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Tei Eron wies besonders auf die engstirnige Vorstellung vom Kosmos hin, die dieses literarische Machwerk erkennen ließ. Diese Beschränktheit in der Auffassung sei um so weniger zu verstehen, als der große Wissenschaftler Ziolkowski bereits mehrere Jahrzehnte vor der Abfassung der Erzählung die Menschheit darauf aufmerksam gemacht habe, daß der Kosmos in seinem Aufbau bedeutend komplizierter sei, als man gemeinhin angenommen habe.
„Ein Umstand ist bisher noch unerwähnt geblieben“, schaltete sich plötzlich der schweigsame Jaß Tin in das Gespräch ein. „Die Erzählung ist in englischer Sprache geschrieben worden. Alle Vornamen, Beinamen und humoristischen Redewendungen lassen den englischen Ursprung erkennen. Das ist ein Umstand, der nicht übersehen werden darf! Ich habe mich aus Liebhaberei mit Sprachforschung befaßt und besonders das Werden der ersten Weltsprache studiert. Das Englische war in der Vergangenheit eine der weitestverbreiteten Sprachen. Vielleicht kam es dem Schriftsteller darauf an, dem Leser seiner Zeit gleichsam einen Spiegel vorzuhalten und ihm dadurch die Augen zu öffnen für die Erkenntnis, daß der damalige blinde Glaube an die Unerschütterlichkeit beziehungsweise an die unbegrenzte Dauer der gerade bestehenden Gesellschaftsordnung ein Irrtum und sinnlos war. Die Langsamkeit, mit der sich beispielsweise in der antiken Welt die Sklavenhaltergesellschaft oder später die Epoche des Feudalismus entwickelte, und die erzwungene Langmut, mit der die Völker des Altertums ihre Unterdrückung ertrugen, wurden fälschlicherweise vielfach als ein Anzeichen der Stabilität überhaupt aller Formen der menschlichen gesellschaftlichen Beziehungen angesehen: der Sprachen, der Religionen und vor allem der letzten spontanen Gesellschaftsordnung, des Kapitalismus. Es gab viele, die glaubten, der gefährliche Zustand der gesellschaftlichen Ungleichheit gegen Ende des Kapitalismus könne sich niemals wieder ändern. Das Englische war bereits damals ein Überbleibsel aus vergangener Zeit, denn es enthält in Wirklichkeit zwei verschiedene Sprachen, eine Schriftund eine Lautsprache. Dadurch wird es ganz ungeeignet für unsere Übersetzungsmaschinen. Es ist erstaunlich, wie der Autor nicht begreifen konnte, daß sich eine Sprache um so mehr und um so schneller verändert, je rascher die Veränderung der menschlichen Beziehungen und der Vorstellungen von der Welt vor sich geht!
Die halbvergessene antike Sprache Sanskrit erwies sich als eine Sprache, die in ihrem Aufbau äußerst klar und streng logisch ist. Deshalb wurde sie zur Grundsprache für die Übersetzungsmaschinen gemacht. Es dauerte jedoch nicht lange, da hatte sich aus ihr die erste Weltsprache unseres Planeten herausgebildet. Allerdings hat sie seit damals noch viele Veränderungen durchgemacht. Auch sind die früheren menschlichen Vornamen nicht von Bestand gewesen, die vielfach auf religiöse Überlieferungen zurückgingen oder aus ganz fremden, teilweise bereits damals toten Sprachen stammten.“
„Jaß Tin hat eine sehr wichtige Bemerkung gemacht“, mischte sich Mut Ang jetzt in die Unterhaltung ein. „Schlimmer und gefährlicher als wissenschaftliche Unkenntnis oder eine unrichtige Methode sind Trägheit und das bewußte Festhalten an solchen Formen des gesellschaftlichen Aufbaus, die sich bereits in den Augen der Zeitgenossen offensichtlich nicht bewährt haben und deshalb ungerechtfertigt sind. Abgesehen von den verhältnismäßig seltenen Fällen einfacher Unwissenheit, fand sich die Bereitschaft zur Verteidigung solcher überholter Zustände in gewissen Schichten der Bevölkerung, denen es besser als der großen Mehrheit der Menschen ging und die auf Kosten der anderen lebten. Was bedeuteten schon für sie die ganze Menschheit, das Schicksal unseres Planeten, seine Energiereserven, die Gesundheit und das Wohlergehen seiner Bewohner?
