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„Am Ende des 18. Jahrhunderts haben die Astronomen Bode und Titius* eine interessante Entdeckung gemacht. Sie haben auf rein empirischem Wege eine Zahlenreihe gefunden, die ziemlich genau die tatsächlichen Entfernungen der ersten sieben Planeten — Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter, Saturn und Uranus — von der Sonne angibt, und zwar in Halbmessern des Orbitus der Erde oder sogenannten astronomischen Einheiten. Die Planeten Neptun und Pluto waren damals noch gar nicht bekannt.
Die beiden Astronomen nahmen die Zahlenreihe 0; 0,3; 0,6 und so weiter. Sie verdoppelten also jedes Mal die vorhergehende Zahl. Dann zählten sie zu jeder 0,4 hinzu. So erhielten sie folgende Reihe …“ Leonid Nikolajewitsch Orlow wandte sich zur Tafel und schrieb groß und deutlich: „0,4; 0,7; 1,0; 1,6; 2,8; 5,2; 10,0; 19,6.“ Er hielt sich mit der Hand krampfhaft an einer Lederschlaufe fest, die an der Wand angebracht war. Aber jedesmal, wenn er die Kreide an die Tafel drückte, wankte sein Körper zur Seite, und er mußte sich zurückziehen. Es fiel schwer, im Zustand der Schwerelosigkeit zu schreiben, aber Orlow hatte im Laufe der letzten zehn Tage schon Erfahrung darin gesammelt. Er hielt den Expeditionsmitgliedern in Paitschadses Auftrag zum dritten Male einen kleinen Vortrag.
Diesmal behandelte er den Asteroiden Arsena, dem sich „SSSR-KS 3“ näherte.
„In der Bode-Titiusschen Reihe“, fuhr der Astronom fort, „fällt ein eigentümlicher Umstand besonders auf. Wenn die ersten vier Zahlen den Entfernungen der Planeten Merkur, Venus, Erde und Mars von der Sonne entsprechen, so gerät Jupiter aus irgendeinem Grunde nicht auf den fünften, sondern erst auf den sechsten Platz, Saturn auf den siebenten und Uranus auf den achten. Die Gesetzmäßigkeit, die nicht zufällig sein kann, wird also zerstört. Für die fünfte Zahl der Reihe,2,8‘, gibt es keinen Planeten, der diese Entfernung hat. Zwischen Mars und Jupiter besteht sozusagen eine Kluft. Wie ich Ihnen * Johann Elert Bode (1747–1826), seit 1786 Direktor der Sternwarte Berlin; begründete 1774 das „Berliner Astronomische Jahrbuch“. Die genannte Zahlenreihe ist unter dem Namen „Bode-Titiussche Reihe“ in die Geschichte der Astronomie eingegangen.
schon gesagt habe, befindet sich an dieser Stelle des Sonnensystems aber ein Asteroidengürtel, ein Schwarm von winzigen Planeten mit einem Durchmesser von 770 (Asteroid Cerera) bis zu einem Kilometer und weniger. Heutzutage sind uns einige tausend Asteroiden bekannt. Die meisten haben eine exzentrische Form. Natürlich tauchte die Vermutung auf, daß zwischen Mars und Jupiter in ferner Vorzeit noch ein Planet gekreist habe, der aus unbekannten Gründen zerfallen ist, und daß die Asteroiden Trümmer eben dieses Planeten seien. Den endgültigen Beweis dafür wird die Wissenschaft vielleicht erhalten, wenn wir auf der Arsena landen und sie erforschen. Nun muß ich Ihnen erklären, was die Arsena darstellt. Ihr größter Durchmesser beträgt 48 Kilometer, und der Asteroid besteht allem Anschein nach aus Eisen und Granit. Die Arsena entspricht in ihrer Größe dem Asteroiden Ganymed, der 1924 von dem Astronomen Baade* entdeckt wurde. Ihre Masse beträgt fast nur ein Zweiunddreißigmillionstel der Erde, und demzufolge erreicht die Schwerkraft auf ihr nur ein Zweihundertachtundachtzigstel der Schwerkraft der Erde. Ein Mensch, der auf der Erde 70 Kilogramm wiegt, wird auf der Arsena nur annähernd 245 Gramm wiegen. Bei solch einem geringen Gewicht bedarf es keines großen Kraftaufwandes, um sich in bedeutende Höhen zu erheben. Es wird sehr schwierig sein, auf der Arsena zu gehen.“ „Uns werden dabei die magnetischen Sohlen helfen“, warf Ingenieur Saizew ein.
