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Das Plattenschiff flog auf Wolken aus Dampf dem Gürtel entgegen. Sheen und Grye standen am Eingang der Quartiermeisterei und beobachteten, wie das mit einer Ladung Boneys besetzte Gerät zur Landung ansetzte. Sheen fühlte Furcht in sich aufsteigen, und sie erzitterte.
Sie wandte sich Grye zu. Als der Wissenschaftler damals vom Floß hierher in die Verbannung geschickt wurde, war er in Sheens Erinnerung recht stattlich gewesen; doch jetzt schlackerte die Haut in Falten um seine Knochen, als ob er jede Substanz verloren hätte. Er registrierte, wie sie ihn beobachtete, ließ seine Trinkflasche von einer Hand zur anderen wandern und schlug die Augen nieder.
»Wirst du etwa rot?« fragte Sheen.
»Tut mir leid.«
»Sei nicht so verdrießlich. Denk dran, daß du jetzt einer von uns bist. Die Vergangenheit zählt nicht mehr; wir sind hier alle Menschen. Es ist eine neue Welt. Nicht wahr?«
Er wand sich unbehaglich. »Es tut mir leid…«
»Hör auf damit.«
»Es ist nur so, daß man die Hunderte von Schichten kaum vergessen kann, die wir seit unserer Ankunft hier zu erdulden hatten.« In seiner ruhigen Stimme schwang irgendwo ein Funken echter Bitterkeit mit. »Frag Roch, ob die Vergangenheit hinter uns liegt. Frag Cipse.« Jetzt spürte Sheen, wie sie selbst errötete. Widerwillig erinnerte sie sich an ihren Haß auf die Verbannten, wie sie es bewußt zugelassen hatte, sie weiter so grausam zu behandeln. Ein Gefühl der Scham kam in ihr auf. Nun, da Rees eine neue Perspektive geschaffen hatte — der ganzen Rasse, wie es schien, eine neue Chance gegeben hatte —, schienen solche Aktionen noch schlimmer als nur verachtenswert.
Mit Mühe zwang sie sich zum Sprechen. »Wenn es dir etwas bedeutet: es tut mir leid.«
Er antwortete nicht.
Für einige Momente standen sie in verlegenem Schweigen da. Gryes Körperhaltung entspannte sich ein wenig, als ob er sich in ihrer Gegenwart jetzt etwas wohler fühlte.
»Wenigstens«, meinte Sheen, »erteilt Jame dir beim Quartiermeister jetzt kein Hausverbot mehr.«
»Man sollte auch die kleinen Freuden genießen.« Er nahm einen Schluck aus der Flasche und seufzte. »Vielleicht sind sie gar nicht so klein…« Er deutete auf die näherkommende Platte. »Ihr Mineure scheint uns jetzt viel eher akzeptieren zu können, seit die ersten Boneys angekommen sind.«
»Verständlich. Vielleicht zeigt die Gegenwart der Boneys uns anderen, wieviel wir gemeinsam haben.«
»Ja.«
Wieder bewegte die Rotation des Gürtels die Quartiermeisterei unter die anfliegende Plattform. Sheen konnte erkennen, daß sich drei Boneys auf dem kleinen Fahrzeug befanden, zwei Männer und eine Frau. Sie waren untersetzt und vierschrötig und trugen zerschlissene Umhänge, die von der Bevölkerung des Gürtels gestiftet worden waren. Sheen hatte schon Geschichten über die Kleiderordnung auf ihrem Heimatplaneten gehört — und erschauerte von neuem.
Der Gürtel diente als Zwischenstation auf dem Weg von der Knochenwelt zum Floß: Boneys, die zum Floß unterwegs waren, würden hier einige Schichten verbringen und dann auf einem Versorgungsbaum ihre Fahrt fortsetzen. Sheen dachte daran, daß sich zu keinem Zeitpunkt mehr als eine Handvoll Boneys verstreut auf dem Gürtel befand… doch die meisten Bergleute hielten schon das für zuviel.
Mit offenem Mund starten die Boneys zu ihr herauf. Einer von ihnen bekam Augenkontakt mit ihr, winkte ihr zu und leckte sich lüstern die Lippen. Das Essen wollte ihr schier wieder hochkommen, doch sie hielt seinem Blick stand, bis die Platte über dem stark gekrümmten Horizont des Gürtels verschwunden war. »Ich wollte, ich könnte glauben, daß wir diese Leute wirklich brauchen«, murmelte sie.
