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- aber es war fast so, als könnte er unter Wasser atmen. Das ist doch unmöglich, oder?« »Ich weiß allmählich selbst nicht mehr, was möglich ist und was nicht«, seufzte Singh. »So wenig, wie wir wissen, wie er in die Kuppel gekommen ist und dort die lange Zeit überlebt hat«, murmelte Mike. »Oder wovon er sich ernährt hat. Ich habe nichts Eßbares in der Kuppel entdeckt.« Singh verknotete den Verband und vergewisserte sich pedantisch von seinem korrekten Sitz. Astaroth hatte jetzt tatsächlich eine gewisseÄhnlichkeit mit einer ägyptischen Katzenmumie. Der Kater streckte sich, als wollte er den Sitz des Verbandes prüfen, rollte sich auf den Rücken und schnüffelte daran, dann sprang er mit einem etwas schiefen Satz vom Tisch und begann, den Salon der NAUTILUS zu erkunden. Er war noch ziemlich wackelig auf den Beinen -aber wenn man bedachte, daß es noch nicht einmal eine halbe Stunde her war, seit er vor Mikes Augen angeschossen worden war, dann hatte er sich bereits erstaunlich gut erholt. Mike beobachtete Astaroth noch einige Sekunden, dann ging er zu Trautman hinüber, der wieder im Kapitänssessel Platz genommen hatte und abwechselnd seine Instrumente und das große Aussichtsfenster betrachtete. Mike konnte auf keinem davon irgendwelche Besonderheiten entdecken: Hinter dem Fenster herrschte noch immer Schwärze, und die Funktion der meisten Geräte war ihm nach wie vor rätselhaft. Da Trautman vorgehabt hatte, die NAUTILUS zu versenken, hatte er sich die Mühe gespart, den Jungen jedes Detail zu erklären.
»Eine verdammt clevere Idee, das mit den Helmen«, sagte Mike grinsend zu Trautman. Trautman nahm das Kompliment an, ohne eine Miene zu verziehen. »Winterfeld wird andere Leute herunterschicken, wenn die erste Mannschaft nicht zurückkommt«, sagte er. »Die werden dann sicher nach uns suchen.« »Woher wußten Sie eigentlich, daß sie nicht auf uns schießen würden?« fragte Ben. »Ich verstehe ein paar Brocken Deutsch«, antwortete Trautman. »Winterfeld hat offensichtlich Befehl gegeben, uns lebendig zu fangen. Das bringt uns einen kleinen Vorteil.« »Er wäre entschieden größer, wenn Sie nicht absichtlich vorbeigeschossen hätten«, sagte Ben. »Wenn ich eine Waffe dabeigehabt hätte -« »Was dann? « fiel ihm Trautman ins Wort. »Dann hättest du dir ein tolles Feuergefecht mit ihnen geliefert, wie? Die Männer im Alleingang niedergemacht - falls sie nicht ihrerseits uns vorher umgebracht hätten, heißt das. Das hättest du getan, wie? Und dich wie ein richtiger Held gefühlt, wie?« »Das waren Deutsche«, schnappte Ben. Er schob trotzig das Kinn vor. »Und gegen die führen wir Krieg, wie Sie wohl wissen.«»Wir«,entgegnete Trautman betont, »führen gegen überhaupt niemanden Krieg. Das tun Menschen, die mit Gewalt alle Macht an sich reißen wollen. Und deshalb werde ich mit allen Mitteln verhindern, daß irgendein Staat der Erde die NAUTILUS in die Hände bekommt. Wer das nicht begreift, ist bei uns fehl am Platz, merk dir das!« Ben starrte ihn an. Er war blaß geworden. Auch Mike war überrascht. Trautman gehörte nicht zu den Menschen, die sich ein Blatt vor den Mund nahmen; aber es kam trotzdem selten vor, daß er sich so deutlich äußerte. Aber er glaubte Trautman auch sehr gut zu verstehen - letztendlich wäre dies alles nicht geschehen, hätte er getan, was er von Anfang an vorgehabt hatte, und die NAUTILUS versenkt. Er machte sich Vorwürfe, ob sie nun berechtigt waren oder nicht. Etwas berührte sacht seine Beine. Der Kater war ihm gefolgt und blickte abwechselnd Ben, Trautman und ihn selbst an, fast als hätte er jedes Wort verstanden und versuchte auf diese Weise seine Meinung zu dem Thema kundzutun. »Ich muß noch einmal zur Kuppel«, sagte Trautman plötzlich. Nicht nur Mike sah ihn überrascht an. »Aber warum denn?« fragte André, und Juan, pragmatisch wie immer, fügte hinzu: »Das kann verdammt gefährlich werden.« »Ich weiß«, antwortete Trautman. Mit einem Ruck drehte er sich vom Fenster weg. »Aber es muß sein. Ich muß irgendwie versuchen, diese Taucherglocke zu zerstören. Ich hätte es sofort tun sollen, aber ich habe wohl die Nerven verloren.« »Damit verurteilen Sie die Soldaten, die in der Kuppel sind, zum Tode«, sagte Singh ernst. »Ohne die Taucherglocke können sie von Winterfelds Leuten nicht wieder zur LEOPOLD gebracht werden.« Trautman schwieg einen Moment. Dann schüttelte er den Kopf. »Da ich ihre Helme zerstört habe, können sie die Kuppel nicht verlassen«, sagte er. »Wir werden später zurückkommen und sie an Bord nehmen -sobald die LEOPOLD abgefahren ist. Ohne Arronax' Taucherglocke hat Winterfeld keine Chance, jemals diese Tiefe zu erreichen. Er weiß das.« Astaroth miaute, als wollte er seine Worte bestätigen,
und Trautman sah eine Sekunde lang mit einem Lächeln auf den Kater hinab, ehe er weiterging. Doch er kam nicht dazu, den Salon zu verlassen, denn Singh trat ihm in den Weg. »Sie können nicht noch einmal dorthin gehen«, sagte er leise, mit seiner gewohnten, freundlichen Stimme, aber auch in sehr entschiedenem Ton. »Sie sind völlig am Ende mit Ihren Kräften. Sie würden es nicht schaffen.« »Unsinn!« widersprach Trautman, aber Singh schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab und fuhr fort: »Juan und ich werden gehen. Sie bleiben hier und schlafen ein paar Stunden. Seien Sie vernünftig. Wir können es uns nicht leisten, Sie zu verlieren. Wenn Sie im entscheidenden Moment zusammenbrechen, ist es vielleicht um uns alle geschehen. Keiner von uns kann allein mit der NAUTILUS umgehen.« Dieses Argument schien Trautman zu überzeugen. Er willigte ein, an Bord der NAUTILUS zu bleiben, während Singh und Juan noch einmal hinüber zur Kuppel gingen, um das nachzuholen, was er selbst bei ihrem letzten Besuch dort versäumt hatte. Mike bezweifelte überdies, daß es ihm überhaupt möglich gewesen wäre, der Taucherglocke ernsthaften Schaden zuzufügen. Das Gefährt hing an gewaltigen Eisenketten, denen ohne die entsprechenden Hilfsmittel kaum beizukommen war. Singh rüstete sich mit einem halben Dutzend Dynamitstangen und einer großen Eisensäge aus, bevor er das Schiff verließ. Mit Ausnahme Bens, der es vorgezogen hatte, im Salon zurückzubleiben und zu schmollen, begleiteten sie alle Singh und den jungen Spanier zur Tauchkammer. Und hinter ihnen marschierte Astaroth einher. Er bewegte sich mit jedem Schritt müheloser. Die Schnelligkeit, mit der er seine Verletzung überwand, war schon beinahe unheimlich.
