121922.fb2 Das Olschieferskelett. Eine Zeitreise - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 10

Das Olschieferskelett. Eine Zeitreise - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 10

9

Tinnitus

Fast ein halbes Jahr später saß Axt allein in seiner Küche und starrte gedankenversunken aus dem Fenster. Es war ein regnerischer Spätsommertag, der erste Vorbote eines frühen Herbstes. Einige der Bäume begannen sich schon gelb zu färben, in seinem Vorgarten blühten die Astern.

Marlis war mit Stefan nach Frankfurt gefahren zu ihrer Freundin. Sie wußte, was er an diesem Wochenende vorhatte, und sie waren gemeinsam zu der Überzeugung gelangt, daß er dabei besser allein wäre. Der Zeitpunkt war ungewöhnlich günstig. Sabine war zu einer Tagung nach St. Petersburg gefahren, und sie war die einzige, die hin und wieder auf die Idee kam, am Wochenende unangekündigt in der Station aufzutauchen, um dort zu arbeiten.

Er hörte das Klappern des Briefkastendeckels, stand auf und holte die Post. Bankauszüge, Werbung, ein Brief für Marlis, die Telefonrechnung. Dann hielt er plötzlich einen Brief mit Berliner Poststempel, aber ohne Absender in der Hand.

Axt riß den Umschlag auf und runzelte die Stirn, als er erkannte, von wem der Brief stammte. Eine Woge schmerzhafter Erinnerungen überschwemmte ihn. Welch ein merkwürdiger Zufall, daß dieser Brief ausgerechnet heute ankam, an dem Tag, an dem er endlich einen Schlußstrich unter dieses Kapitel seines Lebens ziehen wollte. Aber Zufälle dieser Art waren ja von Anfang an charakteristisch gewesen für diese Geschichte. Der Brief war von Michael Hofmeister und seiner Freundin Claudia.

Schnell überflog er die Zeilen und mußte schließlich lächeln. Die beiden hatten eine Dreizimmerwohnung gefunden und waren zusammengezogen. Außerdem stand, wenn er die Andeutung richtig interpretierte, Nachwuchs ins Haus. Zwischen den Zeilen war zu lesen, daß kein Zweifel darüber bestehen konnte, wann das Kind gezeugt worden war. Seltsam, seit ihren dramatischen Erlebnissen damals verknüpfte ihn mit den beiden ein unsichtbares, aber festes Band, das Freundschaft zu nennen nicht ganz den Kern der Sache traf. Sie hatten sich seitdem nie wieder gesehen. Aber in den Wochen nach Tobias’ Tod, waren sie sich sehr nahe gekommen, und als sie sich schließlich kurz hinter der deutsch-tschechischen Grenze getrennt hatten, waren Tränen geflossen auf beiden Seiten. Trotzdem hatten sie verabredet, keinen Kontakt miteinander aufzunehmen. Es war einfach zu gefährlich. Schließlich hatten zwei Menschen ihr Leben verloren.

Der Brief der beiden war das erste Lebenszeichen, das er seitdem erhalten hatte, und war natürlich ein Bruch dieser Vereinbarung, aber er konnte ihnen deshalb nicht böse sein. Um die furchtbaren Ereignisse dieses Frühjahrs hatte er lange Zeit eine dicke Mauer gezogen und jeden Gedanken daran zu verdrängen versucht. Aber in letzter Zeit hatte er immer öfter an sie denken müssen. Mit Herzog stand er noch in enger Verbindung. Er hatte nach der Rückkehr für einige Wochen mit bei ihnen im Hause gewohnt und war zu einem guten Freund der Familie geworden, speziell von Stefan, der überhaupt nicht einsehen wollte, warum dieser interessante Mann, der soviel über Dinosaurier wußte und sich stundenlang mit ihm darüber unterhalten konnte, sie wieder verlassen mußte. Heute lebte Herzog in Niederbayern, wo er unter einfachsten Verhältnissen einen alten Bauernhof bewohnte, eine neue Eremitage. Eine andere Lebensform war für Herzog wohl auf Dauer undenkbar.

Wenn er seinen Plan an diesem Wochenende erfolgreich durchgeführt hatte, würde er versuchen, zu Micha und Claudia Kontakt aufzunehmen. Er hatte ihnen nie erzählt, daß Tobias wieder aufgetaucht war und, eingeschlossen in einen zentnerschweren Schieferblock, zusammen mit vielen anderen eozänen Fossilien im Keller der Senckenberg-Station ruhte wie in einem anonymen Massengrab. Nach allem, was passiert war, nachdem sein Plan so kläglich fehlgeschlagen und Tobias vor seinen Augen umgekommen war, hätte er es ihnen doch unmöglich sagen können. Das brachte er einfach nicht fertig. Auch Herzog wußte nichts davon.

Er selbst hatte Wochen gebraucht, um einigermaßen darüber hinwegzukommen. Heute erschien es ihm manchmal, als hätte es gar nicht anders verlaufen können. Zeitreisen folgten wohl ihrer eigenen vertrackten Logik. Neuerdings waren es ja die Physiker höchstpersönlich, die in angesehenen Fachzeitschriften Spekulationen darüber anstellten, wie sich die bei Zeitreisen auftretenden logischen Widersprüche vermeiden ließen. Ein Amerikaner hatte in diesem Zusammenhang die Ansicht vertreten, im Prinzip sei alles möglich. Es existierten viele parallele Universen nebeneinander, in denen alle nur denkbaren Möglichkeiten der geschichtlichen Entwicklung schon realisiert seien, und man würde bei Manipulationen der Vergangenheit einfach nur von einem Universum in ein anderes hinüberwechseln, ohne es selbst zu merken. Demnach hätte er vielleicht doch eine Chance gehabt, aber gar nicht mitbekommen, ob seine Mission erfolgreich verlaufen wäre. Er wäre dann in eine Welt zurückgekehrt, in der nie ein Messeler Homo-sapiens-Skelett gefunden wurde. Seltsamerweise interessierten ihn derartige Spekulationen plötzlich brennend. Er verschlang stapelweise obskure Science-fiction-Romane, für die er früher nur ein mitleidiges Lächeln übrig gehabt hätte. Tagelang beschäftigte ihn die Frage, ob er eigentlich auch sein eigenes Skelett aus dem Schiefer hätte bergen können, wenn er an Tobias Stelle gewesen wäre. Natürlich wäre das nur möglich gewesen, wenn er das Skelett vor dem eigentlichen Reiseantritt gefunden hätte. Ein seltsamer Gedanke. Hätte er sich überhaupt erkannt? Schließlich fehlten ihm so unverwechselbare Kennzeichen wie Tobias’ Zahndiamant. Er spürte, wie das Rauschen in seinem Ohren wieder zunahm, und schüttelte energisch den Kopf. Manchmal half das.

Micha schrieb weiter, daß ein alter Schulfreund von ihm vermißt werde. Er hätte ihn gerade erst vor ein paar Monaten überraschend wieder getroffen, und nun sei er verschwunden. Das sollte wohl heißen, daß Micha, wie sie es verabredet hatten, nach einigen Wochen zur Polizei gegangen war und eine Vermißtenanzeige aufgegeben hatte, sofern dies nicht schon geschehen war. Sie hatten sich eine Geschichte überlegt, die er der Polizei erzählen sollte, und Micha hatte sich schon damals vor Angst fast in die Hosen gemacht, wenn er nur daran dachte. Aber es ging nicht anders. Nur er konnte es tun. Claudia durfte da nicht mit hineingezogen werden. Sie hatte Tobias nie getroffen. Micha sollte sagen, daß er und Tobias sich auf der Reise heftig gestritten und daraufhin getrennt hätten. Bei jungen Leuten, die zusammen in die Ferien fuhren, kam das andauernd vor, und niemand würde etwas dabei finden. Aber jetzt, Wochen nach seiner Rückkehr, sollte Micha sagen, käme es ihm doch merkwürdig vor, daß Tobias immer noch nicht zurückgekehrt sei, jedenfalls ginge er nie ans Telefon.