Der unvernünftige Abbau der Bodenschätze, der Raubbau, der an den Wäldern getrieben wurde, die Erschöpfung des Fischreichtums der Flüsse und der Ertragsfähigkeit von Grund und Boden, die äußerst gefährlichen Versuche zur Schaffung verschiedener Arten mörderischer Atomwaffen — all das zusammengenommen war kennzeichnend für die Tätigkeit und die Weltanschauung jener, die fortwährend darum bemüht waren, daß ja alles Veraltete und längst überholte erhalten bleibe. Daß dadurch die Mehrheit der Menschen ständig litt und in ewiger Angst und Furcht lebte, kümmerte sie wenig. Besonders ein giftiges Unkraut war es damals, das sich entwickelt hatte und üppig emporschoß und das mit Schlagworten über angebliche ausschließliche Privilegien und die Überlegenheit einer Gruppe, Klasse oder Rasse von Menschen über andere alles neben sich zu verdrängen und eine Rechtfertigung für jegliche Arten von Gewalt, Mord und Krieg zu erbringen suchte — all das, was später unter der Bezeichnung ,Faschismus‘ zusammengefaßt worden ist.
Der unterdrückte Teil der Gesellschaft hat jedoch stets einen erbitterten Kampf gegen das Aufhalten der Weiterentwicklung geführt. Je stärker der Druck der bevorzugten Gruppe wurde, um so stärker wurde der Widerstand gegen sie und um so heftigere Formen nahm der Kampf an. übertragen Sie das auf den Kampf zwischen bevorrechteten und unterdrückten Ländern untereinander! Aus der Geschichte ist Ihnen der Kampf zwischen Völkern der neuen, der sozialistischen Gesellschaft und der alten, der kapitalistischen, zur Genüge bekannt. Sie werden jetzt die Ursache für die Entstehung der Kriegsideologie und der Propaganda einer angeblichen Unvermeidlichkeit von Kriegen, sei es nun auf unserem Planeten oder sogar im kosmischen Raum, begreifen. Hierin erblicke ich das Grundübel, die Wurzel alles Bösen, das Herz jener Schlange, die, wo immer man ihr begegnet, unbedingt zubeißen wird, weil sie eben ohne ihren giftigen Biß gar nicht existieren kann. Erinnern Sie sich noch, wie feindselig mit rötlichgelbem Licht jener Stern glühte, den wir passiert haben, als wir unserem Ziele zusteuerten?“
„Das Herz der Schlange!“ rief Taina aus.
„Das Herz der Schlange! Auch in der Literatur der Verteidiger der alten Gesellschaft, die die Theorie von der Unvermeidbarkeit der Kriege und der Unüberwindlichkeit des Kapitalismus verbreiteten, trat ihr Herz, das Herz eines giftigen, todbringenden Reptils, in Erscheinung.“
„Demzufolge sind unsere eigenen Befürchtungen noch ein Nachhall aus der alten Zeit“, sagte ernst und bedrückt Karil. „Und ich selbst bin wahrscheinlich der am meisten Anfällige von uns allen, denn ich habe tatsächlich noch Befürchtungen oder Zweifel, wie man das damals nannte.“
„Karil!“ rief Taina vorwurfsvoll aus.
