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»Den Prozeß?! Aber was sollen wir denn getan haben?« »Wie wäre es mit Mord?« schlug Stanley vor. »Piraterie? Brandstiftung? Diebstahl... wahrscheinlich habe ich noch das eine oder andere vergessen, aber ich denke, für den Moment sollte das genügen. « »Wie bitte?« ächzte Ben. »Sind Sie verrückt? Wen sollen wir ermordet haben?«
»Es reicht, mein Junge«, sagte Stanley, der nun überhaupt nicht mehr freundlich klang, nicht einmal mehr geduldig. »Ich habe das Gefühl, du hältst das Ganze hier immer noch für ein großes Abenteuer, wie? Aber es ist kein Spiel. Das ist es
niemals gewesen. « Er straffte sich und drehte sich zu Trautman
herum. Seine Stimme wurde sachlich.
»Kapitän Trautman, ich verhafte Sie und Ihre Besatzung im Namen Seiner Majestät und des deutschen Kaisers wegen fortgesetzter Piraterie, Mord und Brandschatzung in mindestens siebenunddreißig Fällen. Ihr Schiff ist beschlagnahmt. Ich hoffe, Sie leisten keinen Widerstand. «
Angesichts des knappen Dutzends Gewehre, das noch immer auf sie gerichtet war, empfand Mike den letzten Satz als lächerlich. Aber Stanley schien ihn vollkommen ernst zu meinen, und auch Trautman sah nicht so drein, als amüsiere er sich.
»Das alles ist ein gewaltiger Irrtum, Kapitän Stanley«, sagte er. »Bitte hören Sie mir fünf Minuten zu. « »Man wird Ihnen weitaus länger zuhören, Mister Trautman«, sagte Stanley. »Aber nicht hier und nicht jetzt. Sie werden ausreichend Gelegenheit haben, sich zu rechtfertigen. «
»Sie begehen einen furchtbaren Fehler, Stanley«, sagte Trautman.
»Nein«, sagte Brockmann.»Siehaben einen Fehler gemacht, Trautman. Haben Sie wirklich geglaubt, daß wir weiter tatenlos zusehen, wie Sie unsere Schiffe versenken und unsere Hafenstädte in Brand schießen? Oder waren Sie tatsächlich so naiv, zu glauben, daß Sie die Kriegswirren ausnutzen können, um sich als Pirat zu betätigen?«
»Wir haben nichts von alledem getan«, antwortete Trautman. »Aber wir wissen, wer es war. Wir sind aus demselben Grund hier wie Sie, Herr Kapitänleutnant. Und ich glaube, wir sind dem Mann, den Sie jagen, ganz dicht auf den Fersen. Aber wenn Sie uns jetzt verhaften und die Suche abbrechen, dann entkommt er. Und die Verantwortung für das nächste Schiff, das er versenkt, oder die nächste Stadt, die er in Brand schießt, tragen Sie dann. «
Brockmann war keinerlei Reaktion anzumerken, aber Stanley sah tatsächlich ein wenig verunsichert drein. Er sagte nichts, blickte Trautman aber plötzlich sehr nachdenklich an.
»Ich flehe Sie an!« sagte Trautman. »Ich verlange nicht, daß Sie uns laufen lassen, aber setzen Sie wenigstens die Suche fort. Wir können Ihnen dabei helfen. « »Darauf wette ich«, sagte Stanley spöttisch, aber Trautman blieb ernst. Seine Stimme wurde fast beschwörend.