Obwohl ihnen allen klar war, daß im Moment nichts für sie so kostbar war wie Zeit, hatten sich Trautman, Ben und Mike in ihre Kabinen zurückgezogen, um ein wenig zu schlafen. Möglicherweise war es für lange Zeit das letzte Mal, daß sie sich Ruhe gönnen konnten, denn selbst wenn es ihnen gelang, die Taucherglocke zu zerstören und die NAUTILUS wieder flottzumachen, würden sie alle Kraft und Aufmerksamkeit brauchen, um der LEOPOLD zu entkommen. Lautstarkes Schimpfen und Poltern weckte Mike. Er setzte sich mit einem Ruck in seinem Bett auf und sah sich benommen um. Er hatte wieder geträumt, völlig wirres Zeug diesmal, und hatte Mühe, in die Wirklichkeit zurückzufinden. Da ertönte die aufgebrachte Stimme erneut: Es war Ben, dessen Kabine gleich neben der seinen lag. Hastig schwang Mike die Beine aus dem Bett, stand auf und trat auf den Gang hinaus. Im selben Moment wurde die Tür zu Bens Kabine aufgerissen. Ein struppiges schwarzes Etwas schoß mit einem Fauchen heraus und verschwand am Ende des Ganges, und eine Sekunde später erschien Ben mit hochrotem Kopf und vor Zorn funkelnden Augen unter der Tür. »Verdammtes Mistvieh!« schimpfte er. Mike konnte sich vorstellen, daß der Kater mit Ben nicht sehr freundlich verfahren war. »Was ist passiert?« fragte er. Ben fuhr mit einem Ruck herum und funkelte ihn an. »Dieser widerwärtige Kater!« giftete er. »Weißt du, was dieses dämliche Vieh gemacht hat?« Mike sah erst jetzt, daß Ben barfuß war und die Schuhe in den Händen hielt. »Nein«, sagte er. »Woher
soll -?« »Er hat mir in die Schuhe gepinkelt!« unterbrach ihn Ben aufgebracht. Zornig hielt er sie ihm vors Gesicht.
»Diese elende Kreatur! Meine Stiefel sind doch kein Katzenklo!« Mike hatte alle Mühe, vor Lachen nicht laut herauszuplatzen. »Wenn ich ihn erwische, reiße ich ihm jedes Haar einzeln aus!« versprach Ben. »Ich werde ihm -« Vermutlich hätte er noch weitergeschimpft, hätten sie nicht in diesem Moment vom anderen Ende des Ganges her ein dumpfes Krachen gehört, das Ben mitten im Satz verstummen ließ. Es war das Geräusch, mit dem der schwere Schleusendeckel der Tauchkammer zuschlug. Singh und Juanwaren zurückgekehrt. Bens Ärger über den Kater und der drohende Streit waren auf der Stelle vergessen. Gleichzeitig liefen sie los, durchquerten den Geräteraum und warteten ungeduldig darauf, daß sich die von innen verriegelte Tür der Tauchkammer öffnete. Das große Handrad begann sich nach kurzer Zeit zu drehen, und nur wenige Sekunden später kamen Juan und der Inder hintereinander heraus. Und Mike mußte nur einen einzigen Blick in Singhs Gesicht werfen, um zu erkennen, daß irgend etwas nicht so gelaufen war, wie sie vorgehabt hatten. »Was ist geschehen?« fragte er erschrocken. »Habt ihr die Glocke zerstört?« fügte Ben hinzu. Juan schüttelte den Kopf, und Singh antwortete: »Es war nicht möglich. Sie haben noch mehr Männer heruntergeschickt. Und ich fürchte, sie haben uns gesehen.« Mike erschrak. »Haben sie euch verfolgt?« Diesmal war es Juan, der antwortete. Singh hatte sich an ihnen vorbeigedrängt und war bereits unterwegs, um Trautman und die anderen zu alarmieren. »Nein. Aber sie haben das Mädchen aus der Kuppel geholt.«
»Was?«
Juan nickte. »Wir haben uns hinter einem Felsen versteckt und sie eine Weile beobachtet«, berichtete er. »Sie haben den kompletten Glaskasten mit dem Mädchen aus der Kuppel und in die Taucherglocke geschafft. Wir konnten nichts dagegen tun.« »Aber das... das darf nicht passieren!«stammelte Mike. Er hörte das Tappen weicher Pfoten und sah aus den Augenwinkeln, daß Astaroth hinter ihnen aufgetaucht war. »Das Mädchen wird sterben, wenn Winterfeld versucht, den Schrein zu öffnen.« Mike wußte selbst nicht, woher dieses Wissen stammte, Juan sah ihn erstaunt an. »Konntet ihr sie nicht aufhalten?« fragte Ben. Juan zog eine Grimasse. »Und wie? Sie waren zu acht oder zehnt, und wir hatten keine Waffen.« »Und was ist mit dem Dynamit, das ihr mitgenommen habt?« fragte Ben ärgerlich. »Klar«, antwortete Juan. »Wir hätten sie alle in die Luft sprengen können. Und uns und das Mädchen gleich dazu. Meinst du das?« Er wartete Bens Antwort gar nicht ab, sondern lief los, um Singh zu folgen. Ben, Mike und der Kater schlössen sich ihm an. Schon bevor sie den Salon betraten, hörten sie aufgeregte Stimmen. Singh stand neben Trautman an dem
großen Aussichtsfenster und berichtete ihm mit knappen Worten, was geschehen war. Trautman hörte schweigend zu, und seine Miene verdüsterte sich mit jedem Wort, das er vernahm. »Dann werden sie bald auch hier auftauchen«, sagte er, nachdem Singh seinen Bericht beendet hatte. »Wir müssen so schnell wie möglich versuchen, von hier wegzukommen. Wie weit seid ihr mit den Ventilen gekommen? « Singh schüttelte den Kopf. »Sie passen einfach nicht.« »Dann müssen wir pumpen«, entschied Trautman.