Dieser aber fuhr unbeirrt fort:
„Der Kommandant hat uns die tödlichen Krisen der höheren Zivilisationen geschildert. Wir alle wissen von zugrunde gegangenen Planeten, auf denen alles Leben nur deshalb vernichtet worden ist, weil es die auf ihnen lebenden denkenden Wesen nicht fertiggebracht haben, die Atomkriegsgefahr zu bannen, sich nach wissenschaftlichen Gesetzen eine neue Gesellschaft aufzubauen, dem Vernichtungsdrang ein für allemal Einhalt zu gebieten und damit dem Herz der Schlange den Todesstoß zu versetzen! Wir wissen ferner, daß unser eigener Planet nur mit Mühe und Not einem ähnlichen Schicksal entgangen ist. Wäre nicht damals in Rußland der erste sozialistische Staat entstanden, womit der Anfang zu den großen Lebensveränderungen auf der Erde gemacht war, so hätte sicherlich der Faschismus einen gewaltigen Aufschwung erlebt und unser Planet wäre zum Schauplatz mörderischer Kriege mit nuklearen Vernichtungswaffen geworden. Wenn nun aber jene dort“ — der junge Astronavigator zeigte in die Richtung, aus der man das fremde Raumschiff erwartete — „diese gefährliche Klippe noch nicht umschifft haben sollten?“
„Das ist ausgeschlossen, Karil!“ antwortete Mut Ang gelassen. „Die Entstehung höherer Formen der Gesellschaft geht analog der Entstehung höherer Formen des Lebens vor sich. Der Mensch konnte nur unter verhältnismäßig stabilen, lang andauernden günstigen Natureinflüssen entstehen. Genauso ist eine höher entwickelte Form der Gesellschaft, deren Vertreter Raumschiffe bauen, mit ihnen in die unendlichen Weiten des Kosmos eindringen und somit sich diesen untertan machen konnten, nur denkbar, wenn vorher auf dem Heimatplaneten Ordnung geschafft wurde, die Lebensbedingungen gefestigt und selbstverständlich kapitalistische Kriegskatastrophen für immer beseitigt wurden. Nein, jene fremden Raumfahrer, mit denen wir nochmals zusammenzutreffen hoffen, haben gewiß den kritischen Punkt in ihrer Entwicklung bereits überwunden.“
„Ich habe den Eindruck, daß in der Geschichte der Zivilisationen der verschiedenen Planeten eine tiefe Weisheit verborgen liegt“, sagte Tei Eron mit vor Begeisterung leuchtenden Augen. „Die Menschheit kann sich den Kosmos nicht unterwerfen, solange sie nicht die höchste Lebensstufe erreicht hat, ein Leben ohne Kriege, erfüllt von einem hohen Verantwortungsbewußtsein jedes einzelnen Menschen gegenüber allen seinen Mitmenschen! Erst nachdem sie die höchste Stufe, die kommunistische Gesellschaft, erreicht hatte, besaß die Menschheit die Kraft, den Kosmos zu bezwingen.“
„Wir und unsere Weltraumschiffe sind die Hände einer Menschheit, die nach den Sternen greift“, sagte Mut Ang feierlich. „Und diese Hände sind rein, nicht blutbefleckt. Aber das kann nicht nur für uns gelten. Nicht mehr lange wird es dauern, und wir werden ebenso unbefleckte und machtvolle Hände schütteln können!“
