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Mitbringsel
Anfang September klingelte bei Micha das Telefon, und Tobias verblüffte ihn damit, daß er nach so vielen Jahren noch seinen Geburtstag im Kopf hatte.
»Herzlichen Glückwunsch, Langer!« So hatte Tobias ihn früher auch manchmal genannt. »Wie war’s denn in Hellas?«
»Gut«, antwortete Micha einsilbig. Der vertrauliche Ton, den Tobias anschlug, paßte ihm nicht. In Wirklichkeit waren seine Ferien phantastisch gewesen, genauso wie Thomas und er es sich vorgestellt hatten. Er hatte sogar Dostojewskijs Idiot gelesen. Langbeinige Traumfrauen waren ihm allerdings nicht über den Weg gelaufen. »Nur leider schon Geschichte.«
»Wem sagst du das. Hör mal, ich fahre heute noch nach Stuttgart, ein paar Sachen regeln. Sonst hätte ich dich ja gerne auf ein Bier besucht. Aber so muß ich dir eben telefonisch alles Gute wünschen, mit meinem neuen, eigenen Telefon übrigens.«
»Nett von dir«, sagte Micha. Der Gedanke, daß Tobias um ein Haar mitten in sein kleines Fest hineingeplatzt wäre, behagte ihm gar nicht. Ein paar Freunde saßen in seinem Zimmer herum und mixten aus einer ziemlich willkürlichen Ansammlung von Alkoholika alle möglichen gefährlichen Cocktails zusammen.
»Hast du das Päckchen schon bekommen?« fragte Tobias.
»Welches Päckchen?«
»Also nicht. Schade! Ich hab dir als kleines Geburtstagsgeschenk ein paar Mitbringsel geschickt. Kommt dann wahrscheinlich morgen.«
»Mitbringsel? Aus der Hohen Tatra?« Ihm fiel ein, was Tobias bei ihrem Gespräch damals über seine Reisepläne gesagt hatte.
»Ja, genau.«
»Und, wie war’s da so?«
»Ach, sehr interessant, sehr aufschlußreich.«
Micha stutzte zwar über diese merkwürdige Charakterisierung einer Urlaubsreise, aber diese Irritation war nur von kurzer Dauer. Vielleicht war Tobias ja auch einer dieser Bildungsreisenden, die ein Natur- und Kulturdenkmal nach dem anderen abklappern mußten, um sich erholt zu fühlen. Was wußte er denn schon von ihm?
Er bedankte sich im voraus und notierte Tobias’ neue Telefonnummer, versprach, sich bald bei ihm zu melden, und versuchte ansonsten, das Gespräch zu beenden, um so schnell wie möglich zu seinen Freunden zurückkehren zu können. Fünf Minuten, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, hatte er Tobias schon wieder vergessen, und das lag nicht nur an der durchschlagenden Wirkung des neuen Spezialcocktails, den Thomas ihm grinsend entgegenhielt, kaum daß er sein Zimmer betreten hatte.
Am nächsten Morgen kam das Päckchen. Es hatte die Größe eines Schuhkartons, wog aber so gut wie nichts. Zuerst wußte er gar nicht wohin damit. Sein Zimmer sah nach dem gestrigen Gelage reichlich chaotisch aus, überall Gläser, Tassen mit angetrockneten Kaffeeresten, volle Aschenbecher, leere Flaschen, Sektkorken, herumliegendes Geschenkpapier. Die Cocktails hatten es wirklich in sich gehabt. Sie waren alle betrunken gewesen, und er war überrascht, daß sich die Nachwirkungen bei ihm in Grenzen hielten. Mit einem Seufzer machte er sich daran, den Schreibtisch freizuräumen.
Als er das Packpapier und den Deckel des Schuhkartons - es war tatsächlich einer - entfernt hatte, fand er neben Unmengen Holzwolle eine Zigarettenschachtel, ein Herbarblatt mit einer vorschriftsmäßig gepreßten und getrockneten Pflanze und einen kurzen Brief:
Lieber Micha!
Die Renoviererei hat natürlich viel länger gedauert, als ich mir das vorgestellt habe, und auch meine mit Verspätung angetretene Reise dauerte länger als geplant. So bin ich erst vor knapp zwei Wochen wieder in meine Wohnung zurückgekehrt. Hast Du schon versucht mich zu erreichen?
Ich hoffe, Du hast Dich gut erholt und bist wieder mit Feuereifer zu Deinen Insekten zurückgekehrt. Ich habe Dir von meiner kleinen Exkursion (Du erinnerst Dich an unser Gespräch) ein schönes Tier mitgebracht, daß mir eines Abends mit Volldampf gegen die Campinglampe krachte. Ich hoffe, es gefällt Dir.
Außerdem schicke ich Dir noch eine Pflanze, die mir einiges Kopfzerbrechen bereitet. Vielleicht kannst Du als Biologe weiterhelfen. Ich glaube, es ist etwas ziemlich Seltenes, also behalt’s besser für Dich. Das Herbarblatt ist natürlich auch ein Geschenk. Ich habe noch ein Exemplar.
Bis bald mal und alles Gute fürs neue Lebensjahr
Dein Tobias
Kopfschüttelnd betrachtete er die getrocknete Pflanze. Seltsam, wie schnell man zum gefragten Fachmann befördert wurde. Kaum erzählte man von seinem Biologiestudium, glaubten die Leute offensichtlich, ein wandelndes Lexikon vor sich zu haben. Mit der immer gleichen Frage (»Was is’n das?«) hielten sie einem Grünzeug, irgendwelches Ungeziefer oder vergilbte Blätter von Zimmerpflanzen vor die Nase und spätestens nach dem dritten bedauernden Kopfschütteln erntete man dann diesen skeptischen Blick, mit denen die eigene Qualifikation ernsthaft in Frage gestellt wurde. Es war derselbe skeptische Blick, den man einem Kfz-Mechaniker zugeworfen hätte, für den Begriffe wie Kupplung und Bremsbeläge böhmische Dörfer waren. Selbst seine Mutter, die seit dreißig Jahren inmitten eines üppigen Gewächshauses wohnte, fragte ihn neuerdings immer wieder, wie sie denn nun ihre Alpenveilchen gießen solle.
Niemand schien zu begreifen, daß die Natur etwas so Riesenhaftes, so unendlich Vielfältiges war, daß man unmöglich alles kennen konnte und auf ewig dazu verurteilt war, bei neunzig Prozent aller Fragen ratlos mit den Achseln zu zucken.
Er legte das Herbarblatt zur Seite - Botanik war nicht gerade seine Stärke, und das fragliche Exemplar sah für ihn zunächst einmal aus wie jede andere plattgepreßte und vertrocknete Pflanze auch - und widmete sich der Zigarettenschachtel. Neben einigen Blatt zusammengeknüllten Toilettenpapiers beförderte er schließlich einen schillernden, etwa vier Zentimeter großen Käfer zu Tage, der in einem kleinen durchsichtigen Kunstharzblock eingeschlossen war.
»Ohh, ein Buprestide.«
Ein Prachtkäfer, und was für einer. Die länglich-ovalen Flügeldecken glänzten wie ein Juwel und schimmerten je nach Lichteinfall in allen Farben des Regenbogens. Etwas Vergleichbares hatte er noch nie in der Hand gehabt. Flügeldecken, Halsschild und Kopf des Tieres schillerten in metallischem Blau und Grün. Auf mehreren der inneren Flügeldeckenrippen zogen sich unterbrochene, bronzefarbene Linien entlang. Er war wirklich wunderschön, prächtig.
Dann stutzte er. Micha bildete sich ein, schon recht gut mit den einheimischen Käferarten vertraut zu sein, aber ein solches Juwel war ihm noch nie untergekommen. Wenn er es sich recht überlegte, war er eigentlich ziemlich sicher, daß dieses Tier nicht zur einheimischen Fauna gehörte. Und jetzt, da er darüber nachzudenken begann, konnte er sich auch kaum vorstellen, daß ein paar hundert Kilometer weiter - in der Slowakei -plötzlich Spezies vorkommen sollten, die aufgrund ihrer Größe und Farbausstattung eher in die Tropen paßten. Einheimische Arten konnten da in der Regel nicht mithalten. Bloß nicht auffallen, hieß die Devise. Da unterschieden sie sich kaum von den Menschen, die hier lebten. Für mitteleuropäische Verhältnisse präsentierte ja ein Marienkäfer mit seinem schlichten Rot-Schwarz schon eine zügellose Farborgie. Aber die Käfer waren ungeheuer vielgestaltig, die artenreichste Tiergruppe, die es überhaupt gab. Bei weltweit fast einer halben Million Arten war sein Wissen notgedrungen lückenhaft. Er konnte nicht restlos ausschließen, daß es in der Slowakei nicht doch schon ganz andere, etwa aus den Steppengebieten Osteuropas stammende Käferarten gab, von denen er nichts wußte.
Außerdem, wo sollte das Tier denn sonst herkommen? Tobias hatte doch sowohl am Telefon als auch in seinem Brief eindeutig von einem Mitbringsel gesprochen, von einem Tier, das ihm gegen die Campinglampe geflogen war.
Vielleicht trieb er nur einen Scherz mit ihm. Mit seinen Kommilitonen hatte Micha sich auch schon das verblüffte Gesicht von Prof. Rothmann ausgemalt, einem Insektenkund-ler, der mit Hilfe von alten, in den Boden gegrabenen Joghurtbechern den Käfern des heimischen Grunewaldes nachstellte, wenn er einmal einen Exoten, vielleicht eine mediterrane Art, vorfände, die sie ihm unter des Grunewalds Käfereinerlei geschummelt hätten. Sie waren sich alle sicher, daß er in heller Aufregung die Institutsgänge entlangstürmen und jedem, der ihm über den Weg lief, von seinem sensationellen Erstnachweis dieser Käferart für Mitteleuropa berichten würde. Das sind die raren Höhepunkte eines Forscherlebens.
So wie sich Tobias ihm bisher präsentiert hatte, traute er ihm hintergründigen Humor dieser Art durchaus zu. Er nahm sich vor, in den nächsten Tagen einmal in der Institutssammlung nachzuschauen, ob es eine solche Art in Deutschland gab. Und wenn er in der Sammlung nicht fündig werden sollte, gab es da zumindest reichlich Literatur und sicherlich auch eine Fauna Tschechoslowakia oder so etwas, wo er sich Klarheit verschaffen konnte.
