerfolg könne Wtorow das notwendige Selbstvertrauen rauben. „Hier am Pult ist alles anders als in den übrigen Räumen. Der Pilot soll sich auf die Manöver des Raumschiffs konzentrieren. Alles andere ist vollkommen automatisiert, um seine Aufmerksamkeit nicht abzulenken.“ „Ja, wahrscheinlich ist es so. Jedenfalls leuchtet die Erklärung ein. Legen Sie sich hin, Boris Nikolajewitsch!“ In einem Abstand von wenigen Millimetern streckte sich Melnikow längs des Steges aus. Sollte es einen Stoß geben, würde der Steg gut federn; das hatten sie wiederholt festgestellt.
Der entscheidende Moment kam. In wenigen Augenblicken würden sie Bescheid wissen. Gespannt starrte Melnikow zur Venus. Während sie geschlafen hatten, war der Planet noch weiter in die Ferne gerückt. Er sah jetzt wie eine riesige weiße Kugel aus, etwa achtmal so groß wie der Vollmond am irdischen Himmel. Also beträgt der Abstand etwas mehr als eine halbe Million Kilometer, dachte Melnikow mechanisch.
Sobald Wtorow den Sesselsitz berührte, begann er in Gedanken Verse zu deklamieren, um nicht versehentlich etwas zu denken, was auf das Pult einwirken könnte. Als er sah, daß Melnikow bereit war, brach er mitten in einer Verszeile ab und schloß die Augen.
Flüchtig tauchte der Gedanke bei ihm auf, sie könnten im nächsten Moment sterben, wenn das Raumschiff seinem Befehl sofort gehorchte. Eine blitzschnelle Wendung des Schiffs, durch die Trägheit bedingt ein entsetzlicher Ruck, ein ungeheuer heftiger Aufprall an der Wandung, und aus! Da spürte er, daß ihn eine sanfte Gewalt in den Sessel drückte. Im Raumschiff machte sich Fliehkraft bemerkbar! Sie konnte nur bei einer Wendung auftreten.
Was war geschehen? Er hatte doch noch gar nicht Befehl gegeben, war noch gar nicht dazu gekommen, an eine Wendung zu denken! Er wollte es gerade erst tun.
„Das Raumschiff wendet!“ sagte Melnikow. „Der Versuch ist geglückt. Der Richtung der Fliehkraft nach zu urteilen, erfolgt die Wendung in der vertikalen Ebene. Noch besser merkt man das an der Stellung von Venus und Sonne. Gratuliere, Gennadij Ich rate dir, das Pult sofort wieder zu verlassen.“ Wtorow gehorchte mechanisch. Er begriff nichts mehr. Mellukow glaubte, die Wendung habe er, Wtorow, bewirkt, dabei war das gar nicht der Fall. Oder vielleicht doch? Er hatte sich gerade ihr Ende, die Folgen einer scharfen Wendung, ausgemalt. Augenscheinlich genügte das, um die Automatik in Gang zu setzen. Aber während er sich eine plötzliche Wendung vorgestellt hatte, wendete das Raumschiff ganz allmählich. Das bedeutete, daß sich ihre Hoffnungen erfüllt hatten. Die geheimnisvollen Mechanismen nahmen wohl den Sinn eines Befehls auf, seine Ausführung aber erfolgte auf eine Weise, die nicht vom Willen des Menschen abhing. Ganz unbewußt hatte Wtorow den Versuch in der krassesten Form durchgeführt. Und es war ein voller Erfolg geworden. Dieses Raumschiff ist wirklich bis ins Feinste ausgeklügelt, dachte Wtorow.
„Jetzt besteht kein Zweifel mehr, wir werden uns und das Schiff retten“, sagte Melnikow, den Kameraden umarmend.
Bist ein Prachtjunge!“ Wtorow erzählte ausführlich, wie es sich wirklich zugetragen hatte.
„Also tauge ich noch nicht zum Steuermann“, schloß er.
„Ich habe auch nicht damit gerechnet, daß es auf Anhieb klappen würde“, entgegnete Melnikow. „Du wirst es lernen.
Aber das braucht Zeit. Wir haben nicht das Recht, nach einem so erfolgreichen Beginn alles aufs Spiel zu setzen.“ „Ich fürchte, wir müssen uns beeilen. Bald werden wir vom Hunger geschwächt sein.“ Melnikow sah den Freund prüfend an.
„Verspürst du Hunger?“ fragte er.