„Aber auch mit diesen Sohlen heißt es vorsichtig sein. Die Muskelkraft des Menschen ist für solche Umweltbedingungen bei weitem zu groß.“ „Wir werden schnell umlernen“, sagte Knjasew.
Mit dem Optimismus der Jugend hielt er alles für sehr einfach und leicht ausführbar.
In der Roten Ecke des Raumschiffes hatten sich fast alle Expeditionsteilnehmer versammelt. Der kugelförmige Raum war unmöbliert. Außer dem Fernsehbildschirm, dem unerläßlichen Zubehör aller Kajüten, befand sich nichts darin. Die weichen Wände waren mit hellblauem Leder gepolstert.
Für den Vortrag war eine kleine schwarze Tafel in die Rote Ecke gebracht worden. Sie „hing“ unbefestigt an der Wand. Der * Walter Baade (1893–1960), seit 1931 an Observatorien der USA tätig gewesen.
Lektor und seine Hörer schwebten vor dieser Tafel in verschiedenen Posen senkrecht in der Luft. Die Sternfahrer hatten sich schon daran gewöhnt, daß es keine Schwerkraft gab, und fühlten sich völlig sicher. Einige von ihnen hielten sich trotzdem an den Lederschlaufen fest.
Diese Gruppe von Menschen bot einen seltsamen Anblick, wie sie sich ohne jeden Halt inmitten einer hohlen Kugel hielt.
Elektrisches Licht beleuchtete sie von allen Seiten zugleich. Die Gesichter und die Gestalten wirkten flach. Da sie keine Schatten aufwiesen, fehlte ihnen jede plastische Formung.
Das Raumschiff schien sich nicht von der Stelle zu rühren.
Nichts deutete auf die sinnbetörende Geschwindigkeit, mit der es durch den luftleeren Raum raste.
„Wann werden wir auf der Arsena landen?“ fragte Andrejew.
„In fünfzig Stunden. Nach dem Erdkalender am 2. Juli, zwischen elf und zwölf Uhr.“ „Und werden wir eine Weile dort bleiben?“ „Annähernd zwanzig Stunden. Diese Zeit muß zur Ausführung der vorgesehenen Arbeiten genügen. Aber es könnte sein, daß wir etwas Interessantes finden. Dann würden wir länger bleiben.“ „Und die Venus?“ fragte Knjasew. „Wird sie sich inzwischen nicht von uns entfernen?“ Orlow lächelte sein angenehmes Lächeln, das sein Gesichtgleichsam aufhellte.
„Erstens ist die Geschwindigkeit der Venus auf ihrer Bahn um fünf Kilometer geringer als die von,SSSR-KS 3‘“, sagte er.
„Und zweitens hängt die Gestaltung unserer Flugkurve von uns selbst ab. Wir können sie ändern und an einem anderen, vorteilhafteren Punkt mit dem Planeten zusammentreffen. So oder so werden wir am 10. Juli auf der Venus sein.“ Ein leises Geräusch. Der Bildschirm leuchtete auf, und Igor Toporkow, der Radiotechniker des Schiffes, wurde sichtbar.
„Ist Konstantin Wassiljewitsch dort?“ fragte er.
Saizew zog sich mit Hilfe der Lederschlaufe näher an den Bildschirm heran.
„Kommen Sie zur Funkstation“, bat Toporkow. „Sie werden von der Erde aus verlangt.“ Saizew stieß sich sacht von der Wand ab und schwebte durch die Luft zur Tür. Nachdem er auf einen Knopf gedrückt hatte, schob er die gewölbte Luke beiseite und „ging“ in den Korridor.
Wie ein phantastischer Riesenfisch schwamm er schnell zum Vorschiff.
Die Funkstation befand sich neben der Kommandobrücke. Es war eine kleine Kajüte, rund wie alle Räume des Schiffes, aber nicht mit Leder, sondern mit Samt ausgeschlagen. Empfangsgerät und Sender füllten mehr als die Hälfte der Kajüte.
