121913.fb2 Das Herz der Schlange - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 3

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Der Arzt und der Kommandant verließen zusammen die Bibliothek, und besorgte Blicke der Zurückbleibenden begleiteten sie. Den zweiten Astronavigator hatte während seines Wachdienstes ein Unglück ereilt, wie es nur ganz selten an Bord vorkam: Es war bei ihm eine eitrige Blinddarmentzündung aufgetreten. Wahrscheinlich hatte er vor Antritt der Reise die von ärztlicher Seite aus erlassenen Vorschriften zur Vorbereitung auf die Reise in den Kosmos nicht bis in alle Einzelheiten erfüllt. Nun wollte Swet Sim die Entscheidung des Kommandanten darüber einholen, ob eine Operation vorgenommen werden solle.

Mut Ang äußerte Bedenken gegen einen chirurgischen Eingriff. Die moderne Medizin bevorzugte die Einwirkung mittels Impulsen auf das Nervensystem des menschlichen Organismus. Sie beherrschte die Methoden der Impulsanwendung völlig einwandfrei und konnte viele Krankheiten erfolgreich damit bekämpfen. Aber der Arzt des Raumschiffes bestand auf seiner Meinung. Er wies nach, daß bei dem Kranken eine Anfälligkeit zurückbleiben könne, die bei den sehr großen physiologischen Anstrengungen, denen die Raumfahrer ausgesetzt sind, irgendwann einmal den Anlaß zu einer neuen Erkrankung geben könnte.

Der Astronavigator lag auf einem breiten Bett. Sein Körper war in die zahlreichen Drähte der Impulsinstrumente eingewickelt. Nicht weniger als sechsunddreißig Geräte überwachten das Befinden des Organismus. Das Zimmer war verdunkelt, nur das hypnotisierende Schlafgerät flimmerte schwach und ließ einen leisen, einschläfernden Ton hören. Swet Sim überprüfte mit einem kurzen Blick die Apparate und gab Afra Dewi, die als seine Assistentin fungierte, ein Zeichen. Jedes Besatzungsmitglied der „Tellur“ war nicht nur wissenschaftlicher Mitarbeiter, sondern zugleich voll ausgebildeter Fachmann auf irgendeinem Spezialgebiet, sei es nun hinsichtlich der mechanischen Anlagen des Raumschiffes oder der Betreuung und Verpflegung seiner Besatzung.

Afra trat auf einen durchsichtigen Würfel zu. In ihm lag in einer bläulich schimmernden Flüssigkeit ein vielgliedriger metallener Apparat, der einem großen Tausendfüßler ähnelte. Die Assistentin nahm das Gerät aus der Flüssigkeit heraus und zog aus einem anderen Behälter ein konisches Anschlußstück hervor, an dem ganz feine Drähte befestigt waren. Ein leichtes Knacken eines Verschlusses — und der metallische „Tausendfüßler“ erwachte zum Leben, wobei er ein kaum hörbares Summen von sich gab.

Swet Sim nickte Afra zu, und der Apparat verschwand im offenen Munde des weiterhin ruhig atmenden Patienten. Ein Leuchtschirm mit Mattglasscheibe, der schräg über dem Leib des Kranken aufgestellt war, leuchtete auf. Mut Ang trat näher heran. In dem grünlichen Lichtschein waren die grauen Umrisse der inneren Organe deutlich erkennbar. Langsam bewegte sich das Gliedergerät durch sie hindurch. Ein kurzes Aufflammen erfolgte, als das Gerät dem Magenschließmuskel einen Impuls zuleitete, in den Zwölffingerdarm eindrang und begann, sich durch die zahlreichen Windungen des Dünndarms durchzuschlängeln. Es dauerte nur noch einen Augenblick, und das stumpfe Ende des „Tausendfüßlers“ stieß vorsichtig in die Basis des Wurmfortsatzes vor.