Micha erkundigte sich in seinem Brief, ob Axt schon wüßte, was an der FU geschehen sei. Ein Berufskollege von ihm, der Berliner Paläontologe Prof. Dr. Alois Sonnenberg sei in seinem Arbeitszimmer erschossen aufgefunden worden. Eine Putzfrau hatte ihn entdeckt, als sie frühmorgens im Institut saubermachen wollte. Mit großer Wahrscheinlichkeit sei es Selbstmord gewesen, aber seltsamerweise sei seine Assistentin, eine Ellen Hartmann, seitdem vermißt. Ob ihr Verschwinden in Zusammenhang mit Sonnenbergs Tod stand, sei unklar. Die Polizei suche noch immer nach ihr.

Axt hatte schon davon gehört, aber die Nachricht ließ ihn seltsam kalt. Letzten Endes hatte der Alte an allem Schuld gehabt. Er war irgendwie durchgedreht, hatte das Geheimnis, das er mit sich herumtrug, und die seltsame Situation, in die es ihn gebracht hatte, nicht mehr verkraftet. Vielleicht war es besser, daß er auf diese Weise keinen weiteren Schaden mehr anrichten konnte.

Die letzten Sätze des Briefes waren in eindringlichem Ton gehalten, und sie handelten nur von einem Thema. Der Eingang müsse verschlossen werden, stand da, die Höhle müsse zerstört werden, wenn das ganze Theater nicht irgendwann von vorne beginnen sollte. Wie recht sie hatten!

Sie wußten natürlich nicht, daß Herzog und er das schon erledigt hatten, auch wenn es Axt unendlich schwergefallen war, noch einmal dorthin zu reisen, wo er seine schwersten Stunden durchlitten hatte. Aber Herzog hatte ihn wochenlang bearbeitet, ihn bekniet, daß sie etwas unternehmen müßten.

Eigentlich ging es zunächst gar nicht darum, den Höhleneingang zu verschließen. Wie hätten sie das auch anstellen sollen? Dazu brauchte man Sprengstoff und an den kam man auch als Paläontologe nicht so ohne weiteres heran. Nein, was Herzog unablässig zu beschäftigen schien, waren die Aktivitäten dieses Fallenstellers. Sie waren sich nicht sicher, ob Ellen wirklich die Schuldige war. Wenn man bei den harten Fakten blieb, und das sollte man als Wissenschaftler ja tun, dann gab es dafür nicht den geringsten Beweis. Vielleicht hatte sie auf irgendeine Weise von der Höhle erfahren, womöglich von Sonnenberg selber, sie war schließlich seine Assistentin, und sie hatte sich dann auf eigene Faust auf den Weg gemacht. Vielleicht wäre sie genauso entsetzt gewesen wie er und Herzog, wenn sie von den Vorgängen erfahren hätte, die sich im Tertiär abgespielt hatten. Es wäre unfair, sie ohne weitere Beweise zu beschuldigen, sie, die wie Tobias’ Opfer dieses schrecklichen Unfalls geworden war.

Sie mußten also davon ausgehen, daß dieser Unbekannte weiter existierte, und wenn es auch sehr unwahrscheinlich war, daß sie ihm das Handwerk legen konnten, so mußten sie es doch wenigstens versuchen und die Spuren seiner Aktivitäten soweit wie möglich beseitigen. Darum ging es Herzog. Es war das einzige, was ihn wirklich zu beschäftigen schien.

Herzogs Beharren, sein ewiges Drängen hatten bei Axt lange Zeit nichts weiter zur Folge als grenzenloses Entsetzen. Um nichts in der Welt wollte er sich diesem Alptraum noch einmal aussetzen, auch wenn die Vorzeichen diesmal völlig anders gelagert waren. Zu seinem Erstaunen war es ausgerechnet Marlis, die schließlich den Ausschlag für seinen Sinneswandel gab. Als sie erfuhr, was Herzog so beunruhigte, war ihre erste Reaktion kompromißlose Abwehr. Aber ein paar Tage später änderte sie ihre Meinung, und als sie abends nebeneinander im Bett lagen, sagte sie: »Du mußt mit ihm fahren, Helmut! Du darfst ihn nicht alleine gehen lassen.«

Außer den acht verschwundenen Fossilien schienen sich zunächst keine weiteren Vorfälle ereignet zu haben, die Herzogs Befürchtungen begründet erscheinen ließen. Aber er wurde nicht müde zu betonen, welche katastrophalen Folgen zu befürchten waren, wenn man dem Treiben nicht einen Riegel vorschob. Genaugenommen gab es nicht viele Hinweise, daß das Wirken dieses Menschen tatsächlich so katastrophal war, wie Herzog behauptete. Manchmal hatte Axt den Verdacht, Herzog störte nur die Vorstellung, nicht der einzige gewesen zu sein, der da unten gelebt und Studien getrieben hatte. Er verbrachte Stunden und Tage in Bibliotheken und Zeitungsarchiven, blätterte Fachzeitschriften und Tagungsberichte durch, um irgendwelche Hinweise auf mögliche Veränderungen des Evolutionsverlaufs zu finden. Aber lange Zeit blieben seine Bemühungen ohne Erfolg.

Eines Abends kam er in heller Aufregung durch die Tür gestürzt, warf dem Zeitung lesenden Axt eine Fotokopie auf den Wohnzimmertisch und sagte mit einem Ausdruck größter Bestürzung: »Da! Ich wußte es.«

Es war ein Leserbrief in einer lokalen Entomologenzeitschrift, die er, weiß Gott wo, ausgegraben hatte. Ein verzweifelter Wissenschaftler oder Hobbyforscher, der aus seiner Verwirrung keinen Hehl machte, wandte sich mit der dringenden Aufforderung an die Leser des Blattes, ihm doch bitte mitzuteilen, ob jemandem in letzter Zeit Funde der Blattkäfergattung Donacia bekannt geworden seien. Die Tiere, über die er schon seit Jahren arbeite und die spezialisierte Bewohner bestimmter Seerosenarten darstellten, seien buchstäblich über Nacht verschwunden. Er habe keine Erklärung für dieses Phänomen und ein derart plötzliches Aussterben einer ganzen Tiergattung sei seines Wissens auch ein beispielloser Vorgang, den man unbedingt genauer analysieren müsse. Er wisse, was er den Lesern mit dieser Behauptung zumute, aber am Tag vor ihrem plötzlichen Verschwinden hätten die Tierchen noch in großer Zahl auf ihren Seerosenblättern gesessen. Er müsse mit Hilfe anderer naturliebender Menschen unbedingt herausbekommen, ob es sich nur um das Erlöschen einer lokalen Population handele oder ob die Tiere auch andernorts verschwunden seien.