Im Grunde genommen war die Funkstation nicht groß. Sie arbeitete nicht auf Röhren-, sondern auf Halbleiterbasis. Viel Raum nahmen aber mächtige Verstärker ein, die Sendung und Empfang von Funksprüchen über viele Millionen Kilometer hinweg erst ermöglichten. Die Verbindung mit der Erde wurde über Ultra-Hochfrequenzwellen hergestellt und lief über Verstärkerrelaisstationen, die auf künstlichen Erdtrabanten stationiert waren. Solche Stationen waren notwendig, weil die Heaviside-Schicht* der Erde die Funksignale so sehr schwächte, daß sie ohne Verstärkung trotz haargenau ausgerichteten Antennen ihren Bestimmungsort nie erreichen würden.
Kosmische Funkverbindung war zum erstenmal während eines Fluges zum Mond angewandt worden, den eine Expedition Belopolskis unternahm. Zur Zeit führte Paitschadse die letzten Erprobungen dieser Methode durch. Alle Stationen — sowohl auf der Erde wie an Bord und auf den Sputniks — waren unter unmittelbarer Beteiligung Toporkows konstruiert worden.
Auf zwei Raumfahrten hatte er bereits Versuche damit gemacht.
Die Expeditionsmitglieder hatten täglich die Möglichkeit, sich mit ihren Angehörigen zu unterhalten.
Bisher war die Funkverbindung nicht unterbrochen worden, und nach Toporkows Berechnungen dürfte sie auch bis zur Venus nicht abreißen. Ob sie von der Oberfläche des Planeten durch dessen Atmosphäre hindurch möglich sein würde, wußte natürlich keiner zu sagen. Die Venus ist der Sonne näher als die Erde, und die Intensität der Sonnenstrahlung muß in den oberen Schichten ihrer Atmosphäre um ein vielfaches stärker sein. Ob Radiowellen die auf der Venus zweifellos existierende ionisierende Schicht würden durchstoßen können, wie dies bei der entsprechenden Schicht der Erde gelungen war, mußte die Zukunft lehren.
Nachdem Saizew sich überzeugt hatte, daß über der Tür das * So benannt nach dem englischen Physiker Oliver Heaviside (1850–1925).
grüne Lämpchen brannte, „trat“ er in die Kajüte. Am Apparat befanden sich Toporkow und Melnikow. Boris Nikolajewitsch sprach gerade mit Olga.
Toporkow hielt Saizew das Mikrofon hin. „Ihre Frau und Ihr Sohn warten auf Sie.“ „Ja, hier Konstantin Saizew am Telefon“, sagte der Ingenieur und brachte mit dieser irdischen Redewendung seine beiden Kameraden zum Lachen. Ruhig legte er das Mikrofon in eine besondere Aufhängevorrichtung. Die Antwort konnte erst nach sieben Minuten erfolgen. In zehn Tagen hatte das Raumschiff über 35 Millionen Kilometer zurückgelegt, und in diesem Augenblick trennten es von der Erde sechzig Millionen Kilometer.
Denn auch die Erde stand nicht still, sondern entfernte sich in entgegengesetzter Richtung. „SSSR-KS 3“ flog unter Ausnutzung der Anziehungskraft der Sonne in einer Richtung zur Venus, die der Umlaufbewegung der Erde entgegengesetzt war.
„Die Lautstärke hat bedeutend nachgelassen“, sagte Toporkow besorgt.
Saizew und Melnikow sahen einander an und lachten.
Jeden Tag hörten sie diesen stereotypen Satz. Igor Dmitrijewitsch war durch das Nachlassen der Lautstärke, das sich bei zunehmender Entfernung nicht vermeiden ließ, ganz verstört.
Er befürchtete stets, die Station arbeite schlechter, als dies in Wirklichkeit der Fall war. Stundenlang machte er sich an den Apparaten zu schaffen und war mit ihrem Funktionieren stets unzufrieden.
„Wir werden zusätzliche Generatoren aufstellen müssen.“ „Vorläufig ist das nicht nötig“, widersprach Melnikow. „Die Funkverbindung arbeitet ohne Unterbrechungen und ist gut genug. Warten wir ab.“ Er wußte, wenn er Toporkow freie Hand ließe, würde die Funkstation lange vor der Landung auf der Venus sämtliche Energiereserven erschöpft haben. Doch es galt, diese Reserven zu erhalten.