»Aber das kann Stunden dauern, wenn nicht Tage!« protestierte André. »Wir müssen es versuchen«, erwiderte Trautman. »Wir müssen nur so viel Wasser aus dem Schiff herausbekommen, daß wir uns bewegen können. Und sei es im Schneckentempo. In der Dunkelheit hier unten reichen schon ein paar hundert Meter, daß sie uns nicht mehr finden.« Ein orangefarbener Blitz zerriß die Schwärze vor dem Fenster. Das Licht im Salon flackerte. Ein dumpfes Grollen und Rumpeln erklang, das rasch lauter wurde, und dann erfüllte ein ungeheures Dröhnen und Krachen die NAUTILUS, als schlügen unsichtbare Riesenhämmer auf den Rumpf des Tauchbootes ein.»Festhalten!«schrie Trautman. Er hatte seine Warnung kaum ausgesprochen, da schien die NAUTILUS tatsächlich von einem Hammerschlag getroffen zu werden. Mike fühlte sich wie alle anderen von den Füßen gerissen und hilflos durch den Salon geschleudert, als sich das Boot unter dem Ansturm der Druckwelle schwerfällig auf die Seite legte, wobei sich seine Panzerplatten mit lautem Knirschen an Felsen und Gestein rieben. Das Dröhnen verklang, aber der Fußboden unter ihnen zitterte und bebte noch immer, während Mike sich mühsam wieder hochrappelte. »Was war das?« »Die Deutschen!« sagte Ben. »Sie haben die Kuppel gesprengt!«
Das war der Selbstzerstörungsmechanismus der Station,vernahm Mike eine andere Stimme.Sie hat ihren Zweck erfüllt, nachdem die Prinzessin fortgebracht wurde.
»Prinzessin?« wiederholte Mike laut und drehte sich um. Die anderen blickten ihn verständnislos an. »Woher wißt ihr, daß sie eine Prinzessin ist?«
Die Gesichter der anderen sahen plötzlich noch verständnisloser aus. Ben tippte sich mit den Fingern an die Schläfe. »Wovon sprichst du eigentlich?« »Aber irgend jemand hat doch gerade gesagt -« »Ich habe lediglich gesagt, daß die Deutschen die Kuppel gesprengt haben«, fiel ihm Ben ins Wort. Er grinste hämisch. »Bist du zufällig mit dem Kopf aufgeschlagen?« »Aber ... « Mike brach ab. Sein Blick fiel auf Astaroth, der trotz seiner Verbände in fast majestätischer Haltung ein Stück weiter neben ihm auf dem Boden saß und ihn unverwandt anstarrte, fast als ... Nein, das war einfach zu absurd. Und Mike kam auch nicht dazu, diesen verrückten Gedanken zu Ende zu denken, denn die Gefahr war keineswegs vorüber. Immer noch durchliefen heftige, unregelmäßige Stöße den Meeresboden und brachten die NAUTILUS zum Erzittern. Und sie wurden nicht schwächer. Ganz im Gegenteil: jede Erschütterung schien ein wenig stärker zu sein als die vorhergehende, und Mike konnte regelrecht spüren, wie sich in dem Fels unter der NAUTILUSeine gewaltigeSpannung aufbaute. »Nein!« keuchte Trautman. Seine Augen wurden groß vor Schrecken. »Um Gottes willen - nein!« Die NAUTILUS begann immer heftiger zu zittern - und dann, ganz langsam, aber auch mit schrecklicher Unaufhaltsamkeit, begann sich das Heck des Unterseebootes zu neigen. Mike hörte, wie der stählerne Kiel mit einem gräßlichen Geräusch über den Fels scharrte. Dann sackte das Heck mit einem jähen Ruck ab. Der vordere Teil des Bootes stieg plötzlich in die Höhe, und Mike stürzte abermals und prallte schwer gegen die Wand des Salons. Im nächsten Moment zog er den Kopf ein, denn Ben kam wie ein lebendes Geschoß auf ihn zugeflogen, prallte fluchend unmittelbar neben ihm gegen die Wand und wurde seinerseits von Chris
getroffen, der heranschlitterte. Die Neigung des Bodens wurde immer stärker. Das Scharren und Schleifen von Metall auf Fels erreichte eine Intensität, die fast in den Ohren schmerzte, und dann, mit einem letzten, unvorstellbar harten Ruck, löste sich das Boot vollends von seinem Halt. Mike schrie vor Entsetzen laut auf, als er begriff, was geschehen war. Die Explosion hatte die NAUTILUS von ihrem ohnehin unsicheren Halt heruntergeschleudert. Mit dem Heck voran begann das Schiff seinen Sturz in einen sechstausend Meter tiefen Abgrund.
