121909.fb2 Das Floss - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 4

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Eine Handglocke, die irgendwo geläutet wurde, sagte ihm, daß die Schicht vorüber war. Rees zog seine Arbeitshandschuhe aus und überflog das Labor mit routiniertem Blick; nach seinen Bemühungen glänzten Boden und Wände nun im Licht der an ihnen befestigten Lampen.

Er verließ zögernd das Labor. Das Licht des Sterns über ihm verursachte ein stechendes Gefühl auf seiner nackten Haut, und er blieb ein paar Sekunden lang stehen, um den Smog einzuatmen. Rücken und Beine schmerzten, und die Haut der Oberarme juckte an den Dutzenden von Stellen, wo die Spritzer ätzender Reinigungsmittel ihre Spuren hinterlassen hatten.

Die wenigen Dutzend Schichten vor dem Abflug des nächsten Baumes schienen wie im Flug vorüberzugehen. Er nahm die exotischen Sehenswürdigkeiten und Gerüche des Floßes in sich auf, in der bangen Erwartung, den Rest seines Lebens wieder in einer einsamen Kabine auf dem Gürtel verbringen zu müssen; die Erinnerungen an das Floß würden ihm ebenso teuer sein wie Pallis die Fotografie von Sheen.

Dennoch mußte er sich eingestehen, daß das, was er gesehen und was man ihm beigebracht hatte, herzlich wenig war — trotz der vagen Versprechungen von Hollerbach. Die Wissenschaftler waren wenig erfreuliche Exemplare — meistens in mittlerem Alter, übergewichtig und überempfindlich. Stolz wie Oskar auf die paar Litzen, die ihren Rang auswiesen, gaben sie sich ihren merkwürdigen Beschäftigungen hin und ignorierten ihn. Grye, der Assistent, der mit der Aufgabe betraut worden war, ihm Bildung beizubringen, hatte nicht viel mehr getan, als Rees ein Bilderbuch und einen Stapel reichlich komplizierter Laborberichte in die Hand zu drücken, um ihm das Lesen beizubringen.

Trotzdem hatte er mit Sicherheit gut putzen gelernt, dachte er traurig.

Aber gelegentlich, nur ganz selten, wurde seine lebhafte Phantasie von irgend etwas erregt. Zum Beispiel durch diese Batterie von Flaschen, die wie in einer Bar in einem der Labors aufgereiht war und in denen sich Baumsaft in verschiedenen Stadien des Verharzens befand…

»Du! Wie heißt du? Oh, verdammt, du, Junge! Ja, du!«

Rees wandte sich um und sah einen Stapel staubiger Bücher, die auf ihn zugestapft kamen. »Du, der Junge aus dem Bergwerk. Komm, hilf mir mit diesem Kram…« Über den Büchern erschien ein rundes, von einer Glatze gekröntes Gesicht, und Rees identifizierte Cipse, den Chefnavigator. Er vergaß seine Schmerzen, eilte auf den keuchenden Mann zu und nahm ihm einigermaßen vorsichtig die obere Hälfte der Bücher ab.

Cipse schnappte erleichtert nach Luft. »Hast dir ordentlich Zeit gelassen, was?«

»Tut mir leid…«

»Ja, komm schon. Wenn wir diese Drucke nicht schleunigst zur Brücke schaffen, dann kannst du sicher sein, daß sich meine Leute, diese Penner, wieder in die Bars verziehen, und dann haben wir wieder eine Schicht verloren.« Rees zögerte, und nach ein paar Schritten wandte Cipse sich um.

»Bei den Boneys, Junge, bist du etwa auch so taub, wie du dumm bist?«

Rees spürte, daß sein Mund zuckte. »Ich… Sie möchten, daß ich dieses Zeug auf die Brücke bringe?«

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Cipse sarkastisch. »Ich möchte, daß du zum Rand rennst und es über Bord wirfst, was sonst…? Oh, um alles in der Welt — mach hin, mach hin!«

Und er wandte sich wieder zum Gehen.

Rees stand eine geschlagene halbe Minute wie angewurzelt da.

Die Brücke…!

Dann rannte er hinter Cipse her zum Zentrum des Floßes.

Die Stadt auf dem Floß hatte eine simple Struktur. Von oben betrachtet — ohne die Abschirmung der Bäume — hätte sie wie konzentrisch gestaffelte Kreise ausgesehen.

Der äußerste, dem Rand am nächsten gelegene Kreis war bis auf die imponierenden Formen der Versorgungsmaschinen ziemlich leer. In der Sektion dahinter, einem lauten und rauchverhangenen Ort, befand sich eine Gruppe von Speicher- und Fabrikgebäuden. Danach schlossen sich Wohnbereiche an, Ansammlungen von kleinen Kabinen aus Holz und Metall. Rees hatte bereits herausgefunden, daß die in der Hierarchie am niedrigsten stehenden Bewohner die Kabinen bewohnten, die dem Industriegebiet am nächsten lagen. Im Wohnbereich befand sich ein kleiner Sektor mit diversen Zweckbauten: Eine Schule, ein primitives Krankenhaus — und das Labor der Kaste der Wissenschaftler, wo Rees lebte und arbeitete. Schließlich der innerste Kreis des Floßes — der für Rees bisher tabu gewesen war — und der den Offizieren vorbehalten war.

Im Zentrum, im Mittelpunkt des Floßes selbst, war der glitzernde Zylinder eingebettet, der Rees bei seiner Ankunft auf dem Floß aufgefallen war.

Die Brücke… Und nun würde er sie vielleicht betreten dürfen.