Grye zuckte die Achseln. »Sie sind menschliche Wesen. Und nach Rees’ Darstellung haben sie sich ihren Lebensstil nicht ausgesucht. Sie haben nur versucht zu überleben, wie wir alle das tun müssen… Vielleicht brauchen wir sie auch gar nicht. Unsere Arbeit mit den Maulwürfen im Sternenkern macht gute Fortschritte.«
»Wirklich?«
Grye kam näher heran. Jetzt, da sich die Unterhaltung auf ein Gebiet verlagert hatte, in dem er sich auskannte, wurde er zuversichtlicher. »Du weißt doch, was wir dort unten zu tun versuchen?«
»So in etwa.«
»Also: Wenn Rees’ Idee mit der Schwerkraftschleuder funktionieren soll, müssen wir das Floß auf eine präzise Flugbahn um den Kern herum bringen. Die Richtung der Asymptote hängt maßgeblich von den Ausgangsbedingungen ab.«
Sie hob die Hände. »Benutze lieber einsilbige Wörter. Oder noch kürzere.«
»Tut mir leid. Wir werden in einen engen Orbit gehen, sehr dicht an den Kern heran. Je geringer der Abstand ist, in dem wir ihn passieren, desto gewundener wird unsere Flugbahn um den Kern. Doch die Konsequenzen schon einer kleinen Abweichung wären dramatisch. Stell dir ein Bündel benachbarter Flugbahnen vor, die sich dem Kern nähern. Während sie die Singularität umrunden, fächern sie auf wie ausgefranste Fasern: Und ein noch so kleiner Fehler könnte dem Floß schließlich eine Richtung geben, die von der eigentlich geplanten stark abweicht.«
»Ich verstehe… glaube ich jedenfalls. Aber macht es wirklich einen solchen Unterschied? Du visierst doch einen ganzen Nebel an, ein Ziel, das Tausende von Meilen breit ist.«
»Ja, aber es ist weit entfernt, und deshalb muß präzise navigiert werden. Und wenn wir es auch nur um ein paar Meilen verfehlen, können wir bis in alle Ewigkeit im luftleeren Raum umhersegeln…«
»Wie kann dann ein Maulwurf dabei helfen?«
»Was wir tun müssen, ist, alle Flugbahnen in diesem Bündel zu ermitteln, um unseren Anflug auf den Kern festzulegen. Wir werden Stunden brauchen, um die Ergebnisse zu berechnen; eine Arbeit, die der ursprünglichen Besatzung offenbar von sklavenartigen Maschinen abgenommen wurde. Es war Rees, der die Idee hatte, die Gehirne der Maulwürfe zu benutzen.«
Sheen verzog ihr Gesicht. »Wessen auch sonst.«
»Er hat behauptet, daß es sich bei den Maulwürfen um einstige Flugmaschinen handelt. Und wenn man genau hinsieht, kann man erkennen, wo die Raketen, Steuerflossen und so weiter angebracht gewesen sein mußten. Also, folgerte Rees, müssen die Maulwürfe bis zu einem gewissen Grad die Orbitaldynamik beherrschen. Wir haben versucht, unsere Problem einem Maulwurf vorzulegen. Es gab ein stundenlanges Frage-und-Antwort-Spiel unten auf der Oberfläche des Kerns. Jetzt liefert der Maulwurf präzise Antworten, und wir kommen schnell voran.«
Sie nickte und jonglierte mit ihrem Drink. »Beeindruckend. Und du bist dir sicher hinsichtlich der Qualität der Ergebnisse?«
Er wirkte etwas weniger zuversichtlich, als er sagte: »So sicher, wie wir nur sein können. Wir haben die maschinellen und manuellen Ergebnisse in Stichproben miteinander verglichen. Aber niemand von uns ist ein Experte in diesem speziellen Bereich.« Seine Stimme festigte sich wieder. »Cipse ist nämlich unser Chefnavigator gewesen.«
Darauf erwiderte sie nichts. Sie nahm den letzten Schluck aus ihrer Flasche.