»Die NAUTILUS hat eine viel größere Chance, die LEO-POLD zu finden, als Ihre Schiffe!« sagte er. »Schicken Sie eine Besatzung an Bord. Zwanzig, dreißig – so viele Ihrer Soldaten, wie Sie wollen! Was können wir schon tun? Ein alter Mann und eine Handvoll Kinder!« Tatsächlich schien Stanley einen Moment ernsthaft über diesen Vorschlag nachzudenken. Aber bevor er antworten konnte, fragte Brockmann: »Von welchem Schiff haben Sie gerade gesprochen? Die LEOPOLD?« »Ich sehe, der Name sagt Ihnen etwas«, erwiderte Trautman. »Ja. Es war Kapitän Winterfeld, der dies alles getan hat. Nicht wir. Ich kann es beweisen. « Brockmann schwieg, aber Stanley wirkte plötzlich noch nachdenklicher, als er sich an seinen deutschen Offizierskollegen wandte. »Verzeihen Sie mir meine Neugier, Herr Kapitänleutnant – aber könnte es sein, daß es da etwas gibt, was ich wissen sollte?« »Nein«, antwortete Brockmann. Er war vielleicht ein tadelloser Offizier, dachte Mike, aber kein besonders überzeugender Lügner. Trotzdem fuhr er fort: »Ein Bluff, mehr nicht. Es gab da einen... Zwischenfall, vor einem Jahr, das ist richtig. Aber ein deutscher Offizier würde so etwas nie tun. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. « »Eine Hand wird kaum reichen«, sagte Ben. »Wir haben gesehen, wozu Winterfeld in der Lage ist. « Er deutete rasch hintereinander auf die GRISSOM und die HALLSTADT. »Die LEOPOLD ist ein Schlachtschiff, Herr Brockmann. Können Sie sich vorstellen, was sie mit Ihren beiden Schiffen macht, wenn Sie wirklich das Pech haben, sie zu finden?«
Brockmann schwieg. Sein Gesicht blieb unbewegt, aber die Jungen konnten regelrecht sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Aber schließlich schüttelte er wieder den Kopf. »Nein«, sagte er. »Das ist absurd. « »Immerhin«, schlug Stanley vor, »könnten wir die Suche noch eine Weile fortsetzen. Wir bringen sie auf Ihr Schiff und lassen eine Mannschaft auf der NAUTILUS zurück. Die GRISSOM könnte dem ursprünglichen Plan folgen und sich vor der Hafeneinfahrt auf die Lauer legen. Was haben wir schon zu verlieren?« »Meine Befehle lauten anders«, sagte Brockmann stur. Ben lachte ganz leise. »Paßt auf«, sagte er, »jetzt fangen sie gleich doch an, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Ich wette, die beiden überlegen schon angestrengt, wie sie sich die NAUTILUS jeweils allein unter den Nagel reißen können. «
Er hatte laut genug gesprochen, damit Brockmann und Stanley seine Worte verstehen konnten.Brockmann musterte ihn nur kühl, während Stanley zu Mikes Überraschung plötzlich nickte.
»Das könnte in der Tat ein Problem werden«, sagte er. »Aber ich denke, wir finden auch dafür eine Lösung. Sobald wir die NAUTILUS in einen Hafen geschleppt und sie alle den Behörden übergeben haben, heißt das. « Er machte eine unwillige, befehlende Geste. »Abführen!«
Sie wurden an Bord des deutschen Kreuzers gebracht, und obwohl man sie mit ausgemachter Höflichkeit behandelte, wurden sie gründlich nach Waffen durchsucht und einzeln eingesperrt, jeder für sich in eine winzige, vollkommen leere Kabine, in der es nicht einmal einen Stuhl gab, sondern nur ein Bett und einen am Boden verschraubten Tisch. Die Tür hatte innen keine Klinke, und das runde Fenster war sorgsam mit einer Sperrholzplatte verschlossen. Das Licht kam aus einer nackten Glühbirne, die unter einem ziemlich stabil aussehenden Drahtgitter unter der Decke angebracht war. Im Vorbeigehen hatte Mike bemerkt, daß die Unterkünfte der anderen auch nicht anders aussahen. Offensichtlich war das Schiff dafür vorbereitet gewesen, Gefangene aufzunehmen. Leider hatten sie nur die Falschen erwischt. Mike hätte vor Enttäuschung und Wut heulen können. Er machte sich nicht einmal besonders große Sorgen wegen der Anschuldigungen, die Stanley vorgebracht hatte. Sie waren einfach lächerlich – wenn man ihnen nur die Gelegenheit dazu gab, würden sie beweisen können, daß sie nichts mit den Überfällen auf Schiffe und Häfen zu tun hatten. Spätestens wenn die LEOPOLD das nächste Mal zuschlug, würde selbst Brockmann eingestehen müssen, daß sie das falsche Wild erlegt hatten. Aber das bedeutete auch, daß Winterfeld weiter ungestört sein Unwesen treiben und weitere
Verbrechen begehen konnte. Und daß weitere Menschen sterben würden.
