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gen Umstand wurde die Kuppel leider zerstört -weißt du vielleicht etwas darüber?« Im ersten Moment irritierte Mike der lauernde Ton in Winterfelds Stimme, doch dann begriff er. »Nein«, antwortete er. »Jedenfalls haben wir nichts damit zu tun, wenn Sie das meinen.« Winterfeld wirkte nicht ganz überzeugt. Wahrscheinlich, dachte Mike, glaubte er, daß sie die Kuppel gesprengt hatten, damit sie seinen Leuten nicht in die Hände fiel. »Was ist mit dem Mädchen?« fragte er. »Sie befindet sich an Bord«, antwortete Winterfeld. »Keine Sorge - sie ist unverletzt. Was weißt du über sie?« »Kann ich sie sehen?« wollte Mike wissen, ohne Winterfelds Frage zu beantworten. Winterfeld zögerte, nickte aber schließlich. »Warum nicht? Allerdings fürchte ich, wird es dir nicht viel nutzen.« Er hob beruhigend die Hand, als er sah, daß Mike erschrocken zusammenfuhr -obwohl der wirkliche Grund dieses Zusammenzuckens der war, daß Astaroth bei diesen Worten seine Krallen so tief durch Mikes Hemd in seine Haut grub, daß er vor Schmerz beinahe aufgestöhnt hätte. Der Kater spielte weiter den Schlafenden, doch Mike spürte, daß er sich längst in ein Energiebündel verwandelt hatte, das nur darauf wartete, das Theaterspiel endlich aufzugeben. »Ihr ist nichts geschehen«, fuhr Winterfeld fort. »Ganz im Gegenteil, es ist uns gelungen, sie aufzuwecken. Aber sie ist ... sagen wir, noch ein wenig benommen.« Mike fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. Astaroth zitterte auf seinen Armen. Er spürte, daß jeder Muskel im Leib des Katers schier zum Zerreißen angespannt war. »Ich möchte mich nur davon überzeugen, daß es ihr gutgeht«, sagte Mike. »Also gut«, sagte Winterfeld und stand auf. »Wenn das nötig ist, um dir zu beweisen, daß ich es ernst meine mit meinem Vorschlag, soll es mir recht sein. Komm mit.« Er kam um den Schreibtisch herum, machte eine auffordernde Handbewegung zu Mike, ihm zu folgen, und öffnete die Tür. Die beiden Posten, die Mike hierher begleitet hatten, standen noch immer draußen auf
dem Gang. Respektvoll traten sie einen Schritt zur Seite, als Winterfeld an ihnen vorüberging, folgten ihm und Mike aber mit zwei Schritten Abstand. Winterfeld führte ihn durch ein wahres Labyrinth von Gängen und Korridoren. Dann und wann begegneten ihnen andere Besatzungsmitglieder, die respektvoll beiseitetraten, um ihrem Kommandanten Platz zu machen, aber im allgemeinen schien das Schiff wie ausgestorben zu sein. Doch Mike wurde rasch klar, daß das nicht etwa daran lag, daß Winterfeld so wenige Männer an Bord hatte, sondern vielmehr an der enormen Größe der LEOPOLD. Früher, als er sich noch mit Winterfelds Sohn ein Zimmer im Internat geteilt hatte, hatten sie oft über die LEOPOLD gesprochen, und Paul hatte ihm erzählt, daß sie eines der größten Schiffe der deutschen Kriegsmarine war. Mike hatte dies geglaubt, sich aber niemals wirklich Gedanken darüber gemacht, was das eigentlich bedeutete - doch jetzt kam er aus dem Staunen nicht mehr heraus. Selbst die NAUTILUS mit ihren fast hundert Metern mußte neben dem Schlachtschiff wie ein kleines Boot wirken. Der Gedanke erinnerte ihn an eine Frage, die ihm die ganze Zeit bereits auf der Seele lag. »Wo ist Paul?« fragte er. »Ist er auch an Bord?« Winterfeld lachte. »O nein«, sagte er kopfschüttelnd. »Wofür hältst du mich? Ich würde meinen Sohn niemals einer derartigen Gefahr aussetzen. Er befindet sich an einem sicheren Ort.« »Und wo ist dieser sichere Ort?« fragte Mike. Wieder lachte Winterfeld und schüttelte den Kopf. »Du gibst nicht auf, wie? Aber ich denke, wir sollten es mit den Vertrauensbeweisen am Anfang vielleicht noch nicht
übertreiben. Später wirst du deinen Freund sicher wiedersehen.«
Sie hatten ihr Ziel erreicht. Vor einer eisernen Tür standen zwei Wächter, zwar bewaffnet wie fast alle an Bord, trotzdem aber deutlich gelangweilt. Als sie Winterfeld sahen, versuchten sie hastig, eine stramme Haltung einzunehmen und ihre Uniformen zu glätten. Winterfeld beachtete sie allerdings gar nicht, sondern öffnete die Tür und gebot Mike mit einer Handbewegung, ihm zu folgen. Die beiden Soldaten, die mit ihnen gekommen waren, traten hinter ihnen ein. Wie Mike auf den ersten Blick erkannte, handelte es sich um die Krankenstation der LEOPOLD. An der Wand neben der Tür stand eine ganze Reihe weißer, sauber bezogener Betten, es gab eine Anzahl medizinischer Instrumente und mehrere Glasschränke voller Fläschchen und Behälter, die wohl Medikamente enthielten. Ein stechender Karbolgeruch hing in der Luft, und ein älterer Mann in einem weißen Kittel, wahrscheinlich der Arzt, sah Winterfeld entgegen und grüßte ihn knapp, ohne sich zu einem militärischen Gruß aufraffen zu können. Serena lag in dem Bett neben der Tür, und obwohl sie noch immer das einfache weiße Gewand trug und fast in der gleichen Haltung in den Kissen lag, in der Mike sie in dem gläsernen Sarg gefunden hatte, war etwas mit ihr vorgegangen. Ihre Augen waren nun geöffnet, doch sie waren blicklos und stumpf und schienen die Decke über ihrem Kopf gar nicht zu sehen, und ihre Haut war noch immer von weißer, fast durchscheinender Farbe. Sie lag vollkommen bewegungslos da, das Haar wie einen goldfarbenen Schleier um die Schultern ausgebreitet, und sie atmete so flach, daß man es kaum bemerkte, und doch hatte sie sich verändert. Als Mike sie in dem gläsernen Sarg gesehen hatte, da war sie wenig mehr als eine Tote gewesen, eine