Irgendwo da vorn, in einer Ferne von Millionen Kilometern, durchraste ein Weltraumschiff das Universum. Ein Planet irgendeines fremden, fernen Sternes war sein Heimatland. Und bald würde sich sein Kurs abermals mit dem des Erdraumschiffes kreuzen. Welch gewaltiger Augenblick stand den Menschen der Erde bevor! Zum erstenmal in deren Geschichte, die sich über Jahrmillionen erstreckte, sollten Abgesandte der Erde mit Wesen in Berührung kommen, die ebenfalls mit Recht Anspruch darauf erheben durften, „Menschen“ genannt zu werden! War es da ein Wunder, daß die Raumfahrer trotz aller Anstrengungen, ihre Erregung zu unterdrücken, in fieberhafter Unruhe waren? Mut Ang hielt es deshalb für angebracht, an alle Mitglieder der Besatzung eine Beruhigungsmedizin auszugeben. Er erteilte Swet Sim einen entsprechenden Auftrag, nachdem er vorher überschlagen hatte, wieviel Zeit etwa bis zum Zusammentreffen beider Raumschiffe vergehen würde. Manch einer der Raumschiffbesatzung war gegen eine solche Maßnahme und meinte, er brauche kein Beruhigungsmittel; Mut Ang aber antwortete jedem mit Bestimmtheit: „Es ist unsere Pflicht, bei einer Begegnung mit Menschen gleich uns in bester seelischer und körperlicher Verfassung zu sein. Eine gewaltige, höchst schwierige Aufgabe ist uns gestellt: Wir müssen lernen, jene Fremden zu verstehen, und wir müssen ihnen begreiflich machen, was wir ihnen über uns selbst zu sagen haben. Ihr Wissen in uns aufzunehmen und unser Wissen an sie abzugeben — das ist es, was diese Stunde von uns verlangt!“ Mit zusammengezogenen Augenbrauen sprach Mut Ang weiter: „Noch niemals in meinem ganzen Leben habe ich stärker als jetzt befürchtet, der Situation und dem Augenblick nicht gewachsen und somit nicht der richtige Mann am richtigen Platz zu sein!“ Die Erregung hatte das sonst so ruhige Antlitz des Kommandanten verändert, die Finger der fest zusammengepreßten Hände waren blutleer.
Diese Worte brachten auch dem letzten der Raumfahrer zum Bewußtsein, welche große Verantwortung das unerhörte Ereignis eines Treffens im Kosmos jedem von ihnen auferlegte. Widerspruchslos nahmen nunmehr alle die Tabletten ein und begaben sich in ihre Schlafräume.
Mut Ang schien zunächst nur Karil zurückhalten zu wollen, überlegte es sich aber anders, als sein Blick auf die kraftstrotzende Gestalt Tei Erans fiel, und lud mit einer kurzen Geste auch diesen ein, mit in die Kommandozentrale zu kommen. Dort ließ er sich mit einem Seufzer der Erschöpfung in einen Sessel fallen, senkte den Kopf und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
Tei und Karil verharrten in Stillschweigen; sie wollten den Kommandanten nicht stören. Das Raumschiff flog zur Zeit sehr langsam — natürlich mit kosmischem Maße gemessen. Die automatischen Steuerungsmaschinen hielten es genau auf dem sorgfältig berechneten Gegenkurs.
Mut Ang richtete sich plötzlich auf, und sein Antlitz zeigte ein halb heiteres, halb trauriges Lächeln.
„Komm, ferner Freund…“, sang er leise vor sich hin.
Teis Gesicht wurde um einen Schein finsterer, während er ununterbrochen in die stockfinstere Nacht des vorderen Radarschirms starrte. Das heitere Liedchen des Kommandanten verstimmte ihn, es erschien ihm in einem so ernsten Augenblick recht unpassend. Karil jedoch griff den Kehrreim auf und warf dem mürrischen Tei Eron einen verschmitzten Blick zu.
„Versuchen Sie doch einmal, unseren Radarstrahl etwas hin und her zu schwenken, Karil“, sagte Mut Ang, seinen Gesang jäh unterbrechend. „So etwa 2 Grad nach rechts und links, nach oben und unten.“
Tei schoß die Schamröte ins Gesicht. Ihm selbst war eine so einfache Maßnahme nicht eingefallen, aber dem Kommandanten hatte er in Gedanken Vorwürfe gemacht.
Karil leistete der Anweisung des Kommandanten Folge.