Aber das war längst nicht alles. Mike hatte den Gedanken zwar bisher erfolgreich verdrängt, doch nun, als er allein mit sich und seinen düsteren Grübeleien war und mißmutig auf der harten Pritsche hockte, kam er wieder, und diesmal gelang es ihm nicht mehr, die Augen davor zu verschließen: Sie würden die NAUTILUS verlieren. Selbst wenn sie ihre Unschuld beweisen konnten und alle Anschuldigungen fallengelassen wurden, würde man ihnen das Schiff wegnehmen. Sie hatten sich länger als ein Jahr erfolgreich vor dem Rest der Welt versteckt, weil sie alle ganz genau gewußt hatten, was geschehen würde, sollte die Existenz der NAUTILUS jemals bekannt werden. Sie würden ihnen das Schiffwegnehmen, und als Mike an diesem Punkt seiner Überlegungen angelangt war, da war er plötzlich auch gar nicht mehr so sicher, daß man siewirklichlaufenlassen würde. Dieses Schiff stellte einen unvorstellbaren Schatz dar. Allein das Wissen um seine Existenz brachte sie alle in Lebensgefahr. Mike glaubte zwar nicht daran, daß man sie tatsächlichumbringenwürde, aber zwischenumbringen und freilassenlagen viele andere unerfreuliche Möglichkeiten. Eine davon war zum Beispiel, daß sie alle den Rest ihres Lebens an einem ungemütlichen Ort verbringen mochten – einem Ort, der diesem hier ähnelte, mit Türen ohne Klinken und Fenstern, die sich nicht öffnen ließen... Nachdem er zehn Minuten lang gegrübelt hatte, war er überzeugt davon, daß es so kommen mußte. Nach weiteren zehn Minuten war er wild entschlossen, zu fliehen. Und nachdem abermals zehn Minuten verstrichen waren, gab er diesen Plan zumindest für den Moment wieder auf. Er hatte seine Kabine Zentimeter für Zentimeter durchsucht, und das Ergebnis dieser Untersuchung war so einfach wie deprimierend: Es gab keinen Fluchtweg. Das Brett vor dem Fenster war mit einem Dutzend Schrauben befestigt, an denen er sich die Hälfte seiner Fingernägel abgebrochen hatte, ohne auch nur eine davon lockern zu können, und die Tür bestand ebenso wie Wände, Decke und Fußboden aus massivem Stahl, der selbst einem Kanonenschuß standgehalten hätte. Er hatte auch versucht, mit Astaroth Kontakt aufzunehmen, aber keine Antwort erhalten. Der Kater war auf der NAUTILUS zurückgeblieben, und vermutlich waren sie zu weit von ihr entfernt, um ihn telepathisch zu erreichen.
Mike war der Verzweiflung nahe. Es war nicht das erste Mal, daß er sich in einer scheinbar ausweglosen Lage befand, aber er hatte das ungute Gefühl, daß sie diesmal nicht nurscheinbarausweglos war – selbst wenn es ihm gelungen wäre, seine Kabine irgendwie zu verlassen, so gab es draußen vor der Tür einen Posten, und außerdem wimmelte das Schiff nur so von Soldaten. Ein nagender Zorn auf Winterfeld machte sich in ihm breit. Dieser Mann schien so etwas wie ein Fluch zu sein, der sein ganzes Leben überschattete. Alles hatte mit ihm angefangen, und nun schien es auch zumindestdurchihn zu enden. Mike zweifelte im Grunde nicht daran, daß irgend jemand früher oder später die LEOPOLD aufbringen und Winterfelds Treiben ein Ende setzen würde, aber für sie war es auf jeden Fall zu spät. Wenn auch auf gänzlich andere Weise, als er vorgehabt hatte, so hatte Winterfeld am Ende sein Ziel
doch erreicht: ihnen die NAUTILUS wegzunehmen. Auf diese
Weise verging eine Stunde, dann eine zweite.
