121908.fb2 Das Ferne Ufer - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 7

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DER IRRE

Der Irre, der einstige Färber von Lorbanery, kauerte beim Mast, hielt seine Knie mit den Armen umschlungen und den Kopf gesenkt. Sein struppiger Haarschopf sah schwarz aus im Licht des Mondes. Sperber hatte sich in eine Decke gewickelt und schlief im Heck des Bootes. Keiner von beiden rührte sich. Arren saß aufrecht im Bug. Er hatte sich geschworen, die ganze Nacht wach zu bleiben und aufzupassen. Wenn der Magier annahm, daß ihr wahnsinniger Passagier weder ihn noch Arren in der Nacht anfallen würde, so war das seine Sache; er, Arren, traf seine eigenen Entschlüsse, er hatte seinen eigenen Pflichten nachzukommen.

Doch die Nacht war lang und ruhig. Das Licht des Mondes ruhte still auf dem Wasser. Sopli, am Mast kauernd, schnarchte langsam und leise vor sich hin. Das Boot glitt ruhig über die glatte Fläche, und der Schlaf überkam Arren, ohne daß er es merkte. Er schreckte kurz auf und sah, daß der Mond sich kaum verändert hatte; er gab seine selbstgewählte Schützerrolle auf und legte sich, nachdem er sich ein bequemes Lager hergerichtet hatte, zum Schlaf nieder.

Wieder träumte er, was er auf dieser Reise immer zu tun schien, und zunächst waren die Träume unzusammenhängend, doch auf eine seltsame Weise erfreulich und beglückend. Dort, wo der Weitblick-Mast war, wuchs jetzt ein Baum mit weiten, überhängenden, dichtbelaubten Zweigen; Schwäne, die sich mit mächtigen Schwingen vor ihnen niederließen, leiteten das Boot; weit vor ihnen, über der beryllfarbenen See, schimmerten die weißen Türme einer Stadt, jetzt befand er sich in einem dieser Türme und eilte leichtfüßig eine Wendeltreppe hinauf. Diese Bilder verwoben und veränderten sich, kamen und gingen und schoben sich zwischen andere Träume, die keine Spuren hinterließen; doch plötzlich befand er sich wieder in dem schrecklichen, düsteren Dämmerlicht auf dem Moor, und die Furcht wuchs und wurde immer stärker in ihm, bis er nicht mehr atmen konnte.

Doch er bewegte sich immer weiter, weil er weitergehen mußte. Später, viel später, merkte er, daß sein Vorwärtsgehen nur ein Kreis gewesen, daß er auf seine eigene Spur gestoßen war. Aber etwas in ihm zwang ihn, einen Weg zu finden, er mußte hier herauskommen. Und die Aufgabe wurde immer zwingender, immer notwendiger. Er fing an zu laufen. Doch als er rannte, wurden die Kreise immer enger, und der Boden begann sich zu neigen. Er rannte in die immer unheimlicher werdende Dunkelheit hinein, immer schneller, am Rande eines abgrundtiefen, runden Schachtes entlang, der wie ein riesiger Strudel alles in sich einzusaugen schien: und als er das wahrnahm, stolperte er und fiel auf den Boden.

»Was ist los, Arren?«

Sperber sprach vom Heck des Schiffes her. Eine fahlgraue Morgendämmerung hielt See und Himmel in ihrem Bann.

»Nichts.«

»Ein Traum?«

»Nichts.«

Arren fror; sein rechter Arm, der unter ihm eingezwängt gewesen war, schmerzte. Er schloß die Augen vor dem immer heller werdenden Licht und dachte: »Er spielt mal auf das und mal auf jenes an; nie sagt er mir deutlich, wo wir nun eigentlich hingehen oder warum ich da hingehen soll. Und jetzt schleppt er noch diesen Wahnsinnigen mit. Es ist verrückt, ihm zu folgen, aber wer ist der Verrücktere, ich oder der Irre? Die zwei verstehen sich vielleicht ganz gut, die Zauberer sind ja jetzt die Wahnsinnigen, hat dieser Sopli gesagt. Ich könnte jetzt daheim in Berila sein, in meinem Zimmer mit den geschnitzten Wänden und den roten Teppichen auf dem Boden; im Kamin würde ein Feuer lodern, und ich würde aufwachen und dann mit meinem Vater auf die Falkenjagd gehen. Warum bin ich mit ihm gegangen? Warum hat er mich mitgenommen? Weil es mein vorbestimmter Weg sei, hat er gesagt. Aber das ist nichts als Zauberergeschwätz, die machen ja große Worte um nichts und wieder nichts. Und die Bedeutung der Worte liegt immer woanders. Wenn mir ein Weg vorherbestimmt ist, dann ist es der, der nach Hause, nicht einer, der in die Außenbereiche führt. Ich habe Pflichten zu erfüllen daheim, und ich gehe ihnen aus dem Weg. Wenn er wirklich glaubt, daß es irgendwo einen Feind der Zauberkunst gibt, warum ist er dann allein, nur mit mir, ausgezogen? Er hätte einen anderen Magier mitnehmen können, der ihm hätte helfen können — Hunderte hätte er mitnehmen können; er hätte eine ganze Heerschar, eine ganze Flotte mitnehmen können. Wenn wirklich eine große Gefahr bestünde, wäre es dann klug, nur einen alten Mann und einen Knaben in einem Boot ausziehen zu lassen? Es war reiner Wahnsinn. Er war selbst verrückt. Es ist so, wie er gesagt hat: er selbst sucht den Tod. Er sucht den Tod, und er will mich mitnehmen. Aber ich bin nicht verrückt und nicht alt; ich will noch nicht sterben; ich werde nicht mit ihm gehen.«