„Bis jetzt nicht.“ „Ich auch nicht. Im Gegenteil, es kommt mir vor, als hätten meine Kräfte zugenommen.“ „Merkwürdig“, sagte Wtorow. „Mir geht es genauso. Wahrscheinlich liegt das am Zustand unserer Nerven. Denn wir haben doch das letztemal vor fünfzehn Stunden an Bord unseres Raumschiffs gegessen.“ Melnikow schwieg. Einen Augenblick lang kam ihm der vage Verdacht, auch hierbei hätten die Phaetonen ihre Hand im Spiel; er ließ ihn jedoch gleich wieder fallen. Die Phaetonen konnten sich schließlich nicht von Luft ernährt haben. Wenn aber doch, vermochten es die Erdenmenschen noch lange nicht.
Das Gefühl eines vollen Magens blieb indessen.
„Wir müssen darauf achten, wie lange die Wendung dauert“, sagte Melnikow. „Vielleicht mußt du eingreifen und das Manöver stoppen.“ „Ich glaube nicht. Ich erinnere mich sehr genau, daß ich mir eine Wendung von hundertachtzig Grad vorgestellt habe. Zweifellos wird die auch vollführt werden.“ „Schon möglich, trotzdem werden wir aufpassen.“ Die durch die allmähliche Wendung erzeugte Fliehkraft war etwas stärker als die Schwerkraft auf der Erde. Melnikow und Wtorow hatten das Gefühl, ein wenig an Gewicht zugenommen zu haben, jedoch nicht so viel, daß sie Schwierigkeiten gehabt hätten, sich zu bewegen. Man durfte annehmen, daß dies die für die Phaetonen normale Schwerkraft war. Also hatte der Planet Phaeton die Erde an Größe übertroffen. Das erklärte den kleinen Wuchs der Phaetonen. Melnikow registrierte in Gedanken diese überaus wichtige Tatsache.
Da das Raumschiff die Kurve in der vertikalen Ebene beschrieb, war die Fliehkraft im Verhältnis zum Fußboden, zu den Stegen und allen Gegenständen an Bord während der ganzen Zeit nach unten gerichtet. Man konnte sich frei bewegen, wie seinerzeit, als das Raumschiff noch auf der Venus gelegen hatte.
Das war bequem und bewies, mit wieviel Überlegung die einstweilen noch unbegreifliche Steuerungsautomatik eingestellt worden war.
Langsam und gleichmäßig veränderten Sonne und Venus ihre Stellung. Nicht das Raumschiff, sondern die Gestirne schienen sich zu drehen. Nach drei Stunden stand die Sonne unter und die Venus über ihnen.
Das Wendemanöver war beendet. Die Fliehkraft verschwand.
Das Raumschiff flog geradeaus, bewegte sich wieder auf den erst unlängst verlassenen Planeten zu. Aber während Wtorows Befürchtungen vor ein paar Stunden verfrüht gewesen waren, wurden sie jetzt ganz real. Die Venus war nahe. Mit ungeheurer Geschwindigkeit stürzten sie auf den Planeten zu. Es galt, Gegenmaßnahmen zu treffen.
„Laß uns noch einmal wenden“, sagte Melnikow. „Wir müssen weiter weg von der Venus. In ihrer Nähe Manöver auszuführen ist gefährlich.“ „In welche Richtung?“ fragte Wtorow sachlich.
Melnikow schmunzelte.
„Nun, sagen wir nach links. Um neunzig Grad.“ Wtorow nahm selbstsicher im Sessel Platz.
Sich eine Wendung von neunzig Grad vorzustellen, war nicht ganz einfach. Es genügte nicht, den Winkel zu nennen, man mußte ihn sich real vorstellen. Und zwar absolut genau. Melnikow legte sich für alle Falle auf einen der Stege.
Ein Ruck ging durch das Schiff. Melnikow spürte deutlich, wie Fliehkraft entstand und sofort wieder verschwand. Dann noch einmal, aber in anderer Richtung. Der „Phaetone“ warf sich hin und her, kam ins Taumeln. Die empfindliche Automatik Wtorows führte ungenaue Befehle gehorsam aus.
„Ruhig, Gennadi!“ schrie Melnikow.
Ein heftiger Ruck warf ihn vom Steg. Diesmal prallte er spürbar mit dem Kopf gegen die unsichtbare Wand. Aber der gleiche Ruck schleuderte auch Wtorow aus dem Sessel. Das Raumschiff beruhigte sich wieder.
„Weiß der Teufel, was los ist“, sagte Wtorow. „Es klappt einfach nicht.“ „Ruh dich aus. Bevor du wieder ans Pult gehst, üb dich ein bißchen.“ „Dann laß uns lieber in einen anderen Raum gehen.“ „Ja, ganz recht.“ Melnikow spürte, daß die Schwerelosigkeit aufgehört hatte.
Im Raumschiff wirkte eine kaum merkliche Schwerkraft. Wo mochte sie herkommen?
„Hast du vielleicht an Beschleunigung gedacht?“ „Nein. Ganz sicher nicht.“ „Dann stürzen wir auf die Venus zu.“ Die Anziehungskraft des Planeten wirkte sich allmählich aus.