Mike schrak irgendwann kurz aus seinen Gedanken hoch und stellte fest, daß sich der Boden unter ihm zu bewegen begonnen hatte. Das Schiff hatte Fahrt aufgenommen, und nun würde es nicht mehr lange dauern, bis sie irgendeinen englischen Hafen erreichten. Doch es sollte anders kommen.
Mike konnte nicht sagen, wie lange er so dasaß und sich seine Zukunft in den schwärzesten Farben ausmalte, aber plötzlich begann sich etwas im gleichmäßigen Schaukeln des Schiffes zu verändern, und zugleich klang das Geräusch der Maschinen anders. Mike fuhr erschrocken hoch, als plötzlich ein schrilles nervtötendes Geräusch durch seine Kabine gellte. Das Heulen der Alarmsirene. Irgend etwas Unvorhergesehenes war passiert.
Mike sprang auf, rannte zur Tür und begann mit den Fäusten gegen den Stahl zu hämmern. Aber der Lärm ging im Heulen der Sirene unter, und selbst wenn man ihn gehört hätte, hätte vermutlich niemand darauf reagiert. Irgend etwas Schreckliches ging dort draußen vor, das wußte er.
Die Sirene hörte nach einer Minute auf zu gellen, aber dafür hörte er jetzt andere, kaum weniger beunruhigende Geräusche, die gedämpft durch den zentimeterdicken Stahl der Wände drangen: Schreie, das immer lauter werdende Dröhnen der Schiffsmotoren, die hastigen Schritte schwerer Stiefel und Befehle, die gerufen wurden – und dann etwas, was ihn wie unter einem elektrischen Schlag zusammenfahren ließ: ein dumpfes, dreifaches Krachen, dessen Echo das ganze Schiff zum Vibrieren brachte. Es war noch nicht lange her, da hatte er
dieses Geräusch schon einmal gehört, wenn auch aus größerer
Entfernung.
Die Geschütze der HALLSTADT hatten das Feuer eröffnet.
Mikes Gedanken begannen sich zu überschlagen. Das Schiff feuerte. Aber worauf? Weshalb? Hatte Ben am Ende recht behalten, und die beiden Kriegsschiffe lieferten sich nun einen verbissenen Kampf um die NAUTILUS?
Die HALLSTADT erbebte wie unter einem Hammerschlag, allerdings eines Hammers, der nicht viel kleiner als das Schiff selbst sein konnte und von Poseidon selbst geführt wurde. Ein trommelfellzerreißendes Kreischen und Dröhnen marterte Mikes Ohren und ließ ihn mit einem Schrei zurücktaumeln. Eine Sekunde später wurde er von den Füßen gefegt und prallte so heftig gegen die Rückwand der Kabine, daß er buchstäblich Sterne sah, aber erst, als das Schiff zum dritten Mal wie eine gigantische Glocke zu dröhnen begann und er das Kreischen von zerreißendem Metall hörte, begriff er wirklich, was geschah. Sie waren getroffen worden. Die GRISSOM hatte das Feuer erwidert, und ihre Geschützmannschaften schienen zu halten, was man sich über britische Kanoniere erzählte. Das Schiff zitterte und bebte, legte sich so weit auf die Seite, daß Mike erneut zu Boden geworfen wurde. Auch die Geschütze der HALLSTADT feuerten jetzt wieder, aber Mike zählte nur zwei Schüsse, dann wurden sie abermals getroffen.