Obwohl sie erst seit einer Stunde arbeiteten, spürte Mike seine Arme und Schultern kaum noch, dafür jedoch jeden einzelnen Muskel in seinem Körper um so schmerzhafter. Dabei wechselten sie sich im Fünf-Minuten-Rhythmus an der Pumpe ab. Lange würde keiner von ihnen diese Tortur noch durchhalten. Seit der Sturz in den schier endlosen Abgrund begonnen hatte, arbeiteten sie mit verzweifelter Hast an den Pumpen. Sie alle wußten, daß sie Tage, wenn nicht Wochen brauchen würden, um auf diese Art das eingedrungene Wasser aus dem Schiff zu entfernen, und das, selbst wenn sie rund um die Uhr gearbeitet hätten. Aber ihnen blieben keine Tage, geschweige denn Wochen. Das Schiff sank nicht ganz so schnell, wie sie zuerst befürchtet hatten, aber trotzdem würden nur wenige Stunden vergehen, ehe es auf den Grund des sechstausend Meter tiefen Grabens aufschlug. Allerdings würde es wahrscheinlich schon lange vorher von dem unvorstellbaren Wasserdruck in dieser Tiefe zerquetscht werden. Keiner von ihnen wußte, wie tief die NAUTILUS tatsächlich tauchen konnte, aber sie würde niemals den Druck in sechstausend Meter Tiefe aushalten können.
Mike ließ den fast mannslangen Pumpenschwengel los und trat zur Seite, damit Ben seinen Platz einnehmen konnte. Er war so erschöpft, daß er sich einen Moment lang gegen die Wand lehnen mußte und mit geschlossenen Augen abwartete, bis der Schwächeanfall vorüberging. Und auch die anderen boten keinen besseren Anblick als er. Chris hockte mit angezogenen Knien neben ihm auf dem Boden und starrte ins Leere, während Juan und André bereits hinter Ben Aufstellung genommen hatten, um ihn abzulösen. Ihre einzige Hoffnung waren Trautman und Singh. Die beiden beteiligten sich nicht am Pumpen, sondern versuchten fieberhaft, ein Ventil zu improvisieren, mit dem sie die Luft aus den mitgebrachten Preßluftflaschen in die beschädigte Sektion des Schiffes pressen konnten. Bisher jedoch waren ihre Bemühungen von keinem Erfolg gekrönt; obwohl die Preßluftflaschen ganz offensichtlich von denselben Leuten konstruiert worden waren wie die NAUTILUS, paßten die Anschlüsse doch nicht ganz. Mike trottete erschöpft zu den beiden Männern hinüber und sah Singh zu, der ebenso verbissen wie vergeblich versuchte, eine Schraube auf ein nicht passendes Gewinde zu drehen. Obwohl es mittlerweile an
Bord der NAUTILUS bitterkalt geworden war - ein weiterer Beweis dafür, wie tief sie schon ins Meer hinabgesunken sein mußten -, glänzte Singhs Gesicht vor Schweiß, und Mike glaubte, so etwas wie Angst in seinen Augen zu sehen. Ein knisterndes Geräusch lief durch den Rumpf der NAUTILUS. Mike schauderte. Es war nicht das erste Mal, daß sie diesen Laut vernahmen, und sie alle wußten, was er bedeutete: Die Stahlplatten des Rumpfes ächzten unter dem Druck des Wassers, der langsam, aber unerbittlich immer größer wurde.
»Das hat keinen Zweck«, sagte Singh erschöpft. Er ließ sich zurücksinken, und sofort setzte Trautman die Arbeit an der Schraube fort. Mike ahnte, daß auch die beiden Männer längst begriffen hatten, wie sinnlos ihr Tun war. Sicherlich hätten sie zur Not ein passendes Ventil selbst zusammenstellen können -es gab die dazu benötigten Werkzeuge und Materialien in ausreichender Menge an Bord des Schiffes -aber auch dazu fehlte ihnen einfach die Zeit. Mike warf einen Blick über die Schulter zurück und sah, daß André wieder an der Pumpe stand und den Schwengel bediente. Bald würde er wieder an der Reihe sein. Aber er war nicht sicher, ob er überhaupt noch genügend Kraft dazu hatte. Seine Hände bluteten, und seine Arme schienen Zentner zu wiegen. Sein Blick fiel auf die Tür, hinter der sich der mit Wasser überflutete Teil der NAUTILUS befand, und für einen Moment fühlte er einen absurden Zorn auf die eingedrungenen Wassermassen dort drüben. Nach allem, was er erlebt hatte, empfand er es einfach als lächerlich, sterben zu sollen, nur weil das Schiff einen vergleichsweise winzigen Riß abbekommen hatte. »Wir könnten noch versuchen, einen Flansch anzuschweißen«, sagte Singh. Trautman, dem diese Worte galten, überlegte einen Moment, dann schüttelte er müde den Kopf. »Das ist zu gefährlich«, antwortete er. »Ein einziger Funke, und die Flasche explodiert wie eine Bombe.« »Und wo ist der Unterschied?« fragte Ben matt. Trautman sah ihn fragend an, und Ben fügte hinzu: »Wir sterben sowieso. Es spielt keine Rolle, ob jetzt oder in einer halben Stunde. Versuchen Sie es.« Aber Trautman blieb bei seiner Weigerung. »Das wäre Selbstmord«, sagte er. Er deutete auf die Preßluftflasche, dann auf den nicht passenden Anschluß neben
der Tür. »Selbst wenn ein Wunder geschieht und uns das Ding nicht um die Ohren fliegt - wir brauchen mindestens ein Dutzend Flaschen, um das Wasser aus dem Schiff zu pressen. Die Zeit reicht einfach nicht. Es ist zum Verrücktwerden!« Sein Gesicht verdüsterte sich. »Wir haben die Rettung praktisch in Händen, und alles, was fehlt, ist ein simples, kleines Ventil.« »Bauen Sie es aus der Treibstoffpumpe aus«, sagte Mike. »Im unteren Geräteraum steht ein Ersatzgerät, das im Moment nicht gebraucht wird.« Trautman starrte ihn an. Singh, der sich schon wieder an der Schraube zu schaffen machte, ließ die Hände sinken und hob den Blick, und Mike selbst konnte spüren, wie sich ein überraschter Ausdruck auf seinem eigenen Gesicht breitmachte. Er hatte überhaupt keine Ahnung, warum er das gesagt hatte. »Jetzt dreht er völlig durch«, sagte Ben. »Was ist los? Hat dir die Todesangst den Verstand geraubt?« Mike antwortete nicht. Bis zu dieser Sekunde hatte er nicht einmal gewußt, daß es das Gerät, von dem er sprach, an Bord der NAUTILUS überhaupt gab, geschweige denn, welche Art von Anschlüssen es besaß. Auch Trautman sah ihn an, als zweifle er ernsthaft an seinem Verstand - aber plötzlich sprangen Singh und er auf ein gemeinsames Kommando hin auf und stürzten davon. Mike hörte ihre Schritte auf der metallenen Treppe nach unten poltern. Es dauerte nicht einmal fünf Minuten, bis Trautman und Singh zurückkamen. Mikes Augen weiteten sich ungläubig, als er das kleine Metallstück sah, das Trautman wie einen kostbaren Edelstein in beiden Händen vor sich her trug. Verblüfft beobachtete er, wie Trautman das Ventil mit einer einzigen, raschen Bewegung am Ende der Preßluftflasche befestigte und es mit einem hörbaren Klicken einrastete.