Axt rieb sich das Kinn und sagte: »Du meinst ...?«

»Du etwa nicht?« Herzog lief aufgeregt im Wohnzimmer umher. »Ich bin sicher, daß dies etwas mit unserem Freund zu tun hat. Vielleicht haben die Vorfahren dieser Tiere in dem verschütteten Sumpf gelebt. Ich weiß, es klingt absurd, aber es gab dort viele Tierarten, die nirgendwo anders auftraten. Helmut, wir müssen etwas tun. Wir haben doch keine Ahnung, was der Kerl noch so alles anstellt. Vielleicht ist das nur der Anfang.«

»Du glaubst nicht daran, daß Ellen die Schuldige war, nicht wahr?«

Herzog zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich hab keine Ahnung. Ich weiß nur, daß wir uns endlich Gewißheit verschaffen müssen. Wir können hier nicht länger untätig herumsitzen und warten, bis noch mehr verschwindet. Siehst du denn immer noch nicht, was da im Gange ist? Du mußt dich entscheiden. Wenn du nicht mitkommen willst, dann fahr ich alleine.«

»Kommt nicht in Frage. Das darfst du nicht. Es ist viel zu gefährlich.«

Herzog lächelte nachsichtig. »Du vergißt, daß ich dort fast zehn Jahre gelebt habe. Ich wüßte wirklich nicht, was daran gefährlicher gewesen wäre, als sich in dieser beschissenen Stadt auf ein Fahrrad zu wagen.«

Axt wurde nervös. Er stand auf und ging in die Küche, um sich ein Bier zu holen. Als er zurückkam, stand Herzog an der Terrassentür und starrte mit finsterer Miene in den Garten hinaus.

»Ich kann das verstehen, wenn du nicht mit willst. Wirklich! Du hast Frau und Kind. Ich mach dir keinen Vorwurf«, sagte er. Kein Zweifel. Herzog war fest entschlossen, noch einmal durch die Höhle zu fahren. Sein markantes Gesicht wirkte noch härter als sonst. Er hatte sich den urzeitlichen Bart abgenommen, und Axt sah, wie seine Kiefermuskulatur arbeitete.

Eine Woche später brachen sie auf. Sabine und die anderen in der Station hatten ihn angesehen, als ob sie ihn für übergeschnappt hielten. Besonders Sabine hatte sich schon nach seiner ersten wochenlangen Abwesenheit befremdet gezeigt und ihm kein Wort seiner wohl nicht besonders überzeugend klingenden Erklärung abgenommen. Sicherlich spürte sie, daß irgend etwas Außergewöhnliches im Gange war, und empfand es als persönliche Beleidigung, daß er sie nicht ins Vertrauen zog. Aber darauf konnte er keine Rücksicht nehmen. Er war der Chef und seinen Mitarbeitern keine Rechenschaft schuldig. Eher schon Schmäler, aber dem schien es ja egal zu sein, Hauptsache, man verschonte ihn ein für allemal mit anachronistischen Homo sapiens-Skeletten und verschwindenden Fossilien. Ihr einst so vertrautes Verhältnis war mittlerweile auf einem kaum noch zu unterbietenden Tiefpunkt angekommen.

Das Tertiär wirkte unverändert und seltsam vertraut. Sie errichteten ein Basislager, das an einer geschützten Stelle nahe dem Flußufer lag, und unternahmen von dort Streifzüge in den Dschungel, zu Fuß oder mit dem Floß, das sie hinter den Stromschnellen unversehrt wiedergefunden hatten. Mit jedem Tag drangen sie tiefer in den Wald ein und durchstreiften schließlich Gebiete, die auch Herzog noch nie zuvor betreten hatte. Dort fanden sie, was sie suchten.

Es war schlimmer, als Herzog befürchtet hatte. Erst stießen sie auf Mausefallen, in denen zum Teil noch die bis auf die blanken Knochen abgenagten Überreste ahnungsloser Opfer klemmten, und verbrannten sie. Dann fanden sie einige andere improvisierte Konstruktionen, die wohl ebenfalls dem Fang von Tieren dienten, ein zerrissenes Netz, das zwischen zwei Bäumen aufgespannt war und in dessen Maschen noch einige Vogelkadaver hingen, in den Boden eingegrabene Glasgefäße, die vor Insekten nur so wimmelten, einige an Ästen hängende Klebestreifen, wie man sie zum Fliegenfang benutzte.

Sie entdeckten erst einen, dann mehrere Bäume, die aus der Ferne mit ihren in weißen, oft zerfetzten Gazehäubchen stek-kenden Blütenständen aussahen, als seien sie von einer mysteriösen Krankheit befallen, einer Art Ausschlag oder Pilz. Das alles zeigte, daß hier jemand systematische Sammlungen und Untersuchungen durchgeführt hatte, stützte aber die von Herzog immer wieder mit Nachdruck vertretene Behauptung, hier sei ein Wahnsinniger am Werke, in keiner Weise. Sie deuteten eher auf das Gegenteil.

Dann aber stießen sie auf Lichtungen, deren ursprüngliche Vegetation abgetötet und wie verdorrt daniederlag, ein entsetzlicher, verstörender, abstoßender Anblick inmitten der üppigen Fülle tropischer Vegetation, die sie umgab und sich anschickte, das zerstörte Terrain langsam wieder zurückzuerobern.

Aber es kam noch schlimmer. Mit fassungslosen Gesichtern gingen sie tags darauf durch ein lichtes Waldgebiet, dessen Boden übersät war mit toten Tieren, Insekten, Vögeln, Reptilien, Kröten, Insektenfressern, sogar zwei kleinen Hirschen, eine grausige Kollektion der Bewohner dieses Waldes. Ein bestialischer Gestank nach Schimmel und Verwesung lag in der Luft. Millionen von Ameisen, anscheinend die einzigen Überlebenden dieses Massakers, übernahmen die traurigen Pflichten der Totengräber. Anfangs rätselten sie, wie eine solche Tragödie überhaupt geschehen konnte, und brachten diese Katastrophe gar nicht mit dem Treiben des Unbekannten in Verbindung. Aber dann entdeckten sie das rosarote Pulver, das überall auf dem Boden lag. Insektizid! Gift!

Sie waren außer sich. Das war Wahnsinn, pure Mordlust. Sie hatten es mit einem Irren zu tun, einem gemeingefährlichen Verbrecher an der Schöpfung, einem Menschen, der jegliches Maß, jede Art von Kontrolle über sein Handeln verloren hatte, der wahllos zuschlug und tötete, seinen blinden Haß an der Natur austobte, ein Terrorist.

Wer hatte das getan?

Sie bahnten sich mühsam einen Weg durch dichtes Gestrüpp, als Herzog auf eine Höhle deutete, ein dunkles Loch, das in einer über das Dschungeldach ragenden Felsformation klaffte. Als sie wenig später einen Pfad entdeckten, der zur Höhle hinaufzuführen schien, schlug Axt das Herz bis zum Hals, und er wollte Herzog zurückhalten, der schon Anstalten machte, aus dem schützenden Dickicht des Waldes hinauszutreten.

»Vorsicht, Ernst!« flüsterte er. »Vielleicht ist er da oben und beobachtet uns. Der Kerl ist doch im Stande und knallt uns kaltblütig über den Haufen.«

Herzog drehte sich nur kurz um, schüttelte entschieden den Kopf und lief weiter.

Nach kurzer Überlegung wußte Axt, warum Herzog sich so sicher war. Die Fallen, die schon seit Wochen nicht mehr geleert worden waren, die Gazehauben, die von Wind und Wetter zerfetzt und in der Feuchtigkeit verrottet waren, der Dschungel, der die vernichteten Wiesen zurückzuerobern begann, die verwesten, skelettierten, von dicken Schimmelpolstern überzogenen und von Kräutern überwachsenen Tierkadaver, all das deutete darauf hin, daß schon lange niemand mehr hier gewesen war. Vielleicht hatte er die Lust verloren, trieb sein Unwesen jetzt in einem anderen Gebiet. Oder ...

