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»Nein. Aber noch bin ich mit meinem Latein nicht ganz am Ende. Morgen früh schweißen Singh und ich erst einmal den Riß im Rumpf. Wenn wir das Boot abgedichtet haben, sehen wir weiter. Vielleicht kann ich irgend etwas zusammenbasteln, damit die Ventile doch noch passen.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf Mikes Hand. »Tut es sehr weh?« »Nein«, log Mike - obwohl seine Hand mittlerweile klopfte und pochte, daß es ihm fast die Tränen in die Augen trieb. Trautmans Blick ließ erkennen, was er von Mikes Antwort hielt, aber er sagte nur: »Geh jetzt schlafen. Morgen wird es ein anstrengender Tag«, und wandte sich dann wieder der Preßluftflasche zu. Mike sah Singh und ihm noch einige Augenblicke lang zu, dann ging er zu seiner Kabine im untersten Deck der NAUTILUS zurück. Trotz aller Aufregung schlief er sofort ein.
Und träumte. Ganz anders als in einem normalen Schlaf war er sich in jeder Sekunde des Umstandes bewußt, zu träumen, und trotzdem war es ein Traum von beinahe unheimlicher Realität. Er befand sich nicht mehr in seiner Kabine auf der NAUTILUS, sondern inmitten eines gewaltigen, wogenden grünen Dschungels, wie er ihn noch nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte, weder in Wirklichkeit, noch auf einem Bild oder als Beschreibung in einem Buch. Bäume von schier unvorstellbarer Größe standen so dicht um ihn herum, daß sie eine undurchdringliche Barriere zu bilden schienen; wo es überhaupt noch ein Durchkommen gab, da wucherten dichtes Gestrüpp, dornige Büsche oder fremdartig aussehende Blumen. Die Bäume hatten eine seltsam geschuppte Rinde, und als er im Traum den Kopf hob und in den Himmel sah, erkannte er, daß es gar keine richtigen Bäume waren, viel
mehr eine Art gigantischer Farngewächse, wie es sie vor Millionen von Jahren auf der Erde gegeben hatte. Ihre riesigen Blätter vereinigten sich hoch über ihm zu einem Dach, das so dicht war, daß es das Sonnenlicht nicht ganz durchließ; auf dem Grund dieses Waldes herrschte ein dunkelgrünes, feuchtes Zwielicht, in dem es niemals wirklich hell wurde. Und nicht nur die Umgebung, in der er sich in diesem sonderbaren Nicht-Traum wiederfand, war anders als seine normale Welt - auch er war nicht mehr er selbst. Mike hatte keinerlei Kontrolle über seinen Traum-Körper, so daß es ihm nicht möglich war, an sich herabzublicken und sich selbst in Augenschein zu nehmen, aber das mußte er auch nicht, um zu begreifen, daß er sich nicht mehr in seinem Körper, ja, vermutlich nicht einmal mehr in dem eines Menschen befand. Alle Bewegungen waren auf unheimliche, mit menschlichen Worten einfach nicht zu beschreibende Weise neu und fremdartig, er sah, hörte, roch und schmeckte ungleich schärfer und deutlicher als zuvor, und anstelle von Logik und Vernunft empfand er eine verwirrende Vielfalt anderer Gefühle, die er auch als Mensch dann und wann kennengelernt hatte, aber niemals auch nur annähernd in dieser Heftigkeit: Hunger, Jagdfieber, Furcht, Mißtrauen - alles Instinkte eines Raubtieres, und dazu andere, völlig fremde Gefühle, für die er einfach keine Worte fand, weit sie ihn in seinem bisherigen Leben als Mensch vollkommen unbekannt gewesen waren. Mike war nicht in der Lage, die Bewegungen oder Taten seines »Gastkörpers« irgendwie zu beeinflussen, so daß ihm nichts anderes übrig blieb, als sich in die
Rolle des passiven Beobachters zu fügen. Immerhin begriff er, daß das Geschöpf, dem er in diesem Traum als Wirt diente, ein Vierbeiner war, und dazu offensichtlich ein Räuber, denn ein paarmal kam eine schwarze, krallenbewehrte Pfote in seinen Gesichtskreis, und zwei- oder dreimal stoben kleinere Tiere in Panik vor ihm davon. Er verfolgte sie, und obwohl er sie nicht einholte und jedesmal leer ausging, war es ein ungemein aufregendes Gefühl, das Mike bald so in seinen Bann zog, daß er schließlich beinahe vergaß, nur zu träumen. Ganz plötzlich war er es, der hinter einem kleinen, an ein Eichhörnchen mit kahlem Schwanz erinnerndes Wesen herjagte, nicht mehr sein erträumter Wirt, und er spürte das Jagdfieber und den bohrenden Hunger so heftig, als wären es tatsächlich seine Gefühle, nicht die eines erträumten Geschöpfes in einer erträumten Welt. Seine Beute drohte zu entkommen und rannte mit ungemein behenden Sprüngen an einem Baumstamm empor, aber Mike folgte ihr mit ebensolcher Leichtigkeit. Er spürte, wie sich seine Krallen in die Rinde des Farnbaumes gruben, während sein schlanker, muskulöser Körper sich zum entscheidenden Sprung spannte, und -
Jemand schlug ihm so heftig ins Gesicht, daß Mike schreiend hochfuhr und schützend die Arme vor das Gesicht riß. Im allerersten Moment sah er nur Licht und Schatten, die einen sinnverwirrenden Tanz um ihn aufführten. Er glaubte zu stürzen. Wenn er den Halt am Baumstamm verlor und fiel, würde er -
Welcher Baumstamm?
Mike wachte gewissermaßen zum zweiten Mal auf, als ihm klarwurde, daß er nicht mehr in der erträumten Welt des Farndschungels war, sondern keuchend und am ganzen Leib naß vor Schweiß aufrecht in seinem Bett saß. Und vor ihm befand sich auch kein kleines, struppiges Eichhörnchen, sondern Singh, der ihn voller Sorge ansah und schon mit etwas mehr als sanfter Gewalt seine Handgelenke festhielt.
