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Die NAUTILUS erreichte die bezeichnete Position kurz vor Mitternacht. Um nicht entdeckt zu werden – aber auch, weil das Schiff unter Wasser beinahe doppelt so schnell fahren konnte wie über Wasser –, hatten sie einen Großteil der Strecke tauchend zurückgelegt, und Trautman war extrem vorsichtig, als sie schließlich wieder nach oben kamen: Der Turm der NAUTILUS durchbrach die Wasseroberfläche gerade weit genug, daß sie den Ausstieg öffnen konnten. Erst als Singh, der nach oben geklettert war, meldete, daß sie allein waren, tauchte das Schiff ganz auf. Mike verstand diese Vorsichtsmaßnahmen nur zu gut. Es war sehr wichtig, daß die NAUTILUS nicht gesehen wurde. Sie war zwar jedem anderem Schiff auf der Welt überlegen und konnte im Notfall einfach tauchen und so jedem denkbaren Verfolger eine lange Nase drehen, aber ihr zuverlässigster Schutz war noch immer der Umstand, daß niemand von ihrer Existenz wußte. Wenn sich erst einmal herumsprach, daß das märchenhafte Schiff Kapitän Nemos tatsächlich existierte, dann würde eine weltweite Hetzjagd auf die NAUTILUS beginnen, der sie auf Dauer nicht entkommen konnten. Während des letzten Jahres hatten sie sich zumeist in einsamen Gegenden der Weltmeere aufgehalten, weitab von allen bekannten Schiffahrtsrouten. Hier und jetzt aber befanden sie sich in einem der dichtbefahrensten Gebiete der Meere. Der Erste Weltkrieg tobte seit einem guten Jahr, und er hatte auch vor dem Ozean nicht haltgemacht. Deutsche, britische und französische Schiffe hatten sich gerade vor den Küsten Englands schon mehr als ein Gefecht geliefert, und jeder, der hier draußen war, würde den Ozean sehr aufmerksam beobachten.
Aber im Augenblick waren sie allein. Viel zuverlässiger als ihre Augen überzeugten sie die technischen Gerätschaften der NAUTILUS davon, daß es im Umkreis mehrerer Meilen kein anderes Schiff gab. Und die Küste war fast zehn Meilen entfernt. Selbst mit dem besten Fernglas würde man das Schiff, das mit ausgeschalteten Lichtern auf dem Wasser trieb, nicht mehr ausmachen können. Und trotzdem... eine schwache, aber nagende Beunruhigung blieb. Es war das erste Mal, daß sie seit ihrer Flucht aus England zurück in diesen Teil der Welt kamen, und keinem von ihnen war sonderlich wohl dabei.
Mike war Singh auf das Deck der NAUTILUS hinauf gefolgt und stand fröstelnd in dem schneidenden Wind, der über das Meer strich. Es war kalt, und es gab außer der Schwärze der Nacht hier oben absolut nichts zu sehen. Trotzdem war er nicht der einzige, der heraufgekommen war. In einiger Entfernung bemerkte er Chris, der neben Singh stand und leise mit ihm sprach, und jetzt polterten hinter ihm Schritte auf der eisernen Treppe, die nach oben führte. Er drehte sich herum und erkannte Juan. Auf seiner Schulter hockte ein struppiger schwarzer Schatten: Astaroth, der einäugige Kater, der zusammen mit Serena an Bord gekommen war. Vermutlich, dachte Mike, wird es nicht mehr lange dauern, bis auch Ben und Trautman heraufkommen. Sie befanden sich jetzt seit mehr als einer Woche fast ununterbrochen unter Wasser, und so bequem und sicher die NAUTILUS auch sein mochte – auf die Dauer hatte man an Bord das Gefühl, eingesperrt zu sein, gefangen in einem stählernen Sarg, der Hunderte von Metern unter der Meeresoberfläche dahintrieb. Sie nutzten jede Möglichkeit, an Deck zu gehen, die frische Luft zu atmen und vor allem den freien Himmel über sich zu spüren.
Manchmal fragte sich Mike, wie lange sie dieses Leben wohl noch führen würden. Als sie die NAUTILUS gefunden hatten, da hatten sie Trautman mit Mühe und Not davon abbringen können, das Schiff zu zerstören, denn er war der Meinung gewesen, daß es eine zu große Gefahr darstellte, sollte es irgendwann einmal in falsche Hände geraten. Natürlich hatten sie dieses Ansinnen empört abgelehnt, aber mittlerweile war Mike nicht mehr so sicher wie damals, daß das richtig gewesen war. Der große Krieg, von dem sie nur manchmal hörten, während sie sich in den entlegensten Winkeln der Welt herumgetrieben hatten, schien Trautmans Worte auf grausame Weise zu bestätigen. Die ganze Welt war verrückt geworden. Wenn dieses Schiff tatsächlich einmal in die Hände einer der Kriegsparteien fallen sollte ... nein, der Gedanke war zu schrecklich, um ihn zu Ende zu verfolgen.