Hier, in der unmittelbaren Umgebung der Vereiterung, waren die durch ein Aufflackern am Leuchtschirm sichtbar gemachten Schmerzen bedeutend größer. Die durch den Druck des Gerätes ausgelösten reflektotischen Bewegungen des Darmes wurden bald so stark, daß ein Beruhigungsmittel gegeben werden mußte. Binnen kurzem hatte der Untersuchungsapparat den Krankheitserreger gefunden: Es lag eine durch Eindringen von Fremdkörpern verursachte Verunreinigung vor, die zu der Vereiterung geführt hatte. Sofort nach diesem Befund zeigte das Gerät an, daß die Anwendung einer bestimmten, in genauer Dosierung aus antibiotischen und desinfizierenden Produkten zusammengesetzten Medizin geboten war. Der Gliederapparat brachte mehrere lange, schmiegsame Härchen zum Vorschein, die tief in den Appendix eingedrungen waren. Sodann wurde der Eiter abgesaugt. Anschließend entfernte das Gerät die in den Wurmfortsatz gelangten Schmutzteilchen. Schließlich erfolgte eine kräftige Ausspülung der angegriffenen Stellen mit einer biologischen Lösung, die eine schnelle Heilung der Schleimwände des Wurmfortsatzes und des Blinddarms sicherte. Während der ganzen Zeit, da das automatisch gesteuerte und präzis arbeitende medizinische Gerät im Körper des Kranken die Heilung durchführte, schlief dieser friedlich weiter. Als die Operation beendet war, hatte der Arzt weiter nichts zu tun, als das Gerät wieder aus dem Körper zu entfernen.

Erleichtert atmete der Kommandant der „Tellur“ auf. Mochte die Leistungsfähigkeit der Medizin auch noch so groß sein, so schufen doch nicht voraussehbare Besonderheiten des betreffenden Organismus (sie bei den Milliarden von Individuen von vornherein in die Überlegungen einzubeziehen, war ein Ding der Unmöglichkeit!) nicht selten unerwartete Situationen. Dieser konnte man leicht Herr werden, wenn sie sich in den umfangreichen Krankenhäusern auf der Erde ereigneten, sie konnten aber große Schwierigkeiten mit sich bringen, wenn sie an Bord eines Raumschiffes eintraten.

Es war aber glücklicherweise nichts Besonderes vorgefallen. Mut Ang kehrte in die Bibliothek, in der sich jetzt niemand mehr aufhielt, und an das Violinklavier zurück. Es reizte ihn aber nicht mehr zu musizieren. Vielmehr hing er, die Hände unbeweglich auf die Tasten gelegt, seinen Gedanken nach.

Immer wieder zogen den Kommandanten des Weltraumschiffes die bei aller Fortgeschrittenheit der Menschheit nach wie vor ungelösten und doch so brennenden Fragen in ihren Bann: Was ist Glück? Was bedeutet die Zukunft für uns, und was mag sie uns noch bringen?

Es war dies seine vierte Reise in den Kosmos. Aber noch niemals bisher hatte es sich um einen so riesigen Sprung über Raum und Zeit hinweg gehandelt wie diesmal. Siebenhundert Jahre! Welch ungeheurer Zeitraum angesichts des raschen Entwicklungstempos der modernen Zeit, der unerhörten Zunahme von großartigen Leistungen und epochemachenden Erfindungen, des hohen Standes der Wissenschaft, den man auf der Erde bereits erreicht hatte! Wie verhältnismäßig unbedeutend erschien demgegenüber eine solche Zeitspanne, wenn man sie in die Frühzeit der Zivilisation verlegte. Damals war das Entwicklungsziel der Menschheit, ohne durch Forscherdrang oder durch die Notwendigkeit zu höheren Zielen getrieben zu werden, allein darauf gerichtet gewesen, dem Menschen weitere Ausbreitung zu ermöglichen und die großen, noch menschenleeren Gebiete auf seinem Planeten zu erschließen und zu besiedeln. In jener Epoche waren dem Begriff der Zeit noch keine Grenzen gesetzt, und alle Veränderungen in der menschlichen Gesellschaft gingen ganz langsam vor sich.