»Ist alles in Ordnung mit Euch, Herr?« fragte er. Mike nickte und nahm die Arme herunter, als Singh endlich seine Handgelenke losließ. Erst dann spürte er das Brennen auf seinem Gesicht. Ein um Verzeihung heischender Ausdruck erschien in Singhs Augen, als Mike die rechte Hand auf seine Wange legte. »Du hast mich schon wieder geschlagen«, sagte Mike vorwurfsvoll. »Ich wußte mir keinen anderen Rat«, antwortete Singh mit einer Stimme, der jegliches Bedauern fehlte. »Ihr habt geschrien und um Euch geschlagen. Hattet Ihr einen schlechten Traum?« »Ich... glaube ja«, sagte Mike zögernd. Ein kurzes, eisiges Frösteln lief über seinen Rücken. Im Traum war er als gewaltiges Raubtier durch einen Dschungel gestreift, der ihm völlig normal vorgekommen war, während er ihm aus der Erinnerung heraus jetzt ebenso bizarr und unwirklich erschien. Es gelang Mike nur mit Mühe, sich noch an einige Details zu erinnern, obwohl der Traum so real gewesen war. Aber wie es oft mit Träumen ist, die Bilder verblaßten rasch, nachdem er einmal erwacht war. Singh sah ihn weiter mit großer Besorgnis an. »Was ist los mit Euch?« erkundigte er sich besorgt. »Ihr seht schrecklich aus -mit Verlaub gesagt.« Er streckte den Arm aus und legte ihm die Handfläche auf die Stirn. »Kein Wunder. Ihr habt hohes Fieber. Eure Stirn glüht ja fast.« »Das ist nichts«, antwortete Mike. »Ich werde Chinin aus der Bordapotheke holen«, sagte Singh, aber Mike hielt ihn mit einer fast erschrocke
nen Handbewegung zurück. Er brauchte keine Medikamente. Es war seltsam -er wußte nicht, was ihm fehlte, aber er wußte mit absoluter Gewißheit, daßMedikamentedagegen nicht helfen würden.
»Ich habe mich wahrscheinlich überanstrengt«, sagte er. »Es war alles etwas viel.« Singh ließ sich nicht anmerken, was er von seiner Antwort hielt. Allerdings tat er auch jetzt wieder, was Mike mittlerweile schon von ihm gewöhnt war; wenn Singh glaubte, sein Herr und Schützling wäre in Gefahr oder hätte sich zuviel zugemutet, dann ignorierte er Mikes Befehle kurzerhand. Obwohl Singh darauf bestand, ihn mitHerranzureden und ihn zu behandeln, als wäre er Mikes Sklave und Leibeigener, nicht der Mann, der ihm schon ein paarmal das Leben gerettet hatte und ohne den sie alle nicht hier wären, besaß er auch ein unübertroffenes Talent darin, Mikes Wünsche gegebenenfalls einfach nicht zur Kenntnis zu nehmen. »Ich werde etwas holen, was das Fieber senkt«, erklärte er. Noch bevor Mike etwas sagen konnte, verließ er die Kabine. Mikes Blick fiel auf seine rechte Hand. Die Bißwunde, die ihm der Kater zugefügt hatte, hatte sich weiter gerötet und war noch mehr angeschwollen. Das Blut pochte in seiner Hand. Der Biß hatte sich entzündet.
Und wahrscheinlich war das auch der Grund für sein
Fieber und den daraus resultierenden Alptraum.
Wennes ein Alptraum gewesen war.
Mike fühlte sich immer verwirrter. Er konnte sich jetzt kaum noch an Einzelheiten entsinnen, aber je mehr sich seine Erinnerungen verwischten, desto unheimlicher kam ihm sein Traum vor. Er hatte niemals etwas erlebt, was auch nur annähernd so sonderbar gewesen war. Allerdings hatte er auch niemals zuvor eine jahrtausendealte Kuppel auf dem Meeresgrund gefunden, in der ein totes Mädchen lag, das von einem schwarzen Angorakater bewacht wurde ... Wahrscheinlich war das die Erklärung. Zusammen
mit dem Fieber, das die Entzündung in seiner Hand ausgelöst hatte, mußten die Ereignisse des zurückliegenden Tages seine Phantasie ja dazu anregen, Purzelbäume zu schlagen. Singh kehrte zurück. Er hielt ein Glas in der rechten Hand und gab Mike gar nicht erst die Chance, sich zu widersetzen, sondern flößte ihm fast gewaltsam ein paar Schlucke eines bitteren Trunks ein. Mike schluckte die Brühe tapfer hinunter, konnte aber nicht verhindern, daß sich seine Lippen angeekelt verzogen, als Singh das Glas endlich zurücknahm. »Es wird Euch helfen«, sagte Singh. Er lächelte flüchtig. »Ihr wißt ja -alles was wirklich schlecht schmeckt, ist auch gesund.« Behutsam stellte er das Glas auf den Boden, drückte Mike mit sanfter Gewalt auf das Bett zurück und deckte ihn zu, als wäre er ein kleines Kind. »Schlaft jetzt, Herr«, sagte er. »Ich werde Trautman und den anderen sagen, daß sie Euch nicht wecken sollen.« »Das kommt überhaupt nicht in Frage«, protestierte Mike. »Ich werde -« »- niemandem eine Hilfe sein, wenn Ihr Euch überanstrengt und zusammenbrecht«, fiel ihm Singh ins Wort. »Vielleicht sogar draußen im Meer oder in der Kuppel. Schlaft Euch gründlich aus, und vielleicht ist das Fieber dann schon von selbst verschwunden.« Mike wollte ihm seine entzündete Hand zeigen, doch
irgend etwas in ihm sträubte sich. Im Gegenteil: Fast gegen seinen Willen hielt er die Hand sorgsam unter der Bettdecke versteckt. Er wußte nicht warum, aber etwas sagte ihm, daß es besser war, wenn Singh die Wunde nicht zu Gesicht bekam. »Soll ich hierbleiben?« erkundigte sich Singh. Mike schüttelte den Kopf. Plötzlich war er wieder müde; furchtbar müde. Er fragte sich, was wohl in dem Glas gewesen war, dessen Inhalt Singh ihm eingeflößt hatte, aber selbst dieser Gedanke entglitt ihm sofort wieder. Er wollte nur noch schlafen. »Das ... ist nicht nötig«, murmelte er. Und nur wenige Augenblicke später war er bereits wieder eingeschlafen. Dieses Mal träumte er nicht.
Singh machte seine Drohung wahr und weckte ihn nicht. Und obwohl Mikes erster Gedanke nach dem Aufwachen Verärgerung darüber war, empfand er auch zugleich tiefe Dankbarkeit, denn er fühlte sich tatsächlich ausgeruht und wohl wie schon lange nicht mehr. Entweder der Schlaf oder Singhs Mittel hatte das Fieber besiegt. Seine Hand tat noch immer ein wenig weh, doch als er sie betrachtete, stellte er fest, daß die Schwellung deutlich zurückgegangen war. Er mußte tatsächlich sehr viel länger als die anderen geschlafen haben, denn als er seine Kabine verließ und in den Salon hinaufschlurfte, fand er Singh und seine Freunde zusammen an dem großen Tisch am Aussichtsfenster sitzen und essen. Sein erster Blick ging nach draußen, aber die schwache Hoffnung, daß sich auch die Katastrophe von gestern als Teil des Alptraumes der vergangenen Nacht erweisen mochte, erfüllte sich nicht. Vor dem Fenster herrschte noch immer absolute Dunkelheit. Mike vertrieb den Gedanken mit Mühe. Der Raum war so behaglich mit Plüsch ausgestattet, daß man glatt hätte vergessen können, sich an Bord eines Unterseebootes zu befinden, wären nicht in seinem hinteren Drittel das große Steuerruder und die beiden Instrumentenpulte gewesen. Es gab Bücherregale, sogar eine Bar, eine Chaiselongue, und mehrere bequeme Ledersessel gruppierten sich um einen Tisch.
