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Etwa eine Stunde verwandte Melnikow darauf, sein Tagebuch weiterzuführen. Seit dem Flug zum Mars hatte er die Gewohnheit beibehalten, ihm täglich seine Gedanken und Beobachtungen anzuvertrauen. Während der zwölf Flugtage hatte er von dieser Regel abweichen müssen. Ihm fehlte die Zeit. Nun beschloß er, das Versäumte nachzuholen, obwohl er müde war und sich am liebsten schlafen gelegt hätte. Er wußte genau, daß er nicht würde einschlafen können, solange die Genossen nicht wieder an Bord waren.
Das Tagebuch versetzte ihn zurück auf die Erde. Die letzten Seiten waren mit Olgas Namen übersät, und mit quälender Deutlichkeit erstand vor seinem geistigen Auge die Gestalt seiner Frau. Drei lange Monate trennten ihn noch vom Wiedersehen …
Er bezwang die Sehnsucht, die ihn überwältigen wollte, und schrieb über den Flug zu dem Asteroiden. Doch kaum war er bis zur Schilderung von Wtorows Entdeckung im Talkessel gelangt, da unterbrach das Klingelzeichen des Sprechfunks seine Arbeit. Toporkow verlangte ihn.
„Sehen Sie nur, was dort unten geschieht“, sagte er.
Melnikow spähte zum Bildschirm.
Zuerst bemerkte er keine Veränderungen. Die Landschaft der Arsena sah aus wie immer. Aber dann fielen ihm sonderbare kleine Feuer auf, die auf dem Landeplatz, auf den steilen Felsen, an den Berghängen, ja überall emporzüngelten. Es sah aus, als schlügen unsichtbare Steinmetzen mit unsichtbaren Hämmern Funken aus dem Gestein.
Sekundenlang starrte Melnikow verständnislos dieses Bild an.
Dann durchfuhr ihn ein schrecklicher Gedanke: Meteoriten! …
Die Arsena ist einem Meteoritenzug begegnet … Und die Genossen sind ihm unter freiem Himmel schutzlos preisgegeben …
Werden sie einen rettenden Unterschlupf finden?
In unmittelbarer Nähe des Schiffes schlug ein mächtiger Stein mit fürchterlicher Gewalt auf den Fels. Eine grelle Stichflamme schoß empor. Im selben Augenblick hörte Melnikow deutlich, wie nacheinander zwei Steine gegen die Bordwand prallten.
Ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen, drückte er auf mehrere Knöpfe und schloß alle Fenster des Observatoriums mit den Schutzschilden. An den Kontrollgeräten war abzulesen, daß noch keins beschädigt worden war. Der Schiffsrumpf wies ebenfalls bislang noch kein Leck auf.
Melnikow schaltete einen Seitenbildschirm ein, verband sich mit der Funkkabine und fragte, ob Meldungen von Belopolski eingegangen seien. Aber Toporkow hielt sich nicht in seiner Kabine auf.
Da öffnete sich die Tür, und auf der Schwelle stand der Ingenieur. Melnikow warf einen Blick auf sein Gesicht, das eine Grimasse des Schmerzes verzerrte, da wußte er, daß etwas Furchtbares geschehen war. Ihm stockte der Herzschlag.
„Wer…?“ Er brachte kaum einen Laut über die Lippen.
„Leonid Nikolajewitsch.“ Toporkows Lippen zitterten.
Melnikow bedeckte die Augen mit der Rechten. Wie lebend sah er den gefallenen Kameraden vor sich.
„Ich fliege nur deswegen mit, weil wir auch auf einem Asteroiden landen werden“, hatte Orlow damals gesagt, ohne zu ahnen, daß diese Landung ihm zum Verhängnis werden würde, und ein gewinnendes Lächeln hatte wie immer, wenn er sich von Herzen freute, sein schönes Gesicht gleichsam überstrahlt.
„Und die anderen?“ „Haben sich in einen Felsspalt flüchten können. Leonid Nikolajewitsch ist unmittelbar vor dem Spalt getötet worden, ein Meteorit hat ihn genau ins Gesicht getroffen.“ Was mußten die Expeditionsteilnehmer durchgemacht haben, vor deren Augen ein Kamerad solch ein Ende fand!