Er legte den Harzblock mit dem Käfer auf seinen Schreibtisch, verstaute das Herbarblatt in einer der Schreibtischschubladen und zündete sich dann schmunzelnd eine Zigarette an. Nein, so leicht würde Tobias ihn nicht hinters Licht führen.
Ein paar Tage später suchte er in der Zoologischen Sammlung des Instituts in dem Schrank mit der Käfersammlung nach den Buprestiden, den Prachtkäfern. Er war zwar überrascht, daß einige der einheimischen Arten sich, was Schönheit, Farbenpracht und Metallglanz anging, durchaus mit Tobias’ Mitbringsel messen konnten, aber nicht hinsichtlich ihrer Körpergröße, und das gab seinem Verdacht letztlich recht. Die größten deutschen Prachtkäfer maßen kaum mehr als drei Zentimeter und waren eher unscheinbar, jedenfalls alles andere als prächtig und sowieso so gut wie ausgestorben. Und die, die farblich in Frage kamen, die bunten, schillernden Arten der Gattungen Lampra und Palmar, waren erheblich kleiner.
Zwei, drei Stunden intensiven Suchens und Blätterns in der institutseigenen Bibliothek bestätigten ihn dann in einem weiteren Punkt: Auch die Prachtkäfer der Slowakei machten ihrem Namen wenig Ehre und sahen eher aus wie graue Mäuse.
Der Kerl hatte tatsächlich versucht ihn hereinzulegen. Er brauchte einen Moment, um das zu verdauen. Dann begann er Rachepläne zu schmieden, allerdings ohne daß ihm zunächst etwas Adäquates eingefallen wäre.
Wahrscheinlich hatte Tobias das Ding in einem dieser Naturalienläden gekauft, wo angeblich naturliebende Ästheten sich mit farblich zum Teppich oder zur Gardine passenden Schmetterlingen, bizarren Korallenstöcken oder horrorfilmreifen Riesenheuschrecken ausstatten konnten, eine ziemlich perverse Ausprägung großstädtischer Naturverbundenheit. Als naturschutzbewegter Mensch durfte man dort nichts kaufen. Noch ein Grund mehr, sich über Tobias zu ärgern.
Zunächst einmal beschloß er, so zu tun, als sei ihm der Betrug gar nicht aufgefallen. Aus seinem Munde würde Tobias kein Sterbenswörtchen darüber hören. Wahrscheinlich verbarg sich hinter der getrockneten Pflanze der gleiche Schmu.
Eines Abends, knapp zwei Wochen später, rief ein aufgekratzter Tobias an und versuchte ihn mit Hilfe eines kaum zu bremsenden Wortschwalls in eine Kreuzberger Kneipe zum Bier einzuladen. Er hatte alle Mühe, sich gegen die enorme Geräuschkulisse im Hintergrund durchzusetzen. Micha ließ sich überreden und traf ihn eine halbe Stunde später an der Theke eines lauten und verqualmten Ladens, den er vorher nie betreten hatte.
Tobias grinste Micha mit seinem blitzenden Zahn an, klopfte ihm zur Begrüßung kumpelhaft auf die Schulter und sagte: »Da bist du ja.«
»Hallo!«
»Komm, wir setzen uns dahinten hin, da ist es ein bißchen ruhiger.« Er legte ihm die Hand auf die Schulter, griff nach seinem Bier und schob ihn durch die dichtgedrängt stehenden, durcheinander redenden Menschen. Er schien sich hier auszukennen, denn sie erreichten einen zweiten Raum, in dem es wesentlich ruhiger war. Sie setzten sich an einen freien Tisch, und Micha bestellte bei der gerade vorbeieilenden Bedienung ein Bier.
»Bist du öfter hier?« fragte er.
»Hin und wieder.« Er lachte. »In Sechsunddreißig herrscht kein Mangel an Kneipen.«
»Anders als in eurem Dorf, was?«
Sie redeten eine ganze Weile über Gott und die Welt, über Großstadt und Landleben, über Berlin und Stuttgart, die Schwaben, die einem hier überall über den Weg liefen, und über das Universitätsleben. Tobias wirkte gelöst und ausgesprochen gut gelaunt und machte nicht den geringsten Versuch, das Gespräch auf seine Reise oder gar das Päckchen zu lenken, das er geschickt hatte. Micha hatte sich zwar vorgenommen, nichts zu sagen, aber je länger sie plauderten, desto irritierender fand er Tobias’ Verhalten. Nachdem sie so mindestens zwei Stunden zugebracht und etliche Biere geleert hatten, beschloß er, zwei alten, bewährten Grundsätzen zu folgen. Der erste hieß: Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern, der zweite: Angriff ist die beste Verteidigung.
»Ach ja, übrigens vielen Dank für dein Päckchen. Hat mich wirklich gefreut, besonders der tolle Prachtkäfer.«
»Ein schönes Tier, nicht wahr?« Tobias lächelte breit, zeigte aber ansonsten keine Reaktion. »Hast du über diese Wasserpflanze etwas herausfinden können?«
»Eine Wasserpflanze ist das? Nein, du, ich muß gestehen, daß Botanik meine schwache Stelle ist. Ich bin bisher noch nicht dazu gekommen, mir die Pflanze genauer anzusehen, aber ich fürchte, selbst wenn ich es täte, würde nicht viel dabei herauskommen.«
»Na ja, du kannst ja mal sehen, vielleicht schaffst du es irgendwann einmal«, antwortete er ohne besonders große Enttäuschung. »Würd mich interessieren.«
Und damit war dieses Thema für ihn offenbar erledigt, denn er begann von etwas anderem zu reden.
Micha war verwirrt. Wenn Tobias nur schauspielerte, dann war er ungewöhnlich talentiert, und da er seinem Jugendfreund Begabungen dieser Art eigentlich nicht zutraute, fing er an, an den Ergebnissen seiner Recherchen zu zweifeln.
Sie saßen eine Weile schweigend am Tisch, leerten ihre Biergläser und betrachteten die anderen Kneipenbesucher. Eine bunte Kreuzberger Szenemischung, viele in Schwarz, mit Lederhosen und schweren Lederjacken, Flickenjeans, glänzenden Ohrringen, ein Mädchen mit kunstvoll geflochtenen und perlenverzierten Afrolocken, ein anderes mit Ringen in der Oberlippe und gelben Inseln im blauen Haar, das aussah, als stände es kurz vor einem Heulkrampf, zwei Rastas mit Augenlidern auf Halbmast, die sich gerade Zigaretten drehten und ihre Oberkörper im Rhythmus der Salsamusik wiegten, die aus kleinen Lautsprechern oben an der Decke kam.
»Was ist das eigentlich für ein Ding in deinem Zahn da?« fragte Micha und tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Schneidezähne.
»Ach das«, Tobias grinste, damit der ganze Laden zu sehen bekam, was er zu bieten hatte. »Is ‘n Diamant.«
»Ein Diamant?«
»Nich, was du denkst. Nur so ‘n billiges Industrieteil. Hat mich im übrigen keinen Pfennig gekostet.«
»Ach so, na ja dann.« Micha lachte und zündete sich eine Zigarette an. Er hatte es gewußt, der Kerl hatte nicht alle Tassen im Schrank. »Und wer hat dich auf diese selten dämliche Idee gebracht?«
»Das war so ne Wette.«
»Ne Wette?«
Tobias fletschte die Zähne und präsentierte das Ding in seinem Mund. Es sah aus wie ein Parasit, nur ein, zwei Millimeter groß, eine Art Zahnzecke, die sich dort eingenistet hatte.
»Ja, das war auf ner Party. Ich weiß eigentlich selber nicht mehr, wie ich mich dahin verirrt habe. Muß ungefähr ein halbes Jahr her sein.«
»Also schon in Berlin?«
»Ja, natürlich. In Stuttgart kommt keiner auf so ne Idee. Jedenfalls war da so ein Yuppie, Arztsohn aus Zehlendorf oder so was, mit Golfcabriolet und Kaschmirschal, du verstehst, mit allem Drum und Dran, rauchte Zigarillos. Jedenfalls glaubte der, sich mit mir anlegen zu müssen, und meinte, meine Zähne seien ja so wunderschön, da würde eigentlich nur noch ein Diamant fehlen, gewissermaßen als Krönung, vorne, mitten im Schneidezahn, da, wo ihn jeder sehen könnte.«
Micha brach in schallendes Gelächter aus.
»An jedem Arm hatte der ne alberne Tussi«, Tobias mußte ebenfalls lachen, »und er meinte wohl, er sei was ganz Tolles. Jedenfalls blieb ich ganz cool und sagte, das sei eine ganz hervorragende Idee, und fragte, wo man denn so ein Ding her bekäme. Er könnte mir eins einsetzen, meinte er, und seine beiden Gänse machten sich fast in die Hose vor Lachen. Zufällig sei er Zahnarzt und habe eine eigene Praxis unten in Steglitz. Na ja, und dann habe ich ihn festgenagelt, verstehst du, von wegen leere Versprechungen, alles Angeberei und so. Hab ihn richtig in die Enge getrieben, bis ihm nichts mehr weiter übrigblieb, als sich mit mir und den beiden gackernden Schnallen in sein Cabrio zu zwängen, mich auf seinen schnieken, funkelnagelneuen Behandlungsstuhl zu setzen und mir das Ding einzusetzen. Er hatte eine ganze Kollektion davon da, und ich hab mir den größten ausgesucht. Wie gesagt, hat mich keinen Pfennig gekostet.«
»Na großartig!« lachte Micha. Das mit dem Geld schien ihm ja besonders wichtig zu sein.
»Dann sind wir wieder zurück auf die Party gefahren. Der Typ war schön kleinlaut danach, das kann ich dir sagen. Ich hab mich vollaufen lassen, um den Schmerz zu betäuben. Hat tierisch weh getan.«
»Kann ich mir denken. Ich find’s übrigens potthäßlich.«
»Geschmackssache.« Er grinste, machte mit den Lippen ein schmatzendes Geräusch und spielte mit seiner Zunge an dem Fremdkörper herum.