Er trat einen Schritt beiseite, damit Juan aus dem schmalen Ausstieg heraustreten konnte. Astaroth sprang mit einem Satz von seiner Schulter herunter und verschmolz mit der Farbe der Nacht, als er an Mike vorüberhuschte, und Juan atmete hörbar auf. Der Kater wog gute zwölf Pfund, und Mike wurde den Verdacht nicht los, daß er es sich einzig angewöhnt hatte, es sich dann und wann auf der Schulter eines der Jungen bequem zu machen und diesen als Reittier zu mißbrauchen, weil er genauwußte,wie unangenehm sein Gewicht auf die Dauer werden konnte. Trotz aller Fremdartigkeit und Intelligenz war Astaroth tief in sich immer noch eine typische Katze – auch wenn er jedem das Gesicht zerkratzt hätte, der es wagte, das laut zu sagen.
»Gibt es irgend etwas Neues?« fragte Juan. Was soll es hier schon Neues geben? dachte Mike. Sie befanden sich mitten auf dem Meer, zehn Seemeilen von der nächsten Küste entfernt. »Nein«, antwortete er. »Wir sind allein. « Er drehte sich herum, vergrub fröstelnd die Hände in den Jackentaschen und ließ seinen Blick über die Wasseroberfläche schweifen. Im fahlen Mondlicht wirkte der Ozean vollkommen flach und vollkommen schwarz, wie eine Ebene aus Teer. Die NAUTILUS bewegte sich zwar sanft im Rhythmus der Wellen, aber sie waren jetzt schon so lange an Bord des Schiffes, daß sie das längst nicht mehr bemerkten. »Ich frage mich, was wir hier wollen«, murmelte er. »Warten«, antwortete Juan. »Darauf, daß er das nächste Mal zuschlägt. « Sein Gesicht verdüsterte sich, als er Mikes Blick begegnete. »Ich finde es genauso furchtbar wie du, aber ich fürchte, wir haben keine andere Wahl. «
Mike sagte nichts. Und was auch? Der Gedanke war so schrecklich wie einfach: Sie hatten keine Ahnung, wo die LEOPOLD das nächste Mal zuschlagen würde. Alles, was sie tun konnten, war, abzuwarten, bis sie wieder ein Schiff versenkte oder einen Hafen in Brand schoß, um dann mit voller Kraft hinterherzufahren und zu versuchen, Winterfeld einzuholen. Serena saß unten am Funkgerät und lauschte aufmerksam in den Äther hinaus, so daß sie schon auf den leisesten SOS-Ruf reagieren konnten. Mike war sogar sicher, daß sie Winterfeld auf diese Weise finden würden. Aber die Vorstellung, daß sie tatenlos abwarten mußten, bis er wieder zuschlug – und das bedeutete nichts anderes, als daß dann wieder Menschen sterben würden –, machte ihn krank. »Ich verstehe das einfach nicht«, murmelte er. »Er muß vollkommen den Verstand verloren haben. So wie es aussieht, greift er wahllos Schiffe und Häfen an, ganz gleich welcher Nationalität. «
»Und sogar welche, deren Länder gar nicht in den Krieg verwickelt sind«, fügte Juan hinzu. »Trotzdem – ich glaube nicht, daß er einfach verrückt geworden ist. Er folgt einem Plan. Und wir werden schon herausfinden, welchem. Ich bin bestimmt der letzte, der Winterfeld verteidigen würde, aber er ist weder verrückt noch ein gewissenloser Mörder. Er hat irgend etwas vor. Und es muß etwas Großes sein, sonst würde er nicht ein solches Risiko eingehen. «
Mike schwieg. Es hätte eine Menge gegeben, was er hätte antworten können, aber im Grunde gab er Juan sogar recht. Winterfeld hatte sie gejagt, sie entführt und gefangengenommen, er hatte sich der Meuterei und des Hochverrates schuldig gemacht, nur um in den Besitz der NAUTILUS zu gelangen, und trotzdem hatte er das Schiff schließlich wieder aufgegeben, um das Leben seiner Besatzung zu retten. Und mit einem Male betätigte sich dieser Mann als gemeiner Pirat und Seeräuber? Das paßte einfach nicht zusammen. Er schüttelte den Gedanken ab und drehte sich herum, so daß sein Blick in Richtung Küste ging, die in der Nacht allerdings nicht einmal zu erahnen war. Aber auch Juan sah eine ganze Weile versonnen in dieselbe Richtung, und Mike glaubte zu erraten, was hinter seiner Stirn vorging.
