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Die Ceres drehte sich ziemlich schnell um ihre Achse. Tag und Nacht dauerten nur neun Stunden und achtzehneinhalb Minuten. Recht unterschiedlich aber war die Länge des Tages im Verhältnis zur Nacht. Der Teil des Planeten, auf dem das Raumschiff niedergegangen war, wurde zwei Stunden und neunundfünfzig Minuten von der Sonne beschienen. Die ganze übrige Zeit herrschte Nacht.
Belopolskis Berechnungen ergaben, daß sie sich am Äquator befanden. Mittags stand die Sonne fast im Zenit. Die unterschiedliche Dauer von Tag und Nacht ließ sich nur damit erklären, daß die Ceres eine unregelmäßige Form hatte. Daran war nichts Erstaunliches, wenn man bedachte, daß der Planet kein selbständig entstandener Himmelskörper war, sondern ein Bruchstück des untergegangenen Phaeton.
In dieser Welt, die auch nicht eine Spur von Atmosphäre hatte, gab es natürlich weder Morgen noch Abend. Kaum hatte die Sonne den Horizont erreicht, brach die Nacht an.
Die Nacht, aber keine Dunkelheit.
Der Jupiter befand sich jetzt auf derselben Seite der Sonne wie die Ceres. Die Entfernung zu ihm betrug nicht mehr als dreihundert Millionen Kilometer. Der Riesenplanet schien so hell, daß die spitzen Felsen und die Ringe des Raumschiffs deutliche Schatten warfen.
Sobald sich der Jupiter dem Horizont zuneigte, ging die Sonne auf, und dann warfen alle Gegenstände zwei Schatten, einen dunkleren von der Sonne nach der einen und einen helleren vom Jupiter nach der anderen Seite. Das gleiche wiederholte sich abends.
In dieser merkwürdigen Welt, in der die Sterne Tag und Nacht gleich hell leuchteten, gab es also zwei „Sonnen“.
Alle zwölf Trabanten des Jupiter waren mit unbewaffnetem Auge zu erkennen. Hätte sich auch der Saturn auf dieser Seite der Sonne befunden, wäre den Kosmonauten der ergötzliche Anblick seiner Ringe beschieden gewesen.
Sie waren die ersten Menschen, die so weit in die Tiefen des Sonnensystems vorgedrungen waren. Trotz aller Tragik ihrer Situation empfanden sie bei diesem Gedanken einen gewissen Stolz.
Die Staubschicht, die die Ceres bedeckte, war ziemlich dick.
Sie versanken darin bis zu den Knien, und obgleich sie so gut wie nichts wogen, fiel ihnen das Gehen sehr schwer.
Aber wohin sollten sie auch gehen? Rings um das Raumschiff gab es nichts weiter als diesen Staub unbekannten Ursprungs und die Felsen, die, wie sich herausstellte, aus Granit bestanden. Daß sie sich weiter vom Schiri entfernten, erlaubte Belopolski nicht.
War doch jeder Ausflug mit Lebensgefahr verbunden. Sie befanden sich mitten im Asteroidengürtel. Die vergleichsweise große Masse der Ceres zog zahlreiche kleine Bruchstücke an. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden fielen in der Nahe des Raumschiffs nicht weniger als hundert Steine vom Himmel, die kosmischen „Staubteilchen“ nicht mitgerechnet.
Dennoch gingen die Männer im Interesse der Wissenschaft immer wieder hinaus. Zwei Säcke mit Staub und mehrere Dutzend Meteoriten lagen bereits am Boden ihres Wohnraums.
Korzewski kletterte auf einen der nächsten Felsen und schlug ein großes Stück Granit ab.
Außerdem bestand noch die Gefahr, in eine der Spalten zu stürzen, die die Ceres kreuz und quer durchzogen. Beim ersten Ausflug, an dem alle drei teilnahmen, wäre Korzewski beinahe in eine solche Spalte gefallen. Die Staubschicht verdeckte sie völlig, so daß»man sie gar nicht bemerkte. Wie gut, daß sie sich nach Art der Bergsteiger mit einem kräftigen Seil aneinander festgebunden hatten. Ohne diese Vorsichtsmaßnahme hätte die Sache leicht schlimm ausgehen können. Wußten sie doch nicht, wie tief diese Spalten waren.
Nachdem Korzewski, an einem langen Seil vom Raumschiff aus gesichert, den Granitbrocken geborgen hatte, beschloß Belopolski, keine weiteren Exkursionen mehr zu unternehmen.