Das beunruhigte Melnikow. Er sah, daß die Sonne, wenn auch nur sehr langsam, ihre Stellung veränderte. Die Schatten wanderten. Das Raumschiff raste geradewegs auf die Venus zu. Wenn es Wtorow nicht gelang, seine Gedanken ganz fest zu konzentrieren, war eine Katastrophe unvermeidlich. Das Schiff würde in der Atmosphäre verglühen und der Wissenschaft verlorengehen.
Was war zu tun? Wie konnte er Wtorow beruhigen, ihm sein früheres Selbstvertrauen wiedergeben? Melnikow sah seinem Kameraden am Gesicht an, daß er völlig verstört war. Man durfte ihm keineswegs sagen, daß nur noch wenig Zeit blieb.
„Ruh dich aus“, wiederholte er. „Wir können uns Zeit lassen!“ Jetzt bewährte sich an Melnikow die bei vier Raumfahrten erworbene starke Selbstbeherrschung. Sein Gesicht war ganz ruhig. Weder Wtorow noch sonst jemand hätte auch nur die‘ geringste Spur von Unruhe und Besorgnis darauf entdecken können, obwohl sie in Wahrheit rasch zunahmen.
Wtorow ahnte nichts von der schrecklichen Gefahr, die ihnen drohte.
„Ich werde mich jetzt üben“, sagte er. „Ich gehe erst dann wieder ans Pult, wenn ich mir den Winkel mit Sicherheit vorstellen kann. Haben wir noch Zeit?“ „Jede Menge“, antwortete Melnikow gleichmütig. „Beeil dich nicht. Wir müssen ganz sichergehen.“ Er selbst pflegte ebenso zu handeln. Noch ein mißglückter Versuch — und nichts konnte sie mehr retten. Die einmal eingeschlagene Taktik mußte, koste es, was es wolle, bis zum Schluß befolgt werden. Darin lag ihre einzige Chance.
„Bleib du hier“, sagte Melnikow. „Ich mache jetzt einen Rundgang durchs Schiff.“ Er trägt mir nichts nach, dachte Wtorow.
Möglichst unauffällig beobachtete er den Kameraden.
Melnikow trat an die Wand und drückte auf den Knopf, aber die Tür öffnete sich nicht. Die Mechanismen der Phaetonen hatten sich ganz auf „gedankliche Befehle“ umgestellt. Nun versuchte er, sich eine Öffnung vorzustellen. Aber ohne Erfolg.
Alles wäre viel einfacher, dachte Melnikow, wenn die Mechanismen auf die Bioströme meines Gehirns ansprächen.
„Soll ich die Tür offnen?“ fragte Wtorow.
„Nein, es hat doch keinen Zweck. Ich kann ja sowieso nirgendwo allein hingehen. Nur mit dir zusammen. Ich werd mich bemühen, dich nicht zu stören.“ Trotzdem öffnete sich die Tür.
Wtorow fluchte.
„Es ist eine Strafe“, sagte er. „Wieder habe ich gegen meinen Willen gedacht.“ „Ja, das ist eine schwierige Kunst. Aber denk an die Wendung.“ Wer kennt nicht die Geschichte von dem Mann, dem aufgegeben war, nicht an einen Affen zu denken, und der nun gerade fortwährend an ihn dachte. Das gleiche widerfuhr Wtorow.
Der Raum, in dem sie sich befanden, hatte zwei Türen. Bald öffnete und schloß sich die eine, bald die andere, und manchmal geschah es sogar bei beiden gleichzeitig. Unablässig flammte der blaue Ring mit dem gelben Kreuz auf und erlosch wieder.
Die Wände wurden abwechselnd durchsichtig und undurchsichtig. Licht und Dunkelheit folgten einander. Wirr sprangen Wtorows Gedanken von einem zum anderen, nur auf das eigentlich Notwendige konnten sie sich offensichtlich nicht konzentrieren.
Weder mit Worten noch mit Gesten gab Melnikow seine Ungeduld zu erkennen. Es wäre zwecklos und sogar schädlich gewesen. Alles hing allein von Wtorow ab.
Melnikow zückte sein Notizbuch und tat, als trage er Beobachtungen ein. Auf den häufigen Wechsel von Licht und Dunkelheit reagierte er nicht. Mochte Wtorow glauben, er, Melnikow, halte dieses Chaos für ganz natürlich und verständlich.
Die Sekunden verrannen, wurden zu unwiederbringlich verlorenen Minuten. Immer schneller näherte sich das Raumschiff der Venus. Melnikow begann unwillkürlich, Berechnungen anzustellen. Sie ergaben, daß ihnen nur noch etwa zweieinhalb Stunden zur Verfügung standen. Gelang es ihnen in dieser Zeit nicht, seitwärts abzubiegen, würden sie mit einer Geschwindigkeit von hundert Kilometern in der Sekunde in die Atmosphäre des Planeten eindringen, und nur eine feurige Spur am Himmel der Venus würde den letzten Weg des „Phaetonen“ bezeichnen.