»Wir sind gar nicht weit von deiner Heimat entfernt«, sagte er, nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander dagestanden hatten. »Hast du eigentlich niemals daran gedacht, wieder nach Hause zu gehen?« Juan zuckte mit den Schultern. Er sah ihn nicht an, aber auf seinem Gesicht erschien ein trauriges Lächeln. »Nach Hause?« Er schüttelte den Kopf. »Was soll ich dort, Mike? Dashierist mein Zuhause. « »Immerhin leben deine Eltern noch«, antwortete Mike. »Meine Eltern sind tot, und die der anderen auch. Aber dein Vater –«
»– hat vermutlich noch nicht einmal gemerkt, daß ich weg bin«, fiel ihm Juan ins Wort. Seine Stimme klang bitter, und in seinen Augen war ein harter Glanz erschienen, der Mike erschreckte. Er hatte Juan niemals danach gefragt, was zwischen ihm und seinen Eltern wirklich vorgefallen war, ehe er nach England und ins Internat kam, und er fragte ihn auch jetzt nicht. Wenn Juan es ihm erzählen wollte, würde er es irgendwann schon von sich aus tun.
»Wir können nicht ewig auf der NAUTILUS bleiben«, sagte er statt dessen. »Alles, was wir bis jetzt erlebt haben, war ein großes Abenteuer, aber es wird nicht ewig so weitergehen. Trautman hat recht, weißt du? Die Welt ist noch nicht reif für die NAUTILUS. Irgendwann werden wir sie aufgeben müssen.
« »Laß das nicht Serena hören«, sagte Juan mit einem angedeuteten Lächeln. Er wurde sofort wieder ernst. »Du hast recht. Aber ich will nicht darüber nachdenken. Noch nicht. Wir werden eine Lösung finden, aber im Moment... «Er führte den Satz nicht zu Ende, sondern seufzte nur tief und fuhr dann in verändertem Tonfall fort: »Außerdem haben wir jetzt wirklich Wichtigeres zu tun. Wir müssen diesen Verrückten aufhalten, bevor er noch mehr Schaden anrichtet. « »Ja«, bestätigte Mike, und hinter ihnen sagte eine wohlbekannte Stimme: »Warum eigentlich?«
Sie drehten sich beide zugleich herum und sahen Ben an, der so leise hinter ihnen aufgetaucht war, daß sie ihn nicht gehört hatten. Der spöttische Blick, mit dem er Juan maß, machte klar, daß er zumindest einen Teil ihres Gespräches mit angehört hatte. »Wie meinst du das?« fragte Mike.
»So wie ich es sage«, antwortete Ben. »Warum eigentlich? Ich meine, die Tatsache, daß Winterfeld uns seinerzeit gehen ließ, verpflichtet uns doch nicht automatisch, die Welt jetzt vor diesem Verrückten in Schutz zu nehmen, oder? Im Grunde geht uns die Sache nichts an. Es ist nicht unsere Schuld, wenn er sich mit der ganzen Welt anlegt. Wir könnten einfach unserer Wege gehen. Irgendeiner wird ihn schon erwischen. « »Ja«, sagte Juan. »Und diese Art zu denken ist genau der Grund, aus dem die Welt so ist, wie sie ist. « »Was gefällt dir daran nicht?« stichelte Ben. »Kriege hat es immer gegeben, und es wird sie immer geben. Und–«
Falls ihr irgendwann einmal damit fertig werdet, über den Sinn des Lebens zu philosophieren, könntet ihr mal nach vorne
kommen,flüsterte eine Stimme in Mikes Gedanken und ließ ihn zusammenzucken. Es war nun ein gutes Jahr her, daß der Kater an Bord gekommen war, aber es gab wohl Dinge, an die man sich nie gewöhnen konnte – und ein intelligenter, einäugiger Kater, der Gedanken lesen konnte, gehörte eindeutig dazu. »Astaroth hat etwas entdeckt«, sagte er. »Kommt mit. « Ben und Juan hörten sofort auf zu streiten und folgten ihm. Unterwegs schlossen sich ihnen auch Singh und Chris an, so daß sie alle gemeinsam am Bug der NAUTILUS eintrafen. Astaroth war noch ein Stück weitergelaufen, als es ihnen möglich war, und hockte auf dem gezackten Rammsporn, der den Bug des Tauchbootes noch einmal um gute zehn Meter verlängerte. »Was soll da sein?« fragte Ben. »Ich sehe nichts. «
Da draußen,antwortete Astaroth.Jemand ist dort draußen. Ein Mensch. Vielleicht zwei. Ich bin nicht sicher.