„Jetzt müssen wir alle drei auf Hilfe warten“, sagte er. „Oder alle drei zugrunde gehen. Wir dürfen ohne ernsthaften Grund nichts mehr riskieren.“ Die beiden anderen stimmten ihm zu.
So waren die drei Kosmonauten denn auf viele Wochen, vielleicht auch für immer im Innern des Raumschiffs eingeschlossen.
Sie langweilten sich sehr. Ein Tag glich dem anderen. Belopolski stellte noch Beobachtungen an, Wtorow und Korzewski aber litten unter der Untätigkeit.
Auf die Minute genau versenkten alle zwölf Stunden die Automaten die Raumfahrer in einen achtstündigen Schlaf. Das entsprach offenbar dem Tagesrhythmus der Phaetonen, der auch jetzt von ihrem Raumschiff eingehalten wurde, ungeachtet der Bedürfnisse seiner neuen Herren. Sich gegen diesen aufgezwungenen Schlaf zu wehren war ganz unmöglich. Unüberwindliche Müdigkeit befiel die Männer, und sie schliefen ein, ob sie wollten oder nicht.
Belopolski zog daraus die Schlußfolgerung, Tag und Nacht hätten auf dem untergegangenen Phaeton zwanzig Stunden gedauert, die Bewohner aber hätten länger geschlafen als die Erdenmenschen, oder richtiger, sie seien kürzere Zeit wach gewesen.
Korzewski war anderer Meinung.
„Wenn dieser Tagesrhythmus für die Phaetonen normal war“, meinte er, „wieso brauchten sie da den künstlichen Schlaf? Ich glaube vielmehr, dies war nur bei Raumflügen ihr Rhythmus.
Sie hielten ihn dann für den zweckmäßigsten. Bei sich zu Hause aber konnten sie durchaus eine andere Tageseinteilung haben.“ Wtorow interessierten diese theoretischen Streitfragen wenig.
Mit Schrecken dachte er an die vor ihnen liegenden drei Monate Wartezeit. Drei Monate — das waren neunzig Erdentage! Womit sollte er die ausfüllen?
Die Aufgabe, die Cereslandschaft zu filmen, hatte er bereits in den ersten Tagen erfüllt. Weiter gab es nun nichts mehr aufzunehmen. Die Bücher hatten sie schon zweimal gelesen. Und schlafen? Sie schliefen ohnehin mehr als je zuvor, dank den Phaetonen.
Der trostlos-eintönige Anblick, der sich ihrem Auge hinter der durchsichtigen Wandung bot, langweilte sie zu Tode. Doch selbst nachts wagte Wtorow die Wände nicht zu „schließen“.
Belopolski hatte es kategorisch untersagt. Er befürchtete, die unbekannte Energie, die die rätselhaften Mechanismen zur Steuerung der Durchsichtigkeit speiste, könnte sich erschöpfen.
Eingeschlossen zu sein aber, ohne eine Möglichkeit, nach draußen zu blicken, das wäre zu schrecklich. Aus demselben Grunde beanspruchten sie auch die Türautomatik so wenig wie möglich.
„Wir sitzen in einem Gefängnis“, sagte Korzewski. „Verurteilt zu drei Monaten Haft.“ Drei Monate! Sie sprachen nur von dieser Frist und verschlossen bewußt die Augen davor, daß sie eine Mindestfrist darstellte. Hilfe konnte nur dann in drei Monaten eintreffen, wenn das betreffende Raumschiff noch am selben Tag, da sich die Katastrophe mit dem „Phaetonen“ ereignet hatte, von der Erde gestartet war.
Wenn man nun aber in der Heimat noch abgewartet hatte?
Vielleicht mehrere Tage oder gar eine ganze Woche?
Doch im Grunde blieb es für sie ja ganz gleich, ob eine Woche oder ein Jahr. Länger als zwölf Wochen konnten sie sowieso nicht durchhalten.
Als er am ersten Tag ihres Ceresaufenthalts von den Lebensmitteln sprach, hatte Korzewski nicht an das Wasser gedacht.
Der Mensch aber geht bekanntlich eher an Durst als an Hunger zugrunde.
Schon bei der Ausrüstung des „Phaetonen“ für den Flug zur Ceres hatte gerade das Wasser ihnen die größten Schwierigkeiten bereitet. In der „SSSR-KS 3“ wurde es in mächtigen Behältern aufbewahrt, von denen jedoch kein einziger durch die fünfeckigen Türöffnungen des ringförmigen Raumschiffes gegangen war. So hatte man es in leere Sauerstoffflaschen füllen müssen, die nicht in genügender Anzahl zur Verfügung standen. Ihr Wasservorrat war auf knapp vier Monate berechnet gewesen, so würde er jetzt selbst bei strengster Sparsamkeit in zwölf Wochen erschöpft sein.