Tei Eron versank in tiefes Nachdenken. Träge wie ein Strom in flachem Gelände flossen seine Gedanken dahin, ohne irgendeine Gemütsbewegung in ihm hervorzurufen. Es kam ihm plötzlich zum Bewußtsein, daß ihn seit dem Abflug von der Erde das eigentümliche Gefühl einer gewissen Weltentfremdung nicht mehr verlassen hatte.
Ein solches Gefühl mochte dem Menschen im Urzustand des Lebens eigentümlich gewesen sein. Es war eine Empfindung völligen Losgelöstseins, des Freiseins von allen Verpflichtungen und allen Sorgen um die Zukunft. So oder ähnlich hatten wohl früher die Menschen in Zeiten großer Not, langer Kriege oder schwerer sozialer Erschütterungen empfunden, nachdem sie das Stadium der inneren Anteilnahme an den Ereignissen bereits überwunden hatten und sich willenlos dem Schicksal in die Arme warfen. Tei Eron hatte alles Vergangene, alle Erinnerungen an das, was er auf der Erde zurückgelassen hatte, von sich abgeschüttelt, und zwar für immer und unter Verzicht auf jede Möglichkeit des Widerrufs. Zwischen der Vergangenheit, von der er sich gelöst, und der Zukunft, der er sich noch nicht zugewandt hatte, war eine Kluft von Hunderten von Jahren. Jenseits dieser Kluft lag für ihn etwas gänzlich Neues, das keine Verbindung mehr zu seinem früheren Erdendasein hätte. Er hatte in dieser Hinsicht keine Pläne, Gefühle und Wünsche., Seine Aufgabe bestand darin, die Ausbeute der Weltraumreise, all das, was man dem Kosmos abgerungen hatte, auf die Erde zu bringen, wo man sehnsüchtig darauf wartete. Deshalb behagte es ihm wenig, daß jetzt die Reise durch ein Abenteuer mit Ungewissem Ausgang unterbrochen werden sollte, daß sich etwas ereignet hatte, wodurch die Erfüllung ihres eigentlichen Auftrags in den Hintergrund gedrängt wurde.
Ganz anders geartet waren die Gedanken Mut Angs während dieser Zeit des Wartens, die für ihn eine Zeit höchster Nervenanspannung war, wenn er sich das auch nicht anmerken ließ. Der Kommandant versuchte, sich das Leben auf dem ihnen entgegenfliegenden Raumschiff vorzustellen. Er malte sich im Geiste aus, wie wohl das fremde Schiff aussähe, wie seine Besatzung beschaffen sei, was für ein Leben an Bord herrsche. Und er war der festen Meinung, daß alles ganz ähnlich sein müsse wie bei ihnen, den Erdmenschen.
Plötzlich fühlte Mut Ang, der in Gedanken versunken auf den Fußboden starrte, an der jähen Bewegung seiner Gefährten, daß auf dem Leuchtschirm des Radars ein Lichtzeichen erschienen sein mußte. Er sah aber beim Aufblicken den leuchtenden Punkt schon nicht mehr, so schnell war dieser wieder verschwunden. Die Signalglocke hatte bei dem Aufleuchten kaum angeschlagen, so kurz war es gewesen. Die Raumfahrer sprangen auf und beugten sich weit über die Pulttische vor, in dem instinktiven Bestreben, dem Leuchtschirm möglichst nahe zu sein. Wenn es sich auch nur um das flüchtige Auftauchen eines Lichtpunktes gehandelt hatte — welche gewaltige Bedeutung war in diesem Aufblitzen enthalten! Jetzt stand eindeutig fest, was man bisher nur gehofft und sehnlich gewünscht hatte: Das fremde Raumschiff hatte wirklich gewendet und war zurückgekehrt. Die Unendlichkeit des Kosmos hatte es also nicht für immer verschlungen! Damit stand auch fest, daß das fremde Schiff von Wesen gesteuert wurde, die nicht weniger geschickt und erfahren in der interstellaren Raumschiffahrt waren als die Menschen der Erde; denn sie hatten es vermocht, den Kurs des Rückfluges zur ersten Begegnungsstelle ebenso exakt und rasch festzulegen wie sie selbst, die Erdmenschen. Jetzt aber waren die fremden Raumfahrer dabei, aus einer riesigen Entfernung die „Tellur“ mit ihrem Suchstrahl abzutasten. Zwei unfaßbar kleine Pünktchen, winziger als zwei Stecknadelkuppen auf dem Erdball, die sich in einer undurchdringlichen Finsternis verloren hatten, suchten einander und hatten sich gefunden! Und andererseits verbargen sich hinter diesen Pünktchen zwei gewaltige Welten, angefüllt mit ungeheuren Energien und riesigem Wissen, und beide Welten berührten sich in diesem Augenblick über die Lichtbündel ihrer Radarstrahlen hinweg.