Er stützte sich auf seinen Ellbogen und schaute nach vorne. Der Mond, der bei der Ausfahrt aus der Bucht von Sosara vor ihnen aufgegangen war, stand wieder direkt vor ihnen, doch jetzt wurde er immer blasser. Hinter ihm begann, fahl und matt, ein neuer Tag. Keine Wolken waren zu sehen, der ganze Himmel schien aus einer bleichen Decke zu bestehen. Als der Tag voll angebrochen war, wurde es heiß, aber die Sonne war verhüllt, sie schien ohne Glanz.

Den ganzen Tag lang segelten sie an der Küste von Lorbanery entlang, die sich niedrig und grün rechter Hand hinzog. Eine leichte Brise blies vom Land her und füllte ihr Segel. Gegen Abend kamen sie an einem langen, letzten Vorgebirge vorbei; die Brise legte sich. Sperber sprach einen magischen Wind in das Segel, und wie sich ein Falke vom Gelenk des Jägers erhebt, so richtete sich die Weitblick auf und flog, die Seideninsel rasch hinter sich lassend, über die See.

Sopli, der Färber, hatte den ganzen Tag zusammengekauert am Mast verbracht, er hatte offensichtlich Angst vor dem Boot und Angst vor dem Meer; er war seekrank und bot ein Bild des Jammers. Jetzt sprach er, mühsam und heiser: »Fahren wir nach Westen?«

Die Abendsonne schien ihm voll ins Gesicht, doch Sperber, der bei seinen dümmsten Fragen nicht die Geduld verlor, nickte.

»Nach Obehol?«

»Liegt Obehol westlich von hier?«

»Ganz weit westlich. Vielleicht ist dort der Ort?«

»Wie sieht er aus, der Ort?«

»Woher soll ich das wissen? Wie konnte ich ihn denn sehen? Er ist nicht auf Lorbanery! Ich habʹ jahrelang danach gesucht, vier, fünf Jahre, in der Dunkelheit, in der Nacht, meine Augen waren fest zu, und immer hat er gerufen ›Komm! Komm!‹, aber ich konnte nicht kommen. Ich bin kein großer Zauberer, der sich dort, wo es immer dunkel ist, auskennt. Aber es gibt einen Ort, wo Licht ist, wo sogar die Sonne scheint. Und Mildi und meine Mutter haben das nicht verstanden. Die haben immer nur dort, wo es dunkel ist, gesucht. Dann ist der alte Mildi gestorben, und meine Mutter wurde verrückt. Sie hat die Formel vergessen, die wir beim Färben benutzten, und das hat sie nicht verkraftet. Sie wollte sterben, aber ich habʹ gesagt, sie soll warten, bis ich den Ort gefunden habʹ. Es muß einen geben. Wenn die Toten in diese Welt zurückkehren können, dann muß es irgendwo einen Ort geben, wo das geschieht.«

»Kommen die Toten zurück ins Leben?«

»Ich habʹ gedacht, daß du das weißt«, sagte Sopli nach einer Pause und schaute Sperber prüfend von der Seite an.

»Ich versuche, es herauszufinden.«

Sopli erwiderte nichts. Der Magier schaute ihm plötzlich voll ins Gesicht, seine Augen waren forschend und zwingend auf ihn gerichtet, doch seine Stimme war sanfter als zuvor: »Sopli, willst du herausfinden, wie man ewig weiterleben kann?«

Sopli blickte kurz auf, dann barg er seinen zerzausten, braunroten Haarschopf in den Armen, und schaukelte sich hin und her, während er mit den Händen seine Fußgelenke umklammert hielt. Diese Stellung schien er immer einzunehmen, wenn er Angst hatte, und wenn er sich in ihr befand, dann war er nicht ansprechbar und schien nicht wahrzunehmen, was um ihn herum vorging. Arren wandte sich angewidert zur Seite, Soplis Benehmen stieß ihn ab. Wie konnten sie tage- oder wochenlang mit Sopli in einem sechs Meter langen Boot zubringen? Es war, als ob man den gleichen Körper mit einer von Krankheit zersetzten Seele zu teilen hätte.