Etwa ein Bier und eine halbe Stunde später - sie waren beide mittlerweile recht betrunken - stand Tobias plötzlich auf und sagte, er müsse mal auf die Toilette und danach jemanden anrufen.
»Hier«, sagte er und warf einen Stapel Fotos auf den Tisch, die er irgendwie aus seiner Jackentasche hervorgezaubert hatte. »Kannst dir ja damit die Zeit vertreiben.«
»Von deiner Reise?«
»Hmm.« Er nickte. »Bin gleich wieder da.«
Micha zündete sich eine Zigarette an, nahm die Fotografien und blätterte sie langsam durch. Es waren ganz normale langweilige Urlaubsfotos, die Gebirgslandschaften, Wälder und ärmliche Dörfer zeigten. In Gedanken war er allerdings ganz woanders, denn er mußte permanent darüber nachdenken, ob er sich wirklich so getäuscht haben konnte. Vielleicht hatte er ja etwas übersehen. Entweder dieser Käfer war ein normales Reisemitbringsel, wie Tobias es behauptete, dann war sein Verhalten normal und verständlich, und er hatte einen Fehler gemacht.
Oder sein Verdacht stimmte, und es handelte sich um einen Scherz, ein Spiel. In diesen Fall war das Verhalten seines Freundes allerdings einigermaßen rätselhaft. Wenn es ein Scherz war, wann wollte Tobias darüber lachen, wann ihn aufklären, wenn nicht jetzt? Vielleicht hielt er ihn auch für einen kompletten Idioten, weil er darauf reingefallen war.
Mehr oder weniger interessiert betrachtete er weiter die Fotografien und legte ein Bild nach dem anderen auf die Tischplatte. Plötzlich hielt er ein Foto in der Hand, das eine große Höhle direkt an einem Seeufer zeigte, im Hintergrund von Bergriesen überragt, auf deren Gipfeln noch Schnee lag. Auch die nächsten beiden Bilder zeigten eine Hochgebirgslandschaft, die er nicht in der Slowakei vermutet hätte.
Erstaunlich, dachte er nur, bis er ein paar Fotos weiter eine noch größere Überraschung vorfand. Statt der alpinen Landschaften oder dem eisigen Hochgebirge zeigten die beiden letzten Bilder einen üppigen, ganz offensichtlich tropischen Wald. Die Aufnahmen waren nicht besonders gut, aber man konnte deutlich einige Palmen und andere exotische Gewächse erkennen, die das Ufer eines Sees säumten.
Er spürte ein merkwürdiges Kribbeln im Rücken. Was sollte dieses Theater? Was versprach Tobias sich davon? Diese letzten Bilder stammten nun mit hundertprozentiger Sicherheit nicht aus der Slowakei, ja, nicht einmal aus Mitteleuropa. Er konnte sich dieses alberne Verhalten nicht erklären, und er wurde von Minute zu Minute ärgerlicher. Er beschloß, diesen Quatsch mit keiner Silbe zu würdigen und statt dessen möglichst bald nach Hause zu gehen.
Trotz des Ärgers auf Tobias warf er noch einen Blick auf die mysteriösen Aufnahmen und schüttelte ungläubig den Kopf. Einen kurzen Moment lang dachte er, daß Tobias vielleicht nur ein paar Fotos einer früheren Reise dazwischengerutscht waren, ohne daß er es gemerkt hatte. So etwas passierte ja manchmal, wenn man in Eile war. Die Farben der letzten beiden Fotos wirkten irgendwie anders, blasser als die der anderen.
»Na, wie findest du die Bilder? Ganz schön, ne?« Tobias war zurückgekehrt und hockte sich wieder auf seinen Stuhl.
»Ja, ja«, murmelte Micha, ohne ihn anzusehen. »Sehr abwechslungsreiche Landschaft.«
»Erstaunlich, nicht?« Er schaute ihn ernst an, und eine Weile erwiderte Micha den Blick, bis ihn seine Verwirrung zwang wegzuschauen. Was war hier los? War er schon so betrunken?
»Ich muß nach Hause«, sagte er. »Bin ganz schön abgefüllt.«
»Okay«, kicherte Tobias. »Mir geht’s ähnlich. Laß uns telefonieren!«
Schmäler
Axt ging es hundsmiserabel. Daß er gerade zwei Wochen Urlaub hinter sich hatte, schien völlig spurlos an ihm vorübergegangen zu sein. Im Gegenteil! Diese ganze groteske Situation und die permanente Angst, jemand aus der Station würde auf die Idee kommen, sich das Skelett anzusehen, hatten ihn derart zermürbt, daß ihn auch ein halbjähriger Kuraufenthalt kaum wieder aufgerichtet hätte. Er stritt sich wegen nichts und wieder nichts mit Sabine und den anderen Mitarbeitern herum, und auch zu Hause lief es nicht viel besser. Marlis hatte mitbekommen, daß er deutlich mehr trank. Als sie ihn darauf ansprach, war er hochgegangen wie eine Rakete, so daß sie ihn nur entsetzt angeschaut hatte und ohne ein Wort in ihrem Zimmer verschwunden war.
So ging es nicht weiter. Er mußte mit jemandem reden, mußte dieses Wissen mit einer Person seines Vertrauens teilen. Alleine schaffte er das nicht, da hatte er sich etwas vorgemacht. Vielleicht sollte er Schmäler anrufen?
Prof. Dr. Gernot Schmäler war der Leiter der Säugetierabteilung im Frankfurter Senckenberg-Museum und in dieser Eigenschaft auch für die Außenstation an der Grube Messel zuständig. Zudem war er nicht nur wegen seiner Haarfarbe so etwas wie die graue Eminenz ihres Fachgebiets und Axts unermüdlicher Förderer und Mentor gewesen. Ja, Schmäler könnte der Richtige sein. Ihr Kontakt war in letzter Zeit zwar ein bißchen eingeschlafen, weil sie beide so beschäftigt waren, aber sie kannten sich schließlich schon seit über zehn Jahren. Außerdem war er ja sein direkter Vorgesetzter, war sozusagen verantwortlich für das, was in und mit der Grube passierte. Er mußte mit ihm sprechen.
Axt versuchte, sich noch etwas zu beruhigen, dann griff er zum Telefon und rief in Frankfurt an.
»Schmäler.«
»Hier spricht Helmut Axt.«
»Ach, Helmut, gut, daß du anrufst.« Schmäler war in Eile. Das hörte Axt sofort. »Ich wollte mich auch schon bei dir melden. Niedner von den Geologen hat mich angerufen und mitgeteilt, daß sie ihre Untersuchungen in der Grube abgeschlossen haben.«
»Ah ja.«
»Sie sind sehr zufrieden und werden uns benachrichtigen, sobald erste Ergebnisse vorliegen.«
»Schön.«
»Er sagte, die Zusammenarbeit zwischen euch lief ganz ausgezeichnet. Das hat mich natürlich sehr gefreut.«
»Hm.«
»Du weißt, wie wichtig Niedner für uns ist.«
»Natürlich.«
»Ist irgend etwas, Helmut?«
»Wieso?«
»Na ja, du klingst so komisch.«
»Du, Gernot ...« Axt räusperte sich, irgend etwas in seinem Hals hinderte ihn am Sprechen.
»Ja?«
»Sitzt du gut?«
»Wie bitte?«
»Ob du gut sitzt?«
»Ich verstehe nicht.«
»Ich meine nur, bevor du dir anhörst, was ich zu sagen habe, solltest du dich in den bequemsten und weichsten Sessel setzen, den du finden kannst. Anschnallen wäre auch nicht schlecht.« Axt schluckte.
»Was soll diese Geheimniskrämerei, Helmut? Erzähl schon!«
»Also, wir haben da einen außergewöhnlichen Fund gemacht.«
»Oh, wie schön! Was ist es denn?«
Nein, er würde es nicht über die Lippen bekommen, seine Stimme würde diesen Unsinn einfach nicht mitmachen. Seine Zunge war zu einem harten Klumpen erstarrt und verweigerte demonstrativ die Mitarbeit.
»Ich, äh . na ja, ich würde sagen, es sieht wie ein Hominide aus.«
»Ein was?« Axt hörte förmlich, wie Schmäler der Stift aus der Hand fiel.
»Ein Hominide. Spreche ich so undeutlich?«
»Bist du betrunken, Helmut?« fragte Schmäler nach einer kurzen Pause.
»Nein, leider nicht. Ich bin in meinem Leben noch nie so nüchtern gewesen. Aber die Flasche steht schon neben mir.« »Und du bist absolut sicher, daß es ein Menschenaffe ist? Das wäre eine absolute Sensation.«
»Kein Menschenaffe, Gernot.« Er schrie es fast heraus. »Ein Mensch!«
»Du spinnst!«
»Nein, Gernot, ich spinne nicht. Ich wünschte, es wäre so. Aber das ist noch lange nicht alles, es kommt noch viel dik-ker.«
»Was denn noch?«
»Es ist ein Homo sapiens.«
»Also, jetzt reicht’s, Helmut! Wirklich!« Schmäler wurde ärgerlich. »Was ist denn in dich gefahren?«
»Wenn du mir nicht glaubst, dann komm her! Er liegt unten im Keller. Ich kann nicht mehr, Gernot. Ich bin fix und fertig. Es ist ein gottverdammter Homo sapiens, mitten in unserer Ausgrabungsstelle 5. Ein Homo sapiens mit Zahnkronen und einer Armbanduhr.« Er war jetzt den Tränen nahe. »Gernot, hilf mir! Ich weiß nicht mehr weiter.«
Schweigen.
»Gernot, bist du noch dran?«
»Weiß sonst noch jemand von der Sache? Ich meine, wenn du nicht völlig übergeschnappt bist und irgend etwas an der Geschichte dran ist, dann darf vorerst niemand davon erfahren.«
»Keine Sorge. Wir haben den Fund zwar alle zusammen geborgen, aber angeschaut hat ihn außer mir bisher niemand. Ich habe ihnen erzählt, daß es ein schlecht erhaltenes Krokodil ist.«
»Gut! Hast du schon eine Altersbestimmung machen lassen?« fragte Schmäler.
Eine Altersbestimmung! Natürlich, warum er nicht selber daraufgekommen war.