Da Mike der einzige war, der die lautlose Stimme des Katers verstehen konnte, teilte er den anderen mit, was Astaroth ihm gesagt hatte. Einige Sekunden lang starrten sie alle gebannt in die Dunkelheit vor dem Bug der NAUTILUS hinaus, aber auch Mike und den anderen erging es nicht besser als Ben zuvor. Zumindest so weit sie sehen konnten, war der Ozean vollkommen leer. »Der Kater spinnt!« sagte Mike schließlich. »Da ist gar nichts. Außerdem hätten es die Ortungsgeräte gezeigt. Es gibt im Umkreis von fünf Meilen kein Schiff. «Es ist mir egal, was eure komischen Apparate behaupten,antwortete Astaroth in leicht beleidigtem Ton.Dort draußen ist jemand. Gar nicht weit. Aber etwas... stimmt nicht mit ihm.
»Was stimmt nicht mit ihm?« erkundigte sich Mike.Mit
seinen Gedanken,antwortete Astaroth.Sie sind so ... so wirr. Nicht daß das bei euch Menschen etwas Außergewöhnliches wäre. Aber in seinem Kopf herrscht noch mehr Durcheinander als in euren Köpfen. Ich glaube, er ist krank.
Mike bedachte den Kater mit einem angemessen bösen Blick, gab das Gehörte aber doch rasch an die anderen weiter. Singh blickte nur noch einen Moment in die Dunkelheit hinaus, dann wandte er sich um und rannte im Laufschritt zurück zum Turm. Nicht einmal zwei Minuten später konnten sie hören, wie die Maschinen der NAUTILUS tief unter ihren Füßen zu rumoren begannen. Das Schiff hob sich weiter aus dem Wasser, und dann flammten zwei riesige Scheinwerfer an seinem Bug auf, die wie leuchtende, halb meilenlange Finger in die Nacht hinaustasteten.
»Da!« Juan schrie auf und deutete nach rechts. »Seht doch!«
Das Licht des Scheinwerfers hatte ein winziges Boot erfaßt, das in einer Entfernung von zwei- oder dreihundert Metern von der NAUTILUS auf den Wellen trieb. Es hatte kein Segel und auch sonst keinen sichtbaren Antrieb, und sie konnten auch keine Spur einer Besatzung erkennen, aber es war da, ganz wie Astaroth gesagt hatte.
Langsam nahm die NAUTILUS Fahrt auf und glitt auf das kleine Boot zu. In dem Schiff rührte sich nichts, obwohl es jetzt von beiden Scheinwerfern erfaßt und in gleißende Helligkeit getaucht war. Mike war nicht sehr wohl dabei – in der Nacht mußte das Licht meilenweit zu sehen sein. Ganz bestimmt waren sie in diesem Moment bereits entdeckt worden.
Es dauerte einige Minuten, bis Trautman das riesige Schiff
behutsam neben das kleine Boot bugsiert hatte, so daß sie endlich einen Blick in sein Inneres werfen konnten. Mike erschrak, als er die gekrümmte Gestalt sah, die auf dem nackten Holz lag. Es war ein Mann in einer blauen, zerfetzten Uniform. Sein Gesicht und sein Haar waren voller Blut, und obwohl seine Augen offenstanden, schien er sie nicht wahrzunehmen, denn er reagierte nicht, als Juan ihm etwas zurief. Mike wartete, bis das Boot nahe genug war, dann sprang er mit einem Satz vom Deck der NAUTILUS hinunter und neben den Verletzten. Das kleine Boot ächzte unter seinem Aufprall, und ein Knirschen erscholl, das Mike zusammenzucken ließ. Er bemerkte erst jetzt, daß das Boot kaum mehr als ein Wrack war, das eigentlich gar nicht mehr hätte schwimmen dürfen: Die Planken waren von Flammengeschwärzt. Überall im Rumpf gähnten große, ausgefranste Löcher, und er stand fast knöcheltief im Wasser. Hastig kniete er neben dem Mann nieder, aber nun, da er ihn von nahem sah, wagte er es fast nicht, ihn zu berühren. Der Mann war schwer verletzt. Nicht nur sein Gesicht, sondern seine ganze Uniformjacke war dunkel von seinem eigenen Blut. Der Mann war offensichtlich angeschossen worden. Jemand hatte auf dieses Boot gefeuert. Und nicht nur einmal. »Was ist mit ihm?« rief Ben. »Lebt er noch?«Blöde Frage,maulte Astaroth.Ich hätte ihn kaum entdecken können, wenn er tot wäre, oder?»Ja«, antwortete Mike. »Aber er ist schwer verletzt. Helft mir, ihn auf die NAUTILUS zu schaffen. Und beeilt euch. Ich glaube, der Kahn säuft gleich ab. « Tatsächlich war das Wasser im Bootsrumpf in den wenigen Augenblicken, seit er an Bord gekommen war, bereits deutlich angestiegen.