Die Kabinen der Offiziere waren größer und besser eingerichtet als die der gewöhnlichen Besatzungsmitglieder; Rees starrte mit gebührender Ehrfurcht auf die geschnitzten Türrahmen und die mit Vorhängen versehenen Fenster. Hier gab es keine herumrennenden Kinder, keine schweißgebadeten Arbeiter. Cipse verlangsamte seinen hektischen Schritt zu einer gemesseneren Gangart und grüßte die goldbetreßten Männer und Frauen, die ihnen begegneten, mit einem Kopfnicken.

Schmerz schoß durch Rees’ Fuß, als er mit seinen Zehen gegen eine überstehende Decksplatte stieß. Seine Buchladung purzelte auf die Oberfläche des Decks, wobei sich gelbe Seiten langsam öffneten und den Blick auf Tabellen freigaben; auf jede Seite waren drei mysteriöse Buchstaben gedruckt: ›IBM‹.

»Oh, bei den Boneys, du nichtsnutzige Minenratte!« schimpfte Cipse. Zwei junge Offiziersanwärter kamen vorüber; die Litzen an ihren neuen Mützen schimmerten im Sternenlicht, und sie zeigten leise lachend auf Rees.

»Tut mir leid«, sagte Rees mit hochrotem Kopf. Wie hatte er nur stolpern können? Das Deck war doch ein flaches Mosaik aus geschweißten Eisenplatten… oder etwa nicht? Er starrte nach unten. Die Platten hier waren gebogen und mit Nieten beschlagen, und sie glänzten silbern, ein Kontrast zu dem rostigen Farbton der Eisenplatten weiter draußen. Auf einer ein paar Meter entfernten Platte befand sich eine kompakte, rechteckige Struktur; sie erinnerte in ihrer Unvollständigkeit an ein Vexierbild, als ob einmal große Buchstaben auf eine gekrümmte Wand gemalt worden wären, und die unterbrochene Oberfläche schloß sich wieder.

»Komm schon, komm schon…«, murmelte Cipse.

Rees hob die Bücher auf und rannte hinter Cipse her. »Wissenschaftler«, fragte er nervös, »warum ist das Deck hier so anders?«

Cipse sah ihn gereizt an. »Weil, Junge, der innerste Teil des Floßes der älteste ist. Die äußeren Bereiche wurden später angebaut; sie sind aus Platten von Sternenmetall gefertigt. Aber dieser Teil hier ist aus Rumpfteilen zusammengebaut worden. Alles klar?«

»Rumpf? Der Rumpf wovon?«

Aber der weiterhastende Cipse antwortete nicht.

Rees Phantasie rotierte wie ein junger Baum. Rumpfplatten! Er stellte sich den Rumpf eines Maulwurfs vor; wenn man ihn aufschnitt und wieder zusammensetzte, würde auch ein unregelmäßiges Ding aus gebrochenen Kurven entstehen.

Aber die Hülle eines Maulwurfs wäre viel zu klein, um dieses ganze Areal abzudecken. Er stellte sich einen riesigen Maulwurf vor, dessen mächtige Wandung sich hoch über seinem Kopf wölbte…

Aber das wäre dann kein Maulwurf mehr. Etwa ein Schiff? Waren die Kindermärchen von dem Schiff und seiner Besatzung am Ende doch wahr?

Er fühlte, wie Frustration in ihm aufstieg; es war fast wie der Schmerz, den er manchmal verspürt hatte, wenn er versuchte, Sheens kühlen Körper zu berühren…

Wenn ihm nur jemand erklären würde, was hier vorging!

Schließlich gelangten sie durch den innersten Gebäudering zur Brücke. Rees fühlte, wie er seine Schritte unwillkürlich verlangsamte; er fühlte sein Herz in der Brust klopfen.

Die Brücke war schön. Sie war ein doppelt mannshoher und vielleicht hundert Schritt langer, liegender Halbzylinder, der so präzise ins Deck integriert worden war, daß er sich mit seinem halben Durchmesser über die Fläche erhob. Rees erinnerte sich, wie er unter dem Floß entlanggeflogen war und gesehen hatte, daß die andere Hälfte des Zylinders unter den Platten hing wie ein riesiges Insekt. Den Stapel von Büchern noch immer in seinen Armen haltend, drängte er sich näher an die gekrümmte Wandung. Ihre Oberfläche war aus einem matten, silbrigen Metall, welches das harte Sternenlicht zu einem rosig-goldenen Glanz milderte. Ein Türbogen war in die Wand geschnitten worden; seine Konturen waren so gründlich und sauber gearbeitet, wie Rees es noch nie zuvor gesehen hatte. Der Zylinder wurde von den Platten des demontierten Rumpfes ummantelt, und Rees konnte erkennen, wie sorgfältig sie bearbeitet und an der Wand befestigt worden waren.

Er versuchte, sich die Männer vorzustellen, die diese wundervolle Arbeit geleistet hatten. Er hatte eine vage Vorstellung von gottähnlichen Wesen, die mit glühenden Klingen einen riesigen Zylinder zerlegten… Und spätere Generationen hatten das glühende Herz des Floßes mit ihren zusammengestückelten Anbauten eingekreist, wobei Eleganz und Ausdruckskraft dieser Kreise im Verlauf Tausender von Schichten abnahmen.

»…Ich sagte ›sofort‹, Minenratte!« Das Gesicht des Navigators war rot vor Zorn; Rees rüttelte sich selbst aus seinem Tagtraum wach und lief zu Cipse, der schon am Eingang stand.

Ein anderer Wissenschaftler kam aus dem glänzenden Innern der Brücke und nahm Rees seine Last ab. Cipse warf Rees einen letzten Blick zu. »Nun geh zurück an deine Arbeit und sei froh, daß ich Hollerbach nicht empfehle, dich an die Versorgungsmaschinen zu verfüttern…« Der Navigator grummelte etwas vor sich hin, wandte sich um und verschwand im Innern der Brücke.