»Nein, äh, ich wußte nicht ...«
»Also gut. Ich komme morgen abend und nehme dann eine Probe für das Labor mit. Vorher kann ich leider nicht.«
Natürlich, dachte Axt, hätte mich auch gewundert. Aber er war trotzdem erleichtert.
»Gut, Gernot, bis morgen«, sagte Axt. »Ich danke dir!«
»Ja, bis morgen. Malt die Ohren steif! Ach, Helmut, bevor ich es vergesse .«
»Ja?«
»Ich habe da eine Einladung zu einem Vortrag nach Berlin bekommen, ins Institut für Allgemeine Zoologie der FU. Du weißt schon, das Übliche, ein paar Dias, einige unserer Präparate, ein bißchen was zur Historie und zur Präparationstechnik. Kannst du das nicht für mich erledigen?«
Axt glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Da quälte er sich seit Wochen mit diesem Skelett herum, wußte nicht mehr ein noch aus, fühlte sich ausgelaugt und hilflos, stritt sich wegen jeder Kleinigkeit mit seinen Mitarbeitern und sogar mit Marlis herum, und dieser Oberpaläontologe hatte nichts Besseres zu tun, als .
»Helmut? Bist du noch dran?«
»Ja, ich bin noch dran.« Er mußte sich beherrschen, um nicht aus der Haut zu fahren. »Sag mal, hast du eigentlich verstanden, was ich dir gerade erzählt habe? Gernot, wir haben hier ein menschliches Skelett.«
»Natürlich, ich hab schon verstanden. Wir klären das morgen. Das kann doch nur ein Irrtum sein. Mach dir keine Gedanken! Was ist, Helmut, kann ich mit dir rechnen?«
Er ließ langsam den Hörer sinken und legte ihn mit einem leisen Klicken auf die Gabel.
Was hatte Schmäler gesagt? Mach dir keine Gedanken.
Das war nicht nur enttäuschend, das war niederschmetternd. Er stieß ein bitteres Lachen aus. Wirklich grandios, genau die Art von Rat, die er jetzt brauchte.
Er goß sich einen Whisky ein und behielt die scharfe Flüssigkeit so lange im Mund, bis das Beißen auf der Zunge unerträglich wurde.
Vielleicht wäre es gar nicht schlecht, nach Berlin zu fahren und diesen Vortrag zu halten. Das brächte ihn vielleicht einmal auf andere Gedanken. Er könnte bei Marlis’ Eltern übernachten. Dann fiel ihm die Sache mit der Altersbestimmung wieder ein, wenigstens ein vernünftiger Vorschlag seitens seines großen Gurus. Aber daß er darauf nicht selber gekommen war, schockierte ihn. Was war nur los mit ihm? Natürlich führten sie nicht mehr an jedem Fundstück solche Bestimmungen durch, dazu waren diese Untersuchungen viel zu teuer. Außerdem wußten sie mittlerweile ziemlich genau, wie alt ihre Fossilien waren. Aber in diesem Fall .
Eine Altersbestimmung würde alles aufklären. Einen Moment lang klammerte er sich an diesen Gedanken wie an einen Rettungsring und genehmigte sich noch einen Whisky zur Beruhigung. Dann fiel ihm ein, daß die Grabungsstelle und der Schiefer völlig unversehrt gewesen waren. Er hatte es ja selbst gesehen, hatte mit Hand angelegt.
Am nächsten Abend, als alle anderen die Station lange verlassen hatten, überzeugte sich Gernot Schmäler selbst von der Richtigkeit dessen, was Axt ihm am Telefon gesagt hatte. Danach wirkte der grauhaarige beleibte Mann um Jahre gealtert. Aber im Gegensatz zu seinem jüngeren Mitarbeiter erholte er sich schnell.
Als sie anschließend in Axts Arbeitszimmer zusammensaßen, hielt Schmäler ihm einen Vortrag, der seine Geduld auf eine harte Probe stellte. Er hätte jetzt selbst gesehen, was da in dem Schieferblock ruhe, sagte Schmäler mit ernster, bedeutungsvoller Miene - er hat sein Direktorengesicht aufgesetzt, dachte Axt -, und nun sei es von allergrößter Bedeutung, daß sie nichts davon nach außen verlautbaren ließen. Das Ansehen ihrer Wissenschaft, des Museums, ja, der Grube als weltberühmter Fossilienlagerstätte wäre gefährdet, wenn ohne weitere Untersuchungen, die diesen üblen Scherz zweifelsohne entlarven würden, die Öffentlichkeit davon erfuhr. All das war für Axt keineswegs neu, und er spürte, wie er während Schmälers langer Rede in tiefe Resignation zu versinken drohte.
Nach der Probenentnahme für die Altersbestimmung, die Schmäler selbst vornahm, brachten sie den Schieferblock wieder hinunter in den Keller. Als sie sich vor der Station trennten, blieb bei Axt das fatale Gefühl zurück, keinen Schritt weitergekommen zu sein. Immerhin gab es jetzt einen Hoffnungsschimmer. Aber selbst, wenn sich herausstellen sollte, daß es sich um das Skelett eines heutigen Menschen handelte -Schmäler schien daran keine Sekunde zu zweifeln, das Opfer eines Verbrechens, oder weiß der Himmel was -, dann blieb immer noch die Frage, wie man es in die Grube geschafft hatte, mitten in den intakten Schiefer, ohne dabei irgendwelche erkennbaren Spuren zu hinterlassen. Es sah alles so aus, als ob der Steinsarg, in dem das Skelett eingeschlossen war, seit vielen Millionen Jahren nicht mehr geöffnet worden war. Das war ein Problem, das Schmäler einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollte.
Das Herbarblatt
An den folgenden Tagen fragte sich Micha immer wieder, warum er Tobias nicht direkt angesprochen und gefragt hatte, was der ganze Quatsch solle, ob er denn allen Ernstes glaube, auf diese Art ihre alte Freundschaft Wiederaufleben lassen zu können. Aber das Ganze war ausgesprochen verwirrend. In seinem Kopf schien sich alles im Kreise zu drehen.
Er ging noch einmal in die Bibliothek, aber auch dieser zweite Versuch brachte kein anderes Ergebnis. Nach allem, was er in Erfahrung gebracht hatte, konnte dieser Käfer unmöglich aus Mittel- oder Osteuropa stammen. Zu dem naheliegenden Schritt, einen Fachmann wie etwa Prof. Rothmann zu fragen, konnte er sich nicht durchringen und dies nicht etwa, weil Tobias in seinem Brief damals eine entsprechende Andeutung gemacht hatte. Er wollte vermeiden, Rothmann gegenüber als Ignorant dazustehen, wenn sich sein Verdacht doch als Hirngespinst erweisen sollte. Bei dem Mann wollte er seine Diplomarbeit schreiben, und er wollte sich nicht schon vorher disqualifizieren.
Er war also keinen Schritt weitergekommen und verspürte nicht das geringste Bedürfnis, Tobias wiederzusehen. Der Typ konnte ihm ein für allemal gestohlen bleiben. So dumm war ihm noch keiner gekommen.
Wochen später fiel ihm das Herbarblatt mit der getrockneten Pflanze wieder ein, und er kramte es einer plötzlichen Eingebung folgend aus den Tiefen seines Schreibtisches hervor. Kater und Pflanze hatten vielleicht etwas miteinander zu tun, und möglicherweise brachte ihn ja eine nähere Untersuchung der Pflanze weiter. Also verschob er wider besseres Wissen die Ausarbeitung eines Referates und versuchte sich, das Herbarblatt vor Augen, durch den Pflanzenbestimmungsschlüssel zu kämpfen.
Es handelte sich um eine Blütenpflanze, soviel stand fest. Neben einem relativ großen Blatt, das fast ein Drittel des gesamten Herbarbogens bedeckte, hing an einem kräftigen Stiel eine große Blüte mit zahlreichen Blütenblättern. Ihm fiel ein, daß Tobias in der Kneipe von einer Wasserpflanze gesprochen hatte, was ihm die Arbeit erheblich erleichterte, denn er konnte gleich in die entsprechende Tabelle springen. Er fand ziemlich schnell heraus, daß es eine Seerose war, und zu seiner großen Erleichterung gab es davon in Deutschland nur vier verschiedene Arten. Das konnte ja nicht so schwer sein. Aber schon bei der ersten Frage blieb er stecken.
»Kelchblätter 4, grün; Blütenkronenblätter weiß ... oder
Kelchblätter 5, gelb; Blütenkronenblätter gelb«,
fragte das Buch.
Nichts dergleichen! Selbst nach wiederholtem Zählen blieb das Ergebnis dasselbe: sechs grüne Kelchblätter und ein ganzer Haufen bräunlicher, früher vielleicht gelber Blütenblätter, jetzt begann das gleiche Spiel also wieder von vorne: Gab es in der Slowakei mehr als diese vier Arten?
Ihm fiel Claudia ein, die er während eines Praktikums kennengelernt hatte. Sie schrieb gerade bei den Botanikern ihre Diplomarbeit. Vielleicht könnte sie ihm helfen. Im Grunde zweifelte er keine Sekunde mehr daran, daß auch die Seerose nicht aus der Slowakei stammte, aber nachdem er schon soviel Zeit daran verschwendet hatte, wollte er es genau wissen.
Gleich am nächsten Tag stiefelte er nach einem Seminar im Zoologischen Institut durch dichten Nieselregen die paar Meter zur Botanik hinüber. Er fragte sich durch und fand Claudia schließlich in einem Laborraum über ein dickes Buch gebeugt. Sie wandte ihm den Rücken zu, aber er erkannte sie sofort an ihren breiten Schultern.
»Hallo Claudia!«
»Micha! Was machst du denn hier?« Sie blickte überrascht auf und schien nicht besonders unglücklich über seinen Besuch zu sein.
»Stör ich?«
»Ach was! Ich habe einiges zu lesen, aber es ist todlangweilig.«
Sie grinste ihn an und schlug mit einem Schwung das Buch zu, als hätte sie nur auf diese Gelegenheit gewartet, um ihre Lektüre endlich abbrechen zu können. Mit einem Stöhnen streckte sie sich einen Moment, und er bewunderte wie damals, während des Praktikums, ihre kräftigen Arme. Claudia war Kugelstoßerin. Wenn er sich recht erinnerte, hatte sie es sogar bis zur Berliner Meisterschaft gebracht. Wie eine Frau versessen darauf sein konnte, schwere pampelmusengroße Stahlkugeln ein paar lächerliche Meter weit durch die Luft zu wuchten, war ihm zwar ein Rätsel, aber sie hatte so getan, als sei dies für sie eine der ganz großen Herausforderungen, die einem im Leben so begegneten.