In einem der Sessel saß Trautman. Sein ohnehin hageres Gesicht war eingefallen, und unter seinen Augen lagen dunkle Schatten. Er sah erschöpft aus, als hätte er die ganze Nacht durchgearbeitet. Die anderen empfingen Mike mit großem Hallo und einigen spöttischen Bemerkungen über seine Verspätung, und als Mike einen Blick Singhs auffing, wurde ihm klar, daß der Sikh nichts über die Ereignisse der vergangenen Nacht erzählt hatte. Er war ihm sehr dankbar dafür. So ließ er den gutmütigen Spott der anderen über sich ergehen, nahm auf dem einzigen freigebliebenen Stuhl Platz und begann mit großem Appetit zu essen. Er fühlte sich nicht nur ausgeruht und frisch, sondern auch so hungrig, als wäre er in der vergangenen Nacht tatsächlich stundenlang durch einen Urwald gerannt, statt fiebergeplagt in seinem Bett zu liegen. Natürlich drängten alle darauf, sofort in die Taucheranzüge zu steigen und zur Kuppel hinüberzugehen, aber Trautman versetzte ihrem Unternehmungsgeist erneut einen ordentlichen Dämpfer. Zuallererst, so erklärte er, müßten Singh und er sich um den Riß in der NAUTILUS kümmern, während den anderen die Aufgabe zufiel, das Schiff nach weiteren, bis jetzt vielleicht verborgen gebliebenen Schäden zu untersuchen. Selbst wenn es ihnen gelang, die NAUTILUS wieder flottzumachen, war doch die Gefahr damit keineswegs vorüber. Zweihundert Meter über ihren Köpfen befand sich noch immer die LEOPOLD, die vermutlich mit geladenen Kanonen nur darauf wartete, daß sie auftauchten. Natürlich war die Enttäuschung groß, aber bis auf Ben, der schon aus Prinzip immer dagegen war - ganz egal, wogegen -, sahen schließlich alle ein, daß Trautman recht hatte. Während Trautman und der Inder wieder in ihre Tau
cheranzüge stiegen und das Schiff, schwerbeladen mit Werkzeug und allen möglichen Materialien, die sie zur Reparatur der NAUTILUS benötigten, verließen, machten sich die Jungen daran, die NAUTILUS vom Bug bis zum Heck zu untersuchen. Und es zeigte sich, daß Trautmans Befürchtungen nur zu begründet gewesen waren: Sie fanden Dutzende von Schäden, keiner groß oder wirklich gefährlich, die in ihrer Summe jedoch die Manövrierfähigkeit des Schiffes erheblich einschränkten. Einiges konnten sie sofort reparieren, einiges nicht, bei manchen Gerätschaften, die sie zerstört oder aus ihren Halterungen gerissen vorfanden, wußten sie nicht einmal, wozu sie dienten, so daß Trautman nicht einmal in den Pausen, in denen Singh und er immer wieder zurückkehren mußten, um den Sauerstoffvorrat ihrer Anzüge aufzufüllen, zur Ruhe kam, sondern ständig damit beschäftigt war, sich das eine oder andere anzusehen, Anweisungen zu erteilen oder auch selbst Hand anzulegen. So verging fast der gesamte Tag. Erst am späten Nachmittag, als Singh und Trautman endgültig an Bord zurückkamen, brachten sie die erste gute Nachricht des Tages mit. Trautman erklärte, daß es ihnen gelungen sei, das Leck notdürftig abzudichten. Eine spätere, fachmännische Reparatur sei zwar unumgänglich, im Augenblick jedoch würde das Provisorium durchaus halten, so daß sie den zweiten Teil der Reparaturarbeiten in Angriff nehmen konnten: die Aufgabe, das eingedrungene Wasser aus dem Schiff zu entfernen. Wie nicht anders zu erwarten, war dies für die Jungen natürlich ein Stichwort, erneut auf einen Ausflug zur Unterwasserkuppel zu drängen. Mike rechnete fest damit, daß Trautman ihnen dieses Ansinnen auch jetzt wieder abschlagen würde. Singh und er hatten den ganzen Tag schwer gearbeitet und sahen beide
sehr müde aus. Aber erstaunlicherweise ging Trautman diesmaldarauf ein. »Also gut«, sagte er, »Mike und ich gehen noch einmal zur Kuppel und treffen alle Vorbereitungen. Ich habe eine Idee, wie wir die Preßluftflaschen herüberbringen können. Singh -« Er wandte sich mit einer müden Geste an den Inder. »kann inzwischen weiter versuchen, ein passendes Ventil zusammenzubasteln. Ich hoffe, es klappt. Wenn nicht, müssen wir mindestens zwei Tage lang pumpen.« Seine Worte lösten ein allgemeines Protestgeschrei aus. Keiner der anderen sah ein, warum ausgerechnet Mike und nichteran diesem zweiten Ausflug zur Kuppel teilnehmen sollte. »Weil Mike schon einmal dort war und den Weg kennt«, antwortete Trautman. »Außerdem ist es nicht ganz einfach, sich in den Unterwasseranzügen zu bewegen. Ich habe jetzt weder Zeit noch Lust, es euch zu zeigen. Der Weg ist gefährlich.« »Ich kann damit umgehen«, murrte Ben. »Sie haben es mir selbst gezeigt.« Trautmann seufzte, aber er widersprach nicht. Zum einen sagte Ben die Wahrheit: Trautman hatte ihm schon vor Wochen gezeigt, wie man sich in den Unterwasseranzügen fortbewegte. Und zum anderen war Ben von ihnen allen mit Abstand der Kräftigste. Sie würden Hilfe brauchen können, um mit den zentnerschweren Flaschen zu Rande zu kommen. »Also gut«, sagte er schließlich entschieden und stand auf. »Aber nur du. Die anderen können Singh helfen.« Die anderen hörten nicht auf zu protestieren, aber Trautman ließ sich auf keine weitere Diskussion ein. Sie verließen den Salon und gingen nach unten, betraten jedoch nicht sofort die Tauchkammer, sondern zuerst den dahinterliegenden Geräteraum, dessen Wän
de so mit Regalen, Kisten und Schränken vollgestopft waren, daß man sich zu dritt kaum darin bewegen konnte. Trautman suchte eine ganze Weile leise vor