Nein, Axt konnte und wollte noch immer nicht glauben, daß wirklich Ellen, diese schöne junge Frau, dafür verantwortlich sein sollte. Er war ihr zwar nur flüchtig begegnet, aber sie entsprach in keiner Weise dem Bild, das er sich von dieser unbekannten Person gemacht hatte. Es wollte einfach nicht in seinen Kopf, warum sie so etwas tun sollte.

Die Höhle war tatsächlich verlassen, aber sie war zweifellos der Unterschlupf der Person, die sie suchten. Da lagen Reste des Gazestoffes herum, aus dem die Hauben bestanden, und neben Säcken, Pappkartons und Plastikkanistern mit Unkraut-und Insektenvertilgungsmitteln, Wasser und Petroleum stand ein altes Sprühgerät, wie Winzer und Obstbauern es benutzten, um ihre Pflanzenschutzmittel auszubringen. Es gab auch ein paar Käfige, in denen tote Grillen und Marienkäfer herumlagen, kleine Säckchen mit verschiedenen Pflanzensamen. Sollten die hier etwa ausgesät, die Tiere freigelassen werden, war das womöglich schon geschehen? Axt bekam eine Gänsehaut. Herzog hatte recht gehabt, dieser Mensch war gemeingefährlich. Machte er sich denn keinerlei Gedanken, was er mit solchen Experimenten anrichten konnte?

In einer versteckten Felsnische im hinteren Teil der Höhle fanden sie zwei Gegenstände von in sehr unterschiedlicher Weise erschütternder Wirkung. Der eine war ein kleiner Holzkasten, in dem sich neben sieben leeren Fächern noch drei Handgranaten befanden, der andere ein dicker, in Plastikfolie eingewickelter Stapel Papier, die Aufzeichnungen ihres Unbekannten, der minutiöse Bericht über die Taten der Ellen Hartmann. Axt war fassungslos.

Er setzte sich vor den Höhleneingang, von wo man einen herrlichen Blick über die Kronenregion der Urwaldbäume hatte, und blätterte mit wachsendem Entsetzen in den Papieren. Ellen hatte hier in einer kleinen, pedantischen Handschrift die Etappen ihres Niedergangs festgehalten, das penible Protokoll eines erschütternden Persönlichkeitszerfalls, genaue Beschreibungen ihrer immer grausigeren Experimente, ihrer irrwitzigen Versuche, in ferner Zukunft irgendeine Wirkung zu erzielen und als erster und einziger Mensch hinter die Geheimnisse der Evolution zu kommen. Es gab aber auch ganz private Notizen, die zeigten, wie einsam und verzweifelt diese Frau gewesen war. Hilflos hatte sie erleben müssen, wie sie den aus ihrer Entdeckung erwachsenden Möglichkeiten verfallen und schließlich daran zerbrochen war.

Axt war ganz vertieft in seine beklemmende Lektüre, als er Herzog rufen hörte, dessen Stimme von weit her aus dem Inneren der Höhle zu kommen schien.

»Um Himmels Willen, das darf doch nicht wahr sein. Helmut«, schrie Herzog, und Axt kam es vor, als spräche der Berg selbst zu ihm. »Du mußt unbedingt herkommen.«

Er sprang auf, ließ Ellens Papiere mit einem Stein beschwert vor der Höhle liegen und folgte einem schwachen bewegten Lichtschimmer, der von Herzogs Taschenlampe zu kommen schien. Dann spürte er es auch. Je tiefer er in den Berg eindrang, desto enger schloß sich eine Klammer um seinen Kopf, desto wilder wurde das Gebrodel in seinem Magen. Er kannte dieses Gefühl. Das waren eindeutig dieselben Symptome ...

Axt stützte sich an der kalten Felswand ab, weil ihm schwindlig wurde.

»Spürst du es auch? Sie hat einen zweiten Zugang gefunden. Himmel, es gibt tatsächlich einen zweiten Zugang«, sagte Herzog, der nur wenige Meter vor ihm stand, ohne daß er es bemerkt hatte. »Ich glaube, es geht hier entlang.«

Unter großen Qualen tasteten sie sich voran. Manchmal fürchtete Axt, das Bewußtsein zu verlieren, sah schon den kalten, staubigen Höhlenboden auf sich zukommen. Als er sich einmal an seine Nase faßte, waren seine Finger voller Blut. Die Schmerzen waren viel schlimmer, als sie es bisher erlebt hatten, vielleicht weil sie zu Fuß gehen mußten und nur langsam vorankamen. In der anderen Höhle konnte man sich im Boot ganz der Strömung überlassen.

Abrupt ließ der Druck nach. Ein paar Meter weiter fiel durch einen Spalt im Felsen Licht ins Innere der Höhle. Der Ausgang.

»Wer weiß, wie viele von diesen Scheißschlupflöchern es noch gibt«, krächzte Herzog und rieb sich die schmerzenden Schläfen. Auch er hatte aus der Nase geblutet, sah aus, als hätte er eine Schlägerei hinter sich.

»Vielleicht führt er noch weiter in die Vergangenheit«, mutmaßte Axt. Nach all dem Wahnsinn hätte ihn gar nichts mehr gewundert. »Oder sogar in die Zukunft.« Dieser Gedanke war noch schrecklicher. Er konnte sich nicht vorstellen, daß die Zukunft besonders viel Ermunterndes für sie bereithielt.

»Psst«, machte Herzog und steckte den Kopf aus dem Felsenspalt. Davor wuchs dichtes Buschwerk. »Glaub ich nicht. In jedem Fall müßte es da dann auch Mopeds geben.«

»Mopeds?«

Tatsächlich. Jetzt hörte Axt es auch, leise zwar und in größerer Entfernung, aber irgendwo da draußen gab es eine Straße.

Plötzlich drängte sich Herzog an ihm vorbei, zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Wir müssen die Eingänge verschließen«, sagte er beim Vorübergehen. »Jetzt sofort.«

Axt schaute ihm entgeistert hinterher. »Und wie willst du das anstellen, wenn ich fragen darf?«

Herzog blieb stehen und sah ihn an. Seine Augen sprühten Feuer. »Mit den Handgranaten!«

»Meinst du denn, die funktionieren noch?«

»Wir werden sehen. Ich möchte jedenfalls wetten, daß sie mit den fehlenden Granaten den Erdrutsch ausgelöst hat.«

Er hatte recht. Diese Schlupflöcher in eine andere Welt mußten zerstört werden. Es waren kleine Fehler, nur geringe Unstimmigkeiten im riesenhaften Gefüge der Welt, aber mit unabsehbaren Konsequenzen, wenn die falschen Leute davon Wind bekamen. Sie und die menschliche Gier nach Macht und Wissen paßten einfach nicht zusammen.

Natürlich konnten sie mit den Granaten nicht den ganzen Berg in die Luft sprengen, aber einer der unscheinbaren Sprengkörper, von Herzog in Richtung des Felsspaltes geschleudert, genügte, um den schmalen Eingang hinter einem Haufen lockeren Gesteins verschwinden zu lassen. Die Druckwelle zerriß ihnen fast die Trommelfelle. Eine Woge aus dichtem Staub kroch unter der Höhlendecke auf sie zu, nahm ihnen die Sicht und drohte sie fast zu ersticken. Hals über Kopf flohen sie zurück in Ellens Wohnhöhle. Ihre Ohren waren wie betäubt, und sie mußten danach schreien, um sich zu verständigen.