Genau ins Gesicht! dachte Melnikow.
Einen Augenblick sah er deutlich Orlows Augen. Reiner Aquamarin, von langen schwarzen Wimpern eingefaßt. Melnikow bebte am ganzen Leibe.
„Wo sind Saizew und Knjasew?“ „Ich habe ihnen gesagt, sie sollen nicht ins Freie gehen.“ Melnikow strich sich mit der Hand über die Stirn.
„Lieber möchte man selber sterben als dergleichen erleben“, sagte er. „Gehen Sie in Ihre Funkkabine, Igor Dmltrijewitsch.
Ich komme gleich. Der Steinregen wird bald aufhören.“ Toporkow ging hinaus.
Es gibt in unserem Sonnensystem unzählige meteoritenhafte Körper. Sie fliegen sehr häufig in dichten Schwärmen. Neben den Kometen sind es die Meteorsteine, die den interplanetaren Raum verunreinigen. Beim Flug eines Raumschiffes ist ein Zusammenstoß mit ihnen kaum zu befürchten. Anders verhält es sich mit den Asteroiden. Im Vergleich mit den Raumschiffen sind sie ungeheuer groß. Sie besitzen keine Atmosphäre, die die großen Planeten vor dem himmlischen Bombardement schützt.
Begegnet ein Meteoritenzug auf seinem Weg einem Asteroiden, ergießt sich auf ihn ein Steinregen, dessen „Tropfen“ kosmische Geschwindigkeit besitzen, das heißt, die Fluggeschwindigkeit eines Gewehrgeschosses oder einer Granate um ein vielfaches übertreffen. Die Energie des ungestümen Fluges verwandelt sich beim Aufprall in Wärmeenergie. Es tritt eine Explosion ein.
Deshalb ist die Oberfläche kleiner Planeten mit dem feinen Staub zerschellter Meteoriten bedeckt. Kein Schutzanzug rettet den Menschen, wenn ihn eine Sprenggranate dieser Art im luftleeren Raum trifft. Sie bedeutet für ihn den sicheren Tod.
Daß solch ein kleines Ziel wie der Mensch getroffen wird, kann nur außerordentlich selten geschehen. Trotzdem droht den Sternfahrern durch die Meteoriten die größte Gefahr. Raumschiffe schützen sich vor ihnen durch Radioprojektoren, hochempfindliche Lokalisierungsgeräte, die mit dem Autopiloten gekoppelt sind. Aber während einer Zwischenlandung auf einem Asteroiden nützen einem Schiff diese eigenartigen Augen nichts.
Sie reichen zwar bis zu fünftausend Kilometer weit, doch selbst diese Reichweite ist bei einem Meteoriten, der mit kosmischer Geschwindigkeit fliegt, verschwindend gering. Ehe die Besatzung Maßnahmen zum Schutz des Schiffes treffen könnte, hat der angekündigte Meteorit die Entfernung bereits zurückgelegt.
Die Weltraumforscher nehmen dieses Risiko kühn auf sich.
All das wußte Melnikow genau, aber es linderte nicht im geringsten seinen Schmerz um den Verlust des Genossen. Er trauerte um Orlow. Außerdem war ihm klar, was für einen erschütternden Eindruck die Nachricht vom Tod eines Expeditionsmitgliedes auf der Erde hervorrufen würde. Den tragischen Zwischenfall bis zur Rückkehr des Raumschiffes zu verschweigen war unmöglich.
Nach anderthalb Stunden hatte der Meteoritenzug die Bahn der Arsena gekreuzt. Der „Regen“ hörte unversehens auf. Während dieser ganzen Zeit waren nur fünfmal kleinere Steine gegen den Schiffsrumpf geprallt, ohne die Bordwand zu durchschlagen.
Als klar wurde, daß die Gefahr überstanden war, ging Melnikow in die Funkkabine.
Dort erwarteten ihn schon Saizew und Knjasew. Der Mechaniker hatte rotgeweinte Augen. Als jüngstes Besatzungsmitglied schämte er sich der Tränen.
„Andrejew und Wtorow bringen ihn hierher“, meldete Toporkow.