sich hin murrend in dem Durcheinander herum, das der Zusammenstoß mit der LEOPOLD auch hier hinterlassen hatte, und förderte schließlich eine gewaltige Kabelrolle zutage, die er ächzend in die Tauchkammer hinübertrug, ohne auf Mikes und Bens fragende Blicke zu reagieren. Als nächstes brachte er ein grobmaschiges Netz und eine Anzahl großer, luftdichter Säcke in die Schleuse, so daß der verbleibende Platz für ihn und die beiden Jungen kaum noch auszureichen schien. Schließlich schleppte er noch einen Eimer schwarzer Teerfarbe und einen Pinsel herein, und Mike platzte endlich mit seinen Fragen heraus. Trautman deutete mit einer Kopfbewegung auf die Seilrolle, während er bereits begann, in den Taucheranzug zu steigen. »Das wird unser Ariadnefaden«, sagte er. »Wir spannen ein Seil zwischen der NAUTILUS und der Kuppel. Wenn wir uns daran festhalten, können wir uns nicht verirren.« »Wieso verirren?« fragte Ben. »Es ist hier so dunkel, daß es tödlich sein könnte, vom rechten Weg abzukommen«, antwortete Trautman. Das sah Mike zwar ein, aber er erwiderte trotzdem: »Warum benutzen wir nicht einen Scheinwerfer?« »Warum lassen wir nicht gleich eine Boje steigen und hängen einen Zettel für Winterfeld daran?« gab Trautman gereizt zurück. »Wir müssen sehr vorsichtig sein. Ich verstehe ohnehin nicht, wieso sie noch nicht heruntergekommen sind. Wenn sie uns entdecken, sind wir verloren.« »Vielleicht glaubt Winterfeld, daß die NAUTILUS gesunken ist«, vermutete Ben. »Kaum«, antwortete Trautman. »Ich kenne Winterfeld zwar nicht persönlich, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß er so leichtsinnig ist. Ich an seiner Stelle würde jedenfalls nicht eher ruhen, bis ich mich mit eigenen Augen davon überzeugt hätte, daß das Schiffwirklichzerstört ist.« Er war damit fertig, den schweren Anzug anzulegen, und half nun Mike und Ben, in ihre Monturen zu steigen, bevor er die Handschuhe überstreifte und den Helm aufsetzte. Wenig später hatten sie die NAUTILUS durch die Schleuse im Boden verlassen und befanden sich wieder auf dem Weg zur Kuppel. Sie brauchten sehr viel länger als das erste Mal. Trautman hatte ein Ende des Kabels an der NAUTI-LUS befestigt und rollte es Stück für Stück hinter sich ab, aber das Netz und die großen Säcke, die sich wie schlaffe Segel in der Strömung bewegten und sie immer wieder von den Füßen zu reißen drohten, behinderten sie zusätzlich. Und Mike brannte vor Ungeduld, das Mädchen, und vor allem den Kater, wiederzusehen, daß ihm der Weg doppelt so lang vorkam. Zuerst luden sie ihre Last außerhalb der Kuppel ab, und Trautman beschwerte das Ende des Seiles mit einem Stein, damit es nicht von der Strömung erfaßt und davongetragen wurde, ehe sie die Schleuse betraten. Die uralte Automatik arbeitete zuverlässig wie am gestrigen Tag, kaum daß sie die äußere Tür hinter sich geschlossen hatten, und wenige Augenblicke später traten sie hintereinander in die Maschinenhalle hinein und nahmen die Helme ab. Ben riß Mund und Augen auf, als er all die Apparate und technischen Vorrichtungen erblickte. »Das ist ... nicht zu fassen«, flüsterte er. »Staunen könnt ihr später«, sagte Trautman. »Wir haben viel zu tun.« Er deutete zur anderen Seite der Halle. »Die Flaschen befinden sich hinter der letzten Tür auf der linken Seite. Schafft sie hierher. Sobald ich fertig bin, komme ich nach.« Er nahm den Eimer mit der schwarzen Teerfarbe auf, den er als einziges mit hereingebracht hatte, und trollte sich - um genau das zu tun, was Mike gestern vorgeschlagen hatte: das Fenster schwarz anzumalen, durch das der verräterische Lichtschein nach draußen fiel. Manchmal waren die einfachsten Lösungen eben noch immer die besten. Auch Mike und Ben setzten sich in Bewegung - allerdings nicht, um zu tun, was Trautman ihnen gesagt hatte. Statt dessen steuerten sie die Kammer mit dem Mädchen an, denn selbstverständlich brannte Ben darauf, den gläsernen Sarg zu sehen. Ein schwarzes, struppiges Etwas kam ihnen entgegen und begrüßte sie mit einem fröhlichen Miauen, und Ben riß zum zweiten Mal die Augen auf, während sich Mike hinhockte, um den Kater zu begrüßen. Das Tier rieb schnurrend seinen Kopf an Mikes Hand, so daß auch noch der letzte Rest von Zorn in ihm dahinschmolz. Außerdem tat seine Hand sowieso kaum noch weh. »So was!« flüsterte Ben. »Das Vieh gibt's ja wirklich!« Der Kater stellte die Ohren auf und sah zu Ben hoch, als hätte er genau verstanden, daß die Rede von ihm war. »Was hast du denn erwartet?« fragte Mike. »Daß wir alle drei gemeinsam Halluzinationen hatten?« »Immerhin ist das hier nicht unbedingt ein Platz, an dem man eine Katze erwartet«, brummte Ben. Dann runzelte er die Stirn. »Ich frage mich, wie sie hierhergekommen ist. Und wovon sie lebt.« Er zog einen Handschuh aus, ließ sich neben Mike in die Hocke sinken und streckte die Hand nach dem Kater aus. Das Tier fauchte, schlug blitzschnell mit der Pfote zu und machte einen Satz zur Seite. Ben zog sei
ne Hand mit einem Schrei wieder zurück und sprang auf. Drei dünne, blutige Kratzer waren plötzlich auf seinem Handrücken. »Verdammtes Mistvieh!« schimpfte Ben. »Ich kann Katzen ohnehin nicht leiden.« »Wahrscheinlich spürt er das«, antwortete Mike. Er hatte Mühe, ein schadenfrohes Grinsen zu unterdrücken-zumal der Kater sich schon wieder beruhigt hatte und schnurrend um seine Beine strich.