Zwei Stunden später kämpften sie sich noch einmal durch die mörderischen Kopfschmerzen auf die andere Seite hinüber. Der Staub hatte sich weitgehend abgesetzt, aber sie kamen durch die Trümmer der eingestürzten Höhlendecke, aus der überall noch kleine Staub- und Geröllfälle rieselten, kaum voran. Der Spalt schien verschwunden zu sein. Nur an zwei Stellen drangen nadeldünne Lichtpfeile durch das Gestein und die staubige Höhlenluft und erinnerten daran, daß dahinter eine andere Welt begann. Das mußte reichen.

Sie kehrten mit dröhnenden Schädeln in ihr Basislager zurück. Die Aufzeichnungen von Sonnenbergs Assistentin verbrannten sie Blatt für Blatt im abendlichen Lagerfeuer. Am nächsten Morgen traten sie endgültig die Rückreise an.

Bei diesigem, windstillem Wetter überquerten sie in Axts Faltboot die Meeresbucht, steuerten auf die Felseninsel zu und fuhren zum letzten Mal in die Höhle hinein, deren Existenz mindestens drei Menschen das Leben gekostet hatte. Es hätte nicht viel gefehlt, und es wären noch zwei hinzugekommen.

Es war eine Wahnsinnsidee, eine spontane Verzweiflungstat ohne Sinn und Verstand, die beiden Höhlen von innen sprengen zu wollen. Beim ersten Mal war es gut gegangen, aber die beiden Granaten, mit denen sie den anderen, den großen Zugang verschlossen, kosteten sie um ein Haar Kopf und Kragen. Natürlich wäre es viel sinnvoller gewesen, die Sprengkörper aus sicherer Deckung von außen auf die Eingänge zu schleudern, aber dieser Gedanke kam ihnen erst später. Sie waren so besessen von ihrem Plan, von der überraschenden Möglichkeit, die ihnen durch die Entdeckung der Granaten in den Schoß gefallen war, daß sie alle Vorsicht buchstäblich über Bord warfen. Zu wieviel Dummheit doch zwei gestandene Wissenschaftler fähig waren. Herzog bestand darauf, auch die zweite, die große Höhle von innen zu verschließen. Ihr mächtiges neuzeitliches Eingangsportal sei einfach zu groß für die lächerliche Sprengkraft, die sie zur Verfügung hätten. Womöglich machten sie die Leute damit erst recht neugierig. Sie würden nur die slowakischen Bergbauern der ganzen Gegend alarmieren, aber den Höhleneingang niemals zum Einsturz bringen. Und eine zweite Chance gäbe es vielleicht nicht. Sie hätten keine Wahl. Jetzt oder nie. Er war einfach nicht zu bremsen, und Axt hatte dieser Dynamik nichts entgegenzusetzen.

Schon die erste Granate ließ den Berg erzittern, so, als erwache ein riesiges uraltes Wesen unsanft aus langem Schlaf. Wasser schwappte über den Bootsrand, und die Wand aus Staub, die sich auf sie zuwälzte, nahm ihnen die Luft zum Atmen. Sei es wegen der schlechten Sicht, der quälenden Kopfschmerzen, oder weil das Boot zu sehr schaukelte, Herzogs zweiter Wurf geriet jedenfalls zu kurz, und aus dem wie ein riesiger Gong bebenden Berg regnete es nun kindkopfgroße Gesteinsbrocken, die das kleine Boot nur um Haaresbreite verfehlten und um  sie herum auf die Wasseroberfläche klatschten. Einige spitze Felszacken lösten sich von der Höhlendecke und stürzten als tödliche Pfeile aus dem Dunkel herab. Einer durchbohrte die dünne Wand des Faltbootes, das in Sekundenschnelle voll Wasser lief. Die Petroleumlampe erlosch. In absoluter Finsternis griff das Wasser nach ihnen wie mit eiskalten klammen Händen, ihre Schreie übertönten das Dröhnen des Berges, und sie begannen in Todesangst gegen die Strömung anzuschwimmen.

Wie lange es dauerte, bis sie endlich auf den friedlich daliegenden Bergsee hinausschwammen, daran konnten sich später weder Herzog noch er erinnern, aber irgendwann, während sie sich im Dunkeln durch ängstliche Rufe verständigten und gegenseitig Mut zusprachen, entdeckten sie einen schwachen Lichtschimmer, an dem sie sich orientieren konnten, und gegen die lähmende Kälte des Wasser kämpften sie sich ins Freie.

Was wäre wohl aus ihnen geworden, wenn draußen Dunkelheit geherrscht hätte? Zweifellos hätten sie den Ausgang nie gefunden. Nie wieder würde Axt eine Höhle betreten, sich ohne panische Angstattacken in dunklen, engen Räumen aufhalten können, und noch heute hörte er in stillen Momenten das Dröhnen und Poltern des Gesteins. Die Ärzte nannten es schlicht Tinnitus. Sie hatten ja keine Ahnung.

Aber was bedeutete das alles schon.

Ellen war tot, Sonnenberg hatte sich erschossen, die Eingänge waren verschlossen, der Alptraum ausgeträumt. Beinahe.

Diebe

Als Axt in der verlassenen Station eintraf, ärgerte er sich zuerst über die beiden Rolltische, die mit schweren Schieferplatten beladen mitten im Präparationsraum standen und fast den ganzen Mittelgang blockierten. Das fing ja gut an. Wie er den Aufschriften entnahm, handelte es sich um einen Barsch und eine Art Antilope, deren Präparation Kaiser und Lehmke am Montag in Angriff nehmen wollten. Sie hatten sie anscheinend schon einmal aus dem Keller nach oben transportiert, aus Gründen, die ihm überhaupt nicht einleuchten wollten. Sicher, sie waren noch verpackt, es bestand keine akute Gefahr, aber es war trotzdem leichtsinnig, sträflich leichtsinnig. Er würde ein ernstes Wort mit ihnen reden müssen. Das waren ja ganz neue Sitten.

Er ging in sein Arbeitszimmer und entnahm der Schreibtischschublade den Schlüssel für den Klimaraum. Leicht würde ihm das, was er jetzt vorhatte, sicher nicht fallen. Er war Wissenschaftler, kein Saboteur. Die hehre Wissenschaft basierte auf Wahrheit und Ehrlichkeit. Nicht alles ließ sich nachprüfen und verifizieren, schon gar nicht in der Paläontologie. Abgesehen von einigen Fanatikern - die Ausnahmen, die die Regel bestätigten - waren Fälschung und Manipulation in ihrer großen Gemeinschaft tabu, sonst brach das ganze Gebäude, auf das er immer so stolz gewesen war, haltlos in sich zusammen. Auf nichts wäre dann mehr Verlaß. Aber in dieser außergewöhnlichen Situation hatte er keine andere Wahl. Er hatte lange darüber nachgedacht und sah keine andere Möglichkeit mehr, mit dem Problem fertig zu werden. Es ging ja nicht nur um seine seelische Gesundheit. Es ging um viel mehr. Wenn die Welt durch irgendeinen dummen Zufall von der Existenz dieses Skelettes erfuhr, dann waren die Konsequenzen einfach unabsehbar, auch wenn die Zugänge jetzt zerstört waren. Ellen hatte es vorgemacht. Auch andere würden nicht widerstehen können, Menschen, die über mehr Mittel und Macht verfügten als eine kleine Universitätsassistentin.

Er ging hinunter in den Keller, transportierte wie schon so oft den Rolltisch mit Tobias’ Schiefersarkophag nach oben und zirkelte ihn durch die Tür des Klimaraumes.