Sperber kam nach vorne und ließ sich mit einem Knie auf die Ruderbank nieder. Er schaute in das gelbliche Abendlicht und sagte: »Der Mann hat ein weiches Herz.«

Arren gab keine Antwort. Er fragte nur kalt: »Was ist Obehol? Den Namen habe ich noch nie gehört.«

»Ich kenne nur den Namen der Insel und weiß, wo sie auf der Seekarte liegt… Schau her, die Gefährten von Gobardon!«

Der große topasfarbene Stern stand jetzt höher im Süden und unter ihm erhoben sich, aus dem trüben Dunst über dem Meer aufsteigend, zwei weitere Sterne, ein weißer Stern links und ein bläulich-weißer rechts, und formten ein Dreieck mit Gobardon.

»Wie heißen sie?«

»Meister Namengeber wußte es nicht. Vielleicht wissen es die Leute auf Obehol und Wellogy. Ich kenne sie nicht. Wir befinden uns auf fremden Meeren, Arren, und wir segeln unter dem Zeichen des Endens.«

Der Junge antwortete nicht. Er schaute mit Widerwillen auf die hellen, namenlosen Sterne, die sich über dem endlosen Wasser erhoben.

Die Tage verstrichen. Sie segelten immer weiter nach Westen; die südliche Frühlingssonne lag warm auf dem Wasser, und ein heller Himmel wölbte sich über sie. Doch Arren kam es vor, als sei das Licht gedämpft, wie Licht, das schräg durch Glas fällt. Die See war lauwarm und wenig erfrischend, wenn er darin schwamm. Ihre eingesalzenen Nahrungsmittel schmeckten fad. Alles Frische, alles Klare war verschwunden, das Tageslicht selbst schien getrübt, nur die Nächte waren wie früher, ja, es schien sogar, als ob die Sterne hier in einem helleren Glanz funkelten. Er legte sich auf den Rücken und schaute hinauf zu ihnen, bis ihn der Schlaf überkam. Und wenn er eingeschlafen war, dann kam der Traum: immer wieder der gleiche Traum von dem Moor, oder von dem runden Schacht, oder von einem Tal, das von hohen Felswänden umgeben war, oder von einem Weg, der unter einem tiefverhangenen Himmel immer weiter abwärts führte; alles lag in einem Halbdunkel, und er war umgeben von einem Grauen und Entsetzen, dem er vergeblich zu entrinnen versuchte.

Mit Sperber sprach er nie darüber. Er sprach überhaupt nur Belangloses mit ihm, meist hing es mit dem täglichen Segeln zusammen; Sperber, aus dem man schon immer jedes Wort hatte herausquetschen müssen, schwieg nun dauernd.

Arren sah jetzt ein, welch ein Narr er gewesen war, als er sich mit Leib und Seele diesem ruhelosen, verschwiegenen Mann anvertraut hatte, der sich von Impulsen beherrschen ließ und keinerlei Anstrengung machte, sein Leben vernünftig zu führen, und selbst dem Tode nicht auszuweichen schien. Eine verwegene Stimmung war über Sperber gekommen, und Arren glaubte den Grund dafür zu wissen: Sperber wollte sein eigenes Versagen nicht wahrhaben — das Versagen der Zauberkraft, wollte nicht wahrhaben, daß sie keine Macht mehr hatte.

Denjenigen, denen die Geheimnisse der Zauberkunst vertraut waren, war bewußt geworden, daß es mit der magischen Kunst, aus der Sperber und all die Generationen von Zauberern und Hexenmeister so viel Aufhebens gemacht hatten, im Grunde wenig auf sich hatte. Sie konnten Wind und Wetter handhaben, sie kannten die Heilkräuter, sie waren bewandert in Illusionsküsten mit Nebel, Licht und Verwandlungen, mit denen sie Uneingeweihte beeindrucken konnten, die aber letzten Endes doch nichts weiter als Tricks waren. Die Wirklichkeit blieb unangetastet. Magische Kunst gab keinem Menschen Macht über einen anderen, und gegen den Tod war auch sie wirkungslos. Magier lebten auch nicht länger als gewöhnliche Menschen. All ihren geheimen Worten gelang es nicht, ihre Sterbestunde auch nur für kurze Zeit hinaus zu schieben.

Selbst in alltäglichen Dingen war nur wenig damit anzufangen. Sperber war immer sehr geizig mit seinen Künsten, sie segelten mit dem Wind der Welt, wenn immer es möglich war, sie fischten, um sich zu ernähren, und er war mit dem Wasser so sparsam wie jeder andere Seemann. Nach vier Tagen ununterbrochenen Kreuzens in einem unbeständigen Gegenwind fragte Arren, ob er nicht einen kleinen achterlichen Wind in ihre Segel rufen könne, und als der den Kopf verneinend schüttelte, fragte Arren: »Warum nicht?«

»Ich würde von keinem kranken Menschen verlangen, daß er ein Wettrennen laufe«, sagte Sperber, »und ich würde auch keinen Stein auf einen Rücken legen, der sich unter einer schweren Last krümmt.« Es war nicht klar, ob er von sich selbst, oder von der Welt im allgemeinen sprach. Seine Antworten kamen immer widerwillig heraus und waren immer schwer verständlich. Das, dachte Arren, war im Grunde die ganze Zauberkunst: auf gewichtige Dinge anspielen, in Wirklichkeit aber doch nichts sagen und Nichtstun als die Krone der Weisheit hinzustellen.