Und diesmal mußte es wohl eine volle Breitseite der GRISSOM sein, die in Rumpf und Deck des deutschen Kreuzers einschlug.
Die nächsten Minuten wurden zu einem Alptraum, der einfach kein Ende nehmen wollte. Treffer auf Treffer schüttelte die HALLSTADT. Das Kreischen von zerberstendem Metall, der Lärm der Explosionen, die Schreie und die furchtbaren Stöße, die den Boden unter ihm wie ein bockendes Pferd hin und her springen ließen, vereinigten sich zu einem schier unvorstellbaren Chaos. Mike lag gekrümmt in einer Ecke seiner Kabine und hatte beide Hände gegen die Ohren gepreßt, aber es nutzte nichts. Er schien den Lärm weniger zu hören, als vielmehr mit dem ganzen Körper wahrzunehmen. Die Luft war plötzlich stickig und heiß, er hörte das Prasseln von Flammen und spürte den stechenden Geruch von glühendem Metall. Er hatte Angst wie nie zuvor in seinem Leben.
Und dann, ganz plötzlich, hörte es auf. Die letzte Explosion verklang, und eine fast unheimliche, atemlose Stille breitete sich über dem Schiff aus. Trotzdem blieb Mike noch eine volle Minute reglos am Boden liegen, ehe er es schließlich wagte, sich ganz langsam aufzurichten. In seinen Ohren dröhnte es, und der Brandgeruch war so intensiv geworden, daß er den Hustenreiz kaum mehr unterdrücken konnte. Mindestens eine der Granaten mußte in unmittelbarer Nähe eingeschlagen sein. Das Schiff brannte, das war klar. Und es hatte eine deutliche Schlagseite. Vielleicht, dachte Mike, sinkt es bereits, und er würde hier drinnen jämmerlich ertrinken, eingesperrt in ein Gefängnis, das unversehens zur Todeszelle geworden war. Zögernd trat er an die Tür und rüttelte ein paarmal daran. Sie rührte sich nicht. Die HALLSTADT war wahrscheinlich kaum noch mehr als ein brennendes Wrack, aber er war immer noch gefangen. Zumindest konnte er jetzt wieder etwas hören. Das Rauschen und Klingen in seinen Ohren verebbte ganz allmählich, und er begriff jetzt, daß es niemals still gewesen war. Im Gegenteil: Durch die Tür drangen Schreie und andere schreckliche Geräusche zu ihm, und dazwischen hörte er immer wieder Schüsse, auch ein paarmal das Hämmern eines Maschinengewehrs, was bewies, daß der Kampf noch lange nicht vorbei war.
Mike fragte sich, was mit den anderen geschehen war. Sie waren alle auf demselben Korridor untergebracht worden. Der Gedanke, daß einer seiner Freunde vielleicht nicht mehr lebte, machte ihn ganz krank. Was für ein Wahnsinn! dachte er. Und das alles nur wegen einesSchiffes!Es spielte überhaupt keine Rolle, wer zuerst geschossen hatte – ob nun die Deutschen auf die Engländer oder umgekehrt, aus den Männern, die etwas so Großartiges vollbracht hatten, ihre Feindschaft zu überwinden und vereint gegen einen gemeinsamen Gegner vorzugehen, waren binnen einer einzigen Sekunde wieder Todfeinde geworden, die einander gnadenlos umbrachten, nur um in den Besitz der NAUTILUS zu gelangen. Es war dieser Moment, in dem Mike zum allerersten Malwirklichbegriff, warum Trautman vorgehabt hatte, die NAUTILUS zu zerstören. Hätte er es doch nur getan! Nach einer Weile hörte das Schießen auf, und auch die Schreie verklangen allmählich. Und schließlich näherten sich Schritte der Tür.