schlanke Mädchengestalt mit einem wunderschönen Gesicht, aber nicht mehr. Ebensogut hätte sie eine Statue sein können, die von der Hand eines begnadeten Künstlers erschaffen worden war. Jetzt aber war in dieser StatueLeben.Man konnte es kaum sehen, dafür jedoch um so deutlicher spüren, und es war, als hätte dieser göttliche Funke eine Veränderung unter der Oberfläche des Sichtbaren bewirkt, die sie zu etwas ganz anderem machte. Ganz plötzlich war ihre Schönheit nicht mehr die einer Puppe, sondern etwas Lebendiges, Warmes, zu dem sich Mike sofort hingezogen fühlte. Aber da war noch mehr. Obwohl er das Mädchen jetzt erst zum dritten Mal im Leben sah, fühlte er etwas Vertrautes in sich, als kenne er sie schon seit sehr langer Zeit. Vielleicht hatte es mit Astaroth zu tun. Vielleicht waren es die Gefühle des Katers, die er spürte und im ersten Moment für seine eigenen hielt, doch selbst wenn, spielte das keine Rolle - Mike mußte nur einen einzigen Blick auf dieses bleiche, schmale Mädchengesicht werfen, um zu wissen, daß er Serena nötigenfalls mit dem eigenen Leben verteidigen würde, sollte ihr jemand etwas zuleide tun wollen. All diese Gedanken und Gefühle überfielen Mike, kaum daß er durch die Tür getreten war. Auch Astaroth reagierte auf den Anblick des Mädchens. Er erwachte jäh aus seiner Lethargie, sprang mit einem schrillen Laut von Mikes Armen herunter und war mit einem gewaltigen Satz auf dem Bett. Der Arzt machte instinktiv einen Schritt vor, um ihn davonzuscheuchen, aber Winterfeld hielt ihn mit einer raschen Bewegung zurück. Astaroth stieß ein lautes Miauen aus, war mit einem einzigen Sprung neben der Schulter des Mädchens und begann seinen Kopf schnurrend an ihrem Gesicht zu reiben. Seine Krallen
gruben sich mit schnellen, regelmäßigen Bewegungen immer wieder in das Kissen, und er wedelte heftig
mit dem Schwanz. Serena blinzelte. Ihre Lider senkten sich und blieben eine Sekunde geschlossen, und als sie sie wieder hob, war in ihren Augen etwas Neues, das bisher nicht dagewesen war. Das Mädchen wirkte noch immer betäubt wie eine Schlafwandlerin, doch der Funke von Leben in ihren Augen glomm jetzt heller. Sie bewegte den Kopf nicht, aber ihre Augen suchten den Kater, und obwohl ihr Gesicht völlig reglos blieb und sie nicht eine Miene verzog, glaubte Mike mit einem Male so etwas wie ein Lächeln darauf zu erkennen. Schließlich hob sie, ganz langsam, zitternd und voller Mühe, den Arm, streckte die Hand aus und legte die Finger zwischen die Ohren des Katers. Astaroth schnurrte immer lauter und kuschelte sich in ihrer Halsbeuge zusammen. »Unglaublich«, sagte der Arzt. »Wir haben alles versucht, aber sie hat auf nichts reagiert. Sie scheint dieses Tier zu kennen.« Winterfeld wandte sich zu Mike um. »Ich glaube, ich habe dich schon wieder unterschätzt«, sagte er. »Ein Meerkater, wie? Und ihr habt das Tier auf dem Grund des Ozeans gefunden?« »Ich habe es Ihnen ja gesagt«, antwortete Mike knapp. »Ja«, seufzte Winterfeld. »Das hast du. Aber - gibt es vielleicht ein paar Dinge, die du mir nicht gesagt hast?« »Das müssen Sie schon selbst herausfinden«, erwiderte Mike patzig. Winterfeld wurde nicht zornig, wie er erwartet hatte. Es schien überhaupt recht schwierig zu sein, diesen Mann aus der Ruhe zu bringen oder wirklich zu verärgern.
Da niemand etwas dagegen zu haben schien, trat Mike mit vorsichtigen Schritten an das Bett heran und beugte sich über die schlafende Prinzessin. Er sah dem Mädchen jetzt direkt in die Augen, aber noch immer war kein Erkennen darin zu sehen. Es waren nicht mehr die Augen einer Statue, aber ihr Blick schien geradewegs durch Mike hindurch und in unbekannte Fernen zu gehen, und für einen Moment glaubte er einen Ausdruck von solchem Schmerz und Leid zu erkennen, daß es ihn schauderte. »Wer ist dieses Mädchen?« fragte Winterfeld. Mike schüttelte den Kopf: »Ich weiß es nicht.« »Du enttäuscht mich, mein Junge«, sagte Winterfeld. »Du hast doch mit Arronax gesprochen. Hat er dir nicht erzählt, daß ich im Besitz seiner Aufzeichnungen bin?« »Wenn Sie es wissen, warum fragen Sie dann?« Diesmal sparte sich Winterfeld eine Antwort. Er trat auf der anderen Seite an das Bett heran und streckte die Hand aus, um das Mädchen zu berühren, doch er hielt inne, als Astaroth ein drohendes Fauchen hören ließ und die Zähne bleckte. »Und ich glaube, da haben wir auch ihren Wächter«, sagte Winterfeld. Die Worte klangen kein bißchen spöttisch, und der Ausdruck auf seinem Gesicht zeigte Respekt. Nach einigen Sekunden trat Winterfeld vom Bett zurück, und der Kater beruhigte sich wieder.