Wahrscheinlich war sein Gewicht zusätzlich zu viel für das winzige Schiffchen. Ben machte Anstalten, zu ihm herunterzuklettern, aber in diesem Moment tauchte Singh wieder auf und hielt ihn mit einer wortlosen Geste zurück. Ben trat gehorsam beiseite, und der Inder kletterte mit der ihm eigenen Leichtigkeit zu Mike und dem Verletzten ins Boot. Es sank spürbar tiefer ins Wasser, und Mike richtete sich nervös auf. Das Boot sank nun tatsächlich und sehr rasch. Sie mußten sich beeilen. Wie alle an Bord war Mike mittlerweile ein ausgezeichneter Schwimmer geworden, aber das Wasser war eiskalt, und er verspürte wenig Lust auf ein mitternächtliches Bad. Singh untersuchte den Mann flüchtig, dann hob er ihn ohne sichtliche Anstrengung auf die Arme und kletterte wieder auf das Deck der NAUTILUS hinauf. Mike folgte ihm, wenn auch viel langsamer, so daß Juan schließlich die Hand ausstreckte und ihm half – keine Sekunde zu früh, wie sich zeigte. Kaum hatte Mike die NAUTILUS wieder betreten, da legte sich das Boot auf die Seite und ging binnen Sekunden unter. Ben blickte mit finsterem Gesicht die Stelle an, an der es gesunken war. »Mist!« sagte er. »Jetzt erfahren wir vielleicht nicht, wo er hergekommen ist!«
»Das Boot war leer«, antwortete Mike. »Es hätte uns sowieso nicht weitergeholfen. « »Hast du seine Uniform erkannt?« fragte Ben. Mike schüttelte den Kopf, und Ben machte ein triumphierendes Gesicht. »Aber ich. Der Mann ist Engländer. « »Die Vermutung liegt nahe«, sagte Juan spitz, »wenn man vor der englischen Küste kreuzt. « »Das war eineMilitäruniform«,sagte Ben betont. »Der Mann gehört zur Kriegsmarine. « Juan sah auf die wieder still daliegende Wasseroberfläche hinab. »Also, ich habe mir eure Kriegsschiffe immer größer vorgestellt«, witzelte er. »Kein Wunder, daß die Deutschen den Krieg gewinnen werden. « Ben setzte zu einer geharnischten Antwort an, aber Mike brachte die beiden mit einem bösen Blick zum Verstummen. Rasch folgten sie Singh, der mittlerweile bereits den Turm erreicht hatte und den Verletzten nach unten trug. Als Mike als letzter wieder ins Innere des Schiffes trat, drang Trautmans Stimme aus der Tiefe zu ihnen herauf.
»Schließt die Luke!« rief Trautman. »Es ist möglich, daß jemand die Scheinwerfer gesehen hat. Wir tauchen besser wieder. «
Wie sich zeigte, waren Trautmans Befürchtungen keineswegs übertrieben gewesen. Offenbar beobachtete man von der Küste aus tatsächlich sehr aufmerksam den Ozean. Es verging keine Stunde, da tauchten gleich zwei Zerstörer der britischen Kriegsmarine über ihnen auf, die das Meer in weitem Umkreis mit Scheinwerfern und Leuchtraketen absuchten. Mike und die anderen verfolgten die Aktion vom Salon der NAUTILUS aus. Durch das riesige, runde Aussichtsfenster konnten sie die Schatten der beiden Kriegsschiffe über sich deutlich erkennen. Die NAUTILUS war dreißig Meter gesunken und dann zur Ruhe gekommen. Trautman hatte die Maschinen abgeschaltet, so daß sie kein verräterisches Geräusch mehr verursachten, und sie hatten das Licht im Salon gelöscht. Trotzdem war Mike nicht sehr wohl in seiner Haut. Die beiden Schiffe kreuzten wie riesige, stählerne Raubfische über ihnen, und allein die Schnelligkeit, mit der sie erschienen waren, bewies, daß sie keineswegs zufallig hier waren. Irgend etwas war hier geschehen, und Mike war fast sicher, daß es mit dem Verletzten zu tun hatte, den sie geborgen hatten.