»Gut, Grye, ich glaube, es ist Zeit, daß ich…«
»Na, wo kann sich denn der alte Quid hier mal einen Schluck genehmigen?«
Die Stimme war tief und klang verrucht. Konsterniert drehte sich Sheen herum und sah ein breites, faltiges Gesicht vor sich; ein Grinsen legte verfaulte Zahnstümpfe frei, und schwarze Augen musterten abschätzend ihren Körper. Unwillkürlich zuckte sie vor dem Boney zurück und registrierte am Rande, wie Grye neben ihr fast die Nerven verlor. »Was… willst du?«
Der Boney strich über seinen sorgfältig geschliffenen Speer aus Knochen. Seine Augen weiteten sich vor gespielter Überraschung. »Wie, Schatz; ich bin gerade erst angekommen, und dann so eine Begrüßung? Hm? Jetzt, wo wir doch alle Freunde sind…« Er machte einen Schritt nach vorn. »Du wirst den alten Quid schon noch mögen, wenn du ihn erst einmal besser kennst…«
Sie blieb tapfer stehen, doch in ihrem Gesicht zeigte sich Abscheu. »Wenn du noch näher kommst, breche ich dir deinen verdammten Arm.«
Er lachte unbeeindruckt. »Würde mich interessieren, wie du das anstellen willst, Schatz. Denk dran, daß ich meine attraktive Statur unter den Bedingungen hoher Schwerkraft erworben habe… nicht in dieser babyzarten Mikrogravitation, die ihr hier habt. Deine Muskeln sind zwar sehr attraktiv, aber ich wette, daß deine Knochen so spröde sind wie totes Holz.« Er musterte sie scharf. »Du bist überrascht, daß der alte Quid solche Begriffe wie ›Mikrogravitation‹ benutzt, was, Mädchen? Ich mag zwar ein Boney sein, aber ich bin weder ein Monster noch ein Dummkopf.« Er streckte die Hand aus und packte ihren Unterarm. Sein Griff war stahlhart. »Das ist eine Lektion, die du offensichtlich lernen mußt…«
Sie rumste mit beiden Beinen gegen die Mauer der Quartiermeisterei und vollführte eine schnelle Rolle rückwärts, wodurch sie seine Hand abschütteln konnte. Bei ihrer Landung hatte sie ein Messer in der Faust.
Mit einem bewundernden Grinsen hielt er beide Hände hoch. »Alles klar, alles klar…« Jetzt nahm Quid Grye ins Visier. Zitternd preßte der Wissenschaftler seine Feldflasche an die Brust. »Ich habe gehört, was du gesagt hast«, meinte Quid. »Das ganze Zeug über Orbits und Flugbahnen… aber weißt du was, ihr werdet es nicht schaffen.«
Gryes Wangen zitterten und spannten sich. »Was meinst du?«
»Was werdet ihr tun, wenn ihr auf eurem bißchen Eisen dem Kern entgegenfallt — und dann merkt, daß ihr euch auf einem Pfad befindet, der in eurer Tabelle nicht aufgeführt ist? Im kritischen Moment — im Perihel — habt ihr nur eine Reaktionszeit von wenigen Minuten. Was macht ihr dann? Wenden und noch ein paar Kurven auf Papier abtragen? Hm?«
»Du bist ja ein richtiger Experte, was?« schnaufte Sheen.
Er lächelte. »Zumindest nimmst du meine Worte zur Kenntnis, Schatz.« Er patschte sich an den Kopf. »Hört mir mal zu. Hier drin sind mehr Orbits gespeichert als auf allen Zetteln im gesamten Nebel.«
»Quatsch«, fauchte sie.
»Wirklich? Dein kleiner Freund Rees sieht das anders, nicht wahr?« Er nahm seinen Speer in die rechte Hand. Sheen fixierte ihren Blick auf die knöcherne Spitze der Waffe. »Denn«, fuhr Quid fort, »Rees hat gesehen, was wir mit diesen Dingern tun können…«
Abrupt drehte er sich so herum, daß er den Kern des Sterns im Blick hatte, und warf mit überraschender Eleganz den Speer. Die Waffe beschleunigte in Richtung der Gravitationsquelle des Kerns. Das Wurfgeschoß bewegte sich derart schnell, daß es in Sheens visueller Wahrnehmung wie eine durchgezogene Linie wirkte; es verfehlte den eisernen Horizont um wenige Meter und kurvte hinter dem Stern weg — und jetzt tauchte der Speer auf der anderen Seite des Kerns wieder auf und schoß wie eine explodierende Faust auf sie zu. Sie duckte sich und griff nach Grye; aber der Speer flog ein paar Meter über ihrem Kopf vorbei und verschwand in der Luft.
Quid seufzte. »Noch nicht optimal. Der alte Quid muß noch seine Augen einstellen. Trotzdem…« Er winkte. »Nicht schlecht für den ersten Versuch, oder?« Er knuffte Gryes schlaffen Bauch. »Nun, das ist es, was ich als Orbitaldynamik bezeichne. Und alles in Quids Kopf. Erstaunlich, nicht wahr? Und deshalb braucht ihr die Boneys. Aber jetzt braucht Quid etwas zu trinken. Bis später, Schatz…«
Dann drängte er sich an ihnen vorbei und betrat die Quartiermeisterei.