„Wenigstens einen Generator!“ „Nein!“ Melnikow versuchte, so streng wie möglich zu sprechen. „Ich verbiete es Ihnen … Wie kommen Sie auf solche Gedanken, Igor Dmitrijewitsch?“ setzte er sanft hinzu. „Ich habe soeben mit der Erde gesprochen und alles tadellos verstanden.“ Die sieben Minuten waren endlich vergangen, Saizew setzte sich die Kopfhörer auf und vernahm alles, was ihm seine Frau und sein Sohn gesagt hatten. Er antwortete und verließ gemeinsam mit Melnikow die Kajüte. Die Sprechzeit war begrenzt, und die Expeditionsmitglieder durften mit ihren Angehörigen nur einen einmaligen Dialogwechsel führen. Den Platz am Mikrofon hatte bereits Professor Balandin eingenommen.
Die Funkverbindung bereitete den Sternfahrern viel Freude.
Das Bewußtsein, von der Erde getrennt zu sein, bedrückte sie weniger, da sie die Stimme ihrer Lieben hören konnten. Die beunruhigende Ungewißheit, unter der auf früheren Fahrten alle sehr gelitten hatten, war gewichen. Alles, was auf der Erde und im Raumschiff vor sich ging, wurde sofort bekannt. Ein kurzer Bericht über die Ereignisse in der UdSSR und in den anderen Ländern wurde automatisch, ohne die Sprechverbindung zu stören, jeweils durchgegeben. Jeden Tag hängte Toporkow in der Roten Ecke eine „Kosmoszeitung“ aus.
„Boris Nikolajewitsch!“ sagte Saizew, nachdem sich die Tür der Funkstation hinter ihnen geschlossen hatte. „Erlauben Sie mir und Knjasew, außenbords die Düsen nachzusehen.“ „Wozu denn das?“ „Für alle Fälle. Wenn wir uns der Arsena nähern, werden wir doch das Schiff abbremsen müssen.“ „Und Sie machen sich noch über Igor Dmitrijewitsch lustig!“ Melnikow lächelte. „Dabei sind Sie selber … An den Düsen ist nichts. Nehmen Sie die Überprüfung vor, wenn das Schiff auf der Arsena gelandet ist.“ „Zu Befehl!“ antwortete Saizew finster.
Im Fahrstuhl, der ihn in einen anderen Korridor beförderte, dachte Melnikow über dieses Gespräch nach. Was für Menschen hatten sie doch an Bord! Jeder von ihnen war bereit, ohne Atempause zu arbeiten, damit alles wie am Schnürchen verliefe, damit „SSSR-KS 3“ die Venus erreichen und zurückkehren könnte. Es war ein Vergnügen, mit solchen Menschen zusammenzuarbeiten, aber man mußte sie auch die ganze Zeit vor unnützer Kräftevergeudung zurückhalten, die durch keine Notwendigkeit gerechtfertigt war.
Während der ersten Tage der Fahrt hatte sich das nicht so bemerkbar gemacht. Die Menschen waren mit den neuen Bedingungen, die mit dem gewohnten Leben nichts gemein hatten, noch nicht vertraut gewesen. Ihre Gedanken waren noch rück- 52 wärts, auf die Erde, gerichtet, die sie verlassen hatten. Aber dieses eigenartige Trägheitsmoment begann allmählich nachzulassen, und alle stürzten sich nun mit Feuereifer auf die Arbeit.
Es war jedoch nicht so einfach, immer eine Beschäftigung zu finden. Gut die Hälfte der Besatzung schien für die ganze, verhältnismäßig kurze Zeit des Fluges zur Venus zur Untätigkeit verdammt. Was blieb beispielsweise für den Expeditionsarzt Andrejew zu tun, wenn alle völlig gesund waren und seiner Hilfe nicht bedurften? Was für eine Beschäftigung hätten sich der Geologe Romanow, der Biologe Korzewski oder der Ozeanograph Balandin ausdenken können? Saizew und Knjasew befanden sich in keiner besseren Lage. Sie alle beneideten aufs äußerste die Astronomen, die sich keine Aufgabe zu suchen brauchten — ihnen fiel sie von selbst zu. Vor dem Schiff breitete sich ein unendliches, unerschöpfliches Betätigungsfeld. Wahrhaftig, die Astronomen waren glückliche Menschen!