Ein Geräusch von der Tür her riß ihn aus seinen Überlegungen. Trautman betrat den Salon, machte aber kein Licht, sondern ging zum Fenster und berührte eine große Taste daneben, woraufhin sich eine gewaltige Irisblende vor dem mannsgroßen runden Bullauge schloß. Erst dann schaltete er das Licht ein. Offenbar war auch er nicht hundertprozentig davon überzeugt, daß sie von oben ausnichtgesehen werden konnten. »Wie geht es ihm?« fragte Juan.
Sie hatten den Verletzten in eine der leerstehenden Kabinen des für eine viel größere Besatzung gedachten Schiffes gebracht, und Trautman war bisher bei ihm geblieben. Er schüttelte besorgt den Kopf. »Serena kümmert sich um ihn, aber ich befürchte das Schlimmste«, sagte er. »Er hat sehr viel Blut verloren. Es ist ein kleines Wunder, daß er überhaupt noch lebt. Der Mann muß dringend zu einem Arzt. «
»Ja, ja«, sagte Ben ungeduldig. »Aber hat er etwas gesagt? Haben Sie irgend etwas von ihm erfahren?« Trautman antwortete nicht sofort, sondern trat an den Tisch und beugte sich wieder über die Karten. Er nahm einen roten Stift zur Hand und fügte eine weitere Markierung hinzu; diesmal unmittelbar an der Küste, vor der sie lagen. »Er ist immer noch bewußtlos«, sagte er dann. »Und das wird er wohl auch bleiben, fürchte ich. Aber er phantasiert, und ich habe seine Brieftasche gefunden. « Er legte den Stift aus der Hand und zog eine angesengte
Brieftasche aus der Jacke. Die Jungen traten neugierig näher, als er sie öffnete. »Der Mann war Zeugmeister auf einem britischen Munitionstransporter«, sagte er. »Zeugmeister?« erkundigte sich Chris.
»So eine Art Lagerverwalter«, sagte Ben. An Trautman gewandt und in fragendem Ton fuhr er fort: »Auf einem Munitionstransporter, sagen Sie?« Trautman nickte. »Ich weiß nicht genau, was passiert ist, aber er phantasiert von Feuer und Schüssen und von einem Piratenschiff... ich wette, es war Winterfeld. Ich verstehe nur nicht, warum. « »Wahrscheinlich geht ihnen langsam die Munition aus«, sagte Juan. »Es ist nur logisch, wenn er einen Munitionstransporter überfällt. « »Aber bestimmt keinenenglischen«,sagte Ben betont. »Die Schiffsgeschütze der LEOPOLD haben ein ganz anderes Kaliber als die der britischen Schlachtschiffe. « »Und außerdem hatte das Schiff gar keine Granaten an Bord«, fügte Trautman hinzu. Er zog einige Papiere aus der Brieftasche und breitete sie auf dem Tisch vor sich aus. »Hier, das sind die Ladelisten. Schießpulver, Dynamit, einige Fässer Nitroglycerin... genug, um eine kleine Insel in die Luft zu jagen, aber keine Granaten. Und selbst wenn es so gewesen wäre – Ben hat völlig recht. Er könnte nichts damit anfangen. « Er schüttelte ein paarmal den Kopf. »Die Geschichte wird immer rätselhafter.Aber immerhin sind wir ihm auf der Spur. Der Überfall fand kurz nach Sonnenuntergang statt, also gerade erst vor ein paar Stunden. Er kann seitdem nicht besonders weit gekommen sein. « »Dann sollten wir keine Zeit mehr verschwenden und ihn suchen«, sagte Mike. »Im Grunde kann er von hier aus nur nach Norden geflohen sein. « Er deutete auf die Seekarte vor Trautman. »In
allen anderen Richtungen wäre er den Engländern in die Arme gelaufen. Wenn wir uns beeilen und ein bißchen Glück haben, holen wir ihn noch vor Sonnenaufgang ein. « »Ja, vermutlich könnten wir das«, sagte Trautman. »Aber wir müssen uns jetzt vor allem um den Verletzten kümmern. Der Mann muß zu einem Arzt, oder er stirbt uns unter den Händen. Wir müssen ihn an Land bringen. « Er deutete zur Decke hinauf. »Sobald die Schiffe abgezogen sind, laufen wir die Küste an. « »Und Winterfeld entkommt!« sagte Ben. »Für diesmal, ja«, gestand Trautman. »Mir gefällt der Gedanke auch nicht, aber wir haben keine Wahl. « »Und wenn wir auftauchen?« schlug Mike vor. »Und uns den Engländern stellen?« fragte Juan. »Du bist verrückt. «
»Natürlich nicht«, verteidigte sich Mike. »Aber wir könnten in zwei oder drei Meilen Entfernung auftauchen, den Verletzten in das Rettungsboot legen und eine Signalrakete abfeuern. Wir sind längst wieder getaucht und meilenweit weg, ehe sie da sind. « Trautman dachte einen Moment ernsthaft über diesen Vorschlag nach, aber dann schüttelte er doch den Kopf. »Es könnte funktionieren«, sagte er, »aber das Risiko ist zu groß. Außerdem habe ich noch einen anderen Grund, um an Land zu gehen. Wir müssen mehr über Winterfeld und die LEOPOLD erfahren. Solange wir nicht einmal wissen, was er vorhat, haben wir auch keine große Chance, seine Pläne zu durchkreuzen. Ich will ein paar Zeitungen besorgen, und mich ein wenig umhören. « Er hob besänftigend die Hand, als Ben erneut protestieren wollte, und deutete mit der anderen auf seine Karte.