Viele Jahrhunderte waren vergangen, ohne sichtbare Spuren hinterlassen zu haben. Was bedeutete da schon ein Menschenleben, was waren hundert, was tausend Jahre? Beinahe mit einem Gefühl des Grauens verfolgte Mut Ang seine Gedankengänge weiter: Wie hätte es den Menschen der alten Welt zumute sein müssen, wenn sie damals hätten vorhersehen können, wie langsam sich der Prozeß der Umwandlung der menschlichen Gesellschaft vollziehen werde, und wenn ihnen zum Bewußtsein hätte kommen können, daß noch so viele Jahrhunderte hindurch die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, Ungerechtigkeit und Unordnung ihren Planeten beherrschen würden? Wollte man zum Beispiel den Sprung über die siebenhundert Jahre hinweg nach rückwärts machen, so sähe man sich im tausendjährigen China mitten in den mörderischen Kämpfen der verschiedenen Dynastien und Fürstenhäuser, und in Europa befände man sich in der Zeit der religiösen Nacht des Mittelalters, der Scheiterhaufen einer blindlings wütenden Inquisition und der Maßlosigkeit eines grausamen Obskurantismus.

Welche Veränderungen seit jener Zeit trotz der verhältnismäßig langsamen damaligen Entwicklung! Wie sollte man es da wagen können, von der Gegenwart mit ihrem so ungestümen Entwicklungstempo aus einen verwegenen Blick in die Zukunft werfen zu wollen! Mußte einem bei dem Sprung über sieben mit umwälzenden Veränderungen, Verbesserungen des Lebens und Erweiterung der Erkenntnisse vollgepackte Jahrhunderte hinweg nach vorwärts nicht der Kopf schwindlig werden vor brennendem Verlangen, einen Einblick in die zu erwartenden ungeheuren Umwandlungen zu gewinnen? Wenn aber der Ursprung dessen, was wir „Glück“ zu nennen pflegen, in der ständigen Bewegung, der Veränderung der Dinge und dem Fortschritt lag, wer konnte sich dann mit mehr Recht glücklich preisen als er selbst und seine Genossen? Und doch, so einfach war die Sache wiederum auch nicht! Zwiespältig war die menschliche Natur wie die den Menschen umgebende und durch ihn gestaltete Welt, Wohl war ihm der Drang zu ewiger Weiterentwicklung und zur Veränderung des Althergebrachten angeboren, und doch hing er an diesem mit allen Fasern seines Herzens, und er trauerte immer wieder der Vergangenheit oder, besser gesagt, dem Schönen und Angenehmen der Vergangenheit nach. Denn meist prägt sich nur das Schöne in der Erinnerung ein, und das hatte früher auch zu den Vorstellungen von der „guten alten Zeit“ geführt.

Mut Ang stand hinter seinem Instrument auf und dehnte den sehnigen Körper.

Ja, in den Geschichtsbüchern, da war alles so klar beschrieben, und alles war so interessant zu lesen. Was war es denn eigentlich, was einer mutigen Jugend an Bord eines Raumschiffes, das gerade zum Sprung in eine ferne Zukunft ansetzte, Schrecken und Grauen einzuflößen vermochte? War es etwa das Gefühl der Einsamkeit, war es die Abwesenheit von Nahestehenden, Freunden, Familienangehörigen? Wie oft schon hatte man darüber geschrieben und das Gefühl der Einsamkeit als ein Schreckgespenst ausgemalt, das dem Menschen gegenübertritt, sobald er sich der Unendlichkeit des Kosmos ausgeliefert sieht. Der Mensch im weiten All — dieses Problem hatte schon von jeher Anlaß zum Nachdenken gegeben, ebenso die Trennung von Verwandten und Bekannten. Wie konnte aber ein solcher Umstand eine derartige Wirkung auslösen, waren doch diese Verwandten nur eine geringe Anzahl von Personen, mit denen man oftmals bloß durch formale und lockere Bande verknüpft war. Und standen sich jetzt nicht alle Menschen gleich nahe, nachdem keine staatlichen Grenzen die einzelnen Völker voneinander schieden und keine konventionellen Sitten die wechselseitigen Beziehungen der auf der Erde lebenden Menschen bestimmten? Wir Leute von der „Tellur“ haben zwar alle, die uns auf der Erde teuer waren und uns nahestanden, verloren. Aber wir werden, wenn wir dereinst auf die Erde zurückkehren, Menschen vorfinden, die uns nicht weniger nahestehen werden als unsere jetzigen Verwandten, und diese Menschen werden in ihrem Denken klarer und fortgeschrittener, in ihren Empfindungen und Gefühlen zarter und edler sein als unsere Zeitgenossen, von denen wir uns jetzt für immer getrennt haben. — Ja, mit diesen Worten wird er, Mut Ang, der Kommandant des Weltraumschiffes, zu den jungen Mitgliedern seiner Besatzung sprechen müssen.