»Es paßt!« keuchte Trautman. »Gott im Himmel, es ... espaßt!«Er fuhr herum. »Hört auf zu pumpen! Ich brauche den Schlauch -schnell!« Binnen einer Minute hatten sie die schwere Handpumpe abmontiert und das Ende des Druckschlauches mit dem Ventil verbunden. Trautman drehte an einem kleinen Rad an der Flasche, und sie alle konnten hören, wie sich die Preßluft zischend ihren Weg durch den Schlauch und in die Kammer hinter dem geschlossenen Stahlschott bahnte. »Es paßt!« sagte Trautman noch einmal. Fassungslos schüttelte er den Kopf, starrte Mike kurz an und wandte sich dann den anderen zu. »Ihr helft Singh!« befahl er. »Pumpt so viel Luft in den Raum, wie es nur geht. Mike und ich gehen auf die Brücke. Ich schicke ihn wieder zu euch, wenn ihr aufhören könnt. Komm!« Das letzte Wort galt Mike. Trautman wartete nicht ab, ob er seinen Befehl befolgte, sondern war bereits wieder auf dem Absatz herumgewirbelt und rannte abermals die Treppe hinunter. Mike folgte ihm, so schnell er konnte. Ihn schwindelte. Er mußte sich an der Wand abstützen, um auf der schmalen Treppe nicht den Halt zu verlieren. Mit schleppenden, kleinen Schritten legte er den Weg zum Kommandoraum zurück, wo Trautman bereits wieder hinter den Kontrollinstrumenten des Schiffes stand und fieberhaft an den Schaltern und Hebeln hantierte. Als Mike eintrat, sah er kurz auf und wandte sich wieder dem Schalttisch zu. »Wie tief sind wir schon?« erkundigte sich Mike. »Viertausend Meter«, antwortete Trautman. »Und wir sinken immer noch.«Viertausend Meter!Mike spürte ein eisiges Frösteln. Plötzlich vermeinte er das Gewicht der Millionen und
Abermillionen Tonnen von Wasser über seinem Kopf fast körperlich zu spüren. Und wie um seine Angst noch zu erhöhen, hörte er in diesem Augenblick wieder jenes schreckliche, knirschende Geräusch, als stöhne die NAUTILUS unter den Schmerzen, die ihr der unvorstellbare Wasserdruck zufügte. »Schaffen wir es?« fragte er leise. Trautman hob zur Antwort nur die Schultern. »Ich glaube, wir sinken schon nicht mehr ganz so schnell«, murmelte er. »Aber ich weiß nicht, ob es reicht.« Die Zeit schien stehenzubleiben. Mike hatte das Gefühl, daß die Sekunden träge verstrichen, während die Zahlen auf dem Tiefenmesser auf Trautmans Pult nur so dahinzurasen schienen. Die NAUTILUS sank auf viereinhalbtausend, dann auf fünftausend Meter, bis auch Mike zu erkennen glaubte, daß sich die Geschwindigkeit ihres Absinkens allmählich verlangsamte. »Fünfeinhalbtausend«, mumelte Trautman. Er schüttelte den Kopf. »Unglaublich.« »Wie tief sind Sie jemals zuvor getaucht?« fragte Mike. Trautman zögerte einige Sekunden. »Fünfhundert Meter«, sagte er dann. »Dann sind wird jetzt elfmal so tief«, murmelte Mike. »Unglaublich«, sagte Trautman noch einmal. »Ich hätte es nicht für möglich gehalten. Das Schiff hätte längst zerbrechen müssen.« Mike wollte antworten, doch in diesem Moment ging eine spürbare Erschütterung durch den Rumpf der NAUTILUS, und er hielt erschrocken den Atem an, si
cher, in der nächsten Sekunde das furchtbare Geräusch berstender Stahlplatten zu hören, gefolgt von dem Rauschen und Sprudeln, mit dem sich das Wasser seinen Weg ins Innere des Schiffes bahnte. Doch das geschah nicht. Statt dessen hörten die Zah
len auf dem Tiefenmesser auf, sich zu bewegen. Bei etwas mehr als fünfeinhalbtausend Metern Wassertiefe hörte ihr Sturz auf. Die NAUTILUS stand still. »Ich glaube, wir schaffen es«, flüsterte Trautman atemlos. »Sie haben das Wasser hinausbekommen. Wir sinken nicht mehr.« »Dann ... dann sind wir gerettet?« fragte Mike. »Wir können wieder auftauchen?« »Noch nicht«, antwortete Trautman nach einem Blick auf seine Instrumente. »Und wenn, dann nur sehr langsam. Daß das Schiff nicht längst wie eine Konservendose zerquetscht worden ist, ist ein Wunder. Ich fürchte, es könnte auseinanderreißen, wenn ich die Maschinen zu schnell hochfahre.« Er schwieg eine Weile, dann sah er auf und blickte Mike nachdenklich an. »Also los«, sagte er. »Raus mit der Sprache. Woher hast du das gewußt? Nicht einmal ich wußte es, und ich kenne dieses Schiff wie meine Westentasche.« Mike hatte die Frage erwartet. Es war ihm klar gewesen, daß sie der einzige Grund war, aus dem Trautman ihn allein mit heruntergenommen hatte, denn es gab absolut nichts für ihn zu tun hier unten. »Ich weiß es nicht«, sagte Mike hilflos. »Ich meine, ich ... ich wußte einfach, daß es passen wird. Aber ich habe keine Ahnung, woher ich es wußte.« »Das klingt nicht sehr überzeugend«, sagte Trautman. »Aber es ist so«, antwortete Mike hilflos. »Bitte lüg mich nicht an«, sagte Trautman. »Das ist wirklich nicht der Moment für Geheimnisse.« »Aber ich weiß es doch nicht!« antwortete Mike, und vielleicht war es der hörbare Unterton von Verzweiflung in seiner Stimme, der Trautman Abstand von weiteren Fragen nehmen ließ. Mit einem erleichterten Seufzer ließ er sich in seinem Kommandosessel