Sollte er ihn sich vorher noch einmal anschauen, Abschied nehmen? Es war schon Wochen her, daß er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Ach, nein, das hielt ihn jetzt nur auf. Sollte das Bild in seiner Erinnerung doch ruhig verblassen. Daß es irgendwann einmal ganz aus seinem Kopf verschwinden könnte, darauf wagte er gar nicht mehr zu hoffen. Damit würde er wohl leben müssen, bis ans Ende seiner Tage, genauso wie Herzog, wie Claudia und Michael. Sie alle waren Mitwisser, Komplizen wider Willen, obwohl sie nichts von der Existenz des Messeler Skeletts ahnten.

Natürlich hätte er einfach ein Beil oder die Motorsäge nehmen und das Ding damit in kleine Stücke zerlegen können. Aber aus irgendeinem Grund erschien ihm das für dieses ganz besondere Fundstück nicht das adäquate Ende zu sein. Nein, er hatte sich etwas anderes ausgedacht, etwas viel Besseres, viel Gründlicheres.

Sorgfältig entfernte er die Plastikfolie und das feuchte Zeitungspapier. Fast zärtlich strich er mit den Fingerspitzen über die nun freiliegende feuchtkalte Gesteinsoberfläche und kämpfte gegen die in ihm aufsteigenden Skrupel an.

Er mußte es tun. Dieses Skelett durfte nicht existieren.

Er ging zum Thermostaten und nach einem kurzen Zögern schob er den Regler mit einem Ruck bis zum Anschlag. Ein rotes Lämpchen leuchtete auf. Irgendwo sprang ein Aggregat an, und es ertönte ein Summen.

Plötzlich kamen ihm Bedenken. Was, wenn die Temperatur nun nicht ausreichte und seine Mitarbeiter den Block hier am Montag leicht angetrocknet, aber noch immer mehr oder weniger unversehrt vorfanden? Er hatte keine Ahnung, wie hoch die Temperatur steigen würde. Sie nutzten diesen Raum ja normalerweise zum Kühlen und nicht zum Heizen. Vielleicht dreißig, vielleicht fünfunddreißig Grad? Reichte das? Der Schieferblock war schließlich ziemlich groß und massiv. Vielleicht hielten die Apparaturen diese Belastung gar nicht lange genug aus und gaben vorher ihren Geist auf. Warum hatte er bisher nicht daran gedacht?

Er betätigte den Lüftungsschalter. Ein leises Heulen hub an, und er spürte einen kühlen Luftzug im Gesicht. Ihn fröstelte. Dann fielen ihm die Radiatoren ein, die irgendwo unten im Keller herumstanden. Im Winter wurde es mitunter recht kühl hier im Haus, und sie hatten sich die beiden Geräte von ihrem knapp bemessenen Stationsetat zugelegt, damit sie an kalten Tagen überhaupt vernünftig arbeiten konnten. Aber er war, abgesehen von dem großen Raum, in dem sie ihre Fossilienplatten lagerten, schon ewig nicht mehr da unten gewesen und hatte keine Ahnung, wo er nach den Radiatoren suchen sollte.

Er schloß die Tür zum Klimaraum, rannte die Kellertreppe hinunter und begann zu suchen. Mit jeder Minute, die verging, wurde er nervöser. Ihm lief die Zeit davon. Warum hatte er nur so lange untätig in der Küche herumgesessen. Als ob er nichts Besseres zu tun gehabt hätte, gerade heute. Der Brief war wirklich zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt gekommen. Endlich entdeckte er einen der beiden Heizkörper hinter ein paar losen Brettern unter der Treppe. Den zweiten suchte er vergeblich.

Würde das reichen? Er plazierte den Radiator direkt neben den Rolltisch mit dem Schieferblock und stellte ihn auf maximale Leistung. Das Deckenlicht schwankte kurz. Das fehlte noch, daß jetzt der Strom ausfiel. Er hatte keine Ahnung, wo sich der Sicherungskasten und die Ersatzsicherungen befanden. Zum Teufel, er hatte noch nicht einmal eine Taschenlampe, müßte alles im Dunkeln wieder herrichten, eine absolute Katastrophe.

Er schwitzte und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Wurde es schon wärmer? Die schwarze Oberfläche des Ölschieferquaders fühlte sich noch immer feucht und kalt an. Nein, so schnell ging das nicht. Er mußte Geduld haben, jetzt nur nicht die Nerven verlieren. Das Raumthermometer zeigte noch immer zwölf Grad. Wenn das alles nun nicht funktionierte, wenn sein ganzer schöner Plan nur Makulatur war?

Er schlug die Tür zu, lief in sein Zimmer und füllte die Kaffeemaschine. Er mußte jetzt wach bleiben, wach und ganz ruhig. In ein, zwei Stunden würde er mehr wissen. Wenn es so nicht ging, mußte er sich eben etwas anderes überlegen. Er schaute auf die Uhr: halb eins.

An seinem Schreibtisch sitzend trank er mit hastigen Schluk-ken den heißen Kaffee. Er wurde immer unruhiger. Neue Unwägbarkeiten fielen ihm ein. Wenn ihn hier jemand überraschte. Wenn Lehmke oder Kaiser plötzlich einfiel, daß sie etwas vergessen hatten, und vorbeikamen, um es zu holen.

Quatsch! Er hatte hier früher viele Wochenenden allein zugebracht, um in Ruhe zu arbeiten, und nie war er jemandem begegnet außer Sabine. Warum also ausgerechnet heute? Aber er würde ihnen am Montag erklären müssen, was er sich dabei gedacht hatte. Vielleicht sollte er seine Manipulation irgendwie tarnen, am Ende, wenn er fertig war, einen Kurzschluß inszenieren. Kurzer Funkenflug und dann Totalausfall aller Aggregate. Aber wie machte man so etwas? Für technische Geräte hatte er zwei linke Hände. Besser, er versuchte es gar nicht erst. Außerdem war da die Plastikfolie und das Zeitungspapier. Man würde erkennen, daß sie jemand vorher entfernt hatte.

Er füllte seine Tasse von neuem, stellte sie dann aber nur auf den Schreibtisch und lief wieder hinüber zur Klimakammer. Fünfzehn Grad! Es ging zu langsam, viel zu langsam. Ließ sich diese verdammte Lüftung nicht stärker einstellen? Der Radiator war heiß und knackte unablässig. Gut, wenigstens darauf war Verlaß.

Dann entdeckte er den kleinen bräunlichen Fleck auf dem Schieferblock, dort, wo der Radiator stand. Daneben war ein haarfeiner Riß im Gestein. Sah die Oberfläche nicht insgesamt schon matter aus?

Es trocknete! Wenn das Wasser aus dem Schiefer verdunstete, veränderte sich seine Farbe, wurde er bräunlich, schließlich fast gelb. Normalerweise war das ein Alarmsignal für sie, heute aber kam es ihm vor wie ein Silberstreif am Horizont.

Er schloß wieder die Tür und lief unruhig umher. Dann griff er nach seiner Jacke und verließ das Gebäude. Es hatte ja keinen Sinn, alle fünf Minuten da hineinzurennen. Damit machte er sich nur verrückt. Und trocknen würde es dadurch auch nicht schneller, im Gegenteil. Am besten, er ging jetzt spazieren oder ins Kino und schaute erst in zwei Stunden wieder nach. Dabei konnte er auch etwas nachdenken. Er mußte sich überlegen, was er seinen Kollegen am Montag erzählen würde.