Mike wich automatisch bis an die gegenüberliegende Wand zurück, als er hörte, wie der Riegel draußen zurückschoben wurde. Eine Woge stickiger, heißer Luft und flackernder Feuerschein fielen in die Kabine, so daß er die beiden Männer, die zu ihm hereinkamen, im ersten Moment nur als schattenhafte Umrisse erkennen konnte. Dann packte ihn einer der beiden grob am Arm und stieß ihn derb vor sich her auf den Gang hinaus.
Das erste, was Mike bewußt wahrnahm, nachdem er die Kabine verlassen hatte, war Serena. Sie war zwar bleich vor Schreck, und ihr Gesicht war voller Ruß, aber sie war unverletzt. Mike wollte erleichtert auf sie zutreten, aber der Mann, der ihn aus der Kabine gezerrt hatte, hielt ihn mit einer ärgerlichen Bewegung zurück, so daß Mike es bei einem Lächeln in Serenas Richtung beließ, ehe er sich herumdrehte und in die entgegengesetzte Richtung sah.
Der Korridor bot einen furchterregenden Anblick. Irgend etwas brannte und verbreitete flackernde rötliche Helligkeit und eine erstickende Hitze. In der Decke gähnte ein fast metergroßes Loch, aus dem eine zähe Flüssigkeit tropfte, die auf dem glühenden Boden darunter zu Dampf verzischte, und hinter dem wallenden Rauch konnte Mike die reglosen Gestalten von zwei Soldaten erkennen, die am Boden lagen. Sämtliche Türen standen offen. Er entdeckte Singh, Chris, Ben, Juan und schließlich Trautman, der von einem Mann grob aus seiner Gefängniszelle gezerrt wurde. Alle sahen zutiefst entsetzt aus, aber trotzdem begriff Mike, daß ein kleines Wunder geschehen war – keiner von ihnen war ernsthaft verletzt worden. Das Benehmen der bewaffneten Männer, die sie aus ihren Kabinen zerrten, ließ keinen Zweifel daran aufkommen, daß sie noch immer Gefangene waren. Einer von ihnen hatte Singh, der wohl versucht hatte, sich zu wehren, mit einem Kolbenstoß zu Boden
geschleudert, die anderen trieben sie jetzt mit vorgehaltenen
Gewehren zusammen.
Überhaupt – siebenahmensich nicht nur nicht so, wie sich Mike britische Marineinfanteristen vorgestellt hatte, sie sahen auch nicht so aus. Anstelle von Uniformen trugen sie ein buntes Durcheinander von gestreiften Hemden, Hosen, fleckigen Pullovern und den verschiedensten Uniformteilen, die zum Teil nicht einmal derselben Nationalität entstammten, und bewaffnet waren sie mit einem wahren Sammelsurium moderner, aber vollkommen unterschiedlicher Gewehre. Was ging hier vor?
Sie wurden grob den Gang entlang und dann die eiserne Treppe zum Oberdeck des Schiffes hinaufgetrieben, und wohin Mike auch sah, erblickte er überall neue Spuren von immer größerer Zerstörung. Es schien buchstäblich keinen Meter an Bord des Kreuzers zu geben, der nicht inMitleidenschaft gezogen worden war. Überall brannte es, überall erblickte er verbogenes, zerrissenes Metall, und er sah Dutzende von Verletzten, vielleicht auch Toten.
In Mikes Hals saß ein bitterer, harter Kloß, und er kämpfte mit den Tränen. Obwohl dieser entsetzliche Krieg seit anderthalb Jahren tobte und allmählich die ganze Welt in Brand zu setzen schien, hatten sie bisher doch so gut wie nichts davon selbst miterlebt. Sicher, sie hatten die schrecklichen Nachrichten aus allen Teilen der Welt aufmerksam verfolgt, aber sie hatten es aussicherer Entfernunggetan, und es war ein großer Unterschied, davon zu hören oder es zusehen.Mike lernte in diesen Momenten etwas, was er nie wieder im Leben vergessen sollte. Sie hatten in der Schule über die Kriege und Feldzüge der Vergangenheit geredet, und er hatte mit Trautman viel über diesen bisher größten Krieg gesprochen, und er war auch entsetzt gewesen. Und trotzdem, trotz allem hatte er bei all diesen Berichten und Erzählungen immer eine gewisse Faszination verspürt, und er hatte sich dieses Gefühles nicht geschämt. Das Wort Krieg hatte in ihm stets Bilder von gewaltigen Schlachten heraufbeschworen, von tapferen Helden, die todesmutig und mit einem siegessicherenHurraauf den Lippen dem Feind gegenübertraten, es hatte einen Geruch von Abenteuer und heroischen Taten gehabt.