In der Kommandozentrale ging Tei Eron seiner Lieblingsbeschäftigung nach: Er stellte Zahlen und Werte zusammen, diesmal für die in einigen Stunden vorgesehene Kursänderung. Er hatte nur die unbedingt nötigen Lampen angeschaltet. Sie erhellten den großen, runden Raum nur schwach und ließen ihn beinahe gemütlich erscheinen. Der Erste Offizier summte ein einfaches Liedchen vor sich hin, während er mit der ständigen Überprüfung der Berechnungen beschäftigt war. Das Raumschiff erreichte nunmehr seine weiteste Entfernung von der Erde. Heute abend sollte die Umkehr erfolgen. Dabei mußte der Kohlenstoffstern, dem die ganze Reise gegolten hatte, umkreist werden. Sich ihm noch weiter zu nähern, wäre zu gefährlich gewesen.

Das unbestimmte Gefühl, es müsse jemand hinter ihn getreten sein, veranlaßte Tei Eron, sich umzudrehen. Hinter ihm stand sein Kommandant.

Mut Ang beugte sich über die Schulter des Ersten Offiziers und las an den Geräten die Endergebnisse der Berechnungen ab. Fragend blickte Tei Eron den Kommandanten an. Dieser nickte nur. Eine kaum bemerkbare Fingerbewegung des Ersten Offiziers — und durch das ganze Schiff ertönten Achtungssignale und die metallisch durchdringende Ankündigung: „Alles herhören!“

Mut Ang zog das Mikrophon zu sich heran. Er wußte, daß in diesem Augenblick in sämtlichen Räumen des Schiffes jeder verstummte und unwillkürlich das Gesicht dem nächsten der versteckt angebrachten Lautsprecher zuwandte.

„Alles herhören!“ forderte Mut Ang nochmals auf. „Das Schiff wird in einer Viertelstunde mit einer weiteren Bremsung beginnen. Außer den Wachhabenden müssen alle in ihren Kajüten liegen. Die Kursänderungs bewegung des Raumschiffes wird noch besonders angekündigt. Ende der Durchsage!“

Stunden später erhob sich der Kommandant, etwas steif, aus seinem tiefen Sessel. Nachdem er die bei jedem Bremsmanöver auftretenden Nackenund Kreuzschmerzen überwunden hatte, gab er bekannt, daß man später seinetwegen volle sechs Tage und Nächte schlafen könne, daß aber im Augenblick kein Besatzungsmitglied sein Gerät verlassen dürfe, da jetzt die letzte Gelegenheit zur Beobachtung des Kohlenstoffsternes sei.