Arren hatte versucht, Sopli zu ignorieren, aber das war unmöglich; es kam sogar bald so weit, daß er in ihm eine Art Verbündeten sah. Sopli war nicht so verrückt, oder wenigstens nicht so einfach verrückt, wie sein wildes Haar und seine bruchstückhafte Rede es vermuten ließen. Das Verrückteste an ihm war seine maßlose Furcht vor dem Wasser. Es mußte ihn ungeheuren Mut gekostet haben, in das Boot zu steigen, und seine Furcht hatte sich seither kaum gelegt, er hielt seinen Kopf dauernd gesenkt, hauptsächlich, um nicht auf das Wasser blicken zu müssen, das sich unaufhörlich um ihn herum hob und senkte. Das Aufstehen machte ihn schwindlig, und er klammerte sich am Mast fest. Als Arren das erste Mal einen Kopfsprung vom Boot aus ins Wasser machte, schrie Sopli voll Entsetzen auf; als Arren ins Boot zurückgeklettert kam, sah der arme Kerl ganz grünlich aus vor Angst. »Ich dachte, du wolltest dich ertränken«, sagte er, und Arren mußte lachen.

Am Nachmittag des gleichen Tages, als Sperber meditierend im Boot saß und nicht wahrnahm, was um ihn herum vor sich ging, kam Sopli vorsichtig über die Ruderbank zu Arren gerutscht. Er sagte leise: »Du willst nicht sterben, oder?«

»Natürlich nicht.«

»Er will«, sagte Sopli und bewegte sein Kinn leicht in Sperbers Richtung.

»Warum sagst du das?«

Arren sprach in einem gebieterischen Ton mit ihm, der ihm ganz selbstverständlich schien, und den Sopli auch als ganz natürlich hinnahm, obwohl er mindestens zehn bis fünfzehn Jahre älter als Arren war. Er antwortete bereitwillig und ziemlich normal, doch war seine Rede, wie immer, unzusammenhängend. »Er will zu dem geheimen Ort gelangen … Ich weiß aber nicht, warum. Er will nicht… Er glaubt nicht an das … das Versprechen.«

»Welches Versprechen?«

Sopli warf ihm einen kurzen Blick zu; etwas von seiner verlorenen männlichen Würde schien gekränkt zu sein. Doch Arrens Wille war stärker. Er antwortete flüsternd: »Du weißt doch… Das Leben… das ewige Leben.«

Arrens Körper durchlief es eiskalt. Er erinnerte sich an seine Träume: das Moor, der runde Schacht, die Felsen, das trübe Licht. Das war der Tod, das war das Grauen des Todes. Der Tod war es, dem er entrinnen mußte, dieser Weg war es, den er suchte. Und auf der Schwelle stand eine Gestalt, von Schatten eingehüllt, die ihm ein kleines Licht, nicht größer als eine Perle, entgegenhielt, das glimmende Licht unsterblichen Lebens.

Zum ersten Mal blickte Arren in Soplis Augen: sie waren hellbraun und ganz klar, und er sah darin, daß er endlich verstanden hatte und daß Sopli dieses Wissen mit ihm teilte.

»Er«, sagte der Färber, und wiederum zuckte sein Kinn in Sperbers Richtung, »er will seinen Namen nicht hergeben. Und niemand kann seinen Namen dorthin mitnehmen. Der Weg ist viel zu schmal.«

»Hast du ihn gesehen?«

»Im Dunkel, in meinem Geist. Das genügt nicht. Ich will ihn sehen; mit meinen Augen, in dieser Welt will ich ihn sehen. Wenn ich — wenn ich sterben würde und den Weg, den Ort, nicht finden könnte? Die meisten Leute finden ihn nicht, die wissen nicht einmal, daß er existiert. Nur manche haben die Macht. Aber es ist schwer, denn man muß seine Macht aufgeben, um dorthin zu gelangen … Keine Worte mehr, keine Namen. Es ist zu schwer, man kann es nicht im Geist tun. Und … wenn man … stirbt…, der Geist… der… stirbt auch.« Er stockte bei jedem Wort. Dann fuhr er fort: »Ich will wissen, ob ich zurückkommen kann. Ich will dorthin, auf die andere Seite des Lebens. Ich will leben, ich will sicher sein. Ich hasse … ich hasse dieses Wasser…«

Der Färber krümmte sich zusammen, wie es eine Spinne tut, wenn sie herunterfällt, und er zog den Kopf mit dem krausen roten Haar tief zwischen die Schultern — er konnte den Anblick des Wassers nicht ertragen.