Rees, der diesen magischen Bereich nur ungern verlassen wollte, streckte die Hand aus, berührte mit den Fingerspitzen die silbrige Wand — und zog sie verwundert zurück; die Oberfläche war warm, fast wie Haut, und unwahrscheinlich weich. Er legte seine Hand flach auf die Wand und ließ seinen Handteller über die Oberfläche gleiten. Sie wies nicht die geringste Nahtstelle auf, so als ob sie mit einer öligen Flüssigkeit poliert worden wäre…

»Was ist das? Eine Minenratte betatscht mit seinen dreckigen Pfoten unsere Brücke?«

Rees wirbelte herum. Die beiden jungen Offiziere, die er vorhin gesehen hatte, standen mit in die Hüften gestemmten Armen vor ihm und grinsten spöttisch. »Nun, Junge«, fragte der größere von ihnen, »was hast du hier zu suchen?«

»Nichts; ich…«

»Weil du hier nämlich nichts verloren hast, empfehle ich dir, auf den Gürtel zurückzukehren, wo die anderen Ratten hausen. Oder sollen wir ein bißchen nachhelfen, was, Jorge?«

»Warum nicht, Doav?«

Rees betrachtete die lässigen, gutaussehenden jungen Männer. Ihre Wortwahl war nur wenig unhöflicher als die von Cipse… aber die Jugend dieser Kadetten und die Art und Weise, wie sie die älteren Offiziere unkritisch imitierten, machte ihre Verachtung umso schlimmer, und Rees fühlte, wie die Wut heiß in ihm hochstieg.

Aber er konnte es sich nicht leisten, sich Feinde zu machen.

Bewußt wandte er den Blick von den Offiziersschülern ab und wollte an ihnen vorbeigehen… Aber der größere der Kadetten, Doav, verstellte ihm den Weg. »Was ist, Ratte?« Er streckte einen Finger aus und stieß ihn gegen Rees’ Schulter…

…und beinahe gegen seinen Willen umklammerte Rees den Finger mit einer Faust und bog mit einer leichten Drehung seines Handgelenks die Hand des Kadetten zurück. Der junge Mann mußte seinen Ellbogen nach vorne schieben, um zu verhindern, daß sein Finger brach; dabei ging er vor Rees halb in die Knie. Eine Schweißschicht auf seiner Stirn verriet den Schmerz, aber er biß die Zähne zusammen und schrie nicht auf.

Jorges Grinsen erstarb, und seine Hände hingen unsicher herunter.

»Mein Name ist Rees«, sagte er langsam, »merken Sie ihn sich.«

Er ließ den Finger los. Doav sank auf die Knie und untersuchte seine Hand; dann blickte er auf. »Sei unbesorgt, Rees; ich werde ihn mir merken«, zischte er.

Rees, der seinen Wutausbruch schon bedauerte, wandte ihnen den Rücken zu und ging weg. Die Offiziersanwärter folgten ihm nicht.

Rees ließ sich beim Reinigen von Hollerbachs Büro Zeit. Von allen Räumen, zu denen seine Aushilfsarbeiten ihm Zutritt verschafften, war dies der interessanteste. Er fuhr mit einer Fingerspitze über eine Reihe von Büchern; ihre Seiten waren durch das Alter schwarz geworden, und die Goldbeschriftung auf den Buchrücken war schon fast verwischt. Er ging die Buchstaben der Reihe nach durch: E… n… c… y… c… Wer oder was war eine ›Enzyklopädie‹? Er dachte kurz daran, einen Band herauszunehmen und zu öffnen…

Wieder durchströmte ihn dieser fast libidinöse Wissensdurst.

Nun fiel ihm eine Maschine auf, ein edelsteinbesetztes Gerät aus Zahnrädern und Getriebeübersetzungen, das ungefähr das Volumen seiner hohlen Hände hatte. In seiner Mitte war eine helle Silberkugel plaziert, die von neun bunten, an Drähten aufgehängten Satelliten umkreist wurde. Das Gebilde war schön, aber was, zum Teufel, stellte es dar?

Er sah sich um. Das Büro war leer. Er konnte nicht widerstehen.

Er nahm das Gerät auf und genoß das Gefühl der maschinell bearbeiteten, metallenen Standfläche…

»Laß es nur nicht fallen!«

Rees zuckte zusammen. Das komplizierte Gerät taumelte quälend langsam durch die Luft; er packte es und stellte es auf das Regal zurück.

Dann wandte er sich um. Im Türrahmen war die Silhouette von Jaen zu erkennen; ihr breites, sommersprossiges Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. Nach einigen Sekunden lächelte er zurück. »Vielen Dank«, sagte er.

Die Assistentin kam auf ihn zu. »Sei froh, daß ich es nur bin. Jeder andere hätte dich unverzüglich vom Floß gewiesen.«

Er zuckte die Achseln und war angenehm angetan, als er sie näherkommen sah. Jaen war die Chefassistentin von Cipse, dem Chefnavigator; nur wenige hundert Schichten älter als Rees, war sie eine der wenigen Mitarbeiter der Labors, die ihm nicht mit Verachtung begegneten. Manchmal schien sie sogar zu vergessen, daß er eine Minenratte war… Jaen war ein breites, robustes Mädchen; ihr Gang war selbstsicher, aber nicht elegant. Mit Unbehagen ertappte Rees sich dabei, daß er sie mit Sheen verglich. Jaen gefiel ihm immer besser; er glaubte, daß sie gute Freunde werden konnten.

Aber körperlich war sie nicht so attraktiv wie die Mädchen im Bergwerk.