Tei Eron blickte dem Kommandanten, der eben die Kommandozentrale verlassen hatte, gedankenvoll nach. Mit jeder Vervollkommnung steigerten sich Zuverlässigkeit und Leistungsfähigkeit der Weltraumschiffe. Man konnte schon kaum mehr einen Vergleich ziehen zwischen einem „Schiff“ von der Art der „Tellur“ und jenen auf den Meeren der Erde schwimmenden Badewannen, die vor langer, langer Zeit den Namen „Schiff“ erhalten hatten. Aber war dieses gewaltige und stolze Weltraumschiff in den unermeßlichen Räumen des Alls etwa mehr als die schaukelnden Wannen und Schalen auf den Meeren des heimatlichen Planeten? Es war dem Ersten Offizier bei diesem Gedanken eine gewisse Beruhigung, daß der Kommandant der „Tellur“ während des Flugänderungsmanövers wach sein werde. -

Tei Eron hätte beinahe vor freudiger Überraschung einen Luftsprung gemacht, als er plötzlich das heitere Lachen Mut Angs hörte. Vor einigen Tagen war nämlich die gesamte Mannschaft durch die unerwartete Mitteilung über eine Erkrankung des Kommandanten in arge Besorgnis versetzt worden. Von da an hatte seine Kajüte nur noch der Arzt betreten dürfen. Tei Eron hatte sich dadurch vor die schwierige Aufgabe gestellt gesehen, die bereits bis in die Einzelheiten festgelegte Wendung des Raumschiffes selbst durchzuführen.

Nun mußte die erste Pulsation des Rückfluges in Richtung Sonne eingeleitet werden. Der Erste Offizier hielt es deshalb für geboten, den Kommandanten in seiner Absonderung von der Außenwelt aufzusuchen — und er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Es stellte sich nämlich heraus, daß der Kommandant gar nicht krank war. Er hatte sich vielmehr, im Einverständnis mit dem Arzt, absichtlich von der Leitung des Raumschiffes ferngehalten, um Tei Eron zu zwingen, die Flugoperation ohne fremde Hilfe und in eigener Verantwortung durchzuführen. Der Erste Offizier hatte eigentlich nichts gegen diese Maßnahme des Kommandanten einzuwenden. Es war ihm nur nicht recht, und das sagte er auch dem Kommandanten, daß dieser durch die Mitteilung über seine angebliche Erkrankung der Besatzung einen nicht geringen Schrecken eingejagt hatte. Mut Ang rechtfertigte sich mit einem Scherzwort. Dann gab er seiner Meinung Ausdruck, daß an irgendeine Gefahr für das Raumschiff in der Leere des Kosmos im Augenblick nicht zu denken sei. Ein Irrtum oder ein Versagen der Geräte war ganz ausgeschlossen, da die vierfache Nachprüfung jedes Rechenwerkes es nicht zuließ, daß Unrichtigkeiten oder Ungenauigkeiten vorkamen. Auch Schwärme von Asteroiden oder Meteoriten, wie sie manchmal in der Nähe von Sternen vorkommen, konnten in einer Zone mit so hohem Strahlungsdruck, wie er in der Umgebung des Kohlenstoffsternes vorhanden gewesen war, nicht auftreten.

„Glauben Sie wirklich“, fragte Karil Rom den Ersten Offizier vorsichtig, als ihm dieser die Ansicht des Kommandanten mitteilte, „daß uns auf unserer ganzen Reise nun nichts Besonderes mehr begegnen wird?“

„Natürlich kann es unvorhergesehene Zwischenfälle wie überall, so auch im Kosmos geben. Aber nach den mathematischen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit ist damit kaum zu rechnen. Wir können fast sicher sein, daß wir hier, in diesem sternenarmen Winkel des Kosmos, auf nichts Neues und Unbekanntes stoßen werden. Wir werden auf der uns nun schon bekannten Flugroute direkt auf die Sonne zu, am Herz der Schlange vorüber, in Pulsation gehen.“ -

„Es ist doch sonderbar: Man empfindet weder Freude, noch hat man das Gefühl eines gewissen Stolzes über eine große Tat, die man vollbracht hat. Es ist eigentlich nichts vorhanden, was unseren über sieben Jahrhunderte hinweg reichenden Tod für die Erde rechtfertigen könnte“, meinte Karil tiefsinnig. „Natürlich weiß ich, daß wir Zehntausende von Beobachtungsergebnissen, Millionen von Berechnungen, Aufnahmen, Tagebüchern und so weiter mitbringen werden. Mit ihrer Hilfe wird man später auf der Erde viele Geheimnisse über die Zusammensetzung der Materie enträtseln können. Aber wie abstrakt ist das alles! Es sind doch nur Keime für die Zukunft, weiter nichts!“

„Wie viele Kämpfe, welche Anstrengungen und nicht selten den Tod haben in der Vergangenheit kühne Pioniere der Menschheit auf sich genommen“, erwiderte Tei Eron leidenschaftlich.