Es dauerte keine halbe Stunde, bis Axt wieder die Station betrat. Diesmal im Laufschritt.

Es war nicht sosehr seine Ungeduld, die ihn zurücktrieb, sondern eine Idee, eine glänzende, wenn auch schmerzhafte Idee. Er hatte vom Zaun hinunter in die Grube geschaut und daran gedacht, wie sie Messi, das große Krokodilskelett, gerettet hatten, an die Nacht, die er dort unten verbracht hatte. Und dann waren sie ihm wieder eingefallen, Max und die Grabungsräuber.

Was er vorhatte, verlangte ein Opfer, zu dem er früher unter keinen Umständen bereit gewesen wäre. Aber zunächst wollte er die beiden Schieferplatten irgendwo unterbringen, die offen im Präparationsraum herumgestanden hatten. Es wäre allzu offensichtlich, wenn die Einbrecher ausgerechnet die Fundstücke zurückließen, über die sie geradezu stolpern mußten. Seinen Kollegen würde er einfach sagen, daß er am Sonnabend einmal kurz vorbeigeschaut, sich über die herumstehenden Platten geärgert und diese dann in einen anderen Raum geschoben hätte. Zu diesem Zeitpunkt sei noch alles in Ordnung gewesen. Bloß wohin mit den sperrigen Gesteinsplatten? Natürlich, mit dem Lastenfahrstuhl in den Keller, wie immer. Er wurde hektisch und begann die einfachsten Dinge zu übersehen. An ihm war wirklich kein Einbrecher verlorengegangen.

Es dauerte lange, bis er die beiden Schieferplatten nach unten transportiert hatte. Sie in den Fahrstuhl zu manövrieren war Schwerstarbeit, bei der es um Millimeter ging. Statt sie einzeln zu transportieren, mußte er sie unbedingt zusammen hinunterfahren, weil er glaubte, damit Zeit zu sparen. Aber das Gegenteil war der Fall. Mehr als einmal dachte er, es würde nicht funktionieren. Dann paßte er selber nicht mehr hinein. Er mußte fluchend unter die Tische mit den Schieferplatten kriechen und dann mit Hilfe eines Holzstockes versuchen, die oben in Brusthöhe angebrachten Knöpfe zu betätigen. Als er endlich fertig war, befand er sich in genau der richtigen Stimmung, um den beiden Präparatoren eine gepfefferte Nachricht zu schreiben.

Er schaute auf die Uhr: kurz nach drei. Er könnte wieder einmal nachsehen, was sich im Klimaraum tat.

Als er die Tür öffnete, schlug ihm feucht-warme Luft entgegen. Zweiundzwanzig Grad, na bitte. Das Lämpchen brannte noch. Überall im Schiefer hatten sich feine Risse gebildet, wie ein ausgetrocknetes Flußbett im Miniformat. Auf der Oberfläche begannen sich einzelne dünne Platten aufzuwölben und abzuschälen. Wenn er mit der Hand darüber fuhr, lösten sie sich wie Schuppen von zu trockener Haut.

Eigentlich ein trauriger Anblick: Millionen Jahre hatte es sich unter Luftabschluß bewahrt. Jetzt erst verrichtete die Atmosphäre ihr Zerstörungswerk an dem weichen Gestein. Erst die kleinen vertrockneten Plättchen, die von ihm übrigblieben, wirkten wirklich tot, so als ob das jetzt entzogene Wasser dem Ölschiefer noch eine Form von Leben verliehen hätte.

Es zerfiel. Wie ein Vampir, den man dem Sonnenlicht aussetzt, dachte er. Nur viel langsamer und nicht so dramatisch. Zurück blieb auch kein qualmendes Häufchen Asche. Aber würde es wirklich schnell genug gehen? Er ging wieder hinaus und schloß sorgfältig die Tür.

Was sollte er jetzt tun? Nach Hause fahren? Nein, dort würde er es jetzt nicht aushaken. Und hier in der Station würde er dauernd nachschauen und fände erst recht keine Ruhe.

Er stieg in seinen Wagen und fuhr eine Weile in der Gegend herum, bis ihn bleierne Müdigkeit zwang anzuhalten. Er hatte in der letzten Nacht nicht sehr viel geschlafen. Als Paläontologe vernichtete man nicht allzuoft Fossilien. Der Gedanke an das, was er am nächsten Tag zu tun plante, hatte ihn immer wieder aus dem Schlaf schrecken lassen.

Er steuerte in einen Forstweg, klappte die Rückenlehne nach hinten und versuchte es sich auf den Sitzpolstern bequem zu machen.

Als er aufwachte, war es halb sieben. Er stieg aus, rieb sich die Augen und überlegte. Zwei Stunden hatte er geschlafen, nicht genug. Je länger er seine Rückkehr hinauszögerte, desto kompletter würde die Zerstörung sein. Er lief den Forstweg entlang, marschierte eine Weile ziellos durch den Wald, dann drehte er doch um und fuhr zurück zur Station.

Sechsundzwanzig Grad, und noch immer leuchtete die Lampe! Der Zerfall des Schieferblocks machte Fortschritte. Am Rand klafften die Platten jetzt an einigen Stellen auseinander, begannen sich zu wellen wie feuchtes Papier, das wieder trocknete. Überall lösten sich millimeterdünne zerbrechliche Scheibchen, die unter dem Druck seiner Finger in tausend kleine Bruchstücke zersprangen.

Trotzdem, es ging ihm viel zu langsam. Er holte einen Spaten und schabte die oberste trockene Schicht ab, damit die Wärme und der Luftzug besser angreifen konnte. Dann überkam es ihn plötzlich. Wozu so lange warten? Warum so kompliziert? Dieses langsame Austrocknen war doch ein völlig überflüssiger Luxus und kostete nur unnötig Nerven.

Mit einem Stöhnen stieß er zu, rammte die Schaufel zwischen die Platten und drückte sie auseinander. Dann noch mal. Und noch mal. Schwere Gesteinsbrocken polterten auf den Fußboden. Er keuchte. Immer wieder holte er aus. Bald bot der Raum mit den vielen Gesteinstrümmern, der herumliegenden Folie und dem dreckigen feuchten Zeitungspapier am Boden ein Bild der Verwüstung. Schwer atmend hielt Axt inne.

Idiot, dachte er. Das war völlig unnötig. Jetzt mußte er auch noch alles saubermachen und aufräumen, die Spuren beseitigen. Es mußte doch alles so aussehen, als hätten sie den Tisch mitsamt dem Skelett einfach nur hinausgeschoben und draußen umgeladen. Den Tisch würde er einfach irgendwo auf dem Grundstück stehenlassen.

Er verzog das Gesicht, rannte hinaus und holte mehrere große Müllsäcke, in die er in hektischer Eile soviel von den Schieferbruchstücken füllte, wie er tragen konnte. An einigen der Platten hafteten Knochen, Tobias’ Knochen, die Knochen eines Menschen, einer Person, die er gekannt hatte. Das war kein normales Fossil, es war eine Leiche, die er da wegschaffte. Die schweren Säcke schleppte er durch die kühle Abendluft nach draußen und wuchtete sie auf die Ladefläche seines Kombis. Jedesmal vergewisserte er sich vorsichtig, ob ihn auch niemand beobachtete. Wie ein Mörder, der die zerstückelten Überreste seines Opfers beseitigte.

Den leeren Klimaraum wischte er mehrmals mit einem feuchten Lappen aus. Auch seine dreckigen Fußabdrücke, die er beim Hinaustragen hinterlassen hatte, entfernte er sorgfältig. Wie leicht man sich plötzlich mit so etwas tut, wunderte er sich. Dann schaltete er die Lüftung aus, schob den Regler wieder auf zwölf Grad und schloß die Tür.