Jaen stand neben ihm und strich beiläufig mit den Fingerspitzen über den kleinen Gegenstand. »Armer alter Rees«, bedauerte sie ihn. »Ich wette, du weißt noch nicht einmal, was das hier ist, nicht wahr?«

Er zuckte die Achseln. »Dir ist doch klar, daß ich es nicht weiß.«

»Man nennt es Orbitalmodell.« Sie buchstabierte das Wort für ihn. »Es ist ein Modell des Sonnensystems.«

»Des was?«

Jaen seufzte, dann zeigte sie mit dem Finger auf die silberne Kugel im Zentrum des Modells. »Das ist ein Stern. Und diese Dinger sind Kugeln aus — ich glaube Eisen, die um den Stern kreisen. Sie werden Planeten genannt. Die Menschen — zumindest die Besatzung des Floßes — kam ursprünglich von einem dieser Planeten. Vom vierten, glaube ich. Oder vom dritten.«

Rees kratzte sich am Kinn. »Wirklich? Dann können es nicht allzu viele gewesen sein.«

»Warum nicht?«

»Der Planet kann nur Platz für wenige Menschen gehabt haben. Ab einer bestimmten Größe wäre die Schwerkraft zu hoch gewesen. Der Sternenkern bei mir zu Hause hat einen Durchmesser von nur etwa fünfzig Metern — und besteht dabei noch überwiegend aus Luft — und hat eine Oberflächenschwerkraft von fünf Gravos.«

»Ja? Nun, dieser Planet war wirklich viel größer. Er hatte…« Sie breitete die Arme aus — »einen Durchmesser von vielen Meilen. Und die Schwerkraft war überhaupt nicht hoch. Die Dinge waren einfach anders.«

»Und wie?«

»…Ich weiß nicht genau. Aber die Oberflächenschwerkraft betrug wahrscheinlich, ich weiß nicht genau, drei oder vier Gravos.«

Er dachte über ihre Worte nach. »Was also ist dann ein Gravo? Ich meine, warum ist ein Gravo ausgerechnet so definiert — und nicht mit einem kleineren oder größeren Wert?«

Jean hatte etwas anderes sagen wollen; nun runzelte sie gereizt die Stirn. »Rees, ich habe nicht die geringste Ahnung. Bei den Boneys, du stellst vielleicht dumme Fragen. Ich würde dir das Interessanteste am Orbitalmodell am liebsten gar nicht erzählen.«

»Was meinst du damit?«

»Daß es ein großes Planetensystem war. Die Umlaufzeit des Planeten dauerte tausend Schichten, und der Stern in der Mitte hatte einen Durchmesser von einer Million Meilen!«

Er dachte darüber nach. »Blödsinn«, kommentierte er dann.

Sie lachte. »Was weißt du denn schon davon?«

»Einen solchen Stern kann es nicht geben. Er würde einfach implodieren.«

»Du weißt wohl auch alles besser.« Sie grinste ihn an. »Ich hoffe nur, daß du dich genauso schlau anstellst, wenn die Lebensmittelvorräte vom Rand des Floßes in die Lager gebracht werden. Komm mit; Grye hat uns eine Liste mit Dingen gegeben, die wir besorgen sollen.«

»Okay.«

Rees orientierte sich an ihrem breiten Kreuz, als er mit seinen Putzutensilien in der Hand Hollerbachs Büro verließ. Er warf noch einen Blick zurück auf das Orbitalmodell, das glänzend im Schatten des Regals stand.

Eine Million Meilen? Lächerlich, keine Frage.

Aber was, wenn… ?

Sie saßen nebeneinander im Bus; die riesigen Räder der Maschine gewährleisteten eine angenehme Fahrt.

Rees ließ den Blick über die bunten Mosaikplatten des Flosses und die Menschen gleiten, die vorbeihasteten und Aufgaben und Aufträge erledigten, deren Sinn ihm auch jetzt noch nicht ganz klar war. Seine Mitreisenden saßen während der Fahrt ruhig da, einige lasen. Rees fühlte sich durch diese beiläufigen Demonstrationen von Bildung irgendwie irritiert.

Er seufzte.

»Was hast du denn?«

Er grinste Jaen schelmisch an. »Nichts. Es ist nur… Ich bin erst so kurz hier und habe noch so wenig gelernt.«

Sie runzelte die Stirn. »Ich dachte, du kriegst von Cipse und Gyre so eine Art Schnellkurs verpaßt.«

»Das bringt nicht viel«, widersprach er. »Ich glaube, ich kann sie sogar verstehen. Ich würde meine Zeit auch nicht mit einem blinden Passagier verschwenden wollen, von dem man eh weiß, daß er nach ein paar Schichten wieder nach Hause abgeschoben wird.«

Sie kratzte sich an der Nase. »Das könnte der Grund sein. Aber die beiden hatten auch mir gegenüber nie Hemmungen, mit ihrem Wissen zu prahlen. Rees, du stellst nämlich verdammt knifflige Fragen. Ich glaube fast, daß sie ein bißchen Angst vor dir haben.«

»Das ist doch verrückt…«

»Machen wir uns doch nichts vor, die meisten von diesen alten Kerlen wissen gar nicht so furchtbar viel. Hollerbach dagegen hat schon den Durchblick, glaube ich; und vielleicht noch ein oder zwei andere. Aber der Rest hält sich einfach an die alten Ausdrucke und hofft, daß er damit Eindruck schinden kann. Sieh dir doch nur mal an, wie sie die alten Geräte mit Holz und Schnurstücken flicken… Sie wären verloren, wenn irgend etwas wirklich Unvorhergesehenes geschähe oder wenn ihnen jemand eine Frage aus einer ganz anderen Perspektive stellen würde.«