Arren vermied es von nun an nicht mehr, sich mit Sopli zu unterhalten. Jetzt wußte er, daß Sopli nicht nur seine Träume, sondern auch seine Furcht teilte, und daß er, wenn es zum Alleräußersten kommen sollte, einen Verbündeten gegen Sperber haben würde.

Tagaus, tagein segelten sie gen Westen. In der Windstille und den unberechenbaren Brisen kamen sie nur langsam vorwärts, dorthin, wohin Sopli sie leitete, wie Sperber vorgab. Doch Sopli leitete sie nicht, denn er, der überhaupt nichts vom Meer verstand, der noch nie eine Seekarte gesehen hatte, der noch nie zuvor in einem Boot gesessen hatte, er hatte eine tödliche Angst vor dem Wasser. Der Magier leitete sie, und er führte sie mit Absicht ins Unheil. Das war Arren inzwischen ganz klar, und er wußte auch, warum er das tat. Der Erzmagier hatte erkannt, daß sie und noch andere das ewige Leben suchten, daß es ihnen versprochen worden war, daß sie davon angezogen wurden und es vielleicht finden würden. Und in seinem Stolz, in seinem maßlosen Stolz als Erzmagier fürchtete er, daß sie es möglicherweise erlangen könnten; er beneidete und fürchtete sie, denn er konnte nicht zulassen, daß es einen Menschen gab, der größer als er selbst war. Daher war er entschlossen, hinaus auf die hohe See zu segeln, fern von allen Küsten, bis sie völlig verloren waren und nie mehr ihren Weg zurück zur bewohnten Welt finden würden; dort würden sie den Tod des Verdurstens erleiden. Er selbst war bereit zu sterben, nur um zu verhindern, daß sie das ewige Leben erlangten.

Doch ab und zu sprach Sperber zu ihm über irgendeine Nebensächlichkeit, die sich auf das Segeln oder auf das Boot bezog, oder er schwamm mit ihm in dem warmen Wasser oder wünschte ihm eine gute Nacht unter den helleuchtenden Sternen, und in diesen Augenblicken kamen dem Jungen all diese Gedanken völlig unsinnig vor. Er blickte seinem Gefährten ins Gesicht, er sah seine harten, strengen, geduldigen Züge, und er dachte: »Das ist mein Gebieter und mein Freund.« Und es kam ihm unfaßbar vor, daß er an ihm hatte zweifeln können. Doch kurz danach stiegen wiederum Zweifel in ihm auf, und er und Sopli warfen sich warnende Blicke zu, die sie gegen ihren gemeinsamen Feind verbündeten.

Die Sonne schien jeden Tag gleichbleibend heiß, doch fehlte es ihr an Glanz. Ihr Licht lag matt auf den langsam dahinrollenden Wellen des Meeres. Wasser und Himmel waren gleichmäßig blau, ohne Unterschiede, ohne Schattierungen. Die Brisen erhoben sich kurz und starben dann wieder ab, und sie wandten das Segel, um den Wind aufzufangen und bewegten sich langsam vorwärts, keinem Ufer, keinem Land entgegen, sondern dorthin, wo es kein Ende gab.

Ein Nachmittag kam, an dem sie einen stetigen, achter liehen Wind hatten. Sperber deutete nach oben, als der Sonnenuntergang nahe war und sagte: »Schau!« Hoch über dem Mast flog eine Schar Wildgänse in einer krummen Linie, die wie eine schwarze Rune aussah, über den hellen Himmel. Die Gänse flogen nach Westen: die Weitblick, ihnen folgend, steuerte Land an am nächsten Tag; es schien eine große Insel zu sein.

»Das ist es«, sagte Sopli. »Dieses Land, dort müssen wir hingehen.«

»Der Ort, den du suchst, der ist dort?«

»Ja. Wir müssen landen. Weiter können wir nicht fahren.«

»Das muß die Insel Obehol sein. Weiter westlich ist eine andere Insel, Wellogy. Und es gibt noch mehr Inseln, weiter draußen im Westbereich. Bist du sicher, Sopli?«

Der Färber von Lorbanery wurde zornig, und der verstörte Ausdruck kehrte in seine Augen zurück, aber Arren fand, daß er nicht irr redete, nicht wie damals, vor vielen Tagen, als sie zum ersten Mal mit ihm auf Lorbanery gesprochen hatten. »Ja. Dort müssen wir landen. Wir sind weit genug gefahren. Der Ort, den wir suchen, ist hier. Soll ich schwören, daß ich es weiß? Soll ich bei meinem Namen schwören?«

»Das kannst du nicht«, sagte Sperber mit harter Stimme und schaute zu Sopli auf, der einen Kopf größer war als er. Sopli war aufgestanden und klammerte sich am Mast fest, um zu dem Land hinüber zu blicken. »Versuch es nicht, Sopli!«

Der Färber sah böse drein, Wut und Schmerz mischten sich auf seinem Gesicht. Er schaute auf die Berge, die blau in der Ferne vor ihnen lagen, über die rollende, bewegte Wasserfläche und sagte: »Du hast mich als Führer mitgenommen. Das ist der Ort. Wir müssen hier landen.«

»Wir gehen so oder so an Land hier, denn wir brauchen Wasser«, erwiderte Sperber und übernahm die Ruderpinne. Sopli kauerte wieder an seinem Platz neben dem Mast, und Arren hörte, wie er unablässig vor sich hinmurmelte: »Ich schwör bei meinem Namen, bei meinem Namen«, und jedes Mal, wenn er es sagte, verzog sich sein Gesicht, als litte er große Schmerzen.