»Kommst du mit deiner Arbeit voran?« fragte er sie und sah sich in dem ordentlich aufgeräumten Labor nach einer Sitzgelegenheit um.
»Dahinten müßte noch ein Stuhl stehen.« Sie zeigte in die andere Ecke des Raumes. »Ja, da! Ach, es geht eigentlich ganz gut. Meine praktische Arbeit habe ich abgeschlossen. Jetzt schreibe ich zusammen und muß diesen ganzen Stuß hier lesen.« Sie deutete auf Bücher und Fotokopien, die sich auf dem Schreibtisch stapelten.
»Und was macht der Sport?«
»Na, im Augenblick muß ich natürlich etwas kürzer treten, wegen der Diplomarbeit.« Sie klopfte sich auf die Oberschenkel, die ihn damals schon so fasziniert hatten. »Ich komme schon langsam außer Form vom vielen Sitzen, ich merke das.« Mit einer wegwerfenden Handbewegung fügte sie noch hinzu: »Aber gegen diese hochgezüchteten Mannweiber aus Wessiland habe ich sowieso keine Chance. Was soll’s also?« Sie grinste. Es schien ihr nicht viel auszumachen.
Sie kamen auf ihre Sommerferien zu sprechen - kurz davor hatten sie sich das letzte Mal gesehen - und stellten fest, daß sie beide dieselben Inseln in Griechenland besucht hatten, ohne sich zu begegnen. Dieses Thema gab Micha die Gelegenheit, das Herbarblatt ins Spiel zu bringen.
»Du, Claudia, ich wollte dich eigentlich um einen Gefallen bitten. Ein Freund von mir war dieses Jahr in der Slowakei und hat ein paar Pflanzen mitgebracht, die er nicht kannte.«
Er stockte. Während er das sagte, fiel ihm zum ersten Mal die merkwürdige Tatsache auf, daß Tobias offensichtlich Pflanzen und Insekten sammelte. Warum sollte er ansonsten solche Reiseandenken mitbringen. Die Kunstharzeinbettung des Käfers und die Präparation der Pflanze verrieten zudem einige Erfahrung bei diesen Fertigkeiten. Nicht, daß das so ungewöhnlich gewesen wäre, er sammelte ja selbst, aber jetzt fand er es plötzlich seltsam, daß Tobias ihm nichts davon erzählt hatte. Immerhin war er doch sehr begeistert davon gewesen, daß Micha sich für Käfer interessierte. Warum also hatte er nicht erwähnt, daß er selbst Sammler war?
»Und da ich mit der Bestimmung nicht weitergekommen bin«, fuhr er fort, »wollte ich dich eigentlich fragen, ob du vielleicht .«
»Gott, bist du umständlich! So kenn ich dich ja gar nicht.« Sie warf ihm einen neckischen Blick zu.
»Na ja .«
»Dann zeig doch mal her!«
Er holte die getrocknete Pflanze aus seiner Tasche und legte sie auf den Tisch.
»Eine Seerose«, sagte sie, wie aus der Pistole geschossen.
»Ja, soweit bin ich auch gekommen. Aber dann .«
Sie zog ein Bestimmungsbuch aus dem Regal und blätterte eine Weile darin herum, bis sie den richtigen Abschnitt gefunden hatte. Ihr Blick wechselte ein paarmal schnell zwischen der Pflanze und dem Buch hin und her.
»Tja«, sagte sie schließlich. »Die scheint hier nicht drin zu sein. Möglicherweise gibt es da noch mehr als unsere vier Arten, obwohl ich mir das kaum vorstellen kann.«
»Vielleicht kannst du mal nachschauen«, sagte er vorsichtig. »Ich habe keine Ahnung, was es da noch so für Literatur gibt.«
»Klar kann ich das.« Sie schaute auf die Uhr. »Aber heute nicht mehr. Am besten, du läßt sie mir hier, dann kümmere ich mich in den nächsten Tagen mal darum. Jetzt muß ich leider weg.«
»Das wär toll. Aber ... vielleicht könntest du es für dich behalten.«
Er wußte auch nicht, warum er das sagte, aber irgendwie rutschte es ihm heraus, vielleicht weil ihm Tobias’ Brief einfiel.
»Warum das denn?« Sie warf ihm einen spöttischen Blick zu. »Komische Geheimniskrämerei! Was ist denn an der Pflanze so besonders?« Interessiert musterte sie noch einmal das Herbarblatt.
»Ach, ich weiß auch nicht. Bist du jeden Tag hier? Dann komme ich nächste Woche wieder vorbei. Kannst mich auch anrufen, wenn du etwas herausgefunden hast. Meine Telefonnummer hast du ja, oder?«
»Hmm«, sagte sie nur und schüttelte verwundert den Kopf.
Er stand auf. »Gut, dann bis bald.«
Er ging schnell aus dem Laborraum und fluchte innerlich über seine elende Schwatzhaftigkeit. Was sollte sie davon halten?
Drei Tage später klingelte bei ihm zu Hause das Telefon. Claudia war am Apparat. »Du, sag mal, dein Freund hat dir aber einen ganz schönen Bären aufgebunden mit der Slowakei.«
»Wie meinst du das?«
»Na, weil diese Pflanze unmöglich von da stammen kann. Es sei denn, in der ehemaligen CSSR hat in den letzten Jahren neben der politischen auch eine klimatische Wende stattgefunden, und dort sind tropische Verhältnisse eingekehrt, ohne daß die Wissenschaft es bemerkt hätte.«
»Wieso tropisch?« Ihm fielen die seltsamen Urlaubsfotos wieder ein, die Tobias ihm in der Kneipe gezeigt hatte.
»Weil so etwas Ähnliches wie diese Pflanze nur in Südostasien vorkommt.«
»Südostasien?«
»Ja, Burma, Thailand, Philippinen und so.«
»Is ja merkwürdig.«
»In der Tat.« Sie lachte. »Komische Art von Humor hat dein Freund. Außerdem . Ja, merkwürdig ist das richtige Wort für diese Pflanze.«
»Wieso?«
»Na, ich bin keine Expertin, was tropische Gewächse angeht, und mit der Literatur aus diesen Ländern ist das so eine Sache, aber soweit ich herausfinden konnte, dürfte es diese Pflanze eigentlich gar nicht geben.«
»Bitte? Wieso das denn?«
»Die Merkmale stimmen mit keiner der beschriebenen Arten so richtig überein.«
»Das versteh ich nicht.«
»Ja, ich auch nicht. Ich vermute mal, daß wir hier im Institut nicht die richtige Literatur über diese Gebiete haben. Aber verwunderlich ist es schon.«
»Vielleicht ist es eine sehr seltene Art. Mein Freund hat so etwas gesagt.«
»Schon möglich.« Ihre Stimme klang skeptisch.
»Na, danke für deine Mühe. Ich komme in den nächsten Tagen vorbei und hole die Pflanze wieder ab. Dann geb ich dir einen Kaffee aus, okay?«
»Alles klar. Bis bald dann!«
»Ja, bis bald!«
Er legte auf und zündete sich eine Zigarette an. Jetzt lag der Fall wohl klar. Tobias war in den Tropen gewesen. Das erklärte auch die Fotografien, allerdings nicht die im Hochgebirge aufgenommenen und die anderen, die auch aus den Alpen hätten stammen können. Oder sah es im Himalaja so aus? Noch viel weniger erklärte es, was, zum Teufel, Tobias sich bei diesem Spiel gedacht hatte. Jetzt, wo er sein Verhalten endgültig durchschaut zu haben glaubte, fand er diesen Typen unmöglich. Wollte er ihn damit auf die Probe stellen und herausfinden, ob er etwas von seinem Fach verstand, oder was sollte das? Es interessierte ihn im Grunde einen Scheißdreck, wo der Kerl seinen Urlaub verbracht hatte, und er wußte wirklich Besseres mit seiner Zeit anzufangen, als sich in einer Art Puzzle mühsam seine Reiseroute zusammenzureimen.
Er steigerte sich in eine beachtliche Wut und griff schließlich zum Telefon, um Tobias mal gründlich die Meinung zu sagen und klarzustellen, daß er ihm künftig gestohlen bleiben könne. Leider war der nicht zu Hause, so daß sein Zorn verpuffte. Auch in den folgenden Tagen konnte er ihn nicht erreichen. Statt dessen bekam völlig unverdientermaßen Claudia etwas von seinem Ärger ab, als er das Herbarblatt abholte und ihr den versprochenen Kaffee spendierte. Auch sie wunderte sich genauso wie er über diesen seltsamen Humor.
Nach ein paar Tagen hatte er sich so weit beruhigt, daß ihm selbst ein Anruf bei Tobias als zuviel der Ehre erschien. Wenn dieser Spinner es wagen sollte, sich zu melden, würde er sein blaues Wunder erleben, und wenn nicht, war es auch gut.
Aber Micha hörte wochenlang nichts von ihm, so lange, bis sich sein Ärger weitgehend verflüchtigt hatte und er der ganzen Angelegenheit wieder amüsante Züge abgewann, wenn er seinen Freunden beim Bier davon erzählte. Das Herbarblatt verstaubte inzwischen irgendwo in seinen Regalen.
Dinos
»Papa, warum findest du eigentlich keine Saurier?«
Stefan sah seinen Vater mit großen blauen Augen an und rührte mit dem Löffel in seinen Dino-Cornflakes. Marlis machte sich gerade an der Kaffeemaschine zu schaffen. Sie drehte sich um und warf ihrem Mann einen amüsierten Blick zu, so als würde sie sagen: Ja, genau, warum findest du eigentlich nie Dinos?
Axt legte sein angebissenes Brot auf den Teller, schluckte und trank aus seiner Kaffeetasse. Er schwankte zwischen Belustigung und Ärger. Auf diese Frage hatte er nur gewartet.