»Was haben Sie mit ihr vor?« wollte Mike wissen. Winterfeld lächelte beruhigend. »Vorerst nichts. Außer ihr zu helfen, versteht sich. Später ...« Er zuckte mit den Achseln. »Wir werden sehen. Nachdem die Kuppel zerstört ist, ist dieses Mädchen möglicherweise alles, was vom Volk der Atlanter geblieben ist. Aber du mußt dir keine Sorgen machen. Es liegt mir fern, ihr irgend etwas anzutun.«
»Solange sie Ihnen sagt, was Sie wissen wollen, nicht wahr?« »Ich glaube, du hast zu viele schlechte Romane gelesen«, erwiderte Winterfeld mit gutmütigem Spott. »Selbst wenn ich der wäre, für den du mich offensichtlich hältst, hätte ich längst begriffen, daß Gewalt selten zu einer befriedigenden Lösung führt.« »Warum wenden Sie sie dann immer wieder an?« »Weil es manchmal nicht anders geht«, erwiderte Winterfeld in einem Tonfall, der Mike zeigte, daß ihn sein Mißtrauen verletzt hatte. »Eines Tages wirst du begreifen, warum ich all das hier tue. Aber jetzt ist nicht der Moment, darüber zu reden. Wir sind hier, um diesem Mädchen zu helfen. Für alles andere ist später Zeit.« Er trat einen Schritt beiseite und gab dem Arzt einen Wink. Dieser trat ans Bett und beugte sich über das Mädchen. Wieder stieß Astaroth ein drohendes Fauchen aus und zeigte die Zähne, und der Arzt schrak zurück. »Nicht, Astaroth!« sagte Mike. »Er will ihr nur helfen.« Eine Sekunde lang starrte der Kater ihn aus seinem einzelnen, unheimlich leuchtenden Auge an, dann wurde er ruhig und ließ es zu, daß der Doktor sie mit seinem Stethoskop abzuhören begann. Winterfeld sah Mike nachdenklich an, und noch bevor er etwas sagte, begriff Mike, daß er vielleicht einen nicht wieder gutzumachenden Fehler begangen hatte. »Du kannst dich also mit ihm verständigen«, stellte Winterfeld fest. »Es ist ... ein sehr kluges Tier«, stammelte Mike. »Manchmal glaube ich tatsächlich, daß er mich versteht.« Winterfeld lächelte nur, und Mike sah selbst ein, wie wenig überzeugend diese Worte klangen.
Unter Astaroths mißtrauischen Blicken untersuchte der Arzt Serena sehr vorsichtig, aber sehr gründlich. Schließlich trat er vom Bett zurück und machte ein ernstes Gesicht. »Sie ist sehr schwach«, sagte er. »Aber das ist nicht alles. Irgend etwas stimmt nicht mit ihr. Ich kann nicht sagen, was.« »Kannst du uns helfen?« fragte Winterfeld. Der Kater hatte bisher beharrlich geschwiegen, und seine lautlose Gedankenstimme drang auch jetzt nicht in Mikes Kopf. Trotzdem war Mike ziemlich sicher, daß er zumindest über den Umweg durch den Kater -mit dem Mädchen in Verbindung hätte treten können. Aber er glaubte auch zu spüren, daß Astaroth ihm jetzt nicht antworten würde. »Nein«, antwortete er einsilbig. »Du machst es nur schwerer für uns alle«, sagte Winterfeld. Er schüttelte leicht den Kopf. »Aber gut, ganz wie du meinst. Wir haben Zeit genug.« Er gab den beiden Soldaten, die mit ihm hereingekommen waren und die ganze Szene bisher schweigend, aber mit offensichtlichem Staunen verfolgt hatten, einen entspre
chenden Wink. »Bringt ihn zurück zu den anderen.«
Sie bekamen einen weiteren Beweis für Winterfelds Großzügigkeit, denn einer der beiden Soldaten, die Mike zurückbegleiteten, erklärte, daß er mit Trautman zu den anderen gehen durfte. Natürlich mußte Mike Arronax und Ben ausführlich erzählen, wie es ihm ergangen war, und natürlich hatte jeder der anderen eine andere Meinung dazu; sowohl zu dem, was Mike erlebt hatte, als auch zu dem, was davon zu halten war. Vor allem Ben verkündete lautstark, daß man Winterfeld auf keinen Fall trauen dürfe und seine vermeintliche Freundlichkeit gar nichts anderes als ein Trick sein konnte.
Aber Mike war davon mittlerweile nicht mehr so überzeugt wie noch vor einer Stunde, als man ihn zu Winterfeld gebracht hatte. Er war weit davon entfernt, irgendwelche freundschaftlichen Gefühle für Kapitän Winterfeld zu hegen oder ihm gar zu trauen aber es fiel ihm auch immer schwerer, Winterfeld als den gewissenlosen Verbrecher zu sehen, als den ihn Ben gerne hingestellt hätte. Und zumindest Trautman schien es ganz ähnlich zu ergehen, denn er beteiligte sich kaum an der Auseinandersetzung, sondern wurde immer nachdenklicher und stiller; und manchmal
- wenn er glaubte, Mike merke es nicht - warf er ihm einen sonderbaren Blick zu. Auf diese Weise vergingen sicherlich zwei Stunden, ehe es endlich Arronax war, der die Diskussion zu einem Ende brachte, indem er leise, aber sehr eindringlich sagte: »Aber das alles ändert doch nichts.« Einen Moment lang herrschte verwirrtes Schweigen, dann fragte André: »Woran?« »An der Tatsache, daß wir hier gefangen sind und Kapitän Winterfeld - ob nun freundlich oder nicht - mit diesem Mädchen den Schlüssel zu unvorstellbarer Macht in den Händen hält.« Er sah sich einen Moment in der Runde um, als erwarte er Widerspruch oder auch Zustimmung. Als keines von beidem erfolgte, fuhr er fort: »Ich stimme mit Mike in zumindest einem Punkt überein: Auch ich habe in den vergangenen Wochen Zeit und Gelegenheit genug gehabt, um mit Winterfeld zu reden und mir ein Bild zu machen. Am Anfang hielt ich ihn ebenfalls nur für einen Verbrecher: bestenfalls einen Wahnsinnigen. Mittlerweile bin ich mir nicht mehr so sicher, was das angeht. Und außerdem denke ich, daß Winterfeld einen ganz konkreten Plan hat.« »Was für einen Plan?« fragte Trautman scharf.