Aber es fand sich Arbeit für alle. Belopolski war sich darüber im klaren, welche Gefahren die Beschäftigungslosigkeit während des Fluges in sich barg, und er befahl deshalb Saizew, mit Hilfe aller freien Expeditionsteilnehmer die Bordflugzeuge, die Geländewagen und das Unterseeboot für den Einsatz auf der Venus klarzumachen, die Maschinen nachzusehen sowie alle Geräte und Apparaturen zu überprüfen. Außerdem stellte er dem Chefingenieur des Schiffes die Aufgabe, die Männer in der Ausführung kleinerer Reparaturen zu unterweisen, damit jeder von ihnen unbedeutende Störungen selbst beheben könnte. Toporkow wurde beauftragt, Andrejew und Korzewski in der Arbeit mit den transportablen Funkgeräten zu unterweisen, mit denen alle Fahrzeuge ausgerüstet waren. Nur die beiden konnten mit den Funkanlagen noch nicht umgehen.
In der Roten Ecke wurden regelmäßig nach einem anspruchsvollen Lehrplan Übungsstunden in Astronomie, kosmischer Navigation, Mechanik und Theorie der Weltraumfahrt durchgeführt.
„Auf einem Raumschiff muß jeder in der Lage sein, jeden zu vertreten“, sagte Konstantin Jewgenjewitsch. „Für viele von uns ist dies der erste Flug, für keinen aber der letzte. Es tut not, daß wir jede Stunde zum Lernen nützen.“ Ungeachtet solcher Beanspruchung, blieb dennoch viel freie Zeit, die mancher mit nichts auszufüllen wußte, und das waren die schwersten Stunden. Es galt, jeden aufzumuntern, den die Gedanken an die Erde und die nächsten Angehörigen unmerklich traurig stimmten. In solchen Augenblicken eilten die Besatzungsmitglieder zur Funkstation, um Toporkows Bordjournal zu „lesen“. Es gab natürlich gar kein solches Journal. Aber die Gespräche mit der Erde waren auf ein Magnettonband mitgeschnitten worden, und wenn die Männer ihre letzte Unterhaltung mit der Frau oder einem anderen Verwandten wieder gehört hatten, beruhigten sie sich.
Melnikow stieg aus dem Fahrstuhl und begab sich zur Kommandozentrale. Die hell erleuchteten Korridore lagen stumm und menschenleer. Die Stille, die im Raumschiff herrschte, wurde durch nichts gestört. Die zwölf Menschen konnten den Riesenleib des Schiffes nicht füllen, und so wirkte er, als hielte sich niemand darin auf. In den ersten Tagen berührte dies die Raumfahrer unangenehm, aber allmählich gewöhnten sie sich daran.
Das Raumschiff wurde vom Autopiloten gesteuert. Melnikow trat in die Zentrale und studierte forschend die Aufzeichnungen aller Geräte. Das Band des Lokators zeigte an, daß einige Minuten zuvor in einer Entfernung von dreitausend Kilometern ein mittelgroßer Meteorit vorübergeflogen war. Bis das Raumschiff dort anlangte, hatte er diesen Punkt längst wieder verlassen, der Kurs brauchte nicht geändert zu werden.
Gewohnheitsmäßig drückte Melnikow auf die entsprechenden Knöpfe und prüfte den Zustand aller Teile des Schiffes. Die verschiedenfarbigen Lämpchen gaben ihm beruhigende Antworten.
Alles war in Ordnung. Er bemerkte, daß sich in Kajüte acht die Tür geöffnet hatte — das entsprechende Lämpchen leuchtete rot auf —, und wartete, daß sie geschlossen würde. Aber eine Minute verging, und das rote Lämpchen wurde nicht von dem grünen abgelöst. Da schaltete Melnikow den Bildschirm ein und verband sich mit Kajüte acht. Auf dem Bildschirm tauchte das Innere der Kajüte auf.
Melnikow sah den Geologen Wassili Romanow. Als dieser das Klingelzeichen hörte, wandte er den Kopf.
„Warum haben Sie die Tür nicht geschlossen?“ fragte Melnikow.
„Ich war in Gedanken, Genosse Leiter!“ „Ich muß Ihnen einen Verweis erteilen. Zerstreutheit ist bei einer Raumfahrt unzulässig.“ Der Geologe stürzte so ungestüm zur Tür, daß er sich wahrscheinlich am Türrahmen schmerzhaft stoßen würde. Melnikow schmunzelte und schaltete den Bildschirm aus.