»Wo ist denn jetzt dein fabelhaftes Dornröschen?« maulte Ben. Mike deutete auf die Tür, vor der sie stehengeblieben waren, und trat als erster hindurch. Der Kater eilte mit steil aufgestelltem Schwanz voraus, war mit einem eleganten Satz auf der Oberseite des gläsernen Sarges und schnurrte so laut, daß es sich wie ein kleiner Elektromotor anhörte. »Erstaunlich«, murmelte Ben. »Ich möchte wissen, wer sie hierhergebracht hat. Und wie lange sie schon so daliegt.« Er näherte sich dem Sarg. Der Kater hielt in seinem ruhelosen Hin und Her inne und fauchte, und Ben blieb mitten im Schritt stehen. »Das Vieh ist ja gemeingefährlich«, sagte er. »Wir sollten es Beißer taufen.« »Sein Name ist Astaroth«, sagte Mike. Ben blinzelte. »Wie?« »Astaroth«, wiederholte Mike. »Sein Name ist Astaroth.« »Ach?« Ben verzog spöttisch die Lippen. »Hat er dir das gesagt?« »Richtig«, antwortete Mike. Ben lachte und ging vor
sichtig weiter, aber Mike blieb völlig verdattert stehen. Was Ben für einen Scherz halten mochte, war keiner. Der Name war ihm nicht einfach so eingefallen. Er hatte ihn ganz plötzlich gewußt, so deutlich,
als hätte ihm jemandgesagt,wie der Kater hieß. Es war fast unheimlich. Ben hatte mittlerweile den Sarg erreicht, hütete sich aber angesichts der drohend gefletschten Zähne Astaroths, ihm zu nahe zu kommen. »Ganz hübsch«, sagte er, nachdem er das Mädchen eine Weile prüfend gemustert hatte. »Aber nicht mein Typ.« Auch Mike trat näher, strich dem Kater gedankenverloren über den Kopf und sah auf das Mädchen herab. »Sie ist -« »Sie ist was?« fragte Ben, als Mike verstummte. Er drehte sich zu ihm herum und blickte ihn fragend an. Mike hörte ihn nicht. Er starrte das Mädchen ungläubig an. Seine Gedanken drehten sich wild im Kreis. »Was ist los mit dir?« fragte Ben. »Sie ... sie hat sich bewegt!« stammelte Mike. Er deutete auf das Mädchen. »Sie muß noch am Leben sein!« Ben sah eine Weile konzentriert auf das Mädchen herab. »Du spinnst«, sagte er schließlich. »Sie atmet nicht mal. Wie kann sie sich da bewegt haben.« Aber Mike war vollkommen sicher. Gestern waren die Hände des Mädchens auf der Brust gefaltet gewesen. Jetzt war ihr linker Arm heruntergerutscht und lag lang ausgestreckt neben ihrem Körper. »Trautman!« schrie er. »Kommen Sie her! Schnell!« Ben blickte ihn kopfschüttelnd an, und einen Augenblick später kam Trautman herein, so schnell es der schwere Taucheranzug zuließ. In seiner rechten Hand lag eine Pistole. Mike hatte nicht einmal bemerkt, daß er die Waffe mitgenommen hatte. »Was ist geschehen?« fragte Trautman alarmiert. Mike wollte antworten, aber Ben kam ihm zuvor. »Mike glaubt, daß Dornröschen aufgewacht ist«, erklärte er mit einem hämischen Grinsen. »Siehatsich bewegt«, sagte Mike.
Bens Grinsen wurde noch breiter. »Klar doch«, sagte er. »Und außerdem hat ihm der Kater gerade seinen Namen verraten.« Er tippte sich bezeichnend an die Schläfe, und Mike schenkte ihm den giftigsten Blick, zu dem er überhaupt fähig war. »Warum gehst du nicht ein bißchen vor die Tür und ärgerst die Fische?« fragte er. »Aber laß deinen Helm hier, damit -« »Schluß!« sagte Trautman scharf. Er steckte seine Waffe ein, bedachte Mike und Ben hintereinander mit einem mahnenden Blick und trat schließlich selbst an den Glassarg heran. Der Kater fauchte drohend. »Passen Sie auf«, sagte Mike. »Ich glaube, er bewacht das Mädchen.« »Stimmt«, pflichtete ihm Ben bei. »In Wirklichkeit ist er nämlich ein verzauberter Löwe oder war es ein Haifisch?« Wäre der schwere Anzug nicht gewesen, Mike hätte ihm jetzt vors Schienbein getreten. »Sie hat sich bewegt«, beharrte er, an Trautman gewandt, der schweigend auf das Mädchen herabsah. »Sehen Sie sich ihre Hand an. Sie lag gestern anders da.« »Ich bin ... nicht sicher«, sagte Trautman zögernd. »Aber ich!« antwortete Mike. Er war plötzlich so aufgeregt, daß er kaum noch stillstehen konnte. »Wissen Sie, was das bedeutet, Trautman? Sie lebt! Sie ... sie ist nicht tot, sondern schläft nur!« »Sie atmet nicht«, sagte Trautman, aber Mike fegte seine Worte mit einer Handbewegung zur Seite. »Vielleicht atmet sie nur ganz wenig«, setzte er dagegen. »Vielleicht... vielleicht schläft sie ganz tief!« »Klar«, sagte Ben spöttisch. »Und das seit zweitausend Jahren, wie?« »Und warum nicht?« gab Mike zurück. »Vielleicht haben wir uns getäuscht! Möglicherweise ist das hier
gar kein Grab. Wer weiß -vielleicht dienen all diese komplizierten Maschinen dort draußen nur dem einenZweck, sie am Leben zu erhalten!« In das spöttische Grinsen auf Bens Zügen mischte sich Überraschung, dann ein sehr nachdenklicher Ausdruck. »Du meinst ...« »Daß dein Vergleich mit Dornröschen gar nicht einmal so falsch ist«, sagte Mike. Er wandte sich an Trautman. »Wir müssen sie mitnehmen!« Trautman stand schweigend da und blickte das bewegungslos daliegende Mädchen an, dann drehte er sich langsam herum, sah Mike an und fragte: »Warum?« »Nun, weil ... weil...« Mike wußte keine Antwort. »Aber wir können sie doch nicht einfach hierlassen«, sagte nun auch Ben. »Wenn sie wirklich lebt, dann -«»Wennsie noch lebt«, unterbrach ihn Trautman. »Erstens ist es nur eine Theorie. Zweitens wüßten wir gar nicht, wie wir sie aufwecken sollten.« Er deutete auf Mike. »Nehmen wir an, Mikes Theorie wäre richtig, und diese ganze Maschinerie dort draußen wäre tatsächlich nur dazu da, dieses Mädchen am Leben zu erhalten -und das seit Jahrhunderten, wenn nicht noch länger! -, glaubst du vielleicht, dann könnte man einfach einen Schalter umlegen und sie damit aufwecken?« Er schüttelte den Kopf. »Sehr viel wahrscheinlicher ist, daß wir das Mädchen damit umbringen. Und selbst, wenn es uns gelänge -bist du sicher, daß sie das überhaupt will?« Mike sah ihn betroffen an. »Wie ... meinen Sie das?« »So, wie ich es sage«, antwortete Trautman. »Wenn du recht hast und all diese Maschinen tatsächlich nur diesem einen Zweck dienen, dann haben sie sie bestimmt nicht aus einer Laune heraus gebaut, sondern mit einem guten Grund. Wer gibt uns das Recht, das Mädchen einfach aufzuwecken?«
»Winterfeld wird sich diese Frage nicht stellen, wenn er sie findet«, grollte Ben. »Da bin ich nicht einmal sicher«, antwortete Trautman. »Außerdem werden wir alles tun, damit er sie nicht findet.« Er hob die Hand zu einer besänftigenden Geste. »Im Moment können wir sowieso nichts machen. Selbst wenn wir sie mitnehmen wollten - zu allererst einmal müssen wir die NAUTILUS wieder flottbekommen. Oder sollen wir sie aufwecken, nur damit sie vielleicht zusammen mit uns untergeht?« Mike widersprach nicht mehr. Trautman hatte recht aber das änderte nichts daran, daß ihn der Gedanke, das Mädchen einfach hierzulassen, sehr traurig machte. »Und Astaroth?« fragte er. »Der Kater?« Trautman zuckte die Achseln. »Wir reden darüber, sobald wir die NAUTILUS repariert haben - und über alles andere auch. Einverstanden?« Was blieb ihnen schon anderes übrig? Mit einem letzten bedauernden Blick auf das schlafende Mädchen verließ Mike die Kammer und ging zusammen mit Ben und Trautman in den Lagerraum, in dem die Preßluftflaschen untergebrachtwaren.