Gord schob das Haar aus den Augen und haute auf den Tisch. »Es ist nicht machbar. Ich weiß, wovon ich rede, verdammt.«
Jaen überragte den kleinen Ingenieur. »Und ich sage dir, daß du dich irrst.«
»Kind, ich habe mehr Erfahrung, als du jemals…«
»Erfahrung?« erwiderte sie lachend. »Durch deine Erfahrung mit den Boneys bist du weich in der Birne geworden.«
Gord schnellte hoch. »Was, du…«
»Hört auf!« Müde legte Hollerbach seine altersfleckigen Hände auf die Tischplatte.
Jaen kochte. »Aber er will nicht zuhören.«
»Jaen. Halt den Mund!«
»Aber… ah… verdammt.« Sie resignierte.
Hollerbach ließ seine Blicke über die kühlen, perfekten Linien des Brückenobservatoriums schweifen. Der Boden war mit Tabellen und ausgebreiteten Diagrammen bedeckt: Wissenschaftler und andere Mitarbeiter brüteten über Skizzen von Umlaufbahnen, Modellen von grandiosen Schutzhüllen, die das Floß umspannen sollten und Tabellen, die den Nahrungsmittelund Sauerstoffverbrauch bei verschiedenen Rationierungsschemata darstellten. Die Luft war von fieberhafter, intensiver Kommunikation erfüllt. Sehnsüchtig erinnerte sich Hollerbach an die akademische Ruhe des Ortes, als er damals in die große Klasse der Wissenschaftler aufgenommen wurde. In jenen Tagen war der Himmel manchmal noch blau gewesen, und er schien alle Zeit der Welt für seine Studien zu haben…
Wenigstens, dachte er, gingen diese hektischen Bemühungen in die richtige Richtung und schienen die für die Durchführung des Plans erforderlichen Ergebnisse zu erbringen. Die Tabellen und nüchternen Kurven erzählten eine sich langsam entspinnende Geschichte von einem modifizierten Floß, das auf einer gewagten Flugbahn um den Kern wirbelte; diese nüchternen Wissenschaftler und ihre Assistenten engagierten sich gemeinsam in dem ehrgeizigsten Projekt der Menschheit seit dem Bau des Floßes selbst.
Doch jetzt war Gord mit seinen Papierfetzen und Kugelschreibernotizen hereinmarschiert… und mit seinen vernichtenden Neuigkeiten. Hollerbach zwang sich dazu, sich wieder auf Gord und Jaen zu konzentrieren, die sich noch immer in den Haaren hatten — und dann sah er in Deckers Augen. Der Kommandant des Floßes stand emotionslos vor dem Tisch; sein narbiges Gesicht von grimmiger Konzentration umwölkt.
Hollerbach seufzte unhörbar. Man konnte sich darauf verlassen, daß Decker mit seinem Instinkt für das Wesentliche immer dann aufkreuzte, wenn es kritisch wurde. »Gehen wir das bitte noch einmal durch, Ingenieur«, sagte er zu Gord. »Und du, Jaen, versuche diesmal rational zu bleiben. Ja? Mit Beleidigungen ist niemandem geholfen.«
Jaens Augen blickten düster in ihrem rot angelaufenen Gesicht.
»Wissenschaftler, ich bin — war — der Chefingenieur des Gürtels«, begann Gord. »Ich weiß mehr als das, woran ich mich jetzt erinnern kann, über das Verhalten von Metall unter Extrembedingungen. Ich habe es wie Kunststoff fließen und spröde wie altes Holz werden sehen…«
»Niemand stellt deine Referenzen in Frage, Gord«, unterbrach ihn Hollerbach. Er konnte kaum seine Gereiztheit verbergen. »Komm auf den Punkt.«
Gord tippte auf seine Papiere. »Ich habe den Gezeitensog untersucht, dem das Floß bei seiner dichtesten Annäherung ausgesetzt sein wird. Und ich habe die Geschwindigkeit ermittelt, die es nach dem ›Schleuderschuß‹ erreicht haben muß, wenn es den Nebel verlassen will. Und ich sage dir, Hollerbach, ihr habt nicht mehr Chancen als ein Schneemann in der Hölle. Ich habe alles da; du kannst es überprüfen.«
Hollerbach winkte ab. »Werden wir. Werden wir. Erzähl nur weiter.«
»Zunächst die Gezeiten. Wissenschaftler, die Belastung wird das Floß in Stücke reißen, lange bevor es den Punkt der dichtesten Annäherung erreicht hat. Und die phantasievollen Konstruktionen, die deine Wunderkinder über dem Deck errichten wollen, werden einfach wie ein Haufen Zweige weggeblasen…«
»Gord, ich akzeptiere das nicht«, platzte es aus Jaen heraus. »Wenn wir das Floß umbauen, vielleicht einige Sektionen verstärken und sicherstellen, daß wir im Perihel die richtige Höhe haben…«
Gord erwiderte ihren Blick und sagte nichts.