Von dieser Seite drohte ihnen also die größte Gefahr, und sie waren machtlos dagegen. Jene phaetonischen Automaten, die Melnikow und Wtorow viele Tage lang auf wunderbare Weise „gespeist“ und „getränkt“ hatten, funktionierten nicht mehr.
Wahrscheinlich teilten sie das Schicksal der Triebwerke.
Die Luft war bis jetzt noch frisch und rein. In dieser Hinsicht hatten die Phaetonen besser vorgesorgt. Aber welche Garantie gab es, daß es bis zum Schluß so bleiben würde? Auch der Sauerstoff konnte sich erschöpfen.
„Wir dürfen uns keinen Illusionen hingeben“, sagte Belopolski mit unerbittlicher Logik, als seine Kameraden ihn deswegen befragten. „Können wir denn mit Sicherheit sagen, daß Hilfe innerhalb von drei Monaten hier eintrifft? Es ist doch viel eher anzunehmen, daß man auf der Erde abwarten wird, in der Annahme, wir verweilten absichtlich länger auf der Ceres. Dafür könnte es viele Gründe geben. Erst wenn alle erdenklichen Fristen verstrichen sein werden, wenn offensichtlich geworden ist, daß wir in Not gerieten, erst dann wird ein Raumschiff ausgerüstet werden, um uns zu retten. Das dauert seine Zeit.
Dabei entfernen sich Erde und Ceres immer weiter voneinander.
Jeder Tag bedeutet Hunderttausende von Kilometern, Dutzende von Stunden mehr.“ Wtorow und Korzewski hatten den Eindruck, Belopolskis Gesicht werde um so heiterer und ruhiger, je hoffnungsloser seine Schlußfolgerungen waren.
„Er möchte sterben“, sagte Wtorow einmal, als er mit Korzewski allein war. „Er hat Angst vor der Rückkehr zur Erde.“ „Vielleicht“, erwiderte der Biologe. „Aber er hat auch recht.“ Es schien, sie hätten nichts mehr zu erhoffen, dennoch hofften sie weiter. Der Mensch findet immer noch einen Strohhalm, an den er sich klammert. Selbst ein zum Tode Verurteilter, der bereits auf dem Schafott steht, hofft weiter. Der Selbsterhaltungstrieb ist übermächtig.
Die Kosmonauten berechneten die Zeit nach irdischen Stunden. Um die Sonnenauf- und — Untergänge der Ceres kümmerten sie sich nicht. Sie lebten ihren eigenen Rhythmus.
Am elften Tag ihrer Gefangenschaft verrieten erste Anzeichen, daß die Sauerstoffvorräte zur Neige gingen.
Wtorow stellte beim Erwachen fest, daß ihm das Atmen schwerfiel. Ihm schwindelte, und er verspürte leichte Übelkeit.
Die Luft war offensichtlich mit Kohlensäure, dem Produkt der Atmung, übersättigt. Mit der automatischen Zufuhr frischer Luft klappte etwas nicht.
Wtorow erschrak nicht. Mit einer Unbewegtheit, die ihn selbst in Erstaunen setzte, konstatierte er, daß wahrscheinlich das Ende gekommen sei. Unbewußt jedoch — es war ihm während der fast zwei Monate im Raumschiff der Phaetonen schon zur Gewohnheit geworden — gab er den gedanklichen Befehl, die Luft zu reinigen.
Die geheimnisvollen Empfänger nahmen seinen Wunsch entgegen und erfüllten ihn. Mit unfaßbarer Geschwindigkeit wurde die Luft erneuert. Das ging so blitzschnell, daß Belopolski und Korzewski, die kurze Zeit nach Wtorow erwachten, von allem nichts gemerkt hätten, wenn Wtorow es ihnen nicht sofort erzählt hätte.
Dennoch war das Ganze ein alarmierendes Zeichen.
Die für die Luft verantwortlichen Automaten konnten nicht ohne Energie arbeiten. Ihre Energie aber ging zur Neige. Sie funktionierten nicht mehr ununterbrochen. Während die Menschen schliefen, hatten sie ihre Arbeit eingestellt. Erst Wtorows „Befehl“ hatte sie wieder zum Leben erweckt. Aber für wie lange?