Rees dachte über ihre Worte nach und darüber, wie sehr sich seine Einstellung zu den Wissenschaftlern seit seiner Ankunft auf dem Floß verändert hatte. Nun wußte er, daß sie fehlbare menschliche Wesen waren wie er selbst, die sich bemühten, in einer Welt, die immer mehr herunterkam, ihr Bestes zu geben. »Egal«, meinte er, »es macht eigentlich kaum einen Unterschied. Wohin ich auch sehe, eröffnen sich unbeantwortete Fragen. Zum Beispiel steht auf jeder Seite von Cipses Zahlenbüchern ›IBM‹. Was bedeutet das?«

Sie lachte. »Da hast du mich auf dem falschen Fuß erwischt. Vielleicht hat es irgend etwas damit zu tun, wie diese Bücher hergestellt wurden. Weißt du, sie kommen nämlich vom Schiff.«

Sein Interesse steigerte sich. »Das Schiff? Ich habe schon viele Geschichten darüber gehört, aber ich habe keine Ahnung, was davon wahr ist.«

»Soweit ich weiß, gab es wirklich mal ein Schiff. Es wurde zerlegt, um die Grundlage für den Bau des Floßes zu schaffen.«

Er überprüfte die Aussage auf ihre Plausibilität. »Und die damalige Besatzung des Schiffes hat diese Bücher gedruckt?«

Sie zögerte; offensichtlich war sie an die Grenzen ihres Wissens gestoßen.

»Sie wurden einige Generationen später produziert. Die erste Besatzung hatte ihr Wissen in einer Art von Maschine gespeichert.«

»Was für eine Maschine?«

»…Ich weiß nicht. Vielleicht eine Sprechmaschine, wie die Busse. Aber das Ding war mehr als nur ein Aufnahmegerät. Es konnte Berechnungen und Auswertungen durchführen.«

»Wie?«

»Rees«, sagte sie schwer atmend, »wenn ich das wüßte, hätte ich selbst schon eine solche Maschine gebaut. Klar? Wie auch immer, mit der Zeit begann die Maschine Verschleißerscheinungen zu zeigen, und die Besatzung befürchtete, daß sie ihre Berechnungen nicht länger würde durchführen können. So ließen sie die Maschine, bevor sie den Geist aufgab, alles ausdrucken, was sie wußte. Unter anderem einen veralteten Tabellentyp, ›Logarithmus‹ genannt, der uns bei unseren Berechnungen hilft. Das war es, was Cipse auf der Brücke deponierte. Vielleicht lernst du eines Tages auch, mit Logarithmen umzugehen.«

»Ja, vielleicht.«

Der Bus rollte aus dem Kabeldickicht heraus; Rees blinzelte im harten Licht des Sterns, der über dem Floß stand.

Er hörte Jaen sagen: »Verstehst du, worin Cipses Aufgabe besteht?«

»Ich glaube schon«, antwortete er langsam. »Er ist Navigator. Seine Aufgabe ist es, herauszufinden, wohin das Floß sich bewegen soll.«

Jaen nickte. »Und der Grund, warum wir das tun müssen, besteht darin, den Sternen auszuweichen, die vom Rand des Nebels auf uns herabfallen.« Sie zeigte mit dem Daumen auf die glühende Kugel über ihnen. »Wie dieser. In der Brücke bewahren sie die Daten von früheren Sternen auf Kollisionskurs auf, so daß sie genügend Zeit haben, das Floß in die notwendige Richtung zu bewegen. Ich glaube, wir werden uns bald wieder drehen… Das ist wirklich ein Erlebnis, Rees; hoffentlich bist du dann noch hier. Alle Bäume bewegen sich synchron in einer Richtung, der Wind fegt über das Deck — und wenn ich meine Probezeit bestanden habe, dann werde ich auch zu der Mannschaft gehören, die das Floß auf seinen neuen Kurs bringt.«

»Gut für dich«, sagte er düster.

Sie wurde plötzlich ernst und tätschelte seinen Arm. »Gib die Hoffnung nicht auf, Bergmann. Noch bist du nicht runter vom Floß.«

Er lächelte sie an, und sie schwiegen während des Restes der Fahrt.

Der Bus erreichte den Rand der Schwerkraftquelle des Flosses. Der Rand stach wie eine Messerklinge in den Himmel, und der Bus hielt neben einer breiten Treppe an. Rees und Jaen stellten sich vor einer der Versorgungsmaschinen an. Ein Maschinenführer setzte sich träge neben das Aggregat; seine Silhouette zeichnete sich gegen den Himmel ab. Rees, der geistesabwesend vor sich hinstarrte, kam er irgendwie bekannt vor.

Die Versorgungsmaschine war ein zerklüfteter, doppelt mannshoher Klotz. Seine breite Fläche wurde durch Ausgabeschächte unterbrochen, die um eine einfache Schalttafel gruppiert waren, die Rees an die Schaltfläche auf dem Maulwurf erinnerte. Auf der anderen Seite ragte ein Stutzen wie ein riesiges Maul hinaus in die Atmosphäre des Nebels; Rees wußte bereits, daß die Versorgungsmaschine durch diese Düse aus der Luft mit ihren vielfältigen Lebensformen die Grundstoffe für die Nahrungsmittelsynthese ansaugte, und man konnte sich fast bildlich vorstellen, wie die Maschine große Atemzüge durch ihre metallenen Kiemen machte.

Jaen flüsterte ihm ins Ohr: »Weißt du, sie wird von einem winzig kleinen schwarzen Loch betrieben.«

Er ruckte herum. »Von einem was?«

Sie grinste. »Du weißt das nicht? Ich erklär’s dir später.«

»Das macht dir richtig Spaß, wie?« zischte er.