„Nun ja, der Mensch ist die einzige mit Vernunft ausgestattete Kraft im Kosmos, welche die spontane Entwicklung der Materie verwerten und sich zunutze machen kann. Aber wir Menschen sind Alleinstehende, unendlich Vereinsamte. Wir haben zwar unzweifelhafte Beweise für die Existenz vieler bewohnter Welten, aber noch niemals hat ein anderes denkendes Wesen seine Blicke mit denen der Erdmenschen gekreuzt. Es gibt eine Unzahl von Träumereien, Märchen, Büchern, Liedern, Bildern, in denen das gewaltige Ereignis einer Begegnung von Menschen mit Wesen des Alls vorausgeahnt wird — aber nichts von allem ist eingetroffen! Der große, kühne und lichte Traum der Menschheit, der sie seit jenen Tagen umfängt, da die religiöse Blindheit gerade erst von ihren Augen genommen war, hat sich bisher noch nicht erfüllt!“

„Sie sprechen von Blindheit“, mischte sich Mut Ang, der hinzugekommen war, in das Gespräch. „Wissen Sie, wie sich unsere Ahnen aus jüngster Vergangenheit zu einer Zeit, als schon das erste Raumschiff zum Flug in den Kosmos gestartet wurde, die Verwirklichung dieses ,großen Traumes‘ vorgestellt haben? Als ein kriegerisches Zusammenprallen, ein grausames Zerstören ihrer Raumschiffe und eine gegenseitige Vernichtung bei der ersten Begegnung!“

„Unfaßbar!“ riefen Karil Ram und Tei Eron entsetzt aus.

„Unsere zeitgenössischen Schriftsteller schreiben nicht gern über die finstere Endperiode des Kapitalismus“, entgegnete Mut Ang. „Es ist Ihnen ja aus dem Geschichtsunterricht in der Schule bekannt, daß die Menschheit damals einen äußerst kritischen Punkt in ihrer Entwicklung zu überwinden hatte.“

„O ja!“ stimmte Karil zu. „Das war zu der Zeit, als den Menschen bereits die Macht zur Beherrschung der Materie und des Kosmos in die Hand gegeben war, aber die Gesellschaftsordnung und die Bildung des gesellschaftlichen Bewußtseins mit den Erfolgen der Wissenschaft nicht Schritt gehalten hatten.“

„Fast haargenau formuliert! Sie sind ein guter Schüler gewesen, Karil! Aber wir wollen es einmal anders ausdrücken: Die kosmische Erkenntnis und die kosmische Macht waren in Widerspruch geraten zur primitiven Ideologie des individualistischen Privateigentums. Wohlergehen und Zukunft der ganzen Menschheit hingen damals eine Zeitlang an einem seidenen Faden. Es war die Zeit, als sich das Neue noch nicht durchgesetzt und sich die Menschheit noch nicht in der Form der klassenlosen Gesellschaft zu einer einzigen großen Familie zusammengeschlossen hatte. In der kapitalistisch eingestellten Hälfte der Welt war man damals noch blind für die neuen Wege und Ziele und betrachtete seine eigene Gesellschaftsordnung als unerschütterlich und unveränderlich, wie man auch die Unvermeidlichkeit von Kriegen und anderen Akten der Selbstvernichtung für alle Zukunft in Rechnung stellte.“

„Und da hat man von Zukunftsträumen gesprochen!“ Karil lächelte ironisch. „Wie kann man so etwas ,Träume‘ nennen?“