Der Wind blies aus dem Norden, als sie sich der Insel näherten und im heißen Sonnenlicht der Küste entlang segelten, um eine Bucht oder einen Landeplatz zu finden. Doch die Wellen brandeten mit donnerndem Getöse überall an die schroffe nördliche Küste. Weiter drinnen auf der Insel erhoben sich Hügel, die, von Sonnenlicht übergössen, bis an die Gipfel von Bäumen bekleidet waren.

Sie umsegelten ein Vorgebirge und sahen endlich eine tiefe, sichelförmige Bucht mit weißem Sandstrand vor sich liegen. Die Wellen rollten sanft ans Ufer, ihre Wucht wurde von dem Vorgebirge abgehalten. Hier konnte ein Boot landen. Kein Mensch war am Ufer oder in den Wäldern, die sich dahinter erhoben, zu sehen; kein Boot, kein Dach, keine Rauchspur war sichtbar. Die leichte Brise starb ab, sobald die Weitblick in die Bucht segelte. Alles war ruhig und still. Die Sonne brannte. Arren übernahm die Ruder. Sperber steuerte. Das Knirschen der Ruder in den Dollen war das einzig vernehmbare Geräusch. Die grünen Gipfel ragten über der Bucht auf, schlössen sie ein. Die Sonne lag wie ein glühendheißes Laken über dem Wasser. Arren hörte sein Blut in den Ohren pulsieren. Sopli hatte die Sicherheit des Mastes aufgegeben und hielt sich, im Vorderteil des Schiffes kauernd, am Dollbord fest. Seine Augen waren starr aufs Land gerichtet. Sperbers dunkles, vernarbtes Gesicht war schweißbedeckt und glänzte, als sei es geölt; seine Augen schweiften unablässig von den niedrigen Brandungswellen hinauf zu den grünbewachsenen Höhen und wieder zurück.

»Jetzt«, sagte er zu Arren und dem Boot. Arren zog die Riemen dreimal kräftig durch, und die Weitblick glitt hinauf auf den Sand und setzte sanft auf. Sperber sprang aus dem Boot, um es mit Hilfe der letzten Welle vollends das Ufer hinauf zu schieben. Als er seine Hand ausstreckte, stolperte er und wäre gefallen, wenn er sich nicht am Heck festgehalten hätte. Unter Aufbietung aller Kräfte zog er das Boot zurück ins Wasser, als die Welle zurückrollte, und warf sich selbst hinein ins Boot, gerade als es zwischen Wasser und Ufer hing. »Rudere!« keuchte er vor Anstrengung und versuchte, während das Wasser an ihm hinabströmte, auf alle viere gestützt, ruhiger zu atmen. In seiner Hand hielt er einen Speer — einen halben Meter langen Wurfspeer mit einer Bronzespitze. Woher war der gekommen? Ein anderer Speer kam geflogen, während Arren verwirrt die Ruder in den Händen hielt. Der Speer schlug an der Seite der Ruderbank auf, zersplitterte das Holz und prallte, sich überschlagend, zurück. Auf den niedrigen Hügeln und am Ufer unter den Bäumen sah man Menschen rennen, die sich hinter den Büschen duckten. Die Luft war erfüllt von einem pfeifenden, zischenden Geräusch. Arren zog schleunigst den Kopf ein, beugte sich nach vorne und ruderte mit mächtigen Schlägen: zwei genügten, um sie aus den Untiefen herauszubringen, mit drei weiteren hatte er das Boot herumgedreht und trieb es mit Leibeskräften über die Bucht davon.

Sopli, im Bug des Schiffes hinter Arrens Rücken stehend, begann zu schreien. Arrens Arme wurden plötzlich gepackt, so daß die Riemen aus dem Wasser hochschössen. Das Ende eines Riemens stieß in seine Magengrube. Es wurde ihm einen Augenblick lang schwarz vor den Augen und verschlug ihm den Atem. »Dreh um! Dreh um!« schrie Sopli. Das Boot schlingerte und rollte steuerlos auf dem Wasser. Arren wandte sich um, sobald er die Riemen wieder zu fassen bekam. Er war wütend. Sopli war plötzlich nicht mehr an Bord.

Das tiefe Wasser der Bucht hob und senkte sich leise und schillerte im Sonnenlicht.