Die nächsten beiden Stunden waren so mit Arbeit angefüllt, daß Mike das geheimnisvolle Mädchen und seine Aufregung beinahe vergessen hatte. In dem Lagerraum befanden sich an die fünfzig der großen, schweren Stahlflaschen, und Trautman schätzte, daß sie mindestens die Hälfte davon brauchen würden, um die NAUTILUS wieder vom Meeresboden zu heben. Allein der Gedanke, zwanzig oder gar dreißig der Stahlflaschen bis zur NAUTILUS hinüberschleppen zu sollen, ließ es Mike heiß und kalt den Rücken herunterlaufen. Aber nun zeigte sich, daß Trautman eine gute Idee gehabt hatte.
Mit vereinten Kräften rollten sie ein halbes Dutzend Flaschen zur Luftschleuse hin, bevor sie wieder in ihre Anzüge stiegen und die Kuppel verließen. Der Kater folgte ihnen dabei auf Schritt und Tritt, so daß sie ihn am Schluß fast gewaltsam zurückdrängen mußten, damit er ihnen nicht in die Schleusenkammer folgte, wo er zweifellos ertrunken wäre. Draußen vor der Schleuse rollte Trautman fünf der Flaschen auf das mitgebrachte Netz und opferte den Inhalt der sechsten dafür, die Luftsäcke aufzublasen, die sie an den vier Ecken des Netzes befestigt hatten. Wie Bojen stiegen sie in die Höhe und hoben das Netz samt seiner Last an, so daß sie das Gewicht der Preßluftflaschen kaum noch fühlten, als sie sich schließlich aufden Rückweg zur NAUTILUSmachten. Auf diese Weise transportierten sie insgesamt zwanzig Flaschen zum U-Boot, was natürlich mehrere Stunden in Anspruch nahm und trotz allem eine sehr kraftraubende Arbeit war. Die Proteste der anderen, nicht mit zur Kuppel gehen zu dürfen, verstummten allmählich, als sie sahen, wie sich Ben und Mike damit abmühten, die schweren Flaschen in die Tauchkammer der NAUTILUS zu hieven. Als sie schließlich zum fünften Mal in die Kuppel zurückkehrten, erklärte Trautman, daß es jetzt genug sei. Noch diese eine Ladung, und sie hatten ausreichend Preßluft auf die NAUTILUS hinübergeschafft, um sie zur Not sogar mit dem eingedrungenen Wasser an Bord an die Wasseroberfläche zu bekommen. Mike ging noch einmal in die Kammer mit dem schlafenden Mädchen zurück, um sie ein letztes Mal zu betrachten. Er sah ein, daß Trautman vollkommen recht hatte - sie konnten das Mädchen nicht mitnehmen, und vermutlich durften sie es auch gar nicht. Aber der Gedanke, sie einfach zurückzulassen, bedrückte
ihn sehr. Er hatte dieses Mädchen gestern zum ersten Mal gesehen, und trotzdem erfüllte ihn ihre Nähe mit einem so vertrauten Gefühl, als kenne er sie schon sein Leben lang. Der Kater saß die ganze Zeit über neben ihm, betrachtete ihn aus seinem bernsteingelben Auge und schien dann und wann zustimmend zu nicken, als verstehe und teile er seine Trauer. »Wir sollten jetzt gehen«, hörte Mike Trautman sagen. Ben und er waren unbemerkt hinter Mike getreten. Beide sahen sehr erschöpft aus, und ganz plötzlich fühlte sich auch Mike müde und ausgelaugt. »Wir schlafen uns gründlich aus und beraten morgen früh, was zu tun ist.« Trautman fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht, und Mike erinnerte sich daran, wie müde Trautman schon am Morgen ausgesehen hatte. Mike wollte antworten, aber in diesem Moment ging ein dröhnender, lang nachhallender Schlag durch die Kuppel, und alle fuhren erschrocken zusammen. »Das ist die Schleuse«, stieß Ben hervor. »Irgend jemand kommt!« Einen Moment lang sahen sie sich betroffen an, dann fuhren sie wie auf ein gemeinsames Kommando hin herum und begaben sich in die große Halle zurück, aber sie kamen zu spät. Vor ihren Augen begann sich die stählerne Tür der Schleusenkammer zu öffnen, und sie fanden gerade noch Zeit, sich hinter einem großen Maschinenblock zu verstecken, als vier Personen hintereinander aus der Schleuse traten. Sie trugen Taucheranzüge, die aus Gummimaterial bestanden und die Mike schon einmal gesehen hatte. »Deutsche«, zischte Ben leise. »Das sind Winterfelds Leute.« Die Schleuse wurde wieder geschlossen und öffnete sich kurz darauf erneut. Drei weitere Taucher traten
daraus hervor. Die Männer nahmen ihre Helme ab und holten unter den Anzügen Pistolen hervor. Mißtrauisch, aber auch mit unübersehbarem Staunen begannen sie die Halle zu durchsuchen, wobei sie dem Versteck der beiden Jungen und Trautmans mehr als einmal bedrohlich nahe kamen. Schließlich blieben zwei der Soldaten an der Schleuse stehen, während die anderen auf die Tür zugingen, hinter der sich die Kammer mit dem Glassarg befand. »Keine Chance, unbemerkt an ihnen vorbeizukommen«, flüsterte Ben. »Wir müssen sie ablenken.« Er sah Trautman an. »Haben Sie Ihre Pistole mit?« »Bist du verrückt?« fragte Trautman. »Sie sind zu siebt - und wir haben eine einzige Pistole. Wir hätten keine Chance.« Er runzelte besorgt die Stirn. »Wir müssen sie irgendwie ablenken. Wenn es uns gelingt, in die Schleuse zu kommen, können wir wenigstens die NAUTILUS warnen.« »Falls sie nicht draußen auf uns warten«, sagte Ben. »Oder die NAUTILUS bereits gekapert haben.« Mike blickte ihn finster an. »Du hast eine wirklich herzerfrischende Art, einem Mut zu machen«, sagte er. »Ich bin nur realistisch«, verteidigte sich Ben. Mittlerweile hatten zwei der deutschen Soldaten die Kammer erreicht. Mike hörte, wie sie sich aufgeregt in ihrer Muttersprache unterhielten, dann erklang eine Reihe heller, metallischer Laute und plötzlich ein Kreischen und Fauchen, das Mike hinter seiner Deckung erschrocken zusammenfahren ließ. Eine Sekunde später taumelte einer der deutschen Marinesoldaten rücklings aus der Tür. An seinem Gesicht hatte sich ein schwarzer Dämon festgekrallt, der fauchend und zischend mit den Klauen nach ihm schlug. Nur mit Hilfe zweier seiner Kameraden gelang es dem Mann, den Kater davonzuschleudern.