„Das ist das Ende!“ war alles, was Belopolski auf Wtorows Mitteilung sagte.
Drei Stunden später wiederholte sich der Vorgang. Jetzt konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, daß der Tod früher kam, als sie gedacht hatten. Die sorgsam und streng durchgeführte Rationierung der Lebensmittel war sinnlos geworden.
Sie konnten wieder soviel essen und trinken, wie sie wollten.
Das Ende nahte von einer ganz anderen Seite — sie würden ersticken.
„Eine Zeitlang können wir noch von dem Sauerstoff in den Flaschen leben“, erklarte Belopolski ruhig.
„Jetzt ist es Zeit, sich an die Pistolen zu erinnern“, sagte Korzewski.
Belopolski zuckte zusammen.
„Geben Sie die Pistole her!“ befahl er.
„Nein.“ Korzewski verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. „Die gebe ich nicht her! Sie können mir nicht die Freiheit nehmen, mich von meinen Qualen selbst zu befreien.“ Belopolski trat auf den Biologen zu.
„Ich befehle es Ihnen“, sagte er kalt. „Die Pistole!“ Und so stark war die Gewohnheit, sich diesem Mann widerspruchslos unterzuordnen, daß Korzewski seine Waffe abgab.
Dann warf er sich zu Boden und blieb reglos liegen.
„Auch Ihre!“ wandte sich Belopolski an Wtorow.
Der junge Ingenieur zuckte mit den Schultern.
„Nehmen Sie sie, wenn Sie wollen“, sagte er und holte die Pistole aus der Tasche. „Ich brauche sie nicht. Aber was mich betrifft, da können Sie beruhigt sein. Ich bin ein Kosmonaut und kein hysterisches Weib.“ Die letzten Worte galten Korzewski. Wtorow bediente sich der Methode, die Melnikow ihm gegenüber mehrfach angewandt hatte.
„Schön!“ sagte Belopolski. „Behalten Sie sie.“ Er schwieg, als hänge er seinen Gedanken nach; dann fügte er hinzu: „Unser Tod ist nicht gleichbedeutend mit dem Ende der Raumfahrt.
Auch in Zukunft werden noch viele Kosmonauten in schwierige Situationen geraten. Was für ein Beispiel wollen wir ihnen da geben? Wie uns verhalten? Früher oder später wird man uns auffinden. Dann wird auch die Ursache unsere Todes bekanntwerden. Selbstmord! Das ist das Allereinfachste! Wir dürfen nicht nur an uns denken — mit uns ist es sowieso aus —, an die anderen müssen wir denken. Wir dürfen keinen Präzedenzfall schaffen.“ Korzewski setzte sich auf. Zu Wtorows Verwunderung war sein Gesicht ganz ruhig.
„Daran habe ich nicht gedacht“, sagte er. „Sie haben recht, Konstantin Jewgenjewitsch.“ „Sie hätten aber daran denken müssen.“ Wtorow mußte unwillkürlich lachen. Belopolski hatte das in einem gutmütig-brummigen Ton gesagt, der ganz und gar nicht dem Gewicht ihrer Unterhaltung entsprach. Als sei nicht von Leben und Tod die Rede gewesen, sondern von etwas Belanglosem.
Im Laufe der nächsten vierundzwanzig Stunden arbeiteten die phaetonischen Automaten wieder einwandfrei. Während dieser Zeit schliefen die Kosmonauten erneut acht Stunden, ungeachtet der Gefahr, vielleicht nicht wiederaufzuwachen.
Der zwölfte Tag ihres Aufenthaltes auf der Ceres brach an.
Gegen Abend dieses Tages nahmen die Unterbrechungen in der Sauerstoffzufuhr einen bedrohlichen Charakter an. Zum erstenmal mußten sie zum irdischen Sauerstoff ihre Zuflucht nehmen.
„Ob wir‘s mal mit einem anderen Raum probieren?“ schlug Wtorow vor.
Wirklich. Vielleicht funktionierten die Luftautomaten nur in dieser Abteilung nicht mehr, während die anderen ihre „Lebensfähigkeit“ noch bewahrt hatten. Die phaetonischen Mechanismen handelten vernünftig und hatten dort, wo sich niemand aufhielt, bestimmt nicht gearbeitet.
Doch wohin sie auch kamen, überall war es dasselbe. Offenbar wurde die gesamte Luftregelung des Raumschiffes von ein und derselben Quelle gespeist.
So zerschlug sich auch diese letzte Hoffnung.