Arronax zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich ebensowenig wie Sie. Aber Winterfeld ist kein Mann, der irgend etwas ohne triftigen Grund tut. Vielleicht ist es euch allen noch nicht bewußt geworden, aber mit dem, was er getan hat, hat er sich gewissermaßen selbst für vogelfrei erklärt. Der Krieg wird es ihm etwas leichter machen, weil die Welt im Moment anderes zu tun hat, als einen Deserteur zu jagen, aber über kurz oder lang wird er erwischt werden. Und er weiß das. Winterfeld ist kein Dummkopf.« »Worauf wollen Sie hinaus?« fragte Singh. »Ich denke, Winterfeld spielt einfach va banque«, antwortete Arronax. »Er hat alles auf eine Karte gesetzt und das hätte er schwerlich getan, hätte er sich nicht eine gute Chance ausgerechnet, das Spiel zu gewinnen. Er ist hinter dem Vermächtnis der Atlanter her und mit Serenaundder NAUTILUS hat er gute Aussichten, es auch zu bekommen.« »Aber die Kuppel ist zerstört!« wandte Chris ein. Arronax lächelte. »Ich fürchte, das wird nicht viel nützen«, sagte er. »Ich habe Dutzende von Hinweisen auf andere Hinterlassenschaften des untergegangenen Volkes gefunden -und du hast es ja selbst gehört: Winterfeld besitzt meine Aufzeichnungen. Wenn ihm das Mädchen auch nur ein paar Hinweise gibt, ist es ein Leichtes für ihn, die Reste von Atlantis zu fin
den.« »Und wir haben ihm auch noch das passende Schiff dazu geliefert«, sagte Trautman düster. Arronax seufzte. »Ja. Sie haben die Kuppel gesehen, Trautman. Und Sie wissen, wozu die NAUTILUS in
der Lage ist. Wenn Winterfeld mehr von der Hinter
lassenschaft der Atlanter findet ... das ist unvorstell
bar. Er könnte im wahrsten Sinne des Wortes unbe
siegbar werden. Wer weiß - vielleicht könnte er sich
tatsächlich zum Herrscher über die ganze Welt aufschwingen. Ich glaube nicht, daß er das will, aber -« »Und damit haben Sie auch vollkommen recht, Professor«, unterbrach ihn eine Stimme von der Tür her. Alle fuhren erschrocken herum und sahen den Schlachtschiffkommandanten an, der vollkommen unbemerkt die Kabine betreten hatte und offensichtlich schon eine ganze Weile zuhörte. »Ich bin mir der Gefahr, der ich mich selbst und meine Männer aussetze, durchaus bewußt, mein lieber Professor. Doch der Preis, um den es hier geht, ist den Einsatz mehr als wert.« Er kam näher, wobei er die Tür hinter sich offenstehen ließ, so daß sie alle die beiden bewaffneten Marinesoldaten sehen konnten, die draußen auf dem Korridor Aufstellung genommen hatten, und fuhr in lockerem Tonfall fort, »Er ist vermutlich höher, als selbst Sie sich vorstellen können und ihr anderen auch. Um so mehr schmerzt es mich, daß sie mich noch immer für einen gemeinen Piraten zu halten scheinen.« Bei diesen Worten maß er Ben mit einem bezeichnenden Blick, den der junge Engländer trotzig und anscheinend ohne eine Spur von Furcht erwiderte. »Wenn das nicht so ist, dann erzählen Sie uns doch, was Sie wirklich vorhaben«, sagte Trautman. »Vielleicht gelingt es Ihnen ja, uns zu überzeugen - wer weiß?« »Wer weiß?« bestätigte Winterfeld lächelnd. »Ich täte es gern, aber jetzt ist weder die Zeit noch die richtige Gelegenheit dazu.« »Was spricht dagegen?« »Der Umstand, daß ich nicht weiß, ob ich Ihnen und Ihren jungen Freunden trauen kann oder nicht«, antwortete Winterfeld mit großem Ernst. »Und damit wären wir gleich beim Grund meines Hierseins.« Er
deutete auf Mike. »Michael wird Ihnen ja erzählt haben, welche Pläne ich mit Ihnen beziehungsweise mit Professor Arronax und seinen Begleitern hege.« »Haben Sie eine einsame Insel gefunden, auf der Sie uns absetzen können?« grollte Ben. »Oh, gleich ein Dutzend, was das angeht«, erwiderte Winterfeld. »Und ich versichere dir, mein junger Freund, einige davon sind wirklich einsam; einsam genug jedenfalls für die nächsten zehn Jahre.« Dann fuhr er in verändertem Ton fort: »Wie die Dinge nach der Vernichtung der Kuppel liegen, gibt es keinen Grund mehr für die LEOPOLD, länger hierzubleiben. Wir werden noch im Laufe des Abends Fahrtaufnehmen.« »Und was geht das uns an?« fragte Ben. »Brauchen Sie noch Galeerensklaven für die Ruder?« fügte Juan hinzu. Winterfeld schenkte ihnen keine Beachtung. »Es geht um die NAUTILUS«, sagte er. »Ich will ehrlich zu euch sein: Ich habe ein paar fähige Ingenieure an Bord, und es ist keine Frage, daß sie über kurz oder lang lernen werden, mit dem Schiff umzugehen aber ich fürchte, es wird eher länger dauern.« »Und jetzt wollen Sie, daß wir Ihre Leute unterweisen?« fragte Mike fassungslos. Winterfeld nickte. »Es macht keinen Unterschied - für euch«, sagte er. »Und auch nicht für uns. Wir verlieren nur ein wenig Zeit, kostbare Zeit, wie ich gerne zugebe. Trotzdem spielt es eigentlich keine Rolle. Der Unterschied für euch wäre, daß ich eure Bereitschaft zur Hilfe nicht vergessen würde.« »Garantieren Sie uns einen schmerzlosen Tod?« fragte Ben hämisch. Diesmal sahen sie alle das kurze, ärgerliche Flackern in Winterfelds Augen. Aber er beherrschte sich auch
jetzt noch. »Ich garantiere euch allen die beste Behandlung, die ich euch unter diesen Umständen bieten kann«, sagte er ernst. »Egal, wie eure Entscheidung ausfällt, ob ihr zu meinen Verbündeten werdet oder es vorzieht, mich weiter als Feind zu betrachten, werde ich -« Draußen auf dem Korridor wurden polternde Schritte laut, und einen Augenblick später stürmte ein Marinesoldat in die Kabine und blieb schweratmend vor Winterfeld stehen. »Herr Kapitän, Sie müssen in die Krankenstation kommen!« sagte er, ohne irgendeine nähere Erklärung abzugeben. Und Winterfeld schien zu spüren, wie ernst es mit dem Mann war, denn er zögerte nicht und wandte sich zur Tür. Aber der Soldat hielt ihn noch einmal zurück, in
dem er auf Mike deutete: »Der Junge sollte besser auch mitkommen«, sagte er. Winterfeld war überrascht -aber Mike erschrak, und jetzt erkannte er den Mann, der da so atemlos hereingestürzt war: Es war einer der beiden Soldaten, die mit ihnen bei Serena gewesen waren. Es bedurfte keines weiteren Befehles von Winterfeld, damit er ihm und dem Soldaten folgte. Hintereinander
stürmten sie aus der Kabine.