Astaroth gebärdete sich wie toll. Kaum war er auf dem Boden gelandet, sprang er mit zwei gewaltigen Sätzen an einem anderen Soldaten hoch und begann ihm ebenfalls das Gesicht zu zerkratzen. Vor lauter Zorn und Wut hatte sich der Kater fast auf das Doppelte seiner Größe aufgeplustert. Auch diesem Mann gelang es, ihn von sich zu schleudern, und diesmal reagierten die anderen sofort. Drei von ihnen schossen auf das Tier. Es gelang Astaroth, zweien der Schüsse auszuweichen, doch der dritte traf. Mit einem kläglichen Miauen brach er zusammen, kroch aber trotz seiner Verletzung erneut auf die Männer zu. Einer der Deutschen versetzte ihm einen Tritt, der ihn hilflos davonschlittern ließ. Der Anblick ließ in Mike eine Sicherung durchbrennen. Bevor Ben oder Trautman ihn daran hindern konnten, sprang er auf und stürmte los. Er stieß einen der Soldaten kurzerhand aus dem Weg, packte den Kater und hob ihn auf. Die Männer waren viel zu überrascht, um sofort zu reagieren. Mike tauchte unter den Armen eines Soldaten hindurch, versetzte einem weiteren einen Stoß, der
ihn die Balance verlieren und schwer auf dem Boden landen ließ, und sprang erschrocken zur Seite, als hinter ihm ein Schuß fiel. Die Kugel schlug Funken aus dem Stein vor ihm. Ein zweiter Schuß fiel, dann ein
dritter und vierter -und dann erscholl ein scharfer Befehl, und die Männer stellten das Feuer wieder ein. Den verwundeten Kater an sich gedrückt, rannte Mike im Zickzack auf Trautman und Ben zu, die sich
mittlerweile der Luftschleuse genähert hatten. Jetzt
erwies sich seine selbstmörderische Rettungsaktion
als vorteilhaft. Die beiden Posten an der Schleuse wa
ren so sehr auf ihn konzentriert, daß sie Trautman
und Ben erst bemerkten, als es zu spät war.
Ben folgte Mikes Beispiel und rammte einem der beiden kurzerhand die Schulter in den Leib, so daß dieser stürzte und wie ein auf den Rücken gefallener Käfer liegenblieb. Trautman versetzte dem zweiten einen Faustschlag, der ihn mit blutiger Nase auf die Knie herabsinken ließ. Beinahe gleichzeitig versetzte er Ben einen Stoß, der ihn in die offenstehende Luftschleuse hineinstolpern ließ. Und dann tat er etwas, was Mike nicht verstand: Die deutschen Taucher hatten ihre Helme an der Wand neben der Schleusenkammer aufgereiht. Trautman sprang darauf zu - und trat der Reihe nach die gläsernen Sichtfenster der Helme ein. Nur einen einzigen ließ er unbeschädigt, nahm ihn auf und klemmte ihn unter den linken Arm. »Beeil dich!« schrie Ben. Mike rannte, so schnell er nur konnte, jeden Moment darauf gefaßt, daß wieder auf ihn geschossen wurde. Aber der einzige, der plötzlich seine Waffe hob und das Feuer eröffnete, war Trautman. Rasch hintereinander gab er drei, vier Schüsse aus seiner Pistole ab, die die deutschen Marinesoldaten hastig in Deckung springen ließen. Mit einem Satz warf sich Mike durch die Tür der Schleusenkammer und fuhr herum. Trautman feuerte seine beiden letzten Patronen ab, und jetzt war Mike ziemlich sicher, daß er gar nicht treffen wollte, denn die Kugeln schlugen haarscharf vor den Füßen der Männer in den Boden und trieben sie wieder in Deckung zurück. Einen Augenblick später schlug die Schleusentür mit einem dumpfen Knall zu; sie waren in Sicherheit. Die Frage war nur, wie lange. »Bist du völlig wahnsinnig geworden?« keuchte Ben. »Um ein Haar hätten sie uns alle umgebracht - und das alles nur wegen dieses ... dieses Mistviehs!« Mike sah auf den Kater herunter. Astaroth hing fast
reglos in seinen Armen, nur ab und zu stieß er ein klägliches Maunzen aus. »Ich konnte ihn doch nicht liegenlassen!« sagte Mike. »Konntest du nicht, so?« fragte Ben hämisch. »Aber das Vieh wird sowieso sterben, oder hast du zufällig einen passenden Taucheranzug für die Mieze dabei?« Mike starrte ihn an. Ein eisiger Schrecken durchfuhr ihn. Die Schleusenkammer begann sich bereits mit Wasser zu füllen. Der Kater würde ertrinken! »Setzt eure Helme auf!« befahl Trautman. »Schnell. Und seid auf der Hut. Möglicherweise warten draußen noch mehr auf uns!« Er stülpte seinen eigenen Helm über, half Mike und Ben, die ihren aufzusetzen und sicher zu verriegeln, und nahm Mike dann den Kater aus den Händen. Das Wasser sprudelte immer schneller in die Kammer und reichte ihnen jetzt schon bis an die Brust. Astaroth maunzte kläglich, versuchte aber nicht, sich zu wehren - nicht einmal, als Trautman ihn ziemlich unsanft im Nacken ergriff und in die Höhe hob. Vor Mikes staunenden Augen schob er ihn in den Helm, den er aus der Halle mitgebracht hatte. Und endlich begriff Mike, was Trautman vorhatte: Die in dem Helm vorhandene Luftblase mochte reichen, den Kater am Leben zu erhalten, bis sie wieder an Bord der NAUTI-LUS waren. Es war eine verzweifelt geringe Chance aber die einzige, die das Tier hatte. Die Kammer war mittlerweile vollends geflutet, und die äußere Tür begann sich zu öffnen. Trautman reichte den Helm mit dem Kater darin vorsichtig an Mike weiter, wobei er sorgsam darauf achtete, ihn gerade zu halten, damit die Luft nicht entwich. Kaum hatte Mike ihn an sich genommen, da hatte sich die äußere Tür auch schon geöffnet, und sie traten nacheinander ins Freie.