»In Messel gab es keine Dinosaurier«, sagte er. »Die waren da schon lange ausgestorben. Das weißt du doch, Stefan.«
Er konnte nicht anders. Der leichte Vorwurf hatte sich einfach eingeschlichen, ohne daß er es wollte. Marlis verzog enttäuscht das Gesicht und wandte sich wieder der Kaffeemaschine zu. Auch Stefan machte nicht den Eindruck, als ob ihn diese Antwort zufriedenstellte. Jetzt mußte er sich vor seinem eigenen Sohn rechtfertigen, warum er nur nach Fischen oder Urpferdchen oder noch unwesentlicheren Dingen grub. Diese Filmfritzen aus Hollywood hatten wirklich ganze Arbeit geleistet.
»Saurier sind aber viel spannender«, beharrte Stefan und ließ seinen Löffel so in den Teller platschen, daß die Milch über den Küchentisch spritzte.
»Iß anständig«, ermahnte ihn Marlis und verpaßte ihm einen leichten Klaps auf den Hinterkopf. Er grinste.
»Die Messeler Fossilien sind auch sehr spannend. Wir haben neulich erst ein riesiges Krokodil gefunden«, log Axt.
»Ooch, Krokodile, die gibt es doch auch im Zoo. Die sind voll langweilig.« Aber ein Schimmer erwachten Interesses glomm in seinen Augen. »Wie groß ist es denn?«
»Mindestens fünf Meter«, antwortete Axt und kam sich bei seinen Lügengeschichten entsetzlich schäbig vor. So große Krokodile gab es damals gar nicht, jedenfalls hatten sie noch keines entdeckt.
»Bloß fünf Meter?« Stefans Gesicht verzog sich voller Geringschätzung. »Brachiosaurier waren über zwanzig Meter lang und wogen zig Tonnen.«
Axt fühlte, wie sein Arm zuckte, als führe er ein Eigenleben. Marlis mußte ihn beobachtet haben, denn sie warf ihm einen warnenden Blick zu und runzelte die Stirn. Er senkte die Augen.
»Komm, mein Kleiner! Wir müssen los«, sagte Marlis, während sie sich die Hände wusch. Sie brachten Stefan immer abwechselnd auf dem Weg zur Arbeit an der Schule vorbei, und heute war sie an der Reihe. »Hast du deine Schulsachen?«
»Liegen draußen.«
»Na, dann los. Wir sind schon spät dran.«
Der Junge sprang auf und rannte aus der Küche. Marlis trat neben Axt, drückte ihm einen Kuß auf die Stirn und schaute ihm mit einem fragenden Ausdruck voller Traurigkeit in die Augen, als wollte sie sagen: Was ist nur los mit dir? Es ging ihm durch Mark und Bein.
»Ich bleibe gleich in der Stadt und mache noch ein paar Besorgungen vor der Arbeit«, sagte sie und trat dann in die Diele hinaus, wo Stefan schon auf sie wartete.
»Tschüs, Papa!«
»Tschüs, Stefan!« Dann fügte er spontan hinzu. »Wollen wir uns am Wochenende die neue Dinosaurierausstellung in Frankfurt anschauen?«
»Au, ja!« Der Kleine schaute strahlend um die Ecke. Aber da war auch ein wenig Unglauben in seinem Blick. Bisher hatte sich Axt erfolgreich darum gedrückt. Er war ein Rabenvater.
»Versprochen?« fragte Stefan.
»Ja, wir fahren am Sonntag hin. Großes Ehrenwort!«
Marlis lächelte ihm noch einmal zu, während sie den nun ununterbrochen quasselnden Jungen aus der Haustür schob.
»Mario war auch schon da. Es muß wahnsinnig toll sein. Sie haben da eine ganze Herde, sogar mit Kleinen. Und die brüllen richtig .«
Die Tür fiel ins Schloß. Axt kam sich plötzlich schrecklich verlassen vor. Durch das Küchenfenster verfolgte er, wie Marlis auf ihren Kombi zulief und Stefan neben ihr wild gestikulierend umhersprang. Als sie den Wagen zurücksetzte, winkte sie ihm noch einmal zu. Axt winkte lächelnd zurück. Die beiden waren alles, was er hatte. Er durfte es auf keinen Fall dazu kommen lassen, daß sein Familienleben unter dieser Sache zu leiden begann. Er mußte sich zusammenreißen.
Als er eine halbe Stunde später in seinem Wagen saß und die Landstraße nach Messel entlangfuhr, brachte er wieder mehr Verständnis für sich auf. Da war dieses unsägliche Skelett, das unaufhörlich sein Denken beherrschte und ihm nachhaltig die Freude an seiner Arbeit verdorben hatte. Auch in den seltenen Momenten, in denen er einmal nicht daran dachte, schien es ihn fest im Griff zu haben. Alles fraß er in sich hinein. Manchmal wurde diese Last für ihn alleine einfach zu schwer. Das wäre jedem so gegangen. Er konnte mit niemandem darüber reden, ohne für verrückt erklärt zu werden, aber auch sein Schweigen würde über kurz oder lang zu keinem anderen Ergebnis führen.
Und Schmäler? Schmäler glaubte wohl, mit der Altersbestimmung wäre das Problem gelöst. Seitdem hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen.
Sicher, auch er klammerte sich an diese vage Aussicht, fieberte dem Ergebnis entgegen, aber im Gegensatz zu seinem Chef hatte er die Ausgrabungsstelle gesehen, hatte selbst mitangepackt, um den vermeintlichen Sensationsfund aus dem völlig unversehrten Schiefer zu holen. Ein Sensationsfund war es ja auch geworden.
Und dann, als wäre das alles noch nicht genug, kam dieser Saurierfilm und löste eine Hysterie sondergleichen aus, eine geradezu ekelerregende Explosion hirnlosen Schwachsinns. Dieselben Leute, die sich noch vor ein paar Monaten von seiner Arbeit fasziniert und begeistert gezeigt und ihn mit Fragen bombardiert hatten, erübrigten nun nur noch ein mitleidiges Lächeln für ihn, so als fasele er fortwährend von einer Einhandweltumsegelung und schippere doch nur mit einem Paddelboot auf dem nächstgelegenen Baggersee herum, als spiele er sich als ICE-Lokführer auf und steuere in Wirklichkeit nur eine mickrige Modelleisenbahn zwischen den Beinen seines Wohnzimmertisches hindurch. Das war einfach zuviel.
Natürlich hätte er ganz überzeugende Gründe aufzuzählen gewußt, warum die Beschäftigung mit seinen Messeler Fossilien tausendmal aufregender war, als in monatelanger buchstäblicher Knochenarbeit die Überreste eines Tyrannosaurus aus Kreidegestein zu hacken, aber er war sich einfach zu schade für derlei Erbsenzählerei.
Neulich wäre ihm wirklich fast der Kragen geplatzt. Frau Sagmeister, bei der er seit mehr als zehn Jahren fast täglich die Brötchen holte und die ihn stets mit Herr Doktor anzureden pflegte, strahlte wie ein Honigkuchenpferd, als sie ihn auf die neueste Erweiterung ihrer weit und breit unerreichten Produktpalette aufmerksam machte. Ob es denn nicht an der Zeit wäre, daß der Herr Paläologe - sie hatte nach zehn Jahren nicht begriffen, wie das Wort richtig hieß - sich endlich einmal mit richtigen Fossilien beschäftigte, hatte sie gesagt und ihm mit ihren fetten Armen einen Korb mit Semmeln in Dinoform unter die Nase gehalten. Mohnbrötchen in Stegosaurierform, Tyran-nosaurier als Croissants, Brontosaurier aus Laugenbrezelteig. Das war nun wirklich der Gipfel der Geschmacklosigkeit. Wahrscheinlich hatte ihr pickliger Sohn, der bei den Axts mitunter den Rasen mähte, erzählt, der Herr Doktor würde sich ja nur mit Spielzeugfossilien beschäftigen. Am liebsten hätte er ihr eine ihrer Dinosemmeln mitten hinein in das dümmliche Gesicht, zwischen ihre dick bepuderten, feisten Hängebacken gesteckt, aber er verließ nur wutschnaubend und ohne ein Wort den Laden und holte seine Frühstücksbrötchen bei der Konkurrenz. Das war sicherlich nicht gerade das, was man als souveräne Reaktion eines überlegenen Geistes bezeichnen konnte, aber zu schlagfertigen Antworten war er im Augenblick nicht in der Lage.
Diese Brötchen waren nur die Spitze des Eisbergs. Neulich hatte er im Fernsehen sogar Werbung für Fischfrikadellen in Dinoform gesehen, und selbst die Dinosaurierforscher, ernsthafte Wissenschaftler wie er, paßten das Niveau ihrer Namensneuschöpfungen neuerdings dem von Waschmittel- und Toilettenreinigerreklamen an. Je größer die Skelette wurden, die sie entdeckten, desto dümmer wurden die Namen, die sie ihnen gaben. Die Amerikaner taten sich in diesem Zusammenhang besonders hervor. Ein Skelettfragment, das sie in Colorado gefunden hatten, tauften sie Supersaurus, und als sie dann wenig später in derselben Gegend ein noch größeres Tier fanden, blieb ihnen wohl nichts weiter übrig, als es Ultrasaurus zu nennen. Zweifellos würde das nächste Hypersaurus heißen und dann Superultrasaurus und so weiter.
Das Ganze wäre ja halb so schlimm, wenn diese Modewelle zu einem tiefer gehenden Interesse, zu einer andauernden Leidenschaft geführt hätte. Aber er befürchtete, daß gerade dieses Übermaß, dieses perverse Ausschlachten um jeden Preis, in kurzer Zeit genau den gegenteiligen Effekt haben würde. Bei Stefan waren schon deutliche Anzeichen von Überdruß auszumachen, nachdem sich sein Kinderzimmer innerhalb weniger Wochen in ein Dinosaurierkabinett verwandelt hatte, von dem Axt als Kind nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Aber nun kam nicht mehr viel Neues nach und die Dosierung dieser Dinodroge war so hoch, daß das Ganze bald an einer Überdosis zu kollabieren drohte.
Die Geldflut, die sich plötzlich über einschlägige Forschungseinrichtungen, Museen, Bibliotheken, über Schulen und Universitäten ergossen hatte, würde wieder versiegen und in ein spärliches Tröpfeln übergehen. Alle, die wie er auf mehr als ein Strohfeuer angewiesen waren, würden sich ihre Gelder für die elementarsten Anschaffungen wieder erbetteln müssen wie eh und je.