zurücksinken, schloß für einen Moment die Augen und atmete dann tief ein. Mike wartete einige Sekunden lang mit klopfendem Herzen darauf, daß Trautman eine neue Frage stellte, doch als dies nicht geschah, wandte er sich um und ging langsam zu dem großen Panoramafenster an der Seite des Salons hinüber. Auf der anderen Seite der Scheibe war nichts als Schwärze, eine solch absolute, schattenlose Finsternis, wie Mike sie niemals zuvor erblickt hatte. Trautman hatte die großen Scheinwerfer am Bug der NAUTILUS eingeschaltet, die helle, scharf abgegrenzte Bahnen in die Dunkelheit rissen, ohne daß darin irgend etwas zu erkennen war, aber das Licht schien die sie umgebende Finsternis nur noch zu betonen. Mike suchte vergeblich nach irgendeiner Bewegung, irgendeinem Anzeichen von Leben. Fische oder andere Lebewesen schien es in dieser Wassertiefe nicht mehr zu geben. Dann glaubte er doch etwas zu sehen. Am Rande des Lichtkegels erschien für einen Moment etwas Großes, Massiges, sonderbar Fließendes - doch als er genauer hinsah, war es verschwunden. Wahrscheinlich hatten ihm seine überanstrengten Nerven nur einen Streich gespielt. Mike stand eine gute Viertelstunde vor dem Aussichtsfenster und starrte in die Dunkelheit, ehe das Geräusch von Schritten in seine Gedanken drang und er sich wieder umdrehte. Unter der Tür des Salons erschien ein zu Tode erschöpft aussehender Singh, gefolgt von vier weiteren Gestalten, die vor Schwäche und Anstrengung mehr hereintaumelten, als sie gingen. Trotzdem war auf ihren Gesichtern der Ausdruck großer Erleichterung zu erkennen. »Wie sieht es aus?« fragte Singh.
»Fünftausendvierhundert Meter«, verkündete Traut
man. Aus Singhs Gesicht wich jedes bißchen Farbe, aber Trautmans Stimme klang beinahe fröhlich, als er fortfuhr: »Wir steigen bereits wieder. Es geht langsam, aber wir haben wieder Auftrieb.« »Nemo sei Dank«, flüsterte André, »wir werden die Sonne noch einmal wiedersehen.« Trautman lächelte flüchtig. »Das wird aber noch eine Weile dauern«, sagte er. »Wir werden mindestens vierundzwanzig Stunden benötigen, ehe wir die Wasseroberfläche erreichen.« Plötzlich begannen alle durcheinanderzureden. Anstelle von Todesangst und mühsam unterdrückter Panik machte sich eine ebenso heftige Euphorie unter den Jungen breit, so daß Trautman schließlich mit energischer Stimme für Ruhe sorgen mußte. Auch Mike war zutiefst erleichtert. Er fühlte sich immer noch verwirrt und hatte nach wie vor keine Antwort auf die Frage, woher er von dem passenden Ventil gewußt hatte, aber das hatte nun Zeit.
Wichtig war jetzt nur, daß sie gerettet waren. Er wandte sich wieder dem Fenster zu und sah hinaus. Trautman hantierte an seinen Hebeln, und die NAUTILUS gehorchte zum ersten Mal seit Stunden wieder den Befehlen des Ruders. Langsam schwang das gewaltige Unterseeboot herum und nahm Fahrt auf. Und für die Dauer von einer Sekunde erblickte Mike jenseits des Fensters, hinter der seit Anbeginn der Zeit währenden Dunkelheit etwas, was ihm den Atem stocken ließ. Sechshundert Meter unter ihnen,sechstausendMeter unter dem Meeresspiegel, aber so deutlich zu erkennen, daß er fast glaubte, nur die Hand ausstrecken zu brauchen, um sie zu berühren, erhoben sich die Türme einer gewaltigen, hellerleuchteten Stadt.
Als Mike seine Kabine betrat, fand er Astaroth zusam
mengerollt auf seinem Bett vor. Der Kater sah gelangweilt auf, als Mike sich neben ihn auf die Bettkante sinken ließ, begann jedoch sofort wie eine kleine Nähmaschine zu schnurren, als er ihm das Fell zwischen den Ohren kraulte. Mike war unendlich müde. Jetzt, als die unmittelbare Gefahr vorüber war, spürte er mit doppelter Wucht, welche Anstrengungen der zurückliegende Tag von ihm verlangt hatte. Seine Hände begannen zu zittern, und es dauerte eine ganze Weile, bis er sich auch nur so weit wieder in der Gewalt hatte, daß er aus Hemd und Hose schlüpfen und unter die Bettdecke kriechen konnte. Hinter seiner Stirn führten die Gedanken einen wirren Tanz auf. Er hatte keinem der anderen von seiner Entdeckung berichtet, denn er hatte wahrlich keine Lust, sich den Spott der anderen zuzuziehen, wenn er von einer Stadt auf dem Meeresgrund berichtete, die noch dazu er als einziger gesehen hatte. Mike begann nun auch unter seiner Decke zu schlottern. Es war noch immer sehr kalt in der NAUTILUS, aber das war nicht der eigentliche Grund - das Fieber vom vergangenen Tag schien zurückzukehren. Er hatte einen schlechten Geschmack im Mund, und seine Stirn fühlte sich heiß an. Astaroth schien zu spüren, daß es ihm nicht gutging, denn der Kater kam schnurrend über die Bettdecke herangekrochen, rieb seinen Kopf an Mikes heißer Wange und kroch dann zu ihm unter die Decke. Die Berührung seines weichen Felles tat ungemein gut, und auch wenn es nur ein Tier war, Mike hatte das Gefühl, nicht mehr allein zu sein, sondern einen Freund zu haben. So dauerte es nicht einmal eine Minute, bis er trotz allem wieder eingeschlafen war.