»Überprüfe seine Zahlen später, Jaen«, sagte Hollerbach. »Mach weiter, Ingenieur.«
»Und was ist mit dem Luftwiderstand? Bei der erforderlichen Geschwindigkeit wird dort unten in der dichtesten Atmosphäre des ganzen Nebels alles, was sich vom Perihel wegbewegt, wie ein Meteor verglühen. Ihr werdet ein spektakuläres Feuerwerk abgeben, nicht mehr. Seht, es tut mir auch leid, daß es so desillusionierend ist, aber euer Plan kann einfach nicht funktionieren. Das sagen euch die Gesetze der Physik, nicht ich…«
Decker beugte sich vor. »Bergmann«, sagte er leise, »wenn das, was du gesagt hast, stimmt, dann sind wir zu einem langsamen Tod an diesem stinkenden Ort verurteilt. Nun, vielleicht habe ich keine gute Menschenkenntnis, aber dich scheint diese Aussicht nicht übermäßig zu beunruhigen. Hättest du einen anderen Vorschlag?«
Langsam erschien ein Lächeln auf Gords Gesicht. »Ja, ganz zufällig…«
Decker legte seine schwere Hand auf den Tisch. »Keine Wortspiele mehr«, befahl er ruhig. »Bergmann, mach weiter.«
Gords Grinsen verflüchtigte sich und ein Anflug von Angst erschien auf seinem Gesicht, der Hollerbach unangenehm daran erinnerte, wieviel dieser unschuldige kleine Mann schon hatte erdulden müssen. »Niemand will dir etwas tun«, beruhigte er ihn. »Zeig uns nur dein Konzept.«
Mit einem entspannteren Gesichtsausdruck stand Gord auf und führte sie hinaus vor die Brücke. Bald standen die vier — Gord, Hollerbach, Decker und Jaen — neben der düster glühenden Masse der Brücke.
Das einfallende Sternenlicht ließ eine Flut von Schweißtropfen auf Hollerbachs kahler Kopfhaut hervortreten. Gord strich mit einer Hand über die Wandung der Brücke. »Wann habt ihr dieses Material zum letztenmal berührt? Für euch ist es wohl selbstverständlich, jeden Tag daran vorbeizugehen; doch wenn man es zum erstenmal sieht, ist es wie eine Offenbarung.«
Hollerbach legte eine Hand an die silberne Oberfläche und ließ sie über die glatte Struktur gleiten… »Es gibt keine Reibung. Ja, natürlich.«
»Ihr habt mir gesagt, daß es früher eine selbständige Einheit war, bevor es in das Deck des Floßes integriert wurde«, fuhr Gord fort. »Ich stimme euch zu. Und außerdem glaube ich, daß dieses kleine Schiff dazu konstruiert wurde, durch die Luft zu fliegen.«
»Ohne Reibung.« Hollerbach atmete schwer und rieb noch immer seine Handfläche an dem fremdartigen Metall. »Natürlich. Wie konnten wir alle nur so dumm sein? Siehst du«, wandte er sich an Decker, »diese Oberfläche ist so glatt, daß die Luft einfach darüber hinweggleitet, gleichgültig, welche Geschwindigkeit anliegt. Und sie wird sich auch nicht wie normales Metall aufheizen…«
»Und ohne Zweifel würde diese Konstruktion auch stabil genug sein, den Gezeitenwechsel in der Kernzone auszuhalten; zumindest weitaus besser als unser zusammengeschustertes Floß. Decker, wir müssen Gords Berechnungen wohl noch einmal durchgehen, aber meines Erachtens sind sie richtig. Ist dir klar, was das bedeutet?« Ein Gefühl des Wunders meldete sich in Hollerbachs Gehirn. »Wir müssen keine eiserne Glocke bauen, um unsere Atmosphäre am Entweichen zu hindern. Wir müssen nur das Brückenschott schließen. Wir werden das Schiff fliegen, wie es unsere Ahnen getan haben… Wir können sogar unsere Instrumente benutzen, um den Kern zu untersuchen, während wir daran vorbeifliegen. Decker, eine Tür hat sich geschlossen; aber dafür ist eine andere aufgestoßen worden. Verstehst du?«
Deckers Gesicht war eine dunkle Maske. »Oh, ich verstehe, Hollerbach. Aber eine Sache hast du doch übersehen.«
»Welche?«
»Das Floß ist eine halbe Meile breit. Diese Brücke ist nur einhundert Meter lang.«
Hollerbach runzelte die Stirn, und dann begann ihm die Tragweite von Deckers Worten bewußt zu werden.