Arren, wie vor den Kopf geschlagen, blickte erst um sich, dann auf Sperber, der im Heck des Schiffes kauerte. »Hier«, sagte Sperber und deutete auf eine Stelle neben dem Boot, aber da war nichts zu sehen außer dem Wasser und dem blendenden Schimmer des Sonnenlichtes. Ein Speer, mit einer Wurfstange geschleudert, landete dicht beim Boot und verschwand geräuschlos im Wasser. Arren zog kräftig durch und brachte das Boot zehn oder zwölf Schläge weiter weg vom Ufer, dann hielt er inne und blickte fragend auf Sperber.

Sperbers Hände und sein linker Arm waren blutüberströmt; er preßte ein Stück zusammengelegte Leinwand gegen seine Schulter. Der Speer mit der Bronzespitze lag am Boden. Er hatte ihn nicht gehalten, wie Arren im ersten Moment angenommen hatte, sondern er war aus seiner Schulter geragt, aus dem Oberarm, wo die Spitze eingedrungen war. Jetzt ließ Sperber den Blick prüfend über das Wasser gleiten, das sich zwischen ihnen und dem weißen Strand erstreckte und betrachtete die vielen kleinen Gestalten, die im heißen Sonnengeflimmer hin- und herrannten. Schließlich sagte er: »Fahr weiter!«

»Sopli…«

»Er ist nicht wieder aufgetaucht.«

»Ist er ertrunken?« fragte Arren ungläubig.

Sperber nickte.

Arren ruderte, bis der Strand nur noch ein weißer Strich unter dem Wald und den grünen Gipfeln war. Sperber handhabte die Ruderpinne und hielt die Leinwand an seine Schulter gepreßt, doch achtete er nicht darauf.

»Wurde er von einem Speer verletzt?«

»Er sprang.«

»Aber er… er konnte nicht schwimmen. Er hatte Angst vor dem Wasser!«

»Und wie! Tödliche Angst hatte er. Er wollte … er wollte an Land.«

»Warum haben sie uns angegriffen? Wer sind sie?«

»Sie müssen uns für Feinde gehalten haben. Kannst du … kannst du mir einen Augenblick damit helfen?« Arren merkte erst jetzt, daß die Leinwand, die er gegen seine Schulter gepreßt hielt, ganz durchtränkt von Blut war.

Der Speer war zwischen das Schultergelenk und das Schlüsselbein eingedrungen und hatte eine der großen Adern aufgerissen, so daß die Wunde heftig blutete. Unter Sperbers Anweisung mußte er ein Leinenhemd in Streifen zerreißen und einen Verband für die Wunde daraus machen. Sperber bat ihn, ihm den Speer zu reichen und als Arren ihn auf seine Knie gelegt hatte, ließ er seine Hand auf der Spitze ruhen, die lang und schmal wie ein Weidenblatt und aus roh gehämmerter Bronze gefertigt war, doch nach einer Weile schüttelte er den Kopf: »Ich habe keine Kraft in mir, um eine Zauberformel zu wirken«, sagte er. »Später. Es wird schon wieder gut werden. Kannst du uns aus dieser Bucht herausrudern, Arren?«

Schweigend kehrte der Junge an die Riemen zurück und begann zu rudern. Er ruderte mit aller Kraft und bald, denn sein geschmeidiger schlanker Körper war kräftig, brachte er die Weitblick aus der sichelförmigen Bucht hinaus aufs offene Meer. Die für den Südbereich typische mittägliche Meeresstille lag auf dem Wasser. Das Segel hing schlaff am Mast. Die Sonne war hinter einem Dunstschleier verborgen, und die grünen Gipfel flimmerten in der großen Hitze und schienen sich zu bewegen. Sperber hatte sich im Boot ausgestreckt, sein Kopf lehnte gegen die Sitzbank, über der sich die Ruderpinne befand; er lag bewegungslos, seine Lippen und Augen waren halb geöffnet.

Arren vermied es, ihm ins Gesicht zu blicken, er starrte über das Heck hinaus aufs Meer. Die Hitze lag wie ein Schleier über dem Wasser, wie ein riesiges Spinnengewebe, das sich über den ganzen Himmel erstreckte. Seine Arme zitterten vor Anstrengung, doch er stellte das Rudern nicht ein.

»Wohin ruderst du uns?« fragte Sperber heiser und setzte sich ein wenig auf. Arren wandte den Kopf und sah, wie die sichelförmige Bucht ihre grünen Arme wieder um das Boot streckte, sah den weißen Strand wie einen Strich in der Ferne und die grünen Berge immer höher wachsen. Er hatte, ohne es zu bemerken, das Boot gewendet und zurückgerudert.

»Ich kann nicht mehr weiterrudern«, sagte er und zog die Riemen ein. Er verstaute sie und kauerte sich dann im Bug des Bootes nieder. Er bildete sich ein, Sopli säße hinter ihm am Mast. Sie waren zu viele Tage auf dem Boot beisammen gewesen, sein Tod kam zu plötzlich, er war zu grundlos, er konnte ihn nicht begreifen. Nichts konnte er mehr begreifen.

Das Boot schaukelte auf den Wellen, das Segel hing schlaff am Mast. Die Flut hatte begonnen, und langsam wurde die Weitblick mit der Breitseite gegen die Bucht von den Wellen in kleinen Stößen immer näher und näher gegen die ferne weiße Linie der Bucht getrieben.