Nichts von alledem war Wirklichkeit. Es gab auf diesem Schiff keine Helden, keine tapferen Krieger und heroische Taten, und wahrscheinlich gab es sie nirgendwo, auf keinem Schlachtfeld der Welt und in keinem Krieg. Es gab nur Tod, Grauen und vollkommen sinnlose, blindwütige Zerstörung. Mike war zutiefst erschüttert und von einem Entsetzen gepackt, das er sich vor ein paar Minuten noch nicht einmal hatte vorstellen können. Sie kamen an einigen toten deutschen Matrosen vorbei, und er empfand nicht wirkliche Trauer bei ihrem Anblick, sondern ein Gefühl, das er selbst nicht richtig einzuordnen imstande war. Es war so... so sinnlos. Diese Männer hier hatten vielleicht selbst Familien gehabt und zwei-, drei-, viermal solange gelebt wie er – und waren in nur einer einzigen Sekunde ausgelöscht worden. Auch das Deck des Kriegsschiffes bot keinen anderen Anblick: Die HALLSTADT brannte lichterloh. Das hintere Drittel des Schiffes schien vollkommen in Flammen zu stehen, und die Hitze war fast unerträglich. Der Himmel über ihnen war schwarz von Qualm.
In den Brückenaufbauten gähnten zahllose, schwarz umrandete Löcher, aus denen Flammen und Rauch quollen. Es war ein wahres Wunder, daß das Schiff nicht schon längst gesunken war. Die GRISSOM hat tatsächlich ganze Arbeit geleistet, dachte Mike bitter. Wie es aussah, hatte Brockmanns Schiff nicht die geringste Chance gehabt – obwohl es ein gutes Stück größer und wohl auch besser bewaffnet gewesen war als der englische Zerstörer.
Dann gingen sie an den Ruinen der brennenden Brücke vorbei, und als Mikes Blick auf das Meer auf deranderen Seite des Schiffes hinausfiel, sah er etwas, was alle seine Überlegungen hinfällig machte: die HMS GRISSOM.
Sie lag keine hundert Meter von der HALLSTADT auf der Seite und sank. Das Meer war ringsum mitTrümmerstücken und brennendem Öl bedeckt. Zahllose Matrosen befanden sich im Wasser und versuchten verzweifelt von dem sinkenden Wrack wegzuschwimmen, um nicht von seinem Sog mit in die Tiefe gerissen zu werden.
Trotzdem verharrte Mikes Blick nur eine Sekunde auf dem sinkenden Zerstörer und den verzweifelt um ihr Leben schwimmenden Matrosen, denn hinter der GRISSOM war noch ein weiteres Schiff aufgetaucht. Es war weitaus größer als die GRISSOM und schien nur aus Panzerplatten und starrenden Geschützen zu bestehen, und obgleich sowohl der Name als auch die Hoheitskennzeichen sorgsam übermalt worden waren, gab es wohl keinen in der kleinen Gruppe, der es nicht sofort erkannt hätte. Es war die LEOPOLD.
Mike hatte sich geirrt. Alles war ganz anders. Nicht Stanley und Brockmann waren übereinander hergefallen, sondern der Feind, den sie eigentlich gemeinsam hatten bekämpfen wollen, in einem Moment der Unachtsamkeit über sie. Bens Prophezeiung, was geschehen würde, wenn die beiden Schiffe auf Winterfelds Schlachtkreuzer trafen, war grausame Realität geworden.