Zweieinhalb Stunden! Das war sehr wenig.
Melnikow blickte verstohlen zu Wtorow hinüber. Der junge Ingenieur hing an der gegenüberliegenden Wand, von der bereits deutlich spurbaren Schwerkraft dagegengepreßt. Sein Gesicht verriet Konzentration, die Augen waren geschlossen. Aber das regellose Öffnen und Schließen der Türen und das Aufflammen und Erlöschen des Lichts dauerte immer noch an.
Allerdings erfolgte es nicht mehr so häufig wie zu Anfang. Anscheinend kam doch allmählich Ordnung in Wtorows Gedanken.
So verging etwa eine Stunde.
Nach Melnikows ‘Berechnungen betrug die Geschwindigkeit des Raumschiffes bereits fünfzig Kilometer in der Sekunde oder sogar noch mehr. Genau konnte er es nicht ausrechnen, da er nicht wußte, mit welcher Geschwindigkeit der Sturz auf die Venus begonnen hatte. Er war jedoch überzeugt, daß sie fünfundzwanzig Kilometer in der Sekunde nicht überstiegen hatte.
Die Entfernung bis zur Venus war ebenfalls nur annähernd bekannt.
Beeil dich! hätte er seinem Kameraden am liebsten zugerufen, aber er schwieg.
Jetzt wurden die Wände nicht mehr undurchsichtig. Licht und Dunkelheit wechselten nicht mehr miteinander ab. Nur die eine Tür öffnete sich noch hin und wieder. Wahrscheinlich stellte Wtorow sich vor, wie er den Raum betrat, im Sessel Platz nahm und dem Schiff Befehl gab, um neunzig Grad zu wenden. Melnikow staunte immer wieder über die verblüffende Empfindlichkeit der Apparate. Eine ans Wunderbare grenzende Technik!
Wie schade, wenn sie, die als Modell für künftige Konstruktionen dienen könnte, verlorenginge.
Wahrscheinlich ist auf der Arsena Material über gedankengesteuerte Apparate zu finden, dachte Melnikow. Die Phaetonen haben ganz bestimmt Aufzeichnungen darüber hinterlassen.
Trotzdem, die in diesem Raumschiff konzentrierten Apparate sind ganz etwas anderes. Kann man sie doch auseinandernehmen und genau untersuchen, feststellen, wie sie zusammengesetzt sind.
Melnikows Ungeduld wuchs ständig. Wtorow rührte sich nicht. Auch die letzte Tür öffnete sich nun nicht mehr. War er etwa eingeschlafen?
„Versuchen wir‘s, Boris Nikolajewitsch.“ „Ja, natürlich!“ Melnikow hätte nicht so hastig antworten sollen, doch er hielt es nicht mehr aus. „Gehen wir.“ Das Gehen fiel nicht schwer, da das Raumschiff ganz allmählich seinen „Boden“ der Venus zugekehrt hatte. Die Automatik der Phaetonen arbeitete nach wie vor höchst vernünftig.
Aber auch der zweite Versuch Wtorows endete mit einem volligen Fiasko. Kaum hatte er auf dem Sessel Platz genommen, schleuderte ihn ein heftiger Stoß wieder herunter. Melnikow fiel vom Steg. Infolge der inzwischen gesteigerten Geschwindigkeit waren die Stürze diesmal bedeutend schmerzhafter. Sie trugen erhebliche Prellungen davon.
Wtorow war mit seinen Nerven am Ende. Er saß auf der durchsichtigen Wand, als schwebe er im luftleeren Raum, hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und weinte.
Jetzt ist alles aus! dachte Melnikow. Früher als in einer halben Stunde hat er sich bestimmt nicht wieder beruhigt. Und dann ist es schon zu spät.
Er versuchte nicht, den Freund zu trösten. Mochte er sich ausweinen, wenn die Tränen die nervöse Spannung der letzten Stunden lösten. Manchem halfen Tränen.
Melnikow blickte nach unten, wie weit war es noch bis zur Venus? Eine Stunde? Aber welche Bedeutung hatte das noch?
Je eher sie in die Atmosphäre gelangten, desto besser! Das Unheil war nicht mehr abzuwenden.
Noch eine Stunde bis zum Tode!
Melnikow versetzte sich in Gedanken auf die Erde. Olga, der einzige Mensch, der ihm nahestand, tauchte wie leibhaftig vor ihm auf. Er sah ihr liebes, vertrautes Lächeln.
Verzeih mir, Olga!