Abseits des schützenden Waldes war das Sternenlicht sehr intensiv. Rees spürte, wie ihm Schweißperlen in die Augen tropften; er blinzelte, und sein Blick fiel auf den breiten Nacken des vor ihm stehenden Mannes. Seine Haut war mit drahtigem schwarzen Haar bewachsen und glänzte am Kragen feucht. Der Mann schaute mit seinem breiten Bulldoggen-Gesicht zu dem Stern auf. »Verdammte Hitze«, schimpfte er. »Ich weiß wirklich nicht, warum wir noch immer unter dem verdammten Ding herumsitzen. Mith sollte seinen fetten Arsch bewegen und etwas unternehmen. Hab’ ich nicht recht?« Er starrte Rees fragend an.

Rees lächelte verlegen zurück. Der Mann sah ihn mit einem merkwürdigen Blick an und wandte sich ab.

Nach ein paar unbequemen Minuten waren Jaen und Rees an der Reihe; hinter ihnen quetschten sich die Passagiere mit ihren mit Lebensmitteln, Wasser und anderen Dingen gefüllten Paketen die Treppe hinunter. Rees und Jaen traten an die Maschine; Jaen tippte auf dem Tastenfeld eine der Identifikationsnummern der Wissenschaftler und eine lange Zahlenfolge, die ihre Wünsche definierte, ein. Rees bewunderte, wie schnell und geschickt ihre Finger über das Tastenfeld flogen — noch eine Fähigkeit, die er wahrscheinlich niemals würde erlernen können…

Und er bemerkte, daß der Maschinenführer ihn angrinste. Der Mann saß mit verschränkten Armen auf einem großen Holzstuhl; auf seinen schäbigen Arbeitsanzug waren schwarze Streifen aufgenäht. »So, so«, sagte er langsam, »da ist also unsere Minenratte.«

»Hallo, Gover«, sagte Rees steif.

»Machst du immer noch den Knecht für die alten Knacker im Wissenschaftsbereich, hä? Ich dachte, sie hätten dich schon in die Versorgungsmaschine geschmissen. Zu mehr taugt ihr Minenratten ja eh nicht…«

Rees fühlte, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten; seine Muskeln schwollen fast schmerzhaft an.

»Du bist immer noch das gleiche Miststück, Gover, was?« fauchte Jaen. »Durch den Rausschmiß aus dem Wissenschaftsbereich hat sich dein Charakter also nicht gebessert.«

Gover fletschte seine gelben Zähne. »Ich bin freiwillig gegangen. Ich möchte mein Leben nicht mit diesen nichtsnutzigen alten Pennern verbringen. Im Infrastrukturbereich leiste ich wenigstens wirkliche Arbeit. Eigne mir richtige Fähigkeiten an.«

Jaen stemmte die Hände in die Hüften. »Gover, wenn es die Wissenschaftler nicht gäbe, wäre das Floß schon vor Generationen zerstört worden.«

Er rümpfte die Nase und schaute gelangweilt drein. »Du glaubst also noch immer daran.«

»Es ist die Wahrheit.«

»Das war sie vielleicht mal. Aber jetzt? Warum haben sie uns nicht schon unter diesem Ding da am Himmel wegbewegt?«

Jaen holte wütend Luft… und zögerte dann, weil sie keine einfache Antwort wußte.

Gover schien an seinem kleinen Sieg nicht interessiert zu sein. »Ist ja auch egal. Denk, was du willst. Schon bald wird man auf die Leute hören, die dieses Floß wirklich am Fliegen halten — die Infrastrukturspezialisten, die Waldläufer, die Zimmerleute und die Metallarbeiter. Und das wird für all die Schmarotzer der Anfang eines tiefen Falls sein.«

Jaen runzelte die Stirn. »Was meinst du damit?«

Aber Gover hatte sich schon zynisch lächelnd abgewandt; und ein Mann hinter ihnen schimpfte: »Kommt, macht schon, ihr zwei.«

Mit Proviantpaketen beladen kehrten sie zum Bus zurück. »Was, wenn er recht hat, Jaen?« fragte Rees. »Was, wenn die Wissenschaftler, die Offiziere — wenn sie nicht mehr weiterarbeiten dürfen?«

Es schauerte Jaen. »Das wäre das Ende des Floßes. Aber ich kenne Gover; er macht sich nur wichtig, damit wir glauben sollen, daß er über seine Versetzung in den Infrastrukturbereich glücklich ist. Er war schon immer so.«

Rees runzelte die Stirn. Kann sein, dachte er.

Aber Govers Stimme hatte sehr sicher geklungen.

Ein paar Schichten später bestellte Hollerbach Rees zu sich.

Vor dem Büro des Chefwissenschaftlers blieb Rees stehen und atmete tief durch. Er fühlte sich, als hätte man ihn auf den Rand des Floßes gesetzt; die nächsten Augenblicke konnten für den Rest seines Lebens entscheidend sein.

Er straffte seine Haltung und betrat das Büro.

Hollerbach saß an seinem Schreibtisch und beugte sich im Schein einer Lampe über irgendwelchen Papierkram. Bei Rees’ Eintreten blickte er finster auf. »He? Wer ist das? Ach ja, der Junge aus dem Bergwerk. Komm nur herein.« Er bedeutete Rees mit einem Wink, sich auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch zu setzen; dann ließ er sich in seinen Lehnstuhl zurücksinken und verschränkte seine knochigen Arme hinter dem Kopf. Das Licht über dem lisch ließ die Ringe unter seinen Augen enorm tief erscheinen.

»Sie haben mich rufen lassen«, sagte Rees.