»Sucht Rees«, sagte Decker knapp. »Ich sehe euch beide in einer Viertelstunde in eurem Büro.« Mit einem knappen Nicken drehte er sich um und ging davon.
Rees spürte, daß die Atmosphäre in Hollerbachs Büro geladen war.
»Mach die Tür zu!« grollte Decker.
Rees setzte sich vor Hollerbachs Schreibtisch. Hollerbach selbst saß dahinter und zupfte mit langen Fingern an der pergamentartigen Haut seiner Hände. Decker sog die Luft durch seine geblähten Nüstern ein und stiefelte mit gesenktem Blick durch das kleine Büro.
Rees runzelte die Stirn. »Warum diese Stimmung wie auf einer Beerdigung? Was ist passiert?«
Hollerbach beugte sich vor. »Es gibt… Komplikationen.«
Dann referierte er kurz Gords Bedenken. »Wir müssen natürlich seine Zahlen überprüfen. Aber…«
»Aber er hat recht«, erkannte Rees. »Du weißt, daß es so ist, stimmt’s?«
Hollerbach seufzte, und die Luft strömte kratzend durch seine Kehle. »Natürlich hat er recht. Und wenn wir anderen uns nicht in großartige Spekulationen über Gravitationsschleudern und eine Kuppel mit einem Durchmesser von einer Meile versponnen hätten, würden wir uns dieselben Fragen gestellt haben. Und zu den gleichen Schlußfolgerungen gekommen sein.«
Rees nickte. »Aber wenn wir die Brücke nehmen, werden wir mit unvorhergesehenen Problemen konfrontiert. Eigentlich hatten wir angenommen, jeden retten zu können.« Sein Blick zuckte zu Decker. »Jetzt müssen wir selektieren.«
Deckers Gesicht war dunkel vor Zorn. »Und deswegen kommst du zu mir.«
Rees rieb sich die Nasenwurzel. »Decker, vorausgesetzt, wir bewerkstelligen einen sauberen Start, können die Zurückbleibenden noch Hunderte oder gar Tausende von Schichten überleben…«
»Ich hoffe, daß diejenigen, die keinen Platz in deinem glänzenden Schiff bekommen, es auch mit dieser philosophischen Gelassenheit sehen«, schnaubte Decker. »Wissenschaftler. Sag mir eines: Wird dieses Abenteuer glücken? Können die Passagiere der Brücke wirklich einen Orbit um den Kern überleben und dann durch das All zu einem anderen Nebel gelangen? Wir betrachten jetzt nämlich eine Version, die sich grundlegend von Rees’ ursprünglichem Plan unterscheidet.«
Rees nickte zögernd. »Wir werden Versorgungsmaschinen brauchen, soviel Preßluft wie möglich in den begrenzten Räumlichkeiten der Brücke unterbringen, vielleicht noch Luftaufbereitungsanlagen…«
»Verschone mich mit den Details«, versetzte Decker ungeduldig. »Dieses absurde Projekt wird Knochenarbeit, Verletzte und Tote zur Folge haben. Und ohne Zweifel wird die Brücke viele der fähigsten Leute der Menschheit abziehen und damit das Schicksal der Zurückbleibenden noch verschlimmern.
Wenn diese Mission nicht mit einer vertretbaren Aussicht auf Erfolg durchgeführt werden kann, werde ich sie nicht unterstützen. So einfach ist das. Ich habe die Verantwortung für die Menschen hier und werde nicht das Leben der meisten verkürzen, nur um ein paar Helden eine Vergnügungsfahrt zu ermöglichen.«
»Weißt du«, meinte Hollerbach nachdenklich, »ich bezweifele, daß du dir zum Zeitpunkt deiner… äh… Machtübernahme — auf diesem Floß vorstellen konntest, einmal eine solche Entscheidung treffen zu müssen.«
»Willst du mich verarschen, Wissenschaftler?«
Hollerbach schloß die Augen. »Nein.«
»Laßt es uns noch einmal durchdenken«, schlug Rees vor. »Hollerbach, wir müssen einen genetischen Pool transportieren, der groß genug ist, die Rasse zu erhalten. Wie viele Leute?«
Hollerbach zuckte die Achseln. »Vier- oder fünfhundert?«
»Können wir so viele unterbringen?«
Hollerbach antwortete nicht sofort. »Ja«, meinte er dann langsam. »Aber es muß sorgfältig vorbereitet werden. Präzise Planung und strikte Rationierung… es wird alles andere als eine Vergnügungsreise werden.«
»Genetischer Pool?« grummelte Decker. »Eure fünfhundert werden wie Neugeborene auf der fremden Welt eintreffen, ohne Ressourcen. Bevor sie sich vermehren, werden sie zunächst sicherstellen müssen, nicht in den Kern des neuen Nebels zu stürzen.«
Rees nickte. »Ja. Aber das mußte die Besatzung des ursprünglichen Schiffes auch. In materieller Hinsicht werden unsere Auswanderer schlechter dran sein… aber zumindest wissen sie, was sie erwartet.«
Decker stieß die Faust in die Höhe. »Du willst damit also sagen, daß die Mission ein Erfolg werden und eine neue Kolonie überleben könnte? Hollerbach, stimmst du dem zu?«
»Ja«, bestätigte Hollerbach ruhig. »Wir müssen zwar noch die Details klären. Aber — ja. Ich kann es dir garantieren.«
Decker schloß die Augen und ließ die Schultern hängen. »Gut. Wir müssen unser Projekt vorantreiben. Und versucht diesmal, die Probleme rechtzeitig zu erkennen.«
Rees spürte eine gewaltige Erleichterung. Wenn sich Decker anders entschieden hätte — wenn das große Ziel verschwunden wäre — was hätte er, Rees, dann noch mit seinem Leben anfangen sollen?