Arren ging ins Heck des Schiffes und sah nach seinem Gefährten. Er machte ihm ein Lager unter dem Sonnendach und gab ihm Wasser zu trinken. Er tat alles hastig und vermied es, auf den Verband zu blicken, der dringend gewechselt werden mußte, denn die Wunde hatte nicht ganz zu bluten aufgehört. Sperber war zu erschöpft, um zu reden; selbst als er das Wasser begierig trank, fielen ihm die Augen zu, und er schlief wieder ein, seine Erschöpfung war größer als sein Durst. Er lag, ohne sich zu rühren, und als es dunkel geworden war und die Brise sich legte, trat kein magischer Wind an ihre Stelle, und das Boot schaukelte, ohne sich von der Stelle zu rühren, auf dem glatten, leicht sich hebenden und senkenden Wasser hin und her. Aber die Berge rechts hoben sich jetzt dunkel gegen einen prachtvollen Sternenhimmel ab, und Arren ließ seinen Blick lange auf ihnen ruhen. Die Sternbilder schienen ihm vertraut, als ob er sie schon einmal gesehen hätte, als hätte er sie sein ganzes Leben lang schon gekannt.

Als er sich zum Schlaf niederlegte, blickte er nach Süden und dort, hoch am Himmel über dem glitzernden Meer, funkelte der Stern Gobardon. Darunter waren die beiden Sterne, die ein Dreieck mit ihm bildeten, und später, in einer geraden Linie, erschienen noch drei Sterne, die das Dreieck vergrößerten. Als die Nacht weiter fortgeschritten war, schlüpften zwei weitere Sterne über die flüssige, silbrig glänzende Fläche; sie waren so gelblich wie Gobardon, und an den Schenkeln des rechtwinkligen Dreiecks stehend verbreiterten sie seine Basis. Acht oder neun Sterne sollten insgesamt erscheinen, die einen Menschen oder die hardische Rune Agnen darstellten. In Arrens Augen stellte die Konstellation keinen Menschen dar, höchstens wenn er, wie das mit Sternbildern oft der Fall ist, sie ganz verkehrt anschaute; doch die Rune Agnen war klar erkennbar: ein gekrümmter Arm und ein Querstrich, nur der Fuß fehlte, der letzte Strich, der dem Stern, der noch nicht erschienen war, überlassen blieb.

Arren wartete darauf und schlief darüber ein. Als er in der Morgendämmerung aufwachte, stellte er fest, daß sich die Weitblick weiter von Obehol entfernt hatte. Ein Nebel, der die Küste verdeckte und nur die Gipfel der Berge herausragen ließ, löste sich langsam auf und lag wie ein Dunstschleier auf dem violetten Wasser des Südens, während die letzten Sterne verblaßten.

Er blickte auf seinen Gefährten. Sperber atmete unregelmäßig. Es war offensichtlich, daß er Schmerzen litt, die ihn im Schlaf quälten, aber doch nicht ganz wachhielten. Sein Gesicht war zerfurcht und sah in dem kalten, schattenlosen Licht des Morgens alt aus. Arren blickte ihn an, und er sah einen Mann vor sich, dem keine Macht verblieben war, keine Zauberkunst, keine Kraft, selbst keine Jugend mehr, nichts. Er hatte weder Sopli retten, noch den Speer von sich selbst abwenden können. Er hatte sie in die Gefahr geführt, und er hatte sie nicht schützen können. Sopli war tot, er selbst lag im Sterben, und Arren würde ihm bald folgen. Und alles war die Schuld dieses Mannes; alles war umsonst, alles war vergeblich.

Und Arren blickte ihn an, nüchtern, ohne Hoffnung und nahm nichts wahr.

Keine Erinnerung regte sich in ihm; er sah keinen Brunnen mehr unter einer Eberesche in der Sonne plätschern, er hatte vergessen, daß einst ein weißer Glanz den Nebel auf einem Sklavenschiff durchbrach, er wußte nichts mehr von dem trostlosen Baumgarten um das Haus des Färbers. Kein Stolz, kein Lebenswille regte sich in ihm. Er sah, wie die Dämmerung sich über der ruhigen See verbreitete, er sah, wie die großen flachen Wellen, gefärbt wie ein bleicher Amethyst, sie umfluteten; alles war wie in einem Traum, leichenfarben, ohne Schärfe, ohne die Härte der Wirklichkeit. Und ganz zuunterst, am Ende der Träume und der See, befand sich ein Nichts — eine Leere, eine Gruft. Es gab keine Tiefe.

Das Boot bewegte sich stoßweise, es gehorchte den unbeständigen Strömungen des Windes. Hinter ihm schrumpften die Gipfel von Obehol zusammen. Schwarz gegen die aufgehende Sonne, aus deren Richtung ein Wind blies und sie vom Land, von der Welt wegtrieb, hinaus auf die hohe See.