Aber der wirklich unangenehme Teil der Arbeit stand ihm noch bevor. Er nahm ein Brecheisen - gut, daß bei ihnen so etwas herumlag - und klemmte es zwischen Tür und Rahmen. Erst als er sich mit dem ganzen Körper dagegen stemmte, gab das Holz nach. Das häßliche Geräusch fuhr ihm in Mark und Bein. Er demolierte seine eigene Forschungsstation, ihren erst nach langem Hickhack eingerichteten Klimaraum.

Jetzt kam das Schlimmste. Er mußte, um den Schein zu wahren, etwas von ihren Schätzen opfern. Wenn hier Diebe einbrachen, die es auf Fossilien abgesehen hatten, dann würden sie sich nicht mit einem großen Beutestück zufriedengeben. Sie würden alles mitnehmen, dessen sie auf die schnelle habhaft werden konnten.

Er hatte Glück. Im Präparationsraum wurde im Augenblick nur an zwei Stücken gearbeitet. Obwohl Sabine ihm wahrscheinlich die Augen auskratzen würde, wenn er es jemals wagen sollte, eine solche Bewertung in ihrer Gegenwart abzugeben, aber da waren nur die Fledermaus, die sie gerade freilegte, und eine vollständig präparierte Beutelratte, keins der ganz bedeutenden Fundstücke also. Lehmke und Kaiser hatten ihre Arbeiten gerade abgeschlossen. Die Präparate waren noch am selben Tag nach Frankfurt ins Museum geschafft worden. Sabine würde er allerdings nie wieder ins Gesicht sehen können. Er wußte, daß sie am Boden zerstört sein würde. Erst lösten sich ihre Fossilien einfach in Luft auf, und dann wurden ihr auch noch welche gestohlen. Ihr mußte das Ganze wie eine Verschwörung vorkommen. Ohne hinzusehen stopfte er die beiden Präparate in einen weiteren Müllsack. Die Arbeit von Wochen. Es tat ihm in der Seele weh, aber er mußte sie verschwinden lassen. Es ging nicht anders.

Draußen schloß er die Haustür, verstaute den Beutel im Auto und ging anschließend mit dem Brecheisen zurück zum Haus, um die Flügeltür zum Präparationsraum aufzubrechen. Irgendwie mußten sie ja in das Haus gelangt sein. Teufel noch mal, es war wie der Amoklauf eines Wahnsinnigen, der blindwütig seine Zerstörungswut austobte.

Gerade, als er das Eisen ansetzen wollte, hörte er Stimmen. Er erstarrte.

Aus! Vorbei! Wieviel bekam man für Hausfriedensbruch, Diebstahl und mutwillige Zerstörung fremden Eigentums? Seinen Job konnte er auch vergessen.

Die Stimmen wurden wieder leiser. Es waren nur zwei Spaziergänger, wahrscheinlich Leute aus der benachbarten Wohnsiedlung, die ihren Hund Gassi führten und draußen am Zaun der kleinen Grünanlage vorbeischlenderten. Er ließ die Luft aus seinen Lungen entweichen und mußte grinsen. Himmelherrgott, er war ein einziges Nervenbündel. Glücklicherweise lag die Tür zum Präparationsraum auf der wegabgewandten Seite des Hauses. Er lauschte, wartete zur Sicherheit noch ein paar Minuten, dann setzte er das Brecheisen an und drückte zu. Es fühlte sich an, als zersplitterten seine eigenen Knochen.

Endlich im Auto sitzend legte er die Stirn auf das Lenkrad und atmete tief durch. Er überlegte fieberhaft, ob er vielleicht etwas vergessen hatte, irgendeine dumme Kleinigkeit. Wenn herauskam, daß er dies alles angerichtet hatte, dann ...

Die Kaffeemaschine!

Er sprang aus dem Wagen und stürzte wieder ins Haus. Ja, er hatte sie angelassen, und da stand ja auch noch seine Tasse mit dem mittlerweile kalten Kaffee. Er hatte kaum etwas davon getrunken. Dilettantisch!

Erst eine gute Stunde später kam er langsam zur Ruhe. Den Schiefer hatte er einfach in eine stillgelegte Kiesgrube geworfen. Spätestens morgen war alles zerfallen, nur noch Trümmer, die niemandem auffallen würden.

Ja, es war ein guter Plan. Alle würden an einen simplen Einbruch glauben. Die Diebe wollten reichlich Beute machen, erwischten dabei aber einen Tag, an dem nur wenig zu holen war.

Künstlerpech, dachte er und lachte vor sich hin. Daß der Block mit Tobias’ Überresten verschwunden war, würde, wenn überhaupt, erst in ein paar Monaten auffallen. Und dann würde er es mit dem Einbruch in Verbindung bringen. Da unten stand einfach zuviel herum, als daß sie jederzeit den genauen Überblick behielten.

Vielleicht hatte die ganze Angelegenheit sogar den angenehmen Nebeneffekt, daß die Senckenberg-Stiftung ihnen eine neue Schloßanlage für die Station spendierte. Die alte war ziemlich marode, und es war eigentlich ein Wunder, daß nicht schon früher Diebe zugeschlagen hatten.

Das Problem war aus der Welt, nicht aber aus seinem Kopf. Auch wenn er sich jetzt erleichtert fühlte, für ihn würde die Welt nie wieder so aussehen wie zuvor, darüber machte er sich keine Illusionen. Wie er damit fertig werden würde, mußte die Zukunft zeigen. Schlimmstenfalls mußte er eben kündigen und sich irgendwo einen anderen Job suchen. Dieser Gedanke hatte nach allem, was er erlebt hatte, viel von seinem Schrecken verloren. Schließlich hatte er am Ufer des wirklichen Messeler Sees gestanden, auch wenn er in diesem Moment nur daran gedacht hatte, Tobias nicht aus den Augen zu verlieren. Und danach, sein Versagen vor Augen, stand ihm der Sinn erst recht nicht nach intensiver Naturbetrachtung. Eigentlich schade, daß er so wenig davon mitbekommen hatte.

Er fuhr auf die Landstraße Richtung Darmstadt und pfiff leise vor sich hin. Durch das Wagenfenster schaute er hinaus in eine feuchte Flußniederung mit Wiesen aus sattem Grün. Dichte Nebelschwaden hingen darüber. Woran ihn das Bild nur erinnerte?

Plötzlich fiel ihm Ellen wieder ein, deren Skelett vielleicht noch immer irgendwo in der Grube lag.

Na ja, die Fossilüberlieferung war lückenhaft, das hatte er kürzlich sehr anschaulich erfahren. In den zwei Millionen Jahren, deren Zeugnisse in der Grube Messel die Zeiten überdauert hatten, waren dort sicher Tausende und Abertausende von Tieren gestorben, große und kleine, alte und junge, und es waren tonnenweise Blätter und andere Pflanzenteile in den See gefallen. Wenn sich alle diese Überreste als Fossilien erhalten hätten, müßte die Grube ja randvoll mit Knochen sein, geradezu überquellen vor Baumstämmen, Blattresten und Samen. Nein, nein, nein, er hatte bisher nicht allzuviel Glück gehabt in dieser Angelegenheit, und irgendwann mußte schließlich auch die hartnäckigste Pechsträhne einmal zu Ende gehen. Er hatte das Gefühl, daß mit dem heutigen Tag wieder bessere Zeiten für ihn anbrachen.