Karil schwenkte den Strahl des Hauptradars von Teilstrich „488“ nach Teilstrich „375“ und wiederholte dies mehrfach. Auch das helle Pünktchen tauchte auf dem Leuchtschirm wieder auf, verschwand abermals, huschte erneut über den schwarzen Spiegel, plötzlich von einem abklingenden Pfeifsignal begleitet.
Mut Ang übernahm jetzt selbst die Bedienung des Radargerätes. Er begann damit, den Radarstrahl innerhalb des Anflugraumes des sich nähernden Raumschiffes eine gewaltige Spirale beschreiben zu lassen, die von der Peripherie des riesigen in den Raum gezeichneten Kreises nach innen verlief.
Die Fremden machten offensichtlich dieses Manöver nach. Nach längerem unruhigem Hin und Her blieb das Lichtpünktchen schließlich innerhalb des dritten Ringes des schwarzen Spiegels haften. Nur die zitternden Bewegungen beider Raumschiffe ließen es noch ein wenig herumtanzen. Die Signalglocke ertönte jetzt ununterbrochen, und zwar so laut, daß sie abgedämpft werden mußte. Es war kein Zweifel mehr: Auch der Radarstrahl der „Tellur“ war von den Suchgeräten des fremden Raumschiffes eingefangen worden, und beide Schiffe flogen nun direkt aufeinander zu, wobei sie sich in der Stunde um 400 000 Kilometer näherten.
Tei Eron entnahm der Rechenmaschine die von ihr ermittelten Ergebnisse und stellte fest, daß zwischen den beiden Raumschiffen eine Entfernung von ungefähr 3 Millionen Kilometern lag. Es würde also bei gleichbleibender Geschwindigkeit noch sieben Stunden bis zum Zusammentreffen der beiden Schiffe dauern. In einer Stunde konnte mit der Totalbremsung begonnen werden, wodurch die Begegnung noch einige Stunden hinausgeschoben werden würde, sofern das fremde Raumschiff ebenfalls zur Bremsung schritt und dabei mit ähnlichen Werten arbeitete. Sonst wäre es nicht ausgeschlossen, daß man abermals aneinander vorüberraste und die Begegnung wiederum in weite Ferne gerückt würde.
Einige Zeit später setzte das fremde Raumschiff weit kräftiger eis die „Tellur“ zur Geschwindigkeitsabbremsung an und wiederholte das Bremsmanöver nochmals, nachdem es die Verlangsamung des Fluges bei dem Erdschiff festgestellt hatte. In stark verminderter Geschwindigkeit kamen sich beide Schiffe näher und naher. Die Besatzung der „Tellur“ war jetzt geschlossen in der Kommandozentrale versammelt, und die Raumfahrer verfolgten in dem schwarzen Radarspiegel das Anwachsen des Lichtpünktchens zu einem leuchtenden Fleck.
Das waren die Radarstrahlen der „Tellur“, die auf den fremden Schiffskörper aufprallten, dort reflektiert wurden und zur Ausgangsstelle zurückkehrten. Der Fleck nahm nach und nach die Gestalt eines winzigen, von einer dicken Walze umgebenen Zylinders an — eine Form, die auch nicht entfernt an jene der „Tellur“ erinnerte. Nach noch weiterer Annäherung konnte man deutlich an den beiden Enden des Zylinders kuppelartige Auswölbungen erkennen.