Ihn schauderte. Es war unvorstellbar.
»Jetzt müssen wir uns mit anderen Dingen befassen«, ordnete Hollerbach an. Er hielt seine knochige Hand hoch und zählte die Punkte an den Fingern ab. »Zunächst müssen wir unsere Planungen bezüglich der Mission selbst fortsetzen — die Besatzung, Aufteilung und Führung der Brücke. Für diejenigen, die hier bleiben, müssen wir eine Möglichkeit finden, das Floß zu manövrieren.«
Decker schaute überrascht.
»Decker, dieser Stern dort oben wird nicht verschwinden. Unter normalen Umständen hätten wir unsere Position zu ihm schon längst verändert. Jetzt, wo es das Schicksal des Floßes ist, in diesem Nebel zu bleiben, müssen wir es zumindest von hier wegbewegen. Und schließlich…« Hollerbachs Stimme versagte.
»Und schließlich«, ergänzte Decker bitter, müssen wir eine Auswahl treffen zwischen denen, die auf der Brücke mitfliegen. Und denen, die zurückbleiben.
»Vielleicht wäre eine Art Abstimmung fair…«, schlug Rees vor.
Decker schüttelte den Kopf. »Nein. Das klappt nur mit den richtigen Leuten.«
»Du hast natürlich recht«, nickte Hollerbach.
Rees runzelte die Stirn. »Na gut. Aber — wer selektiert die ›richtige‹ Besatzung?«
Decker starrte ihn an, und sein narbiges Gesicht verzerrte sich zu einer Maske des Schmerzes. »Wer wohl?«
Rees schaukelte seine Feldflasche hin und her. »Das ist es also«, sagte er zu Pallis. »Jetzt steht Decker vor der Entscheidung seines Lebens.«
Pallis stand vor seinem Käfig aus jungen Bäumen und piekste gegen die Balken. Einige von den Bäumen waren fast schon alt genug, um selbständig zu werden, dachte er geistesabwesend. »Macht bedeutet offensichtlich auch Verantwortung. Ich weiß nicht, ob Decker das bewußt war, als er sich an die Spitze dieses Narrenkomitees gestellt hatte. Aber spätestens jetzt wird er es erkannt haben… Decker wird schon die richtigen Entscheidungen treffen; wir können nur hoffen, daß der Rest von uns es auch tut.«
»Was meinst du damit, der Rest von uns?«
Pallis hob den Käfig von seiner Stellfläche — er war zwar klobig, aber leicht — und reichte ihn Rees. Der junge Wissenschaftler setzte seine Feldflasche ab und ergriff unsicher den Käfig, wobei er auf die sich bewegenden jungen Bäume blickte. »Das sollte mit auf die Reise gehen«, sagte Pallis. »Vielleicht solltet ihr noch mehr mitnehmen. Setzt sie im neuen Nebel aus und laßt sie sich vermehren — und in einigen hundert Jahren werden ganze neue Wälder entstanden sein. Wenn es an dem neuen Ort nicht überhaupt schon welche gibt…«
»Warum gibst du mir das? Ich verstehe nicht, Baum-Pilot.«
»Aber ich«, meldete sich Sheen.
Pallis wirbelte herum. Rees schnappte nach Luft und jonglierte in seinem Schock mit dem Käfig. Sie stand im Eingangsbereich, und in dem diffusen Sternenlicht traten die Härchen auf ihren bloßen Armen hervor.
Von einem intensiven Schamgefühl erfaßt, errötete Pallis; als er sie dort stehen sah, in seiner eigenen Unterkunft, kam er sich vor wie ein dummer Schuljunge. »Ich habe nicht mit dir gerechnet«, sagte er unsicher.