Sie kehrten „nach Hause“ zurück.
Die Zeit blieb für sie stehen. Jeder versank in Gedanken und bereitete sich auf seine Art auf den nahen Tod vor. Sie sprachen sehr selten, und wenn, dann nur wenige Worte. Worüber sollten sie sich auch noch unterhalten!
Wenn Schlafenszeit war, legten sie sich in der stillen Hoffnung nieder, im Schlaf zu ersticken, nicht wiederaufzuwachen.
Sie hatten noch zwei volle Sauerstoffflaschen zu ihrer Verfügung. Wenn die phaetonischen Automaten nicht vollends versagten, reichten sie damit noch einige Tage.
Korzewski sprach das Wort Selbstmord nicht mehr aus. Obwohl Belopolski die abgenommene Pistole nicht wegschließen konnte und sie ganz offen in einer Ecke lag, schenkte der Biologe ihr keinen Blick. Er hatte eingesehen, daß es ihre Pflicht war, bis zum Ende auszuharren. Um derer willen, die ihre Arbeit, aus der sie Zufall und menschlicher Irrtum herausgerissen hatten, fortsetzen würden.
Mit einer für ihn selbst erstaunlichen Beharrlichkeit beobachtete Belopolski weiterhin die Sterne und machte Aufzeichnungen darüber.
So vergingen zwei weitere Erdentage.
Anzeichen für ein endgültiges Versagen der Automaten stellten sich nicht ein. Sie arbeiteten, wenn auch mit häufigen Unterbrechungen, nach wie vor. Allmählich schöpften die drei wieder Hoffnung.
Wer weiß! dachte ein jeder von ihnen, vielleicht arbeiten sie noch die ganzen drei Monate so weiter.
Die beiden Sauerstoffflaschen blieben unangetastet.
Die drei Männer erwachten zu neuem Leben. Wie vorher führten sie häufige und lange Gespräche, aßen sie mit Appetit.
Und wie vorher rationierten sie das Wasser.
Die Eigenschaft des Menschen, sich beliebigen Bedingungen anzupassen und sich sogar an den Todesgedanken zu gewöhnen, ist erstaunlich. Erstaunlich und schwer zu erklären.
Der (irdische) Morgen des fünfzehnten Tages fiel mit dem Morgen auf der Ceres zusammen. Über dem Raumschiff und dem fernen Moskau ging die Sonne zu gleicher Zeit auf. Zufällig erwachten die Kosmonauten auch gerade in diesem Augenblick.
Belopolski, dem das Zusammentreffen nicht entgangen war, machte seine Kameraden darauf aufmerksam.
„Moskau!“ seufzte Wtorow. „Sonnenaufgang auf der Erde!
Morgen und blauer Himmel mit rosa Wolken!“ Er hob das Gesicht zum sternenübersäten schwarzen Cereshimmel und sprang plötzlich, wie von der Tarantel gestochen, auf.
Auch Belopolski und Korzewski sprangen aus ihren Hängematten.
Mit atemberaubender Schnelligkeit war etwas über sie hinweggejagt. Sie sahen nur noch eine feurige Linie am nahen Horizont — als sei in der sie umgebenden Leere ein langer Blitz aufgeflammt.
„Ein Meteor!“ schrie Korzewski.
Belopolski wurde blaß.
„Ein Meteor?“ fragte er mit gepreßter Stimme. „Meteore hinterlassen eine feurige Spur, wenn sie in der Atmosphäre verglühen, sie verbrennen durch die Reibung mit der Luft. Aber hier gibt es keine Luft, keine Atmosphäre.“ „Was ist es dann?“ Belopolski gab keine Antwort. Er starrte in die Richtung, in der der unbekannte Gegenstand verschwunden war. Langsam kehrte wieder Farbe in sein Gesicht zurück.
„Das ist doch nicht möglich!“ flüsterten seine Lippen lautlos.
Eine törichte Hoffnung bemächtigte sich der dem Untergang geweihten Männer. Sie keuchten vor Erregung; die Spannung schien unerträglich.
Alle drei standen regungslos da und wandten kein Auge vom Horizont, als hofften sie, der unbekannte Körper, dessen mögliche Bezeichnung sie nicht einmal in Gedanken auszusprechen wagten, kehrte zurück.
Er kehrte nicht zurück.
Etwa drei Minuten vergingen. Da huschte wieder etwas in derselben Richtung über sie hinweg. An derselben Stelle tauchte ein Feuerschweif auf und verschwand wieder — zum zweitenmal war es wie das Aufflammen eines Blitzes
„Es besteht kein Zweifel“, sagte Belopolski. „Aber wieso?