„Aber man hat es damals getan.“

„Vielleicht hat jede Zivilisation solche kritischen Situationen durchzumachen, wo immer sich auf Planeten fremder Sonnen menschenähnliche Wesen eine Gesellschaftsordnung gegeben haben“, bemerkte Tei Eron langsam und ließ einen flüchtigen Blick über die oberen Reihen der Zifferblätter der Armaturen gleiten. „Wir kennen nun schon zwei unbewohnte Planeten, die Wasser und eine Atmosphäre mit Sauerstoffgehalt besitzen, wo aber die Stürme nur über tote Sandwüsten und über unbefahrbare Meere hinwegbrausen. Unsere Raumschiffe haben Aufnahmen davon gemacht.“

„Nein“, Karil Ram schüttelte ungläubig den Kopf, „ich kann mir nicht denken, daß Wesen, die bereits die Weite des Weltalls und die Macht der Wissenschaft kennen, primitiv wie…“

„… wie Wilde urteilen und handeln könnten, die nur von Trieben beherrscht werden. Nun, die ältesten Gemeinwesen hatten sich spontan gebildet, ohne daß sich ihre Mitglieder vorher über die Zweckmäßigkeit einer Gesellschaftsordnung klar gewesen wären. Die bewußte Schaffung einer solchen Ordnung zeichnet erst spätere, höhere Stufen der Gesellschaft aus. Die menschliche Vernunft allein bestimmte die Denkweise des Menschen auch noch auf der primären Stufe der direkten oder mathematischen Logik, in der sich die Logik der Entwicklungsgesetze der Materie widerspiegelt, wie sie durch die unmittelbare Naturbeobachtung und das Experiment vom Menschen empfunden wird. Erst als die Menschheit historische Erfahrung gesammelt hatte, erkannte sie die geschichtliche Entwicklung der sie umgebenden Welt, und es entstand die dialektische Logik als ein höheres Stadium der Denkund Betrachtungs weise. Der Mensch lernte den in der Natur und im eigenen Ich zutage tretenden Dualismus erkennen. Er begriff, daß er, wie alles Individuelle, einerseits so winzig und unbedeutend sei, ein Augenblick in der Ewigkeit, ein Tröpfchen im Ozean, ein Fünkchen, beim leisesten Wind verlöschend — und andererseits doch so unermeßlich groß wie das All selbst, das er sich mit seinem Verstand und mit seinen Sinnen erschloß, über alle Weiten der Zeit und des Raumes hinweg.“

Der Kommandant des Raumschiffes schwieg und begann, mit seinen Gedanken beschäftigt, vor den Gefährten hin und her zu gehen. Auf deren Gesichtern spiegelte sich der tiefe Eindruck wider, den seine Worte auf sie gemacht hatten.

„In meiner Sammlung historischer Buchfilme befindet sich ein Exemplar“, fuhr Mut Ang schließlich fort, „das besonders charakteristisch für die damalige Epoche ist. Die Übertragung in unsere zeitgenössische Sprache ist nicht maschinell hergestellt worden, sie stammt vielmehr von Sanija Tschen, einem Historiker, der im vergangenen Jahrhundert gestorben ist. Das wollen wir uns einmal vorlesen lassen!“ über die begeisterte Zustimmung der jungen Leute, die ihre Ungeduld und ihren Wissensdurst erkennen ließ, mußte der Kommandant unwillkürlich lächeln. Dann verließ er den Raum durch die Tür, die in die Bugzelle führte, um die Erzählung zu holen.

„Nie und nimmer werde ich ein richtiger Kommandant werden“, seufzte Tei Eron niedergeschlagen. „Was Mut Ang alles weiß, kann unsereins unmöglich wissen.“

„Zu mir hat er aber einmal gesagt, daß er ein schlechter Kommandant sei, weil er sich durch seine vielseitigen Interessen zu stark zersplittere“, meinte Karil, indem er sich in den Sessel des diensthabenden Steuermanns fallen ließ.