»Das sehe ich«, erwiderte sie lachend. »Bittest du mich nicht hinein und bietest mir etwas zu trinken an?«
»Natürlich…«
Sheen machte es sich auf dem Boden bequem und kreuzte die Beine. Sie nickte Rees zu.
Mit sich verdunkelnder Gesichtsfarbe sah Rees abwechselnd Pallis und Sheen an. Pallis war überrascht. Hegte Rees irgendwelche Gefühle für seine frühere Vorgesetzte… sogar trotz der Behandlung nach seiner Rückkehr auf den Gürtel? Rees stand auf und fummelte verlegen am Käfig herum. »Ich werde mich später wieder mit dir unterhalten, Pallis…«
»Du brauchst jetzt nicht zu gehen«, sagte Pallis schnell.
Sheens Augen funkelten amüsiert.
Wieder blickte Rees von einem zum anderen. »Ich glaube, daß es am besten ist«, meinte er und ging mit einem gemurmelten Gruß.
Pallis reichte Sheen eine Feldflasche. »Er ist also scharf auf dich.«
»Pubertäre Schwärmerei«, kommentierte sie heftig.
Pallis grinste. »Das kann ich verstehen. Aber Rees ist nicht mehr in der Pubertät.«
»Das weiß ich. Er ist erwachsen und treibt uns alle vor sich her. Er ist der Retter der Welt. Aber er ist deswegen gleichzeitig auch ein verdammter Idiot.«
»Ich glaube, daß er eifersüchtig ist…«
»Könnte er denn einen Grund dafür haben, Baum-Pilot?«
Pallis senkte den Blick, ohne zu antworten.
»Du machst die Reise auf der Brücke also nicht mit«, stellte sie dezidiert fest. »Das wolltest du mit deinem Geschenk für Rees zum Ausdruck bringen, richtig?«
Er nickte und blickte auf die freie Fläche, wo vorher der Käfig gestanden hatte.
»Mein Leben ist sowieso schon zum großen Teil vorbei«, sagte er langsam. »Mein Platz auf der Brücke sollte besser an einen Jüngeren gehen.«
Sie beugte sich vor und berührte sein Bein; das Gefühl elektrisierte ihn. »Sie werden dich auch nur zum Mitkommen auffordern, wenn sie glauben, dich zu brauchen.«
»Sheen«, schnaufte er, »wenn diese Pflanzen im Käfig ausgewachsen sind, wird meine kalte Leiche schon längst über den Rand des Floßes geworfen worden sein. Und von welchem Nutzen sollte ich sein, wenn ich keinen Baum habe, den ich fliegen kann.« Er zeigte in Richtung des fliegenden Waldes, der vom Kabinendach verdeckt wurde. Mein Zuhause ist der Wald dort oben. Wenn die Brücke weg ist, wird das Floß noch immer hier sein, für eine lange Zeit. Und sie werden auch weiterhin ihre Bäume brauchen.«
Sie nickte. »Gut, ich verstehe, auch wenn ich nicht zustimmen kann.« Sie fixierte ihn mit ihren klaren Augen. »Wir können das auch weiter diskutieren, wenn die Brücke abgeflogen ist.«
Er holte tief Luft, beugte sich dann hinüber und nahm ihre Hand. »Wovon redest du? Du willst doch wohl nicht auch hierbleiben? Sheen, du bist verrückt…«
»Baum-Pilot«, fauchte sie, »ich habe die Weisheit deiner Entscheidung auch nicht in Frage gestellt.« Sie ließ ihre Hand in der seinen liegen. »Wie du schon gesagt hast: das Floß wird noch für lange Zeit existieren. Und der Gürtel auch. Es wird zwar schwer werden, wenn die Brücke weg ist — und mit ihr alle unsere Hoffnungen. Aber jemand muß die Dinge am Laufen halten. Jemand muß dafür sorgen, daß die Schicht-Wechsel eingehalten werden. Und wie du will auch ich mein Leben nicht hinter mir lassen.«
Er nickte. »Na schön, ich kann nicht unbedingt sagen, daß ich einverstanden wäre…«
»Baum-Pilot«, sagte sie warnend.
»…aber ich respektiere deine Entscheidung. Und…« Wieder spürte er die Hitze in sein Gesicht fluten. »Und ich bin froh, daß du noch hier sein wirst.«
Sie lächelte und brachte ihr Gesicht näher an seines heran. »Was willst du damit sagen, Baum-Pilot?«
»Vielleicht können wir uns zusammentun.«
Sie ergriff eine Locke seines Bartes und zupfte sanft daran. »Ja. Vielleicht können wir das.«