Natürlich hatte dieser an Ekel grenzende Widerwille, den er angesichts der Dinowelle empfand, viel mit seinen sonstigen Problemen zu tun. Säße da nicht dieses anachronistische Skelett in seinem Hinterkopf, seine Reaktion wäre mit Sicherheit gemäßigter, gelassener ausgefallen. Jedenfalls, das nahm er sich ganz fest vor, als er jetzt mit seinem Wagen auf das Grundstück der Senckenberg-Station in Messel fuhr, sollte sein Sohn nicht darunter leiden müssen. Er war als Junge auch nicht anders gewesen und wäre auf dieser Dinosaurierwelle genauso begeistert mitgesurft.
In der kleinen Villa herrschte schon reges Treiben. Kaiser und Lehmke hantierten mit ihren Sandstrahlgebläsen herum und bekamen Axts Ankunft gar nicht mit, Sabine telefonierte und winkte ihm kurz zu, und Max und Rudi kamen gerade die Kellertreppe hoch, was Axt einen kurzen Adrenalinstoß durch den Körper jagte. Sie ließen ein knappes »Morgen, Chef!« hören, als salutierten sie vor ihrem kommandierenden General.
Axt grüßte zurück, marschierte dann aber sofort in sein Arbeitszimmer, blätterte kurz den Poststapel durch und fand darin unter anderem die offizielle Einladung für den Vortrag in Berlin, den er für Schmäler übernommen hatte. Er sollte in gut zwei Wochen, am 28. November stattfinden. Er machte sich eine kurze Notiz, daß er noch bei Marlis’ Eltern nachfragen mußte, ob er die Nacht bei ihnen verbringen konnte. Wenn sie in der Stadt waren, freuten sie sich sicher über diesen unverhofften Besuch.
»Na, alles klar bei dir?« Sabine lehnte am Türrahmen und schaute zu ihm ins Zimmer.
»Bestens, wie immer. Wieso fragst du?«
»Ach, nur so. Du machst in letzter Zeit manchmal einen hypernervösen Eindruck.«
»Mach ich?« Er lachte kurz auf, vielleicht eine Spur zu laut. »Mir geht’s gut, wirklich. Aber danke, daß du dich um mich sorgst.«
»Übrigens, Prof. Niedner vom Geologischen Institut hat angerufen. Er bittet um Rückruf.«
»So? Was wollte er denn?«
»Hat er nicht gesagt, aber er tat sehr geheimnisvoll. Vielleicht wollte er uns ankündigen, daß sie ihre Bohrungen noch einmal wiederholen müssen.«
»Gott bewahre uns. Die haben hier wirklich genug Unruhe gestiftet.«
Plötzlich hörte man die entsetzte Stimme von Max aus dem Hintergrund. »Wie? Hab ich richtig gehört, diese Bohrheinis kommen noch mal zurück?«
»Keine Angst, Max«, rief Axt ihm zu. »Frau Schäfer beliebte zu scherzen.«
Max atmete erleichtert auf und brummte irgend etwas Unverständliches zu Rudi, der daraufhin bedächtig nickte. Kurz darauf verließen sie zusammen das Haus und liefen zum Geräteschuppen hinüber. Die diesjährige Ausgrabungskampagne war vor kurzem abgeschlossen worden. Im Winter wurden keine Grabungen durchgeführt, so daß die beiden hauptsächlich mit Wartungs- und Aufräumarbeiten beschäftigt waren. Die eingelagerten Schieferblöcke mit den Fossilien mußten regelmäßig kontrolliert, befeuchtet und wieder sorgsam verpackt werden, um den Pilz- und Bakterienbefall zu bekämpfen. Diese Mikroorganismen vermehrten sich in der abgeschlossenen Feuchtigkeit der verpackten Fundstücke mitunter besorgniserregend und mußten mit entsprechenden Mitteln beseitigt werden.
Den Wissenschaftlern in der Station gab die ausgrabungsfreie Zeit endlich Gelegenheit, in Ruhe ihrer eigentlichen Aufgabe nachzugehen. Im Sommer kamen sie vor lauter Fossilienfunden ja kaum dazu, diese genauer zu untersuchen, geschweige denn, sich der aktuellen Literatur zu widmen oder eigene Veröffentlichungen auszuarbeiten. Außerdem mußte im Magazin für die Fundstücke des kommenden Jahres Platz geschaffen werden.
Axt schloß die Tür seines Arbeitszimmers und setzte sich an den Schreibtisch. Die Stimmung unter seinen Mitarbeitern war gut, daran hatten, Gott sei Dank, seine gelegentlichen Ausfälle nichts geändert. Kunststück, die Glücklichen hatten ja auch keine Ahnung, was da neben den anderen schwarzen Schieferplatten im Keller lagerte.
Er seufzte, griff nach dem Telefonhörer und rief Niedner an.
»Ah, Dr. Axt, schön, daß Sie anrufen«, sagte der Geologe.
»Sie wollten mich sprechen?«
»Ja, wissen Sie, wir haben da bei der ersten Durchsicht der Messeler Bohrkerne eine ungewöhnliche Entdeckung gemacht, die eher in Ihren Zuständigkeitsbereich fällt.«
Axt lief ein Schauer über den Rücken. Was hatte das denn zu bedeuten? Er hatte plötzlich Angst, daß noch ein mysteriöser Fund auftauchen könnte, irgendein anachronistisches Artefakt, das seine schöne Grube endgültig in eine wertlose Ansammlung von Knochenmüll verwandeln würde. Ihre Nachbarn unten in der Grube warteten doch nur auf so etwas, damit sie ihre Mülltransporter endlich in Bewegung setzten konnten. Na ja, wenn da noch so ein Unsinn zu Tage kam, würde er der erste sein, der seine Küchenabfälle höchstpersönlich in den Schiefer kippte. Vielleicht waren die Geologen auf einen dieser kleinen Plastikdinosaurier gestoßen, die zu Hause im Zimmer seines Sohnes die Regalbretter füllten, unverwüstlicher Kunststoff, für die Ewigkeit gemacht und von einem todunglücklichen kleinen Homo sapiens-Kind verloren, als es am Ufer des tertiären Messeler Sees spielte, 50 Millionen Jahre, 50 000 Jahrtausende, 500 000 Jahrhunderte vor seiner Zeit.
Er nahm sich zusammen und fragte so unbeteiligt wie nur möglich: »So, was ist es denn?«
»Ein Knochen«, sagte Niedner geheimnisvoll. Er schien zu glauben, daß schon dieses Wort alleine genügte, um einen Paläontologen in Verzückung zu versetzen. Aber Axt war nicht entzückt, ganz im Gegenteil. Ihm brach auf der Stelle der Angstschweiß aus.
»Ein . menschlicher Knochen?« hörte er sich fragen.
»Wie bitte? Haha, ein guter Witz, ein menschlicher Knochen, haha, wirklich gut. Freut mich, daß Sie am Freitagmorgen so guter Laune sind. Nein, für meinen laienhaften Blick sieht es aus wie ein Wirbel, ein ziemlich großer Wirbel. Wenn das ein Menschenknochen ist, dann würde ich sagen, wir sind hier auf
Goliath höchstpersönlich gestoßen.«
Axt litt Höllenqualen bei Niedners Gelächter. Er mußte wohl von allen guten Geistern verlassen gewesen sein. Aber Nied-ners Reaktion war symptomatisch. Menschenknochen in Messel waren einfach lächerlich. Mehr fiel einem vernünftigen Menschen dazu nicht ein.
»Und wie kommt der in Ihren Bohrkern?«
»Na, ich vermute, daß wir zufällig ein großes Fossil angestochen haben.«
»Sie meinen, da liegt noch mehr?«
»Ja, der Wirbel sieht völlig intakt aus, und warum sollte da unten ein einzelner Wirbelknochen herumliegen?«
Stimmt, dachte Axt, das wäre nicht auszuschließen, aber für Messel in der Tat eher ungewöhnlich.
»Dann schicken Sie uns den Knochen doch rüber. Wir werden ihn uns mal genauer ansehen. Aber achten Sie darauf, daß er nicht austrocknet.«
»Gut, wir werden aufpassen«, versicherte ihm Niedner. »Rufen Sie mich doch bitte an, wenn Sie wissen, worum es sich handelt. Wir waren hier alle ganz aufgeregt, als wir ihn bei unseren Untersuchungen im Labor gefunden haben.«
»Natürlich, ich melde mich bei Ihnen. Fossilien sind eben doch etwas anderes als ihre toten Gesteine, was?«
»Das will ich nicht sagen«, antwortete der Geologe und lachte. »Haha, mit dem Menschenknochen haben Sie mir einen richtigen Schrecken eingejagt.«
Und mir erst, dachte Axt.
Der Vortrag
Der alte Vorlesungssaal mit seinen steil ansteigenden Sitzreihen füllte sich langsam. Michael betrat ihn durch den Privile-gierteneingang, den man über den ersten Stock des Instituts und den Raum erreichte, in dem das Kartenmaterial für die Vorlesungen lagerte. Die Tür lag gleich links neben der großen mehrteiligen Tafel, so daß Micha beim Betreten des Saales direkt auf die hölzernen, schon gut besetzten Sitzreihen blickte. Es war tatsächlich ein erhebendes Gefühl, den Saal zum ersten Mal nicht durch den Dienstboteneingang zu betreten, den die Studenten benutzten, wenn sie die Vorlesungen besuchen wollten. Der Privilegierteneingang war den Professoren für ihre Lehrveranstaltungen vorbehalten und bei Anlässen wie diesem, einem der traditionellen Colloquiumsvorträge, allen Angehörigen des Instituts. Es gab natürlich keine Eingangskontrolle, niemanden, der einen zurückgeschickt hätte, wenn man nicht zu dieser elitären Gesellschaft gehörte, aber es war ein ungeschriebenes Gesetz, an das sich alle hielten. Micha hatte sich der Arbeitsgruppe von Prof. Rothmann angeschlossen, wollte im Sommer mit den Untersuchungen für seine Diplomarbeit beginnen und hatte schon einmal angefangen, sich in sein zukünftiges Arbeitsgebiet einzulesen, an seinem nur für ihn reservierten Arbeitsplatz wohlgemerkt. Plötzlich gehörte er dazu, und in der Tatsache, daß er zusammen mit Karin und Detlef, zwei Doktoranden Rothmanns, den Eingang unten neben der Tafel benutzte, manifestierte sich dieser neue Status für ihn zum ersten Mal. Wenn auch nur als ganz kleiner Fisch, war er nun Teil der großen internationalen Gemeinschaft der Wissenschaft. Zu seiner eigenen Überraschung erregte ihn diese Vorstellung wesentlich mehr als erwartet.