„Und was machen die anderen?“ „Sie gehen weiter …“ Toporkow sagte es betroffen, aber Melnikow verstand die Handlungsweise Belopolskis. Die Trauer um einen Gefallenen darf nicht den Erfolg der ganzen Expedition gefährden. Das Raumschiff konnte sich nicht lange auf der Arsena aufhalten, und die Arbeit mußte unter allen Umstanden zu Ende geführt werden. Hatte Konstantin Jewgenjewitsch in jenen schrecklichen Augenblicken, als „SSSR-KS 2“ vom Mars starten sollte, nicht ebenso gehandelt?
„Wie werden sie den Leichnam über die Schlucht befördern?“ fragte Saizew.
„Es wird Wtorow keine Schwierigkeiten bereiten, mit ihm zusammen hinüberzuspringen.“ „Werden wir ihn etwa hier zurücklassen?“ flüsterte Knjasew.
Melnikow runzelte die Stirn und gab keine Antwort. Die Frage beschäftigte auch ihn. Es schien keinen anderen Ausweg zu geben.
Aus dem Lautsprecher drangen vereinzelte Worte. Man merkte, daß die Männer aus Belopolskis Gruppe nur das Notwendigste miteinander besprachen.
Auf dem Bildschirm war die felsige Bergkette jenseits der Schlucht zu erkennen. Melnikow und seine Gefährten ließen sie nicht aus den Augen. Gleich würden sie dort zwei Besatzungsmitglieder erblicken, die einen Dritten, einen Toten, trugen.
Keine drei Stunden waren vergangen, seit sie zusammen mit Leonid Orlow das Schiff verlassen hatten, der energiegeladen, das hagere Gesicht von den Augen verschönt, voller Lebensfreude ernst an ihrer Seite gegangen war. Wer hätte gedacht, daß dieser lebensprühende Mann eine Stunde später bereits tot sein würde… Vielleicht war ihnen die drohende Gewalt der Natur, in deren Geheimnis sie eindringen wollten, noch nie zuvor so deutlich zum Bewußtsein gekommen.
„Da sind sie“, sagte Saizew.
Auf dem Kamm des Höhenzuges erschienen zwei winzige Gestalten. Leicht konnte man den langen Wtorow von dem kleineren Andrejew unterscheiden. Der Ingenieur trug Orlow auf den Armen. Er sprang als erster mit seiner Last in die Tiefe.
Andrejew folgte ihm. In der gleichen Reihenfolge überwanden sie auch die Schlucht.
Melnikow, Saizew und Knjasew gingen zur Luftschleuse, Toporkow blieb zurück. Er durfte die Funkstation nicht verlassen.
Nach einigen Minuten hörten sie, wie sich die Außentür schloß und die fauchende Pumpe die Schleuse mit Luft füllte. Das grüne Lämpchen leuchtete auf, und die Innentür öffnete sich.
Bemüht, das verunstaltete Gesicht Orlows, das durch die zertrümmerte Helmscheibe zu erkennen war, nicht anzusehen, halfen Saizew und Knjasew den Ankömmlingen aus ihren Anzügen.
„Wir werden ihn in der Roten Ecke aufbahren“, schlug Melnikow vor.
„Dort ist die Türschwelle sehr hoch“, gab Andrejew zu bedenken. „Es wird schwierig sein, ihn hinabzulassen.“ „Dann — ins Observatorium.“ Melnikow bedeckte Orlows Helm mit einem sauberen Tuch.
Sie nahmen dem Erschlagenen den Tornister und die Sauerstoffballons ab. Dann trugen sie ihn mit dem Schutzanzug ins Observatorium und legten ihn auf denselben Tisch, an dem er selber wenige Stunden zuvor alles für die Sichtung des auf der Arsena gesammelten Materials vorbereitet hatte.
„Holt eine Fahne“, sagte Melnikow. „Aus Belopolskis Kajüte.“ Wtorow ging hinaus und kehrte bald mit dem purpurnen Tuch zurück.
„Ich übernehme als erster die Ehrenwache“, erklärte Melnikow. „Löst mich in einer halben Stunde ab.“ Die Männer merkten, daß er mit dem Gefallenen allein sein wollte, und verließen den Raum.