»Hab’ ich das?« Hollerbach sah Rees offen an. »Also; wie ich höre, hast du dich hier nützlich gemacht. Du arbeitest hart, und das haben wir hier selten genug… Also vielen Dank für das, was du getan hast. Aber«, fuhr er sanft fort, »ein Proviantbaum ist beladen worden und bereit für die Abreise zum Gürtel. Nächste Schicht. Ich muß jetzt entscheiden, ob wir dich mit diesem Baum zurückschicken oder nicht.«

Rees durchfuhr es siedendheiß; vielleicht hatte er doch noch eine Chance, sich einen Platz auf dem Floß zu verdienen. Er rechnete mit einer Art Test und rief sich hastig die erworbenen Wissensfragmente in Erinnerung.

Hollerbach erhob sich aus dem Stuhl und begann, im Raum umherzugehen. »Du weißt, daß wir bereits überbevölkert sind«, dozierte er. »Und wir haben… Probleme mit den Versorgungsmaschinen, so daß eine Entspannung der Situation nicht zu erwarten ist. Andererseits habe ich dadurch, daß ich dieses nutzlose Stück von Gover rausgeschmissen habe, einen Platz in den Labors freibekommen. Aber solange ich nicht einen wirklich stichhaltigen Grund dafür habe, kann ich es nicht vertreten, dich hierzubehalten.«

Rees wartete.

Hollerbach runzelte die Stirn. »Du machst dir Gedanken, Junge, nicht wahr? Sehr gut… Wenn du mir jetzt eine Frage stellen solltest, bevor man dich von hier wegbringt — und ich würde dir garantieren, sie so erschöpfend wie möglich zu beantworten — welche Frage würdest du mir dann stellen?«

Rees fühlte sein Herz bis zum Hals schlagen. Dies war der Test, dies war der Moment, in dem er auf dem Rand des Floßes entlangbalancierte — aber so hatte er sich die Prüfung nicht vorgestellt. Eine Frage! Was war der Schlüssel, der die Tür zu all den Geheimnissen öffnete, gegen die sein Geist anrannte wie ein Skitter gegen einen Heliosstrahler?

Die Sekunden verstrichen; Hollerbach beobachtete ihn unablässig, wobei er seine schmalen Hände vor seinem Gesicht gefaltet hatte.

Schließlich fragte Rees beinahe spontan: »Was ist ein Gravo?«

Hollerbach runzelte die Stirn. »Was meinst du?«

Rees ballte seine Hände zu Fäusten. »Wir leben in einem Universum mit starken, sich verlagernden Schwerkraftfeldern. Aber wir haben eine Standard-Maßeinheit für die Schwerebeschleunigung… ein Gravo. Warum ist das so? Und hat ein Gravo gerade diesen spezifischen Wert?«

Hollerbach nickte. »Und welche Antwort erwartest du?«

»Daß das Gravo sich auf den Ort bezieht, von dem die Menschen herkamen. Es muß ein großes Gebiet gewesen sein, auf das eine gleichmäßige Schwerkraft einwirkte, mit einem Wert, den wir ein Gravo nennen. So wurde dieser Wert zum Standard. Eine solche Region gibt es nirgendwo im Universum — nicht einmal das Floß. Vielleicht hat es früher ein großes Floß gegeben, das nun zerbrochen ist…«

Hollerbach lächelte, und die Haut spannte sich über seinem knochigen Kiefer.

»Du hast einen scharfen Verstand… Angenommen, ich würde dir erzählen, daß es eine solche Region niemals im Universum gegeben hat; was würdest du dann sagen?«

Rees dachte darüber nach. »Dann würde ich vermuten, daß die Menschen von irgendeinem anderen Ort kamen.«

»Bist du dir da sicher?«

»Natürlich nicht«, verteidigte sich Rees. »Ich müßte es überprüfen… weitere Beweise finden.«

Der alte Wissenschaftler wiegte den Kopf. »Junge, ich glaube, in deinem untrainierten Kopf steckt mehr wissenschaftliche Methodik als im ganzen Bestand meiner sogenannten Assistenten.«

»Aber wie lautet die Antwort?«

Hollerbach lachte. »Du bist ein seltenes Exemplar, nicht wahr? Bist mehr daran interessiert, die Dinge zu verstehen, als an deinem eigenen Schicksal…

Gut, ich werde es dir sagen. Du hast richtig geraten. Die Menschen gehören nicht zu diesem Universum. Wir kamen auf einem Schiff hierher. Wir durchflogen etwas, das Bolder’s Ring genannt wurde, so eine Art Tor. Irgendwo im Kosmos auf der anderen Seite des Rings ist die Welt, von der wir kamen. Es ist aber ein Planet, kein Floß; eine Kugel mit einem Durchmesser von ungefähr achttausend Meilen. Und seine Oberfläche hat eine Schwerkraft von genau einem Gravo.«

Rees runzelte die Stirn. »Dann muß er aus einem sehr leichten Gas bestanden haben.«

Hollerbach nahm das Orbitalmodell vom Regal und betrachtete die hübschen, kleinen Planeten. »Es ist in Wirklichkeit eine Eisenkugel. Sie könnte nicht existieren… hier zumindest.

Die Gravitation ist der Schlüssel zu dem absurden Ort hier, an dem wir gestrandet sind; die Schwerkraft ist hier eine Milliarde mal höher als in dem Universum, aus dem wir kommen. In diesem Universum hätte unser Heimatplanet an seiner Oberfläche eine Schwerkraft von einer Milliarde Gravos — wenn er nicht augenblicklich implodieren würde. Und die Gesetze der Astronomie kann man hier auch vergessen. Unsere Heimatwelt benötigt über tausend Schichten, um sich einmal um ihren Stern zu drehen. Hier würde sie nur siebzehn Minuten dazu brauchen!