Woher?“ „Ein Raumschiff, ein Raumschiff!“ schrie Wtorow.
Der Körper huschte zum drittenmal über sie hinweg. In den Strahlen der Sonne sahen sie einen länglichen Rumpf aufblitzen.
Diese Form war ihnen nur zu gut bekannt.
Das Raumschiff überflog sie ein viertes, fünftes und sechstes Mal.
Wo mochte es herkommen? In fünfzehn Tagen konnte es unmöglich von der Erde zur Ceres gelangt sein.
Sein Flug wurde immer langsamer. Es schien landen zu wollen.
Wußte der Kommandant, daß auf diesem Planeten drei Menschen der Hilfe bedurften? Oder war er zufällig hier aufgetaucht, ohne etwas vom Schicksal des „Phaetonen“ zu ahnen?
Belopolski war bekannt, daß seinerzeit auf der Erde für die nächsten Monate kein einziger Raumschiffstart geplant gewesen war. Nur die „SSSR-KS 3“ sollte unterwegs sein, aber die war ja zurückgekehrt.
Was für ein Schiff war dies also? Vielleicht war die „SSSRKS 3“ ihnen doch gefolgt? Die Rumpfform schien im großen und ganzen die gleiche, aber Belopolski kam es so vor, als sei sie ein wenig länger und schmaler.
Nein, das war nicht die „SSSR-KS 3“!
Das fremde Schiff kreiste weiter um die Ceres. Es flog jetzt mit der Geschwindigkeit eines Düsenflugzeuges, immer noch zu schnell, um es deutlich erkennen zu können. Von einem Horizont der Ceres bis zum anderen war es nicht weit.
Wo würde es niedergehen? Sah sein Kommandant auf der silbrigen Ebene die gelbgrauen Ringe des „Phaetonen“? Zwar flog es jedesmal unmittelbar über sie hinweg, doch auch das konnte Zufall sein.
Aber vielleicht dachte der Kommandant des Raumschiffs gar nicht daran, zu landen? Vielleicht würde er, nachdem er den Planeten mit verringerter Geschwindigkeit umkreist und betrachtet hatte, seinen Flug fortsetzen. Weshalb sollte ‘er auch landen, wenn er nichts von der Anwesenheit des „Phaetonen“ ahnte?
„Vielleicht ist das gar kein Raumschiff von der Erde“, sagte Wtorow plötzlich.
„Es könnte natürlich sein“, sagte Belopolski, ohne seine Worte zu beachten, „daß in irgendeinem Lande ein Raumflug ohne Wissen des Kosmischen Instituts beschlossen wurde. Dann ist das Schiri jedoch schon lange unterwegs, und sein Kommandant weiß nichts vom,Phaetoneru Jedenfalls ist er nicht unseretwegen hierhergeflogen. Die Entfernung konnte er unmöglich in so kurzer Zeit zurücklegen.“ Wieder tauchte das Raumschiff am Horizont auf. Jetzt flog es schon ganz langsam und blieb ununterbrochen sichtbar. Es zog weite Kreise über dem „Phaetonen“, als wolle es damit zeigen, daß es ihn sah.
Der Metallrumpf glänzte matt in der Sonne. Bei dem Fehlen einer Atmosphäre war die unbeleuchtete Seite jedoch nicht zu sehen, und es schien, als fliege über der Ceres nur eine groteske Raumschiffhälfte.
Die Form ließ keine Zweifel, daß es sich um ein irdisches Raumschiff handelte. Belopolski hatte sich nicht geirrt: es war länger und schmaler als die „SSSR-KS 3“.
„Ich kann mich nicht erinnern, in welchem Lande sie solche Schiffe bauen“, sagte Belopolski. „Einen Rumpf von solcher Länge habe ich noch nicht gesehen.“ „Worauf warten wir noch!“ meinte Wtorow. „Sie landen gleich. Wir müssen ihnen entgegengehen.“ Rasch zogen sie die Raumanzüge an.
Als sie die zentrale Kugel verließen, setzte das rätselhafte Schiff gerade mit ebensolchen „Pfoten“, wie sie die „SSSR-KS 3“ hatte, auf.
Sein mächtiger Rumpf überragte die niedrigen Ringe des „Phaetonen“ beträchtlich. An der Spitze leuchtete in goldenen Lettern der Name.
Er lautete „Prince of Wales“.
Darunter stand: „Großbritannien.“