Die glänzenden Umrisse wurden größer und größer, bis sie schließlich, nachdem sie den Rand der großen schwarzen Scheibe erreicht hatten, undeutlich wurden und zerflossen.
Nun gab Mut Ang mit fester Stimme seine Anweisung: „Alles die Plätze einnehmen! Endphase der Bremsung!“
Tief wurden die Menschen in die Sessel hineingepreßt, es wurde ihnen rot und schwarz vor Augen, kalter Schweiß bedeckte ihre Gesichter.
Der Flug der „Tellur“ hatte aufgehört. Ohne Eigenbewegung hing sie im luftleeren Raum, wo es kein „oben“ oder „unten“, kein „rechts“ oder „links“ gab, umgeben von der eisigen Nacht der kosmischen Unendlichkeit, über 100 Parsec von ihrem Heimatstern entfernt — der gelblich schimmernden Sonne! Sofort nachdem die Raumfahrer wieder zur Besinnung gekommen waren, schalteten sie die Leuchtschirme des direkten Sehfeldes und den riesigen Lichtstrahler ein, aber es war nichts zu sehen außer einem scharf abgegrenzten Nebelschimmer vor ihnen, ziemlich weit links von der Schiffsnase aus. Als der Strahler wieder ausgeschaltet war, schlug den Beobachtern aus dem Leuchtschirm plötzlich ein so starkes hellblaues Licht entgegen, daß ihnen jede Möglichkeit genommen war, irgend etwas zu erkennen.
„Das Polarisationsfilter auf 35 Grad stellen und ein Lichtwellenfilter einsetzen!“ ordnete Mut Ang an.
„Für Wellenlänge 620?“ erkundigte sich Tei Eron.
„Ja, das wird wahrscheinlich das geeignetste sein!“
Diese Anordnung brachte das stechende bläuliche Glänzen zum Verblassen. Dann aber ergoß sich von der „Tellur“ aus ein mächtiger orgngefarbener Lichtstrom in die Finsternis, wand sich suchend hin und her, erfaßte den Rand irgend etwas Körperhaften und fing schließlich das ganze fremde Raumschiff in sein leuchtendes Strahlenbündel ein.
Das einem fremden Stern zugehörige Raumschiff befand sich in einer Entfernung von nur wenigen Kilometern. Eine so große Annäherung machte sowohl den Erdals auch den fremden Astronavigatoren alle Ehre.
Plötzlich schoß aus dem fremden Schiff ein starker Strahl orangefarbenen Lichts von genau der gleichen Wellenlänge, wie es die „Tellur“ ausstrahlte, hervor. Die Fremden machten die Strahlenbündel im Raume sichtbar, eine Signalisationstechnik, die die Menschen von der Erde ebenfalls benutzten. Der Strahl erschien, verschwand, tauchte erneut auf und blieb dann stehen, wie mit einem riesigen Finger in Richtung auf einige unbekannte Sternbilder der Milchstraße weisend.
Mut Ang rieb sich mit der flachen Hand die Stirn, wie er es immer in Augenblicken angestrengtesten Nochdenkens zu tun pflegte.
„Wahrscheinlich ein Signal“, meinte Tei Eron vorsichtig.
„Ohne Zweifel. Ich glaube, es ist so zu deuten:,Bleibt am Ort, ich werde hinkommen. Wir wollen versuchen, Antwort zu geben.“
Das Erdraumschiff blendete seinen Scheinwerfer ab, schaltete das Filter auf Wellenlänge 430 um und glitt mit dem blauen Lichtstrahl längs des eigenen Schiffes bis zum Heck. Im gleichen Augenblick erlosch die Säule orangefarbenen Lichts auf dem fremden Schiff.