»Bisher hat er niemals zweimal hintereinander am gleichen Ort zugeschlagen«, sagte er. »Und es lagenimmer ein oder zwei Tage zwischen den Überfällen. Wir haben noch ein wenig Zeit. «
»Und wenn wir ihn aus den Augen verlieren?« fragte Ben.
»Die Gefahr, daß das passiert, ist viel größer, wenn wir blindlings drauflosstürmen«, erwiderte Trautman. Er deutete wieder auf seine Karte. »Das alles hier hat einen Sinn, Ben. Ich weiß noch nicht, welchen, aber es gibt ihn. Ein paar Stunden, die wir richtig investieren, ersparen uns vielleicht eine tagelange Suche. « Er schloß das Thema mit einer entsprechenden Handbewegung ab. »Geht auf eure Posten. Sobald die beiden Schiffe weg sind, laufen wir die Küste an. Mike – vielleicht gehst du und hilfst Serena?« Mike brauchte keine zweite Aufforderung. Die Stimmung im Salon war so gedrückt, daß er froh war, ihr entfliehen zu können. Rasch verließ er den Raum, lief die kurze Treppe zum darunterliegenden Deck hinab, auf dem die Mannschaftskabinen untergebracht waren, und betrat die Kajüte, ohne anzuklopfen. Der schwerverletzte Mann lag in der untersten der beiden übereinanderliegenden Kojen, die einen Großteil des vorhandenen Raumes einnahmen. Trautman und Singh hatten ihm die zerfetzte Uniform ausgezogen und ihn verbunden, so gut es ging. Aber die Mittel, die sie an Bord der NAUTILUS zur Verfügung hatten, waren beschränkt.
Sie hatten bald herausgefunden, daß das untergegangene Volk der Atlanter, das dieses Schiff gebaut hatte, auch über ein erstaunliches medizinisches Wissen verfügt haben mußte – jeder Arzt der Welt hätte vermutlich sehr viel dafür gegeben, auch nur einen Teil der Medikamente zu besitzen, über die die Bordapotheke des Schiffes verfügte. Seit sie an Bord gekommen waren, war keiner von ihnen krank geworden, und sie hatten eine Anzahl von Tinkturen und Salben entdeckt, die kleinere Verletzungen und Schrammen mit nahezu phantastischer Schnelligkeit heilen ließen. Aber dieser Mann hatte keine kleine Schramme, und er hatte auch keinen Schnupfen. Er war lebensgefährlich verletzt, und bei allen Wundern, die die NAUTILUS bereithielt – sie hatten keinen Arzt an Bord.
Der Mann bot einen bemitleidenswerten Anblick. Seine Schulter war dick verbunden, aber der weiße Stoff hatte sich bereits wieder dunkel gefärbt. Sein ganzer Körper war mit Schweiß bedeckt, und er zitterte ununterbrochen. Serena stand am Kopfende der Liege und kühlte seine Stirn mit einem Tuch, das sie ab und zu in eine Schale mit frischem Wasser tauchte. Als Mike eintrat, sah sie nur kurz auf und schüttelte traurig den Kopf. »Ich kann nichts für ihn tun. Er hat hohes Fieber. «
Mike trat schweigend neben sie und legte ihr den Arm um die Schulter. Normalerweise mochte Serena das nicht, obwohl sie ahnen mußte, welche Gefühle Mike für sie hegte, und Mike fast sicher war, daß sie sie insgeheim ein wenig erwiderte. Aber es war eine Geste reiner Freundschaft, die ihr Trost spenden sollte, und das schien sie zu fühlen, denn sie streifte seinen Arm nicht ab.