Und seinen Fiebertraum aus der vergangenen Nacht
fortsetzte. Wieder befand er sich im Körper eines vierbeinigen, schnellen Räubers, der auf der Suche nach Beute durch einen bizarren Dschungel streifte, wie es ihn nirgendwo auf der Welt gab. Wieder unterschied sich sein Denken völlig von dem eines Menschen, war mehr ein Fühlen, ein instinktives Handeln als Entscheiden, und statt all der Sorgen und Gedanken eines Menschen waren in seinem Kopf nur mehr Jagdfieber, Hunger und eine angeborene Vorsicht vor anderen, noch gefährlicheren Räubern. Dann aber änderte sich etwas, aus dem Traum wurde ein Alptraum. Etwas geschah mit ihm. Der Jäger wurde zum Gejagten, er hatte seltsame Visionen von großen, lauten, plumpen Wesen, die ihn hetzten, ihn verfolgten und unbarmherzig in die Enge trieben, bis es keinen Ausweg mehr gab, obwohl er viel schneller, geschickter und klüger als jeder einzelne von ihnen war. Er war plötzlich gefangen und konnte sich nicht mehr rühren. Wesen waren um ihn herum, die Mike als Menschen erkannte, ohne daß es ihm möglich war, dieses Erkennen auf das Geschöpf zu übertragen, in dessen Leib er steckte. Allen voran war ein uralter, weißhaariger Mann mit einem Gesicht, das Mike als gütig und wissend erschienen wäre,seinen tierischen Traumkörper jedoch schier in Panik versetzte. Er war in ein helles, mit sonderbarbeunruhigend anmutenden Mustern besticktes Gewand gekleidet, und er tat irgend etwas mit ihm. Auchwar er nicht mehr in seiner gewohnten, grünen Dschungelwelt, sondern in einer kalten, aus blitzendem Metall und hartem Stein, aus hellem Licht und tausend fremdartigen, angstmachenden Dingen bestehenden Umgebung. Und dann - wieder hatten sie etwas mit ihm getan, was er nicht verstand, aber das ihm Schmerzen und noch viel größere Angst bereitete-änderte sich et
was. Nicht in seiner Umgebung. Nicht mit seinem Körper; mit seinemGeist.Aus dem Tier wurde ein denkendes Wesen. Mike war noch immer im Körper des vierbeinigen Jägers gefangen, aber plötzlich waren all die vertrauten Muster wieder da, plötzlich war da mehr als Instinkte und angeborene Verhaltensweisen, mehr als ein Denken, das gerade ausreichte, eine Beute zu erkennen und zu jagen. Es war, als wäre das Wesen, dessen Gast er im Traum war, auf eine höhere Ebene des Seins gehoben worden. Wieder erschien der alte Mann vor ihm. Er begann mit ihm zu reden, und nun zum ersten Mal waren die Geräusche, die er machte, keine unverständlichen, furchteinflößenden Laute mehr, sondern Worte, und er verstand sie, wenn auch nur ihrer Bedeutung nach, nicht ihremSinn.»Mir bleibt nicht genug Zeit, dich in alles einzuweisen«, erklärte der alte Mann. »Unsere Welt ist dem Untergang geweiht, doch einer von uns wird überleben. Deine Aufgabe wird es von nun an sein, über die letzte Prinzessin des Alten Geschlechts zu wachen. Dein Schrecken wird bald vergehen, und du wirst erkennen, mit welcher Macht wir dich ausgestattet haben, damit du deiner Aufgabe gerecht werden kannst. Du wirst jetzt nicht alles verstehen, aber du wirst dich erinnern und nach und nach alles begreifen.« Zumindest damit hatte der alte Mann recht. Er redete lange und schnell, und kaum etwas von seinen Worten war verständlich oder schien gar einen Sinn zu ergeben. Und doch vergaß er nichts davon.
An diesem Punkt wachte Mike für einen Moment auf. Er fand sich fiebernd und geschüttelt von einander abwechselnder Kälte und Hitze unter seiner Bettdecke in der dunklen Kabine, und Astaroth hatte sich so eng an ihn gekuschelt, wie es nur ging, so daß es ihm für einen Moment fast so vorkam, als wären sie zu einem einzigen Wesen verschmolzen. Und noch bevor er diesen Gedanken weiter verfolgen und vielleicht erkennen konnte, welch tiefere Wahrheit in diesem Vergleich steckte, sank er erneut in Schlaf, und sein Traum, er setzte sich fort.
Er war nicht mehr in der Gewalt des alten Mannes. Der Alte, von dem er nun wußte, daß er der letzteeines einst mächtigen Geschlechts von Magiern gewesen war, war gegangen, und er war allein mit anderen Menschen, jedoch nicht mehr gefangen. Trotzdem versuchte er nicht zu fliehen und in seine angestammte Heimat zurückzukehren. Um ihn herum waren Bilder unvorstellbarer Zerstörung. Der Himmel hatte sich verdunkelt, Feuer und Schwefel regneten auf die Erde, und vom Meere her rannten turmhohe Wellenberge gegen die Küste. Ein unglaublicher Sturm war losgebrochen, gegen den er sich nur noch mit Mühe halten konnte, und er hörte ein beständiges Grollen, Rumpeln und Bersten, als bräche die Erde unter seinen Füßen zusammen.
An diesem Punkt zerbrach die bis dahin durchgehende Handlung in tausend einzelne Bilder der Zerstörung, des Chaos, die den Untergang einer ganzen Welt und das Ende eines ganzen Volkes zeigten. Und irgendwann, nach Ewigkeiten, wie es Mike schien, sank sein gepeinigter Geist erschöpft auf eine tiefere Ebene des Schlafes herab, die keinen Platz mehr für Träume bot.