Die dritte Nacht. Und abermals ging die Sonne auf. Das gewaltige Schiff lag da wie ausgestorben. Die Männer lösten einander bei der Ehrenwache ab und trennten sich, ohne ein Wort zu wechseln. In der Funkstation wurden in großen Abständen vereinzelte Sätze aufgefangen, die aus dem Talkessel kamen.
Ein unsichtbarer Trauerflor schien über die Arsena gebreitet.
Neun Stunden nach dem Aufbruch der Expedition waren fünf Mann wieder an Bord zurück. Schweigend wurden sie empfangen, schweigend half man ihnen beim Ausziehen. Wären alle sechs Ausgezogenen wiedergekehrt, hätte man sie mit Fragen überschüttet.
„Wo ist er?“ fragte Paitschadse halblaut, sobald er den Helm abgesetzt hatte.
„Im Observatorium“, antwortete Melnikow ebenso leise.
Die Ankömmlinge hatten finstere, eingefallene Gesichter.
Nachdem sie die Raumanzüge abgelegt hatten, begaben sie sich geschlossen zum Observatorium. Ihnen folgten die an Bord gebliebenen Genossen.
Lange standen die elf Männer vor dem Toten und nahmen schweigend Abschied. Belopolski zog das Fahnentuch beiseite, bückte sich und betrachtete angestrengt das, was noch unlängst das Gesicht seines Schülers gewesen war.
„Er war ein begabter Wissenschaftler“, sagte er wie im Selbstgespräch. „Ich habe große Hoffnungen auf ihn gesetzt. Die Familie der Sternfahrer hat einen schweren Verlust erlitten. Er hat sein Leben für die Wissenschaft geopfert.“ Belopolski richtete sich auf. „Wir müssen Leonid Nikolajewitsch Orlow auf der Arsena zurücklassen. Er wird hier ruhen, bis die nächste Expedition ihn auf die Erde bringt. Die Beisetzung findet in zwei Stunden statt. Ich bitte Boris Nikolajewitsch und Konstantin Wassiljewitsch, eine geeignete Stätte zu suchen.“ „Kommen Sie, Boris“, sagte Saizew.
Sie wählten für das Grab eine Stelle unter einem überhängenden Felsen aus. Dorthin würde nie ein Sonnenstrahl dringen, und der froststarre Leichnam konnte unbeschadet der Stunde harren, da er in einem Bleisarg ins Vaterland übergeführt werden würde.
„Wir werden hier für alle Zeiten ein Denkmal errichten“, sagte Melnikow und wies auf den Felsen.
Geräuschlos sprang die Stichflamme einer Detonation empor.
Am Fuße des Felsens war eine Grube entstanden. Saizew brachte aus dem Ersatzteillager eine zwei Meter lange Stahlplatte, auf die er mit einem Schweißbrenner den Namen des Verstorbenen und das Datum schrieb.
Die Grabstätte war bereit.
Zur festgesetzten Stunde fand die Beisetzung statt. Orlow lag in seinem Raumanzug aufgebahrt. Der zertrümmerte Helm war durch einen neuen ersetzt worden.
Außer Melnikow, Saizew, Balandin und Andrejew nahmen alle an der Trauerfeier teil. Sogar in diesem Falle wurde nicht gegen das Raumfahrergesetz verstoßen; ein Teil der Besatzung blieb an Bord.
Als die Stahlplatte das Grab verschloß, wurde Salut geschossen. Drei Salven. Sie waren nicht zu hören. Man sah aus den Pistolen nur das Mündungsfeuer züngeln.
Am nächsten Morgen brachen Belopolski, Balandin, Romanow und Wtorow abermals zu dem Talkessel auf. Sie nahmen diesmal eine Elektrowinde nebst Akkumulatorenbatterien sowie zwei Preßlufthämmer und Preßluftflaschen mit. Alles zusammen war sogar auf der Arsena eine schwere Last.
„Das könnt ihr zu viert nicht tragen“, sagte Melnikow.