»Ich fühle mich so hilflos«, sagte sie leise. »Ich habe ihm ein Medikament gegeben, das das Fieber ein wenig senkt, aber das ist auch alles, was ich für ihn tun kann. Wenn ich meine Kräfte noch hätte! Ich könnte ihn in fünf Minuten heilen!«
Serena spielte damit auf die schier an Zauberei grenzenden Fähigkeiten an, die Teil des magischen Erbes gewesen waren, das ihre Eltern ihr als letzter Prinzessin von Atlantis mitgegeben hatten. Mike hatte am eigenen Leib erlebt, wozu sie in der Lage gewesen war – sie hatte ihn nur flüchtig berührt, und die Verletzungen, die er beim Kampf um die NAUTILUS davongetragen hatte, waren praktisch vor seinen Augen verschwunden. Aber die Macht, Wunden zu heilen, war eben nur ein Teil dieses Erbes gewesen. Der andere, viel gefährlichere Teil hätte sie alle um ein Haar ins Verderben gerissen, und so hatte sie schließlich freiwillig auf diese Kräfte verzichtet. *) Sie hatte es nie laut gesagt, aber es waren Momente wie diese, in denen Mike ahnte, wie groß der Verlust wirklich war, den sie erlitten hatte.
»Wir bringen ihn zu einem Arzt«, sagte Mike. Er bemühte sich, aufmunternd zu klingen, aber er spürte, daß es nicht gelang. Trotzdem fuhr er fort: »Es ist nicht weit zur Küste. Er wird es schon schaffen. « »Wenn er den Morgen noch erlebt, ja. « Serenas Stimme zitterte. Mike sah, daß sie für einen Moment mit den Tränen kämpfte. »Ich verstehe eure Welt nicht«, sagte sie. »Du hast mir so viel davon erzählt, aber das, was ich sehe, das... das ist das genaue Gegenteil. « »Wie meinst du das?« fragte Mike. »Ihr behauptet, daß mein Volk untergegangen ist, weil es seine eigenen Kräfte nicht mehr beherrschen konnte und nicht im Einklang mit sich und der Natur leben konnte –«, antwortete Serena.
»He, das habeichnie behauptet!« protestierte Mike, aber Serena schien seine Worte gar nicht gehört zu haben, denn sie fuhr ungerührt fort: »– und ihr habt recht damit! Aber ihr selbst macht alles noch viel schlimmer! Ihr führt Kriege gegeneinander! Ihr baut riesige Maschinen, die keinem anderen Zweck dienen, als euch gegenseitig umzubringen! Habt ihr denn gar nichts aus unserem Schicksal gelernt?«Wie könntet ihr?flüsterte Astaroths Stimme in Mikes Gedanken.Die meisten von euch wissen ja nicht einmal, daß es jemals existiert hat. Sie halten es für eine Legende.Mike sah sich suchend in der Kabine um. Er hatte nicht bemerkt, daß Astaroth überhaupt hier war, und er sah ihn auch jetzt nicht. Aber er hätte auch nicht geantwortet, hätte er den Kater gesehen. Astaroths Worte hörten sich überzeugend an, und trotzdem war dies einer der seltenen Momente, in denen der Kater irrte. Er hatte zwar recht – die allermeisten Menschen hielten Atlantis für eine Legende. Und trotzdem war das Wissen um seine Existenz tief in ihnen allen verborgen und vielleicht auch zumindest das Ahnen um den wahren Grund seines Unterganges. Er widersprach Serena nicht, und das lag vielleicht daran, daß er ihn, so gerne er es auch geleugnet hätte, tief in sich drinnen recht geben mußte. Sie alle waren so stolz auf ihre Kultur, auf ihre Technik und ihren Wissensstand, und trotzdem – was unterschied die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts eigentlich von ihren Vorfahren? Soweit sich Mike zurückerinnern konnte, war die aufgezeichnete Geschichte der Menschen im Grunde nicht viel mehr als eine Folge aufgezeichneterKriege,mit kurzen, zumeist viel zu kurzen Perioden des Friedens dazwischen.
He!sagte Astaroth erschrocken.Laß dich nicht von ihr anstecken. Soooo schlimm seid ihr nämlich gar nicht. Glaub mir, ihr Volk war auch nicht ohne.»Halt endlich den Mund,