121911.fb2 Das Gift der Schmetterlinge - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 38

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Kapitel 27

Eine Schweinejagd

Am Morgen des Mittwinterfestes kam ein Junge atemlos in den Küchentrakt des Herrenhauses hinuntergerannt und tauchte in den Schweiß und Dampf, das Zischen und Prasseln, Brutzeln, Fluchen und Schreien ein, in all das Gelaufe und Geschleppe, das Schaben und Schälen und Hacken und Waschen und Salzen und Klopfen, in Gequieke und Gezwitscher.

»Ich hab Neuigkeiten!«, rief er über den Lärm hinweg. »Ich hab Neuigkeiten!«

Mrs Malherbe, das Gesicht rot und glänzend vor Schweiß, hörte auf zu rühren. Etwas in der Stimme des Jungen sagte ihr, dass es sich um wirklich wichtige Neuigkeiten handeln musste.

»Lord Mandible«, sagte er keuchend.

»Was ist mit ihm?«

»Er ist zurück. Schaut aus dem Fenster!«

In dieser Aufforderung lag eine so große Dringlichkeit, dass alle ihre Messer, Löffel und Hackebeile niederlegten und in Scharen zum Fenster liefen. Der Küchentrakt befand sich im Kellergeschoss, deshalb beschränkte sich ihr Blick nach draußen auf einen schmalen Spalt über ihren Köpfen. Sie sahen trotzdem genug, und was sie sahen, ließ sie aufschreien.

»Herr im Himmel!«

»Allmächtiger!«

»Kitzelt mich mal!«

»Ich trau meinen Augen nicht«, sagte Mrs Malherbe. Dann drehte sie sich um und wandte sich energisch an ihre bunt gemischte Mannschaft. »Los, los, alle Mann!«, sagte sie. »Es gibt Arbeit!«

Wenige Menschen, die einem Borstenrückenschwein so nahe gekommen sind, dass sie bei seinem Heranstürmen den grimmigen Gesichtsausdruck erkennen konnten, haben diese Begegnung überlebt und können davon erzählen. Von seiner Größe, seiner Brutalität, seinen enormen Hauern. Und von einem Schädel, der mit einer so dicken Knorpelschicht gepolstert ist, dass jeder Stoß gedämpft wird und das Schwein frontal gegen Baumstämme und Felsbrocken rennen kann, ohne sich zu verletzen. Einen solchen Aufprall übersteht kein anderes Tier des Waldes. Dieses Monster von Schwein ist bestens an seinen Lebensraum angepasst.

Haargenau so eins auf der Festtafel, das hatte Lord Mandible in seinem Traum vor sich gesehen. Am Tag des Festes war er also bei Sonnenaufgang mit seiner ganzen Jagdgesellschaft zum Eichenwald geritten, fest überzeugt – und merkwürdig zuversichtlich –, dass heute sein Tag sein werde.

Als die Gruppe den Waldrand erreichte, hatte sich Mandible gerade eben an sein übliches Unbehagen und den schwerfälligen Rhythmus des Pferdes gewöhnt. Er bot einen komischen Anblick, und seine Jagdgenossen wetteten zum Spaß miteinander, wie lange er sich wohl im Sattel halten und nach welcher Seite er fallen würde – denn dass er früher oder später abgeworfen werden würde, wussten sie aus Erfahrung.

Mandible merkte zum Glück nichts von der Erheiterung unter seinen Jagdkameraden, als er sie nun voller Begeisterung um sich scharte.

»Heute ist der Tag, meine Freunde«, rief er. »Zu diesem Anlass, zum Mittwinterfest, ist es dringend erforderlich, dass ich ein Borstenrückenschwein auf den Tisch bringe. Und wir werden nicht zurückkehren, ehe unser Ziel erreicht ist.«

Insgeheim murrten die Jäger. Sie wussten, wie sehnlichst Lord Mandible ein Schwein zur Strecke bringen wollte. Sie wussten aber auch, wie unwahrscheinlich sein Erfolg sein würde, und sahen einen langen Tag erfolglosen Jagens vor sich.

Doch Mandibles große Zuversicht schien schon bald begründet. Die Jagdgesellschaft war noch nicht lange im Wald, da hörten die Männer ein Rascheln und Schnauben aus dem Dickicht, nur wenige Meter von ihrem Anführer entfernt. Die Jäger mahnten ihn zu Geduld (sie kannten seine überhastete Jagdtechnik von früheren Gelegenheiten), doch vergeblich.

Mandible richtete seine Muskete in die ungefähre Richtung des Geräusches und feuerte unvermittelt eine Ladung Blei in die Büsche. Es hallte im Wald nach, als wären zwei Schüsse gefallen, doch die Jäger hatten keine Zeit, darüber nachzudenken, weil plötzlich ein blutendes, wutschnaubendes Schwein mit einem fast menschlichen Schrei aus dem Dickicht brach und auf Mandible zuraste. Sein Pferd, das mehr Gespür hatte als der Reiter, machte schleunigst kehrt und galoppierte, so schnell es konnte, in die entgegengesetzte Richtung davon. Mandible fiel nach hinten herunter (keiner hatte also die Wette gewonnen) und landete auf allen vieren auf dem Waldboden. Das Schwein stürmte mit unglaublicher Geschwindigkeit auf ihn zu, da schwang er in wilder Panik seine Muskete und feuerte noch einmal. Es gab einen ungewöhnlich lauten Knall, und zu jedermanns Überraschung – insbesondere zu Mandibles Überraschung – blieb das Schwein wie angewurzelt mitten im Lauf stehen und fiel um.