Überrascht blickte Tei Eron nach dem Genossen. Beide schwiegen, nur das leise, nie verstummende Summen der Geräte schwirrte durch den Raum. Das riesige Schiff, das sich noch immer mit relativ geringer Geschwindigkeit bewegte, steuerte inzwischen vom Kohlenstoffstern weg auf ein kartenmäßig genau festgelegtes Gebiet des kosmischen Raumes zu. Tiefschwarz lag dieses Gebiet vor der „Tellur“. Nur wenige schwache Sternhaufen, die von weiten Milchstraßensystemen des Alls Kunde gaben, wurden von den Meßgeräten registriert.

Plötzlich geschah etwas Unerklärliches. Auf dem Leuchtschirm des großen Radars flammte ein Lichtpunkt auf und bewegte sich unstet hin und her. In demselben Augenblick war ein so schriller Ton zu hören, daß ihnen der Atem stockte.

Tei Eron gab, ohne auch nur eine Sekunde zu zaudern, das allgemeine Alarmsignal, durch das der Kommandant in die Kommandozentrale gerufen und alle anderen Besatzungsmitglieder angewiesen wurden, unverzüglich die Plätze einzunehmen, die ihnen für den Katastrophenfall zugewiesen waren.

Mut Ang stürzte augenblicklich in die Zentrale zurück und war mit zwei Sprüngen am Beobachtungspult. Der schwarze Spiegel des Radars, sonst unbeweglich und unergründlich wie das All selbst, war mit einemmal zum Leben erwacht. In ihm schwamm ein winziges Lichtkügelchen mit scharf abgegrenzten Rändern herum. Unruhig schaukelte es auf und nieder, geriet aber allmählich immer weiter nach rechts. Den Raumfahrern war es unerklärlich, weshalb die Maschinenautomaten, deren Aufgabe es war, dem Zusammenprall des Raumschiffes mit etwaigen Meteoriten vorzubeugen, nicht in Tätigkeit traten. Bedeutete das etwa, daß der Leuchtschirm des Radars gar keinen eigenen Suchstrahl reflektierte, sondern einen fremden? Das Raumschiff behielt seinen Kurs bei, das Lichtpünktchen flackerte jedoch weiter im rechten unteren Schirm quadrat. Wie ein Blitz durchzuckte der gleiche Gedanke alle drei Raumfahrer, ein Gedanke, der Mut Ang erblassen ließ und der bewirkte, daß sich Tei Eron fast die Lippen blutig biß und Karil Rams Finger sich schmerzhaft um die Pultkanten krampften.

Was war das, was ihnen dort entgegengeisterte und einen starken Radarstrahl auf sie richtete, genauso, wie die „Tellur“ den ihren hinausschleuderte in die kosmische Finsternis?

Sollte dieses winzige Pünktchen im All die Erfüllung ihrer heißesten Sehnsucht bringen? Oder würden auch sie bitter enttäuscht werden wie unzählige Raumfahrer vor ihnen, deren Hoffnung auf eine Begegnung im Kosmos jäh zerstört worden war? Der Kommandant wagte nicht, die Gedanken, die auf ihn einstürmten, auszusprechen. Aber schien es nicht fast so, als übertrage sich seine Unruhe auf jenes Unbekannte da vorn?

Das auf dem Schirm tanzende Irrlicht verlosch plötzlich, flammte jedoch binnen kurzem wieder auf, verlosch abermals und war einen Augenblick später doch wieder da. Bald wurde es den drei Männern in der Zentrale klar: Das Verschwinden und das Wiederaufflammen des Lichtscheins wiederholte sich in bestimmten Abständen, in Perioden von vierund zweimaligem Aufblitzen. Nur eine einzige Kraft im gesamten All war imstande, eine solche Erscheinung hervorzurufen: das Denkvermögen des Menschen oder menschenähnlicher Wesen.

Es war kein Zweifel mehr möglich: Ein Raumschiff flog ihnen entgegen. Hier, in dieser unermeßlichen Weite des kosmischen Raumes, in die noch niemals bisher ein Raumschiff der Erde gelangt war, konnte das nur ein Schiff aus einer anderen Welt sein, das von einem Planeten kam, der zu irgendeinem weit entfernten Stern gehörte.