„Nehmt noch einen Mann mit.“ „Wir schaffen es schon“, entgegnete Belopolski. „Wir werden die Sachen zunächst stückweise über die Schlucht befördern und dann mit einem Seil auf den Felskamm hinaufziehen. Schließlich wiegt alles zusammen hier nicht mehr als dreißig Kilogramm. Mit dem kräftigen Wtorow wird es schon gehen.“ „Warum wollt ihr nicht mehr Leute mitnehmen?“ „Weil die Erfahrung von gestern lehrt, daß man nicht in großen Gruppen ausziehen darf. Das ist gefährlich.“ Die vier Mann gingen von Bord und kehrten erst nach zehn Stunden zurück. Drei von ihnen sahen zu Tode erschöpft aus.
„Machen Sie das Schiff startklar“, sagte Belopolski zu Melnikow, und ohne noch ein Wort hinzuzusetzen, suchte er seine Kajüte auf.
„Ich bin so ausgepumpt, als hätte ich auf der Erde Fünfpudsäcke geschleppt“, sagte Romanow.
„Was habt ihr denn bloß gemacht?“ wurde er gefragt.
„Wir haben die Steine auseinandergeschoben.“ „Also sind die Granitfiguren jetzt zerstört?“ „Nein, die haben wir nicht angerührt.“ Wtorow sah aus wie immer. Der eiserne Organismus dieses Sportlers ließ sich von der Müdigkeit nicht unterkriegen.
Abermals verging ein Tag und eine Nacht.
Saizew und Knjasew beendeten die Überprüfung der Triebwerke, und nichts hielt das Raumschiff nun mehr auf der Arsena.
Es hatte sechsunddreißig Stunden auf dem Asteroiden verbracht, eine ausreichende Zeit für alle vorgesehenen Arbeiten und auch für die unvorhergesehenen, die zur Hauptaufgabe geworden waren. Nun lag es bereit, die Fahrt fortzusetzen. Nur ein Mann der Besatzung fehlte.
Am 4. Juli, ein Uhr nachts Moskauer Zeit, sprang das eine Triebwerk des Raumschiffes an, und behutsam löste sich das Schiff von der Arsena.
Mit tiefer Trauer beobachteten die Sternfahrer, wie der Asteroid sich von ihnen entfernte. Bald hatte er sich in einen kleinen Stern verwandelt, der rasch seinen Glanz verlor. Dann verschwand er ganz. Noch lange blickten alle auf den Bildschirm.
Die Kosmonauten wußten, daß Opfer an Menschenleben bei der langwierigen Eroberung des Kosmos nicht zu vermeiden waren. Die Natur ergibt sich nur in hartem Kampf. Die Geschichte der Expeditionen nennt unzählige Namen Gefallener.
So war es auf der Erde, so würde es auch im interplanetaren Raum sein. Der Weg zum Wissen ist dornenreich. Aber niemals, weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft, vermag der Tod die Forscher aufzuhalten. Die siegreiche Wissenschaft bewahrt den Namen jedes Gefallenen, aber sie schreitet unaufhaltsam voran zum vollen Sieg über die elementaren Kräfte der Natur, die sich ihr blindlings widersetzen. Schon allein durch ihr Sterben beweisen die Opfer der Wissenschaft die erhabene Kraft des Lebens. Wer weiß — vielleicht wird eines Tages auch der Tod demütig den Nacken vor dem Willen des Menschen beugen. Dann wird niemand mehr fallen und kein Sieg mehr so teuer bezahlt zu werden brauchen. Von keiner Trauer getrübt, wird die Straße der Wissenschaft licht und froh sein wie sie selbst, die schönste Offenbarung der wundervollen Gabe der Natur, des menschlichen Geistes.
Dies wußten sie. Aber das Herz gehorcht nicht immer der Vernunft.
Zwei Tage herrschte im Schiff schweigende Trauer. Die Besatzungsmitglieder blieben in ihren Kajüten, trafen sich nur zu den Mahlzeiten, sprachen aber auch dann kaum miteinander.
Toporkow nahm jeden Tag Radiogramme auf, in denen der Besatzung das Beileid ausgesprochen wurde; sie kamen buchstäblich aus aller Welt. Auch auf der Erde waren alle durch den tragischen Zwischenfall auf der Arsena zutiefst erschüttert.