Trautmans Befürchtung, auf einen weiteren Soldaten zu treffen, bewahrheitete sich nicht. Nur wenige Meter neben der Kuppel hing eine gewaltige, stählerne Konstruktion, aus deren Fenstern weißes Licht drang
- die Taucherglocke, mit der die Marinesoldaten heruntergekommen waren. Sie fühlten sich völlig sicher, denn sie waren alle in die Unterwasserkuppel gegangen, ohne einen Wächter zurückzulassen. Zugleich aber erschreckte Mike der Anblick zutiefst, denn er bewies, daß Winterfelds Leute mittlerweile nicht nur gelernt hatten, mit der Taucherglocke umzugehen, sondern auch ziemlich genau wußten, wo die Unterseekuppel lag. Daß die Taucherglocke genau hier heruntergegangen war, konnte kein Zufall sein.
Trautman ging, dicht gefolgt von den beiden Jungen, zu der Stelle hinüber, an der er das Seil befestigt hatte, löste es und begann sich daran entlangzuhangeln. Mike sah ein paarmal über die Schulter zurück, aber weder bei der Schleuse noch bei Arronax' Taucherglocke rührte sich etwas. Trotzdem bewegten sie sich so schnell weiter, wie es die schweren Taucheranzüge zuließen. Das Unglück geschah, als sie die NAUTILUS fast erreicht hatten. Mike achtete nur einen winzigen Moment nicht darauf, wohin er trat und glitt prompt auf einem Stein aus, der im weichen Schlamm auf dem Meeresgrund verborgen gewesen war. Er fand sein Gleichgewicht im letzten Moment wieder, aber der Helm mit dem Kater rutschte aus seinen Händen und fiel zu Boden. Astaroth glitt mit einer fast eleganten Bewegung heraus, eingehüllt in einen Perlenvorhang aus glitzernden Luftblasen, in dem seine kostbare Atemluft nach oben stieg, Mike versuchte sofort nach ihm zu greifen, aber Astaroth schlüpfte geschickt wie ein Fisch zwischen seinen Fingern hindurch. Für eine Katze schwamm er nicht nur erstaun
lich gut, fand Mike, sondern schien auch wunderbarerweise Gefallen an dem nassen Element zu finden, denn er bewegte sich mit offenkundigem Vergnügen vor Mike im Wasser hin und her, so daß es dem Jungen erst beim dritten oder vierten Versuch überhaupt gelang, ihn zu fassen. Mit verzweifelter Hast stolperte er auf die NAUTILUS zu. Ben und Trautman, die das Unglück mit angesehen hatten, machten ihm Platz, damit er das Schiff noch erreichte, bevor der Kater ertrank. Als er den halben Weg zur Tauchkammer hinter sich gebracht hatte, begann Astaroth in seinen Händen zu zappeln, Mike vermochte ihn kaum noch zu halten. Der Kater kratzte und biß wie wild um sich. Mike versuchte noch schneller zu gehen, näherte sich der Tauchkammer -und stolperte zum zweiten Mal. Diesmal vermochte er seinen Sturz nicht mehr rechtzeitig abzufangen. Er fiel, ließ den Kater los und stürzte schwer in den schlammigen Grund. Der Anzug bewahrte ihn vor einer Verletzung, aber er verhinderte auch, daß Mike sich aus eigener Kraft wieder aufrichtete. Erst Ben und Trautman zusammen gelang es, ihn wieder auf die Füße zu stellen. Mikes erster Blick galt dem Kater. Er war fest überzeugt, Astaroth sterbend oder bereits tot vorzufinden. Das genaue Gegenteil war der Fall. Astaroth tollte wie ein junger Fischotter zwischen Trautman und Ben herum. Mike konnte die Gesichter der beiden hinter den spiegelnden Scheiben ihrer Helme nicht erkennen, aber ihre Armbewegungen machten ihm klar, daß sie das, was sie sahen, genauso verblüffte wie Mike. Es war einfach unglaublich. Aber unglaublich oder nicht -es dauerte noch fast fünf Minuten, bis Mike, Ben und Trautman wieder an Bord der NAUTILUS waren. Und die ganze Zeit über
sprang Astaroth höchst vergnügt zwischen ihnen im Wasser herum.
»Wie geht es ihm?« fragte Mike und sah mit bangem Gefühl auf das schwarze Fellbündel auf dem Tisch hinab. Im Wasser hatte sich Astaroth so unbefangen und natürlich bewegt, als wäre dies sein eigentliches Element, aber das hatte sich nach der Rückkehr an Bord der NAUTILUS schlagartig geändert. Er hatte sich geschüttelt und dem direkt neben ihm stehenden Ben, der sich gerade aus seinem Taucheranzug geschält hatte, eine unfreiwillige Dusche verpaßt - dann war er zusammengebrochen. Naß und verwundet, wie er war, bot er ein Bild des Jammers. Sein vorher so dichtes, langes Fell klebte strähnig an seinem Körper, der in Wirklichkeit nicht viel größer als der einer etwas zu groß gewordenen Ratte war. Singh hatte die Wunde an seiner Flanke untersucht. Nun richtete er sich auf und lächelte Mike beruhigend zu. »Macht Euch keine Sorgen«, sagte er. »Es ist nur ein Streifschuß. Ich werde ihm einen Verband anlegen, und in ein paar Tagen müßte es ihm wieder gutgehen. Das Tier ist im Moment nur geschwächt. Es hat ziemlich viel Blut verloren.« Er griff nach einer Rolle Verbandmull und begann damit, Astaroth einzuwickeln, als wollte er ihn in eine ägyptische Mumie verwandeln. Singh neigte manchmal dazu, zu übertreiben; vor allem, wenn er glaubte, jemandem helfen zu können. »Er ist im Wasser geschwommen, sagt Ihr?« Mike nickte. »Wie ein Fisch. Und er schien sich dabei auch genauso wohl zu fühlen. Er war mindestens fünf Minuten unter Wasser.« »Das ist ... schwer zu glauben«, sagte Singh zögernd. »Womit ich natürlich nicht sagen will, daß ich Euch nicht glaube.«