Stille.

»Gut gemacht, Euer Lordship!«, gratulierte endlich sein Erster Jäger mit ungläubig aufgerissenen Augen. Die anderen aus der Gruppe brachen in herzliche Beifallsrufe aus. Mandible selbst war sprachlos, wie unter Schock. Mithilfe einiger Männer rappelte er sich auf und blieb verblüfft neben dem Schwein stehen.

»Ich habe es geschafft!«, flüsterte er. »Ich habe es endlich geschafft!«

Aufrichtig bewegt kniete er neben dem gefallenen Schwein nieder. Er streckte die Hand aus und legte sie auf den stillen, warmen Körper, und eine Träne (oder zwei) lief ihm über das Gesicht.

»Es ist ein Wunder«, sagte er leise. »Ein Wunder. Ich habe den größten Keiler der Provinz erlegt! Ich bin ein ganz erstklassiger Jäger.«

Für einen Augenblick konnte er fast den tiefen Kummer über den Verlust seiner geliebten Katze vergessen. Und sämtliche Männer der Jagdgesellschaft klatschten und jubelten in der Vorfreude auf eine frühe Heimkehr – wenn sich auch manch einer wünschte, er könnte auch einmal den größten Keiler der Provinz zur Strecke bringen.

Das also war es, was Mrs Malherbe und ihre Küchenmannschaft erblickten, als sie aus dem Fenster schauten: die Heimkehr von Lord Mandible mit seiner Beute. Mandible ritt im Trab an der Spitze der Prozession – denn eine Prozession war es tatsächlich. Bei dieser Gangart gelang es ihm sogar, sich mit den Knien an den Seiten des Pferdes abzustützen, die Zügel in einer Hand zu halten und die andere triumphierend zu erheben. Hinter ihm kam der Eber, der mit den Läufen um einen dicken Ast gebunden war und von vier Männern getragen wurde, zwei vorn, zwei hinten. Speichel, Blut und sonstige Körperflüssigkeiten, die noch immer von ihm herabtropften, hinterließen eine feucht glänzende Spur im Hof. Die Nachhut des Zuges bildeten, lachend und scherzend, die übrigen Mitglieder der Jagdgesellschaft.

»Nein, nein, nein!«, murmelte Mrs Malherbe. »Nie hätte ich geglaubt, dass ich den Tag erlebe, an dem dieser Mann einen Borstenrücken erwischt.« Und sogleich stieg Mandible in ihrer Achtung.

Noch jemand sah Mandibles triumphale Heimkehr. Von seinem Turm aus beobachtete Bovrik die Prozession mit scharfem Auge. Hat er also endlich ein Schwein geschossen, dachte er. Es war schon lange her, dass Bovrik ein ganzes Borstenrückenschwein aus solcher Nähe gesehen hatte …

Er erhob sich aus dem Sessel am Fenster. Im Spiegel betrachtete er prüfend seine Schuhe und setzte dabei einen Fuß vor den anderen, eine Haltung, die seine wohlgeformten, seidenbestrumpften Waden am besten zur Geltung brachte. Er strich über den Samt seiner cremefarbenen Kniehose und zog seinen weit geschnittenen, magentafarbenen Mantel an. Perfekt – er sah wirklich wie ein Baron aus. Zuletzt das i-Tüpfelchen, ein Spritzer von seinem Zitrusparfüm.

Bovrik lächelte und klappte das Kästchen mit seinen Glasaugen auf. Er nahm eins heraus und hielt es zwischen Zeigefinger und Daumen ins Licht.

Das siebte Auge.

Gefertigt aus weißem Milchglas, in der Mitte hohl, um das Gewicht zu verringern, und oben und unten leicht abgeflacht, um eine gute Passform zu gewährleisten – es schien den übrigen durchaus ähnlich. Es war jedoch eindeutig besser. Tiefblaue Saphire umringten die goldene Iris und die Pupille war mit winzigen, im Licht glitzernden Diamanten besetzt. Das Auge war berückend schön, das teuerste und letzte seiner Sammlung – er besaß jetzt für jeden Tag der Woche ein anderes Auge und würde sich nie mehr mit einer Augenklappe behelfen müssen! Lady Mandible würde beeindruckt sein. Und anknüpfend an den Erfolg mit diesem Katzenfresser, ließ sich nur Gutes für die Zukunft ahnen. Das Fest konnte beginnen! Dann, nachdem er sich seines Aussehens vergewissert hatte, zupfte er sein gerüschtes Halstuch zurecht, schüttelte den Spitzenbesatz der Ärmelumschläge, nahm seinen Umhang und trat noch einmal an das kleine Turmfenster. Doch seine Freude wurde jäh getrübt. Irgendwo im Haus waren schon wieder die misstönenden Cembaloklänge zu hören.

»Hat dieser Narr nichts Besseres zu tun?«, murmelte er. Mein Gott, wäre er froh, wenn er dieses Geklimper nicht mehr ertragen müsste!