Rees, wir glauben nicht, daß die Besatzung das Schiff absichtlich hierher gesteuert hat. Es war wahrscheinlich ein Unfall. Als das Schiff in den Einfluß der erhöhten Schwerkraft gelangte, brachen große Sektionen des Raumers auseinander. Auch die Vorrichtung, die sie benutzten, um das Schiff durch die Luft zu steuern — was auch immer das für eine Vorrichtung gewesen sein mag. Sie müssen in den Nebel gestürzt sein, ohne richtig zu begreifen, was geschah, und versuchten verzweifelt, dem Kern zu entkommen…«

Rees dachte an die Implosion der Gießerei, und in seiner Phantasie entfaltete sich ein Szenario…

…Besatzungsmitglieder liefen durch die Korridore des dem Untergang geweihten Schiffs; Rauch füllte die Gänge, als glühende Flammen die Luft versengten. In der Hülle des Schiffes hatten sich Risse gebildet; die stickige Luft des Nebels brauste durch die Kabinen, und durch Risse in der silbernen Wand sah die Besatzung fliegende Bäume und riesige, verschwommene Wale, alles völlig verschieden von dem, was sie bisher gesehen hatten…

»Die Boneys alleine wissen, wie die Schiffsbesatzung diese ersten Schichten überlebte. Aber sie überlebte jedenfalls; sie zähmten Bäume und hielten sich von der Schwerkraftfalle des Kerns fern; und mit der Zeit begannen die Menschen den Nebel zu bevölkern, bis zu den Behausungen des Gürtels und darüber hinaus…«

»Was?« Rees war aus seinem Tagtraum in die Wirklichkeit zurückgekehrt. »Ich dachte, Sie beschreiben, wie die Besatzung des Floßes hierher kam… Ich habe immer angenommen, daß die Bevölkerung des Gürtels und anderer Regionen…«

»Woanders her kam?« Hollerbach lächelte müde. »Für uns, die wir hier auf dem Floß ein vergleichsweise angenehmes Leben führen, ist es bequem, das zu glauben; die Wahrheit aber ist, daß alle im Nebel lebenden Menschen von diesem Schiff abstammen. Ja, sogar die Boneys. Und dieser Mythos von verschiedenen Ursprüngen ist es wahrscheinlich, der unsere Spezies zerstört. Wir müssen uns vermischen, unseren Genbestand erweitern…«

Rees dachte darüber nach. Rückblickend erkannte er, daß es so viele Ähnlichkeiten zwischen dem Leben auf dem Floß und dem auf dem Gürtel gab. Aber bei dem Gedanken an die offenkundigen Unterschiede, an die unbarmherzige Härte des Lebens auf dem Gürtel brach bei ihm die kalte Wut aus.

Warum hatte der Gürtel zum Beispiel keine eigene Versorgungsmaschine? Wenn sie einen gemeinsamen Ursprung hatten, dann waren die Bergleute dazu genauso berechtigt wie die Floßbewohner…

Er würde später Zeit haben, darüber nachzudenken. Fürs erste konzentrierte er sich darauf, Hollerbach zuzuhören. »…Ich will also ganz offen zu dir sein, junger Mann. Wir wissen, daß die Substanz des Nebels so gut wie aufgezehrt ist. Und wenn wir nichts dagegen tun, dann werden wir auch untergehen.«

»Was wird geschehen? Wird sich die Qualität der Luft so verschlechtern, daß man sie nicht mehr atmen kann?«

Hollerbach stellte das Orbitalmodell vorsichtig auf das Regal zurück. »Wahrscheinlich. Aber schon lange vorher werden die Sterne erlöschen. Es wird kalt und dunkel werden… und die Bäume werden ihren Dienst versagen.

Wir werden nichts mehr haben, was uns im Gleichgewicht hält und schließlich in den Kern stürzen. Das wird eine ganz schöne Höllenfahrt werden…

Rees, wenn wir diese Reise nicht antreten wollen, brauchen wir Wissenschaftler. Junge Wissenschaftler; Leute mit Phantasie, die einen Ausweg aus der Falle finden, in die der Nebel sich verwandelt. Rees, der Erfolg eines Wissenschaftlers besteht nicht in seinem Wissen, sondern in seinen Fragen. Ich glaube, daß du dieses Talent besitzt. Vielleicht…«

Rees spürte die Wärme, mit der sich seine Wangen röteten. »Wollen Sie damit sagen, daß ich bleiben darf?«

Hollerbach schniefte. »Es ist nach wie vor auf Probe, denk daran; so lange, wie ich es für nötig halte. Und wir werden dir eine gründliche Ausbildung geben müssen. Tritt Grye ein bißchen mehr auf die Füße, ja?« Der alte Wissenschaftler schlurfte zurück zu seinem Schreibtisch und ließ sich in den Sessel sinken. Dann nahm er seine Brille aus einer der Taschen seines Anzugs, setzte sie auf und beugte sich wieder über seine Papiere. Er blickte zu Rees auf. »Ist noch was?«

Rees grinste unwillkürlich. »Darf ich Sie noch etwas fragen?«

Hollerbach runzelte etwas verstimmt die Stirn. »Nun, wenn es sein muß…«

»Erzählen Sie mir noch etwas von den Sternen. Von denen auf der anderen Seite von Bolder’s Ring. Haben sie wirklich einen Durchmesser von einer Million Meilen?«

Hollerbach versuchte weiter, ein verärgertes Gesicht aufzusetzen; aber er konnte ein Lächeln nicht mehr unterdrücken. »Ja. Einige sind sogar noch viel größer. Sie stehen weit entfernt voneinander in einem fast leeren Himmel. Und sie haben ein langes Leben, nicht nur einige tausend Schichten wie diese kläglichen Exemplare hier, sondern Abermilliarden von Schichten.«

Rees versuchte, sich eine solche Herrlichkeit vorzustellen. »Aber… wie ist das möglich?«

Hollerbach begann mit seiner Erzählung.