Das Mittwochscolloquium hatte eine langjährige Tradition, die mit großer Sorgfalt gepflegt wurde. Meistens referierten dort von den unterschiedlichen Arbeitsgruppen eingeladene Gastdozenten über so spezielle Themen, daß man kaum die Titel verstand, geschweige denn den Vortrag selbst. An solchen Tagen verloren sich kaum Studenten hierher, und die Institutsangehörigen blieben weitgehend unter sich. Von letzteren wurde allerdings erwartet, daß sie sich dort blicken ließen, ganz egal, worum es ging.
Die Vortragsreihe dieses Wintersemesters fiel allerdings aus dem Rahmen und war daher ungewöhnlich gut besucht. Selbst dieses den höheren Weihen der Wissenschaft verschriebene Institut hatte sich dem allgemeinen Dinofieber nicht ganz entziehen können und die Colloquiumsreihe unter das spezielle Thema gestellt: Paläontologie und Evolution - eines der Schlüsselgebiete aller biologischen Wissenschaften. Und der Andrang war wirklich enorm. Selten hatte man den alten Vorlesungssaal derart gefüllt gesehen. Schon am letzten Mittwoch bei dem ziemlich speziellen Vortrag über Chronospezies - Fossilien und Artbegriff - war der Saal aus allen Nähten geplatzt, und auch heute, zumal ein relativ unspektakuläres Thema auf dem Programm stand, deutete sich ein überdurchschnittlich guter Besuch an.
Die drei suchten sich einen Platz in einer der oberen Sitzreihen, damit sie alles gut im Auge behalten konnten. Die unteren Reihen waren den Professoren und ihren Assistenten vorbehalten. Wie immer würden die erst in letzter Minute zum Colloquium erscheinen.
Im Raum herrschte gespannte Erwartung. Unten vor der Tafel stand eine kleine Gruppe zusammen, die sich angeregt unterhielt. Die meisten waren Wissenschaftler des Instituts, aber ein nervös wirkender, kräftig gebauter Mann mit Bürstenhaarschnitt war Micha unbekannt und schien der Referent des heutigen Nachmittags zu sein, Dr. Helmut Axt von der Sen-ckenberg-Forschungsstation Messel. Irgendwie paßte der Name zu ihm. Sein Kinn ragte aus dem rundlichen Gesicht, als könne er damit die Fossilien ohne weitere Hilfsmittel aus dem Gestein hacken.
Immer mehr Leute strömten in den Saal, von oben durch den Dienstbotenaufgang eine erstaunlich große Zahl interessierter Studenten und von unten durch den Privilegierteneingang die Mitarbeiter des Hauses. Letztere erschienen meist in kleinen Gruppen. Sie hatten noch in ihren jeweiligen Labors zusammengesessen und Kaffee getrunken und waren dann arbeitsgruppenweise aufgebrochen, je später, desto bedeutender. Das ganze Schauspiel folgte einem verborgenen Regelwerk, das zu verstehen nur Alteingesessenen vorbehalten war, ein seltsames Ritual, dessen Faszination sich Micha kaum entziehen konnte.
Oft war dieses Vorspiel allerdings bei weitem das Interessanteste an einem solchen Nachmittag, denn nicht selten entpuppten sich die Vortragenden als hochgebildete und hochspezialisierte Langweiler der allerschlimmsten Sorte, die jedes Feuer, jede Leidenschaft vermissen ließen und ihren Stoff gespickt mit Fachtermini so herunterleierten, daß man schon nach wenigen Sätzen mit dem Schlaf kämpfte. Noch unangenehmer waren allerdings die Referenten, die den Zuhörern ihren Stoff in einem derart atemberaubenden Tempo um die Ohren schlugen, daß einem Hören und Sehen verging und danach sehr grundsätzliche Zweifel aufkamen, ob man wirklich das richtige Studienfach gewählt hatte.
Schubert, der Evolutionsbiologe des Instituts und Organisator dieser Colloquiumsreihe, begann auf die Uhr zu schauen. Sein Assistent, ein arroganter Typ mit Seitenscheitel, dem Micha schon einige Male auf den Institutsgängen begegnet war, genoß das ungeheure Vorrecht, oben den Diaprojektor bedienen zu dürfen, und damit ihn auch niemand übersah, warf er über den Köpfen der Gruppe um den Referenten zu Testzwecken schon einmal das eine oder andere Bild an die Wand.
Fast alle Plätze waren jetzt besetzt. Einige Studenten, die draußen vor der Tür noch schnell eine Zigarette geraucht hatten, drängten von oben herein. Ein dumpfes Gemurmel und einzelne Lacher füllten den Saal. Kurz vor Ablauf des akademischen Viertels schlüpften nun die oberen Dienstgrade der Institutshierarchie durch den Privilegierteneingang und nahmen ihre Plätze ein, sofern sie sich nicht erst zu der Gruppe um den Referenten gesellten, um bis in die letzten Sitzreihen hinauf deutlich zu machen, daß sie auch wirklich anwesend waren oder den Vortragenden sogar persönlich kannten. Auch Roth-mann gehörte zu den Spätankömmlingen. Bevor er sich setzte, flog sein Blick schnell über die Sitzreihen, wohl um festzustellen, ob seine Schützlinge sich eingefunden hatten. Als er Micha und die beiden anderen oben sitzen sah, nickte er zufrieden, schob sich in die Sitzreihe und wandte sich beruhigt der Tafel zu.
Stritzel flitzte herein und nickte allen Bekannten zu. Er beschäftigte sich mit sozialen Insekten, verfügte in Form eines kleinen Vorbaus am Institut sogar über einen Freiflugraum für seine Studienobjekte, und es waren Gerüchte im Umlauf, daß er von den Hornissen, die darin ihr Unwesen trieben, schon mindestens hundertmal gestochen worden war. Gechter, der dürre Pantopoden-Spezialist, betrat nach ihm den Saal. Wie immer ganz unauffällig und bescheiden verzog er sich sofort in die zweite Reihe.
Während Schubert immer häufiger auf die Uhr schaute und der Vortragende sich schon aus der um ihn versammelten Gruppe zurückgezogen hatte, um noch einmal einen letzten Blick auf seine Aufzeichnungen zu werfen, näherte sich der Höhepunkt der Ouvertüre.
Wer würde es diesmal schaffen, als letzter zu erscheinen? Dieser Wettlauf mit umgekehrten Vorzeichen war ein gefährliches Vabanquespiel. Schaffte man es tatsächlich als allerletzter in den Saal zu hetzen, war damit dokumentiert, daß man seine kostbare Arbeitszeit bis zum letzten Moment mit zweifellos höchst bedeutsamer Forschungstätigkeit auszufüllen gewillt war, gleichzeitig den Vortrag des hochgeschätzten Referenten aber um keinen Preis verpassen wollte. Ein beispielgebender Spagat wäre gelungen, eine Verbeugung vor der heiligen Wissenschaft wie eine Respektbezeugung vor dem Vortragenden.
Schaffte man es aber nicht, platzte man mitten in die Vorstellungsworte des Gastgebers oder gar in die Einführung des Referenten, dann manövrierte man sich vor versammelter Mannschaft nicht nur in eine hochnotpeinliche Situation - die besondere Lage des Privilegierteneinganges führte ja dazu, daß man wie auf einer Bühne vor alle Anwesenden trat -, sondern würde spätestens beim nächsten selbst organisierten Colloquium oder der anstehenden Direktoriumssitzung, in der es um die Verteilung der Institutsmittel ging, merken, was man sich eingebrockt hatte.
Gerade als Schubert die Tür neben der Tafel schließen wollte, schlüpfte Persigel mit seinem Anhang durch. Aber der Stoffwechselphysiologe hatte Pech. Keine zehn Sekunden später, Schubert hatte die Klinke schon wieder in der Hand, folgten die Sieger des Wettlaufs. In einem wahren Triumphmarsch zogen die Neuros ein. Wilhelm Zeugner, Professor der Neurophysiologie, sein Assprof., seine beiden Assistenten und nicht weniger als acht Diplomanden drängten im Gänsemarsch durch die Sitzreihen auf die letzten freien Plätze. Schubert konnte endlich die Tür schließen.
Wie zu befürchten, drohte der Rest des Nachmittags eine Enttäuschung zu werden. Schubert stellte den verkrampft lächelnden Referenten vor, ratterte lieblos seinen wissenschaftlichen Werdegang herunter, als handele es sich um die Bekanntgabe der Sicherheitsvorkehrungen im Brandfall, und Dr. Axt hob anschließend mit teilnahmsloser Stimme zu einem gähnend langweiligen Abriß der Fossilienbergungsgeschichte in der Grube Messel an. Ernüchterung machte sich breit.
Plötzlich geschah etwas Außergewöhnliches. Die Tür links neben der großen Tafel öffnete sich erneut, zunächst nur einen Spalt, dann zur Gänze, und von mindestens vierhundert Augen bestaunt betrat ein seltsames Paar den Raum, offensichtlich ohne sich der Ungeheuerlichkeit ihres Vergehens bewußt zu sein. Das Undenkbare war geschehen. Axt stockte in seinem Vortrag und blickte sich irritiert um, die Professoren hielten vor Entsetzen den Atem an und schleuderten giftige Blicke auf die Neuankömmlinge, und der Rest des Auditoriums steckte die Köpfe zusammen. Ein eigentümliches Summen stieg von den dichtgefüllten Sitzreihen auf.
Es war nicht ganz auszumachen, wem der beiden Störenfriede die größere Aufmerksamkeit galt, dem gebeugt und auf einen Stock gestützt gehenden Männchen, dessen seltsamer Spitzbart ihm das Aussehen eines überdimensionierten Gartenzwerges verlieh, oder seiner jungen Begleiterin, die ihn