Aber wie stark auch ihre Trauer sein mochte, das Leben stellte gebieterisch seine Forderungen.
Der Flug ging weiter. Es galt zu leben und zu arbeiten. Sechs Tagereisen lagen zwischen Arsena und Venus, aber das Programm der wissenschaftlichen Arbeiten für diese Zeit war noch nicht erfüllt. Als erste besannen sich die Astronomen auf ihre Pflicht und gaben den übrigen ein Beispiel.
Am 8. Juli bat Belopolski die Besatzung in die Funkkabine, um den Bericht über die Forschungsergebnisse von der Arsena zu hören. Die Zeit war so gewählt, daß die Radiowellen des Raumschiffes gerade auf der Erde empfangen werden konnten, und die Wissenschaftler, die sich im Kosmischen Institut eingefunden hatten, nahmen sozusagen an dieser Versammlung teil.
Den Bericht gab Professor Balandin. Als enzyklopädisch gebildeter Mensch vereinigte er in seiner Person drei wissenschaftliche Fachgebiete — er war ein hervorragender Ozeanograph und Zoologe sowie ein bedeutender Theoretiker der Raumfahrt.
Obwohl der Gegenstand seiner Darstellung so umfangreich war, daß er für eine ganze wissenschaftliche Monographie gereicht hätte, verstand der Professor es, ihn in zwanzig Minuten zu behandeln. Äußerste Knappheit und präzise Formulierung der Fakten sowie klare, geschliffene Schlußfolgerungen — das war der Stil seines Berichtes.
Der Professor begann mit einer Charakterisierung der Arsena.
Er teilte mit, was die geologische Untersuchung ihres Inneren ergeben hatte: Der Asteroid bestand zu drei Vierteln aus gediegenem Eisen.
„Eine gleichartige Zusammensetzung zeigen auch die Meteoriten, die auf die Erde fallen. Das beweist, daß Asteroiden und Meteoriten gemeinsamen Ursprungs sind. Ob sie nun als Trümmer eines,fünften Planeten‘ anzusprechen sind oder nicht, läßt sich noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Das Vorhandensein von Sauerstoff im Eisen spricht allerdings für die Planetenhypothese.“ Nachdem Balandin über Ausmaße, Masse, Umdrehungsgeschwindigkeit und Zusammensetzung des Gesteins im Innern des Asteroiden gesprochen hatte, berichtete er über die Ruinen, auf die sie gestoßen waren.
„Die Vermutung, wir hätten die Reste eines Bauwerkes gefunden, das einst auf dem zerstörten Planeten stand, erweist sich als nicht zutreffend. Das war zu erwarten. Nichts künstlich Geschaffenes hätte die kosmische Katastrophe überdauert. Wir haben unter den Steinen eine ebensolche Asphaltdecke gefunden wie im ganzen Talkessel. Die geometrischen Figuren wurden also nicht im Boden verankert, sondern einfach darauf gestellt.
Somit ergeben sich drei Fragen: Wer hat die Figuren aufgestellt?
Warum wurden sie aufgestellt? Und wodurch sind sie zerstört worden? Glaubwürdig kann man nur auf die dritte Frage antworten. Das Gebäude ist durch einen gewaltigen Meteoriten zerstört worden. Die Spuren der Detonation, die bei seinem Aufprall eintrat, sind deutlich zu erkennen. Die ersten beiden Fragen können wir nur mit Mutmaßungen beantworten. Interessant finde ich Konstantin Jewgenjewitschs Gedanken darüber.
Ich gebe ihm das Wort.“ Belopolski rückte näher ans Mikrofon.
„Meine Hypothese ist zweifelhaft“, begann er. „Aber vorläufig gibt es keine andere Erklärung. Die Granitfiguren sind von Menschen oder ihnen ähnlichen Geschöpfen gemeißelt worden. Sie befinden sich auf einem Asteroiden, auf dem keine Lebewesen existieren können. Folglich gelangten die vernunftbegabten Lebewesen dorthin wie auch wir.“ Ausrufe des Erstaunens wurden laut. Belopolskis Gedanke verblüffte alle, obwohl er streng logisch war.