Wieder wurde Mike unsanft aus dem Schlaf gerissen. Singh mußte ihn diesmal sogar an der Schulter rüt
teln, um ihn aufzuwecken, und wieder fiel es Mike schwer, in die Wirklichkeit zurückzufinden. Obwohl viel bizarrer und am Schluß geradezu chaotisch, war der Traum viel realer gewesen als das letzte Mal; und was er in ihm hinterließ, das war nicht das Gefühl, einen Traum gehabt zu haben, sondern vielmehr, sich an etwas tatsächlich Erlebtes zu erinnern. »Ihr müßt aufwachen, Herr«, sagte Singh erneut. Mit einem ärgerlichen Brummen versuchte Mike die Hand von seiner Schulter abzuschütteln, doch der Sikh ließ nicht locker, und schließlich richtete sich Mike schlaftrunken auf. »Und wenn nicht, was dann?« maulte er. »Willst du dann wieder auf mich einschlagen?« Singh lächelte flüchtig und rüttelte weiter an Mikes Schulter. Etwas bewegte sich unter der Decke. Singh runzelte überrascht die Stirn, als ein schwarzer, pelziger Kopf unter der Bettdecke auftauchte und zuerst ihn, dann Mike vorwurfsvoll aus seinem einzigen Auge anblickte. Astaroth schien über die Störung auch nicht gerade erbaut zu sein. Mike strich ihm flüchtig über den Kopf, ehe er sich wieder an Singh wandte. »Was ist denn?« fragte er mißgelaunt. »Darf ich denn nicht mal ein paar Minuten schlafen?« »Ihr wolltet geweckt werden, Herr, bevor wir auftauchen. Es wird gleich soweit sein.« »So schnell?« Singh zögerte. »Wir mußten sogar sehr langsam auftauchen«, antworteteer schließlich.
»Aber ...« Mike runzelte die Stirn, gleich darauf mußte er herzhaft gähnen und rieb sich den Schlaf aus den Augen. »Wie lange habe ich denn geschlafen?« »Annähernd vierundzwanzig Stunden, Herr«, antwortete Singh. »Vierundzwanzig Stunden?« Mike fuhr in die Höhe, so daß der Kater mit einem erschrockenen Laut von seinem Bett hüpfte und aus der Kabine verschwand. »Wieso habt ihr mich so lange schlafen lassen?« »Ihr hattet Fieber, Herr«, antwortete Singh. »Trautman und ich hielten es für besser, Euch ausruhen zu lassen. Und es gab nichts für Euch zu tun.« Vierundzwanzig Stunden? dachte Mike. Beim Aufwachen hatte er das Gefühl gehabt, kaum länger als eine halbe oder höchstens eine Stunde geschlafen zu haben, aber jetzt merkte er, daß seine Benommenheit wohl nur eine Folge des langen Schlafes war. Abgesehen von einem dumpfen Druck im Kopf, der es ihm schwer machte, sich zu konzentrieren, begann er sich ausgeruht zu fühlen. »Gut. Ich komme gleich.« Er schwang die Beine aus dem Bett und stand auf, und in diesem Moment drang ein wütendes Gebrüll durch die offenstehende Tür in seine Kabine. Mike tauschte einen fragenden Blick mit Singh. Das Gebrüll wurde lauter, es war Bens Stimme, die eine wahre Schimpfkanonade auf ein gewisses »schwarzes Mistvieh« losließ, dem er »das Fell über die Ohren ziehen« und es als »Nierenwärmer benutzen« wollte. Singh sah verwirrt drein, während in Mike ein gewisser Verdacht emporstieg, als sie sich der Tür näherten. Aus seiner Vermutung wurde Gewißheit, als Ben barfuß aus seiner Kabine herausstürmte. Die Schuhe hielt er mit beiden Händen so weit von sich fortgestreckt, wie es nur ging. »Ich bringe dieses einäugige Ungeheuer um!« brüllte er, während er mit weit ausgreifenden Schritten die Toilette ansteuerte. »Ich reiße ihm den Kopf ab und brate ihn mir zum Frühstück, das schwöre ich!« »Was hat er denn?« wunderte sich Singh. Mike hatte alle Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken, zumal das »einäugige Ungeheuer« in diesem Moment
wieder in die Kabine geflitzt kam und sich auf seinem Bett zusammenrollte, als wäre nichts geschehen. »Keine Ahnung«, sagte er fröhlich. »Wahrscheinlich hat er wieder mal schlechte Laune. Das ist ja bei Ben nichts Außergewöhnliches.« Er machte eine Handbewegung zur Decke hinauf. »Sag Trautman, daß ich gleich komme. Ich will mich nur rasch anziehen.« Singh schenkte ihm, dann dem Kater einen fragenden Blick, sagte aber nichts und verließ die Kabine. Mike trat wieder an sein Bett und begann sich anzuziehen. Astaroth sah ihm aufmerksam zu und leckte sich ab und zu die Vorderpfoten. Mike fiel erst jetzt auf, daß
der Kater nicht mehr wie eine Mumie auf Urlaub aus
sah. Der Verband war verschwunden. »Das war nicht besonders nett, was du da mit Ben gemacht hast«, sagte Mike. »Ich meine: Keiner von uns kann ihn gut leiden, aber das ist doch kein Grund,
seine Schuhe als Toilette zu benutzen.«
Wäre es dir lieber, ich nehme deine?
Hätte ihm jemand warnungslos einen Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf gestülpt, Mike hätte kaum fassungsloser sein können. Aus ungläubig aufgerissenen Augen starrte er den Kater an, der für einen Moment aufgehört hatte, sich die Pfoten zu lecken, und seinen Blick aus seinem einzigen, bernsteinfarbenen Auge spöttisch erwiderte. »Wie?« ächzte Mike.
Ich habe gefragt, ob ich lieber deine Schuhe benutzen soll,wiederholte die Stimme. Mikehörtesie nicht wirklich. Vielmehr schien sie direkt in seinem Kopf zu erklingen, als spräche der Kater auf eine Weise mit ihm, die den Umweg über das gesprochene Wort nicht mehr nötig machte. »Ich ... ich träume«, stammelte er. »Ich muß den Verstand verloren haben!«
Um das zu klären, müßten wir erst einmal darüber reden, was ihr Menschen unter dem WortVerstandversteht,erwiderte Astaroth.Aber du träumst nicht, wenn es dich beruhigt.
»Du ... du kannst sprechen?« fragte Mike.
Hat aber auch lange gedauert, bis du das erkannt hast,erwiderte der Kater und gähnte herzhaft, wie um zu zeigen, wie sehr ihn das Gespräch langweilte.
Obwohl ... Sprechen ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort, aber es wäre wohl zu kompliziert, dir das zu erklären. Schließlich bist du nur ein Mensch, und da sollte man vielleicht nicht ganz so hohe Anforderungen stellen.