Obwohl sich die Krankenstation nahezu am anderen Ende des gewaltigen Schiffes befand, benötigten sie nicht einmal fünf Minuten, um den Korridor zur Krankenstation zu erreichen, der voller Soldaten war.
Sie hörten die aufgeregten Rufe und durcheinanderschreienden Stimmen schon von weitem; nicht einmal als Winterfeld die Treppe hinunterpolterte, hörte der Lärm völlig auf; und bei der eisernen Disziplin, die an Bord der LEOPOLD herrschte, bedeutete das eine ganze Menge!
Winterfeld griff sich den erstbesten Mann, der ihm in den Weg kam, und fuhr ihn an: »Was ist hier los?« Der Soldat antwortete nicht, sondern deutete hinter sich, und als Mikes Blick der Geste folgte, sah er eine Gestalt in einem weißen Kittel, die zusammengekauert am Boden hockte und Kopf und Schultern gegen die Wand gelehnt hatte. Mike erkannte den Arzt, der bei Serena gewesen war, aber nur an dem weißen Kittel und dem Stethoskop, das er um den Hals trug, sein Gesicht war voller Blut. Auch der vordere Teil seines Kittels hatte sich rot gefärbt. Der Mann stöhnte vor Schmerz. »Wie ist das geschehen?« fuhr Winterfeld den Mann an, ohne Rücksicht auf dessen Zustand zu nehmen. »Wer hat das getan?« »Der ... der Kater«, stöhnte der Arzt. »Dieses schwarze Ungeheuer ist ... einfach auf mich losgegangen. Ich ... ich habe gedacht, er bringt mich um.« »Astaroth?« fragte Mike zweifelnd. Was er sah, schien die Worte des Mannes zu bestätigen - unter all dem Blut auf seinem Gesicht gewahrte er mindestens ein Dutzend kreuz und quer verlaufender Kratzer, die durchaus von Astaroths Krallen stammen konnten. Aber er konnte sich nicht vorstellen, daß der Kater ohne Grund auf den Mann losgegangen sein sollte. Winterfeld offenbar auch nicht, denn er fragte geradeheraus: »Was zum Teufel haben Sie angestellt, Sie Dummkopf?« »Ich ... ich habe dem Mädchen nur eine Spritze gegeben!« sagte der Arzt. »Nur ein Vitaminpräparat, um sie zu stärken.« »Und Astaroth ließ das nicht zu«, vermutete Mike. »Er ist wie ein Verrückter auf mich losgegangen«, bestätigte der Arzt. »Ich habe versucht, ihn wegzujagen, aber er wurde immer wilder.«
»Sie verdammter Narr!« sagte Winterfeld. Er richtete sich auf und fuhr herum. »Aber das kann nicht alles sein. Was ist hier los?« Keiner der anderen Männer antwortete. Aber Mike fiel plötzlich etwas auf -in der Wand neben der Tür, hinter der sich Serena und Astaroth befanden, war eine fast mannshohe Beule, von der er ganz sicher war, daß es sie vorhin nicht gegeben hatte. Auch Winterfeld hatte diese Beule gesehen. Eine Sekunde lang starrte er sie stirnrunzelnd an, dann ging er auf die Tür zu und streckte die Hand nach der Klinke aus. »Tun Sie das lieber nicht«, sagte einer der Soldaten. Mike und Winterfeld drehten sich gleichzeitig zu ihm herum, und Mike sah, daß der Mann nicht nur bleich vor Schrecken war, sondern auch aus einer tiefen Wunde auf dem rechten Handrücken blutete. »Warum?« fragte Winterfeldscharf. Der Mann zögerte, dann sagte er so leise, daß die Worte kaum zu verstehen waren: »Die Katze.« Mike war nicht im geringsten überrascht. Auf Winterfelds Gesicht jedoch erschien ein Ausdruck grenzenlosen Staunens. »Wie bitte?« keuchte er. »Sie wollen mir erzählen, daß meine halbe Mannschaft hier herumsteht und sich vor einer Katze fürchtet?« Die letzten Worte hatte er geschrien. Der Soldat duckte sich wie ein geprügelter Hund, und auch die anderen wichen so weit vor ihm zurück, wie es der beengte Raum überhaupt zuließ. »Sie ... sie ist von Sinnen, Herr Kapitän«, stammelte der Soldat. »Das ... das ist keine Katze. Das ist ein ... Ungeheuer!« »Was für ein Quatsch!« sagte Winterfeld. Trotzdem zögerte er sichtlich, die Hand nochmals nach der Türklinke auszustrecken und die Krankenstation zu betreten. Aber dann gab er sich einen Ruck, drückte die Klinke herunter und trat ein. Mike folgte ihm unaufgefordert, und weder Winterfeld noch einer seiner Männer versuchte ihn zurückzuhalten, und das war auch gut so, denn hätte Winterfeld die Kabine allein betreten, dann wäre es vielleicht zu einer noch viel größeren Katastrophe gekommen. Mike sah nur einen Schatten aus den Augenwinkeln, fuhr herum und wurde wuchtig gegen die Wand geschleudert, als Winterfeld mittem im Schritt zurückprallte und einen überraschten Schrei ausstieß. Auf seiner Brust hockte plötzlich etwas Schwarzes, Pelziges, das mit scheinbar Dutzenden von Krallen und Zähnen zugleich nach seinem Gesicht hackte und biß. »Astaroth, nicht!« schrie Mike. »Hör auf!« Astaroth tobte wie ein Besessener. Seine Krallen fetzten durch Winterfelds dicke Uniformjacke, als bestünde sie aus Papier, und obwohl das Tier kaum zwanzig Pfund wiegen konnte, prallte Winterfeld unter seinem ungestümen Angriff erneut gegen die Wand und fiel auf ein Knie herab. Mit einer Hand versuchte er, den Kater von seinem Gesicht und vor allem von seiner Kehle fernzuhalten, mit der anderen griff er unter seine Jacke. Mike konnte nicht erkennen, was er da tat, aber es überkam ihn eine Ahnung ... »Astaroth, hör auf!« schrie Mike verzweifelt. »Er bringt dich um!«