Obwohl für „SSSR-KS 3“ durch Meteoriten fast keine Gefahr drohte, wurden die Raumfahrtvorschriften streng eingehalten — alle Türen und Schotte mußten stets hermetisch geschlossen sein.
Von der Zentrale begab sich Melnikow ins Observatorium.
Es nahm den ganzen Bug des Raumschiffes ein. Im Gegensatz zu den anderen Räumen, die keine Außenfenster besaßen, waren hier große Bullaugen eingebaut. Plasteschilde verschlossen sie von außen. Zahlreiche astronomische Instrumente, Rechenmaschinen neuester Konstruktion und ein fotochemisches Labor ließen wenig freien Raum.
Paitschadse und Wtorow arbeiteten am Spektroskop, Orlow blickte, das rechte Auge dicht am Okular, durch einen Refraktor. Belopolski war nicht im Raum.
„Wo ist Konstantin Jewgenjewitsch?“ fragte Melnikow.
„Er kommt gleich“, antwortete Paitschadse, ohne sich umzudrehen.
Im Observatorium herrschte die Atmosphäre angestrengter Arbeit. Um die Astronomen nicht zu stören, trat Melnikow an die Wand und schob durch Druck auf einen Knopf den Schild beiseite, der das eine Bullauge verdeckte.
Vor ihm breitete sich das vertraute Bild der Sternenwelt, das er viele Male gesehen hatte. Wie reglose kleine Punkte leuchteten die ewigen Lichte des Weltalls. Der Nebelschleier der Milchstraße zeichnete sich undeutlich „unmittelbar am Horizont“ ab.
Nah vor sich erblickte Melnikow die gleißende Kugel der Sonne, die zottig und von den Flammenzungen der Protuberanzen bekränzt im Raum stand. Das Raumschiff kehrte ihr die rechte Bordwand zu.
Von allen Schauspielen, mit denen das All die Sternfahrer reich beschenkte, war der Anblick der im Nichts hängenden Sonne das eindrucksvollste. Der Mensch ist gewohnt, sie als Scheibe zu seinen Häupten oder vor sich am Horizont zu erblicken. Von Bord des Schiffes aus bot sie aber ein ganz anderes Bild. Es sah aus, als schiene die Sonne von unten her. Obwohl man im Raumschiff kein genaues Gefühl für oben und unten besitzt, konnten die Kosmonauten sich nicht von dem Gefühl frei machen, daß das Schiff höher als die Sonne flöge. Warum das so war, vermochte keiner von ihnen zu begreifen, aber einer wie der andere erlag dieser sonderbaren Sinnestäuschung.
Melnikow blickte nach hinten und versuchte die Erde zu erkennen. Es dauerte nicht lange, und er hatte sie gefunden. Der mächtige hellblaue Stern sandte ein ruhiges Licht aus. Neben ihm war mit seinem gelben Schein der Mond zu erkennen. Sehr schön sah dieses Sternpaar aus.
Dort auf diesem schimmernden Punkt, der sich in den Weiten des Alls verlor, war alles, was für die Besatzung von „SSSRKS 3“ den Sinn des Lebens bedeutete. Und dort war Olga …
Melnikow wandte sich vom Fenster ab. Er wollte nicht an Olga denken, aber es gelang ihm nicht recht. Immer wieder kehrten die Gedanken zu seiner Frau zurück. Ihr Bild stand ihm die ganze Zeit vor Augen. Während der drei vorhergehenden Fahrten hatte er selten an die Erde gedacht, er hatte ihr den Rücken gekehrt, diesmal aber ging sie ihm nicht aus dem Sinn.
Zehn Tage waren erst vergangen, aber er verspürte schon Sehnsucht und litt unter der Trennung. Vor ihm lagen schier endlose lange drei Monate. Aber nicht ein einziges Mal bereute er seinen Entschluß. Könnte man die Zeit zurückdrehen — er würde sich wieder bereit erklären, zu fliegen. Ein Leben ohne Raumflüge schien ihm undenkbar. Ihn beseelte der Wunsch, auf die Erde zurückzukehren, aber zugleich trieb es ihn vorwärts. Vorwärts zum Ziel! Über dieses zwiespältige Gefühl konnte und wollte er sich keine Rechenschaft ablegen. Der Drang zur Erde und der Drang zur Venus beeinträchtigten einander merkwürdigerweise nicht.