„Auch nur annähernd läßt sich nicht sagen, wann dies geschehen ist“, fuhr Konstantin Jewgenjewitsch fort, „aber zweifellos wurde unser Sonnensystem von einem Raumschiff aufgesucht.
Woher es kam? Das läßt sich erst klären, wenn die entfernten Nachkommen jener Sternfahrer noch einmal zu uns starten sollten. Oder — wenn wir zu ihnen fliegen.“ Melnikow glaubte, Belopolski habe sich versprochen.
„Sie betonten doch selber, es sei ungewiß, woher jenes Schiff gekommen ist“, sagte er.
„Unterbrechen Sie mich nicht!“ Belopolski runzelte unmutig die Stirn. „Ich werde auf diese Frage antworten. Was können die unbekannten Kosmonauten damals im Bereich unseres Sonnensystems gesehen haben? Von den Planeten zeigten nur die Erde, die Venus und der Mars organisches Leben. Auf der Erde werden sie Menschen gesehen haben, aber die standen noch auf einem niedrigen Entwicklungsniveau. Die fernen Gäste zweifelten nicht, daß der Mensch dereinst auf der Stufenleiter der Evolution hoch emporsteigen würde. Ich habe mich in ihre Lage versetzt und mir Gedanken darüber gemacht, was sie also hätten tun sollen. Es galt, den künftigen Gelehrten der Erde mitzuteilen, daß unser Planet von einem Schiff aus einer anderen Welt angesteuert worden war. Aber was für ein Denkmal überdauert ungezählte Jahrtausende? Auf der Erde, dem Mars und der Venus hält sich nichts so lange. Klimawechsel, Regen, Winde und so weiter vernichten auf so große Zeiträume jedes Bauwerk und machen es dem Boden gleich.“ „Das überzeugt mich nicht ganz!“ warf Balandin ein. „Man kann Denkmäler nahezu für die Ewigkeit bauen.“ „Ganz recht — ‚nahezu‘. Jene haben es nicht getan. Zumindest ist auf der Erde kein solches Denkmal gefunden worden. Mir scheint, die Gäste entschieden sich für ein anderes Vorgehen.
Auf der Arsena gibt es keine Atmosphäre, keine klimatischen Erscheinungen. Dieser Asteroid nähert sich aber stark den Bahnen der Erde und der Venus. Würden die Menschen einst ‚heranwachsen‘ und zu Weltraumflügen starten, würden sie bestimmt diesen Asteroiden aufsuchen und ein hinterlassenes Denkmal finden — so und nicht anders glaube ich, haben jene unbekannten Kosmonauten geurteilt. Tatsächlich haben wir das Denkmal gefunden. Sie hätten natürlich klarere Kunde von sich hinterlassen können. Wir haben nichts dergleichen entdeckt, was aber nicht heißt, daß es nicht existiert. Wir haben die Ruinen in der kurzen Zeit nicht völlig abtragen und zu jenen Stellen vordringen können, die durch die Detonation des Meteoriten verschüttet wurden. Das wird die nächste Expedition tun. So also lautet meine Hypothese. Es ergibt sich die Frage, ob diesen vernunftbegabten und höchst verständigen Wesen die Systeme des Quadrats, des Hexagons und des Rhombus unbekannt waren. Kannten sie etwa nur das kubische System? Wir haben Oktaeder, Dodekaeder, Tetraeder und Kuben gesehen. Keine einzige Pyramide, kein einziges Prisma, kein einziges Brachidoma! Ist das Zufall? Ich glaube nicht. Darin liegt ein bestimmter Sinn.
Das Rätsel der Granitfiguren muß von uns gelöst werden. Dann werden wir auch erfahren, woher das Raumschiff gekommen ist.
Damit möchte ich Boris Nikolajewitschs Frage beantworten“, schloß Belopolski.
Die Beratung endete gegen drei Uhr nachmittags. Die Expeditionsmitglieder zogen sich in ihre Kajüten zurück.
Am nächsten Tag nahm Toporkow ein langes Radiogramm auf, das die Reaktion der Wissenschaftler der Erde auf Belopolskis Hypothese darstellte. Die meisten erklärten sich mit seinen Folgerungen einverstanden.