Diesmal reagierte der Meerkater und sah Mike an und Winterfeld nutzte seine Chance sofort. Mit einer kraftvollen Bewegung schleuderte er den Kater von sich und sprang auf die Füße. Astaroth flog quer durch die Kabine, kam geschickt auf allen vieren wieder auf und wirbelte wie ein schwarzer Blitz herum
um sich abermals auf Winterfeld zu stürzen. Doch Winterfeld hatte die Sekunde, die er gewonnen
hatte, genutzt. Seine Hand war wieder unter der Jacke hervorgekommen, und ganz wie Mike befürchtet hatte, lag jetzt eine Pistole darin. Mit einem gellenden Schrei und weit ausgebreiteten Armen warf sich Mike zwischen Winterfeld und den Kater, so daß Astaroth nun gegen ihn prallte, statt gegen den deutschen Offizier. Der Anprall riß Mike von den Füßen. Er stürzte, ließ Astaroth aber nicht los. Seine Hände krallten sich mit aller Macht in das dichte Pell. »Astaroth, hör auf!« keuchte er wieder. »Er bringt dich um!« Diesmal wirkten die Worte. Astaroth tobte und wand sich weiter in seinen Händen, aber er griff Mike nicht an, und nach einigen Augenblicken wagte er es, sich vorsichtig aufzurichten, wobei er den Kater mit beiden Armen umklammert hielt und ihn so fest an die Brust drückte, daß er kaum noch Luft bekam. Winterfeld stand in einiger Entfernung und beobachtete Mike und Astaroth aufmerksam. Die Waffe hielt er dabei unverwandt auf den Kater gerichtet, und Mike zweifelte keine Sekunde daran, daß er davon Gebrauch machen würde, wenn Astaroth noch einmal versuchte, ihn anzugreifen. »Sie können die Pistole einstecken«, sagte Mike. »Er wird Ihnen nichts mehr tun.« Winterfeld dachte nicht daran, die Waffe auch nur zu senken. Aber er entspannte sich ein wenig. »Ich glaube, du hast gerade einem von uns das Leben gerettet«, sagte er, wobei er offenließ, ob er dabei sich und Mike oder sich und den Kater meinte. »Aber besonders klug war das nicht.« Mike zog es vor, ihm nicht zu widersprechen. Statt dessen wandte er sich zu dem Bett um, in dem Serena lag, während Winterfeld nach dem verletzten Soldaten sah. Mike registrierte, daß dieser direkt unter der Delle lag, die in der Metallwand zum Korridor hin entstanden war. Was um alles in der Welt hatte Astaroth mit ihm getan?Was er verdient hat,antwortete Astaroths lautlose Stimme in seinem Kopf.Sie haben versucht, der Prinzessin weh zu tun. Das kann ich nicht zulassen.
Mike seufzte. »Der Arzt wollte ihr nur helfen, Astaroth«, sagte er laut. Winterfeld sah auf und maß ihn mit einem stirnrunzelnden Blick.Er hat ihr in den Arm gestochen!beharrte Astaroth. »Er hat ihr nur eine Spritze mit einem Stärkungsmittel geben wollen, Astaroth«, sagte Mike geduldig. »Das tut ein bißchen weh, aber nicht mehr.« Astaroth schwieg, funkelte ihn aber weiter mißtrauisch aus seinem Auge an und sprang mit einem Satz auf Serenas Bett. Wie schon einmal erwachte das Mädchen fast augenblicklich aus seiner Lethargie, als es die Nähe des Katers spürte, und streckte die Hand nach ihm aus. Astaroth begann zu schnurren, als sie ihn kraulte. Aber als Winterfeld näher kam, machte er einen Buckel und fauchte. Winterfeld blieb stehen. »Du kannst dich also tatsächlich mit ihm verständigen«, sagte er. Mike schwieg. Es hatte auch keinen Sinn, zu leugnen. »Du solltest ihm wirklich gut zureden«, fuhr Winterfeld fort. »Wenn er noch einen meiner Männer verletzt, lasse ich ihn erschießen.« Astaroth fauchte. Winterfeld musterte ihn kühl und wich einen Schritt vom Bett zurück, steckte seine Waffe aber immer noch nicht ein. Plötzlich begann sich Serena zu regen. Sie hatte bisher
- außer auf Astaroth -auf nichts irgendeine Reaktion gezeigt, aber nun spürte Mike, wie unruhig und nervös sie war. Irgend etwas ... geschah. Er konnte es deutlich fühlen.
Sicher fragst Du Dich voll Spannung, wie es mit Mike, dem geheimnisvollen Mädchen und dem einäugigen Kater weitergeht. Gleich wirst Du es erfahren, wir wollen Dich vorher nur etwas fragen: Hat es Dir Spaß gemacht, mit Mike und seinen Freunden zu tauchen und das Mädchen in der Kuppel zu entdecken? Möchtest Du auch weiterhin mit ihnen und der Nautilus die Weltmeere durchqueren und die aufregendsten Abenteuer erleben? Das kannst Du: Wolfgang Hohlbein schreibt bereits an den nächsten Bänden dieser Reihe. Aber hast Du schon den ersten Band gelesen, in dem erzählt wird, wie die fünf Jungen das Unterseeboot gefunden haben? Er heißt »Die Vergessene Insel« und wartet in der Buchhandlung auf Dich. Es gibt auch einen »Kapitän-Nemo-Fan-Club«. Wenn Du Mitglied werden möchtest, dann schreib einfach an
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So, jetzt geht's weiter...
»Sie sollten so etwas nicht sagen, wenn sie es hört«, sagte Mike leise.Und auch nicht, wenn ich es höre,fügte Astaroth in seinen Gedanken hinzu. Winterfeld zog es vor, nicht weiter auf dieses Thema einzugehen, sondern wandte sich abrupt zur Tür und öffnete sie. Einige Soldaten betraten den Raum, hielten aber respektvoll Abstand zu Serenas Bett -wohl des Katers wegen -, während der Arzt, obwohl selbst verletzt, sich um den verwundeten Soldaten kümmerte. Mike registrierte dies alles nur mit einem flüchtigen Blick. Seine ganze Aufmerksamkeit galt Serena, die sich mittlerweile halb im Bett aufgesetzt hatte und die ganze Szene aus vor Angst geweiteten Augen betrachtete. Mike versuchte sich vorzustellen, welchen Eindruck das, was sie sah, auf sie machen mochte, aber seine Phantasie kapitulierte vor dieser Aufgabe. »Kannst du ... mich verstehen?« fragte er zögernd. Er konnte nicht sagen, ob Serena die Worte verstand oder nur auf seine Stimme reagierte - auf jeden Fall drehte sie langsam den Kopf und sah ihn aus ihren großen, dunklen Augen an, und ... Auch hinterher fehlten Mike einfach die Worte, um zu beschreiben, was in der endlosen Sekunde, in der sich ihre Blicke trafen, vor sich ging. Es war mehr als nur ein Berühren der Blicke, das zwischen ihnen stattfand. Wie schon einmal fühlte sich Mike dem Mädchen so nahe und so tief verbunden wie niemals zuvor einem anderen Menschen, und es war ein Gefühl von solcher Wärme und Wohltat, daß er hoffte, es würde nie enden. »Kannst du mich verstehen?«
fragte er noch einmal. Als Serena auch jetzt nicht antwortete, sondern ihn nur unverwandt anblickte, fügte er lächelnd hinzu: »Du mußt keine Angst haben. Wir wollen dir helfen.«
Wieder streckte er die Hand nach dem Mädchen aus, führte die Bewegung aber nicht zu Ende, denn Astaroth schob sich drohend zwischen ihn und das Mädchen und machte einen Buckel. Sein einzelnes Auge funkelte tückisch.Faß sie nicht an!erscholl die lautlose Stimme des Katers in seinen Gedanken. »Hör endlich mit dem Blödsinn auf, Astaroth«, sagte Mike. »Was soll das? Ich stehe auf deiner Seite!«
Ich bin nicht mehr sicher, daß hier irgendeiner auf meiner Seite steht,antwortete der Kater gereizt. »Sei vernünftig, Astaroth«, sagte Mike. »Der Mann dort ist Arzt. Alles, was er tut, geschieht nur, um Serena zu helfen.« Langsam streckte er die Hand wieder aus, und diesmal ließ Astaroth es zu, daß er Serenas Hand erfaßte. Das Mädchen erschauerte unter seiner Berührung, aber auch Mike verspürte ein kaltes Frösteln. Serenas Haut war eiskalt, und sie fühlte sich glatt und hart an, fast wie kaltes Porzellan, kaum wie lebendiges Fleisch. Er spürte, wie ihr Puls raste, aber irgend etwas sagte ihm, daß es nicht nur die Furcht war, die ihr Herz schneller schlagen ließ. »Ich weiß nicht, ob du mich verstehst«, sagte er langsam und deutlich und bemühte sich, seiner Stimme einen beruhigenden Tonfall zu geben. »Aber wir werden versuchen, dir zu helfen. Diese Männer sind nicht deine Feinde.« Er war plötzlich ganz sicher, daß das stimmte. Und etwas von dieser Gewißheit schien sich auf Serena zu übertragen, denn zum ersten Mal überhaupt lächelte sie; wenn auch nur schwach und voller mühsam niedergehaltener Furcht. »Du kannst dich auch mit ihr verständigen«, sagte Winterfeld. Er kam langsam näher. Astaroth drehte
sich zu ihm, bleckte die Zähne und stieß ein drohenden Fauchen aus, und Winterfeld verharrte für einen Moment im Schritt und musterte den Kater finster. Seine Hand glitt zu den tiefen, blutigen Kratzern, die ihm Astaroth zugefügt hatte. Aber seine Faszination erwies sich als stärker, er ging weiter, blieb unmittelbar neben dem Bett stehen und lächelte Serena zu. Und dann beging er einen Fehler, der ihn -und vielleicht auch die anderen auf dem Schiff - um ein Haar das Leben gekostet hätte. Er streckte die Hand aus, um Serena zu berühren, wie Mike es tat. »Nein!« sagte Mike erschrocken. »Tun Sie das nicht!« Es war zu spät! Alles geschah so schnell, daß Winterfeld nicht einmal mehr hätte reagieren können, wenn er es gewollt hätte. Astaroths Fauchen steigerte sich zu einem schrillen Schrei, mit dem er in die Höhe schnellte und Winterfeld ansprang, die Krallen drohend vorgestreckt und die Zähne gefletscht. Winterfeld riß schützend die Arme vor das Gesicht und zog den Kopf zwischen die Schultern. Ein Schuß fiel. In dem Raum hörte sich das Geräusch wie ein Kanonenschlag an. Eine grelle, orangerote Feuerlanze stach nach Astaroth, und der Kater wurde mitten im Sprung herumgewirbelt, als wäre er von einem Faustschlag getroffen worden. Aus seinem Fauchen wurde ein gepeinigtes Kreischen, während er durch die Luft flog und knapp neben dem Kopfende von Serenas Bett gegen die Wand prallte. Hilflos rutschte er daran herunter und blieb liegen. Winterfeld fuhr herum. Noch bevor der Kater ganz zu Boden gefallen war, hatte er den Mann erreicht, der auf ihn geschossen hatte, und entriß ihm das Gewehr. »Sie Idiot!« brüllte er. »Wer hat Ihnen das erlaubt?! Sind Sie wahnsinnig geworden?« Er schleuderte das Gewehr zu Boden und drehte sich
wieder zu Mike herum. »Es tut mir leid«, sagte er keuchend. »Das wollte ich nicht, das mußt du mir glau
-« Er sprach nicht weiter, denn sein Blick war auf Serena gefallen. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht, und auch Mike spürte, wie sich ein eisiger, lähmender Schrecken in ihm breitzumachen begann. Serena hatte sich stocksteif im Bett aufgerichtet. Einige Sekunden lang hing ihr Blick wie gebannt an dem Körper des schwarzen Katers, der reglos und in einer rasch größer werdenen Blutlache neben ihrem Bett lag, und dann ...Irgend etwasgeschah mit ihr. Mike spürte förmlich diese Veränderung, und es war keine Veränderung zum Guten. Dabei regte sich in ihrem Gesicht kein Muskel - aber in ihren Augen erwachte etwas, was dunkel und wild und von unglaublicher Stärke war. »Nein, Serena«, sagte Mike beschwörend. »Nicht!« »Was soll das heißen!« Winterfeld sah ihn an. »Was tut sie?« Auch er schien zu spüren, daß irgend etwas mit dem Mädchen vor sich ging. »Ich weiß es nicht«, antwortete Mike. »Aber ich -« Ein Krachen und Splittern erscholl. Mike, Winterfeld und alle anderen fuhren herum und starrten auf den Medizinschrank, in dem eines der kleinen Glasfläschchen explodiert war. Es blieb nicht das einzige. Fasziniert und entsetzt zugleich sah Mike, wie die Flüssigkeiten in den kleinen Glasfläschchen plötzlich zu brodeln begannen. Winzige Taifune schienen ihre Oberflächen zu kräuseln und dann explodierten die Fläschchen eines nach dem anderen und jedes mit größerer Wucht. Der ganze Schrank zitterte, eine Sekunde später flogen die gläsernen Türen wie unter einem Hammerschlag auseinander und überschütteten die Männer in ihrer unmittelbaren Nähe mit Scherben und Splittern.
Panik brach aus. Die Männer rissen schützend die Arme vor das Gesicht und versuchten die Tür zu ereichen, wobei einige von ihnen gegeneinanderstießen und zu Boden stürzten. Von draußen drängten die auf dem Gang zurückgebliebenen Soldaten herein, alarmiert durch den Schuß und die Schreie. Nun begannen auch die größeren Behälter und Tiegel zu zittern; manche explodierten, wie die kleinen Glasfläschchen zuvor, andere hüpften wild auf und ab oder flogen auch wie von Geisterhand bewegt urplötzlich durch die Luft, um an den Wänden oder auf dem Boden zu zerschellen, und nicht wenige davon trafen Winterfelds Männer. Mike war überrascht einen Schritt zurückgetaumelt, als das Chaos losbrach, aber er war-vielleicht mit Ausnahme Winterfelds, der die Wahrheit zumindest zu ahnen schien -der einzige, der wußte,werfür diese plötzliche Katastrophe verantwortlich sein mochte. Geduckt und die Arme schützend über dem Kopf zusammengeschlagen, um nicht von einem herumfliegenden Trümmerstück im Gesicht getroffen zu werden, versuchte er sich an Serena zu wenden, doch er hatte kaum einen halben Schritt getan, da fühlte er sich wie von einer unsichtbaren Faust getroffen und so wuchtig gegen die Wand geschleudert, daß ihm die Luft wegblieb und er nichts als bunte Sterne sah. Hilflos sackte er zu Boden. Als er wieder halbwegs klar denken - und sehen konnte, hatte sich die Krankenstation in ein wahres
Chaos verwandelt. Fast alle von Winterfelds Männern lagen auf dem Boden, viele von ihnen bluteten aus Schnittwunden, die ihnen die herumfliegenden Glassplitter zugefügt hatten, und wer noch auf den Beinen war, der versuchte aus dem Raum zu kommen. »Serena,hör auf!«schrie Mike. Eine unsichtbare Gewalt tobte durch den Raum und begann alles zu zerschmettern, was sich ihr in den Weg stellte. Das Licht flackerte, und in die Schreie der Männer und das noch immer anhaltende Klirren des zerberstenden Glases mischte sich ein unheimliches an- und abschwellendes Wimmern. Mike rappelte sich hoch und versuchte abermals Serena zu erreichen. Er wußte plötzlich, daß das hier nur der Anfang war. Serena hatte die unvorstellbaren Kräfte entfesselt, über die sie, genau wie ihre Vorfahren, die Zauberkönige von Atlantis, gebot und deren Macht längst nicht damit erschöpft war, Winterfelds Männer anzugreifen und Gläser explodieren zu lassen. Bevor er jedoch zum Bett kam, wurde er zurückgerissen. »Bist du verrückt geworden?« schrie Winterfeld und begann ihn auf die Tür zuzuzerren. Mike versuchte mit aller Kraft, Winterfelds Griff zu entkommen. »Aber ich muß -« »Willst du, daß sie dich umbringt?« unterbrach ihn Winterfeld. »Nichts wie raus hier!« Ohne weiter auf ihn zu hören, zerrte er Mike hinter sich her. Bevor sie auf den Korridor hinausliefen, wandte Mike noch einmal den Kopf und sah zu Serena zurück, und das Bild, das sich ihm bot, ließ ihn bis ins Innerste erschauern: Serena stand hoch aufgerichtet in ihrem Bett. Ihr Gesicht war jetzt nicht mehr ausdruckslos, sondern zu einer Maske aus Zorn und Schmerz geworden, und ihr Haar und ihr Gewand schienen von einem unsichtbaren Sturmwind gepeitscht zu werden. Winterfeld zerrte ihn vollends aus dem Raum und versetzte ihm einen Stoß, der ihn in die Arme eines Soldaten taumeln ließ. Gleichzeitig begann er mit lauter Stimme Befehle zu erteilen. »Tür zu!« rief er. »Und verbarrikadiert sie. Das Mädchen darf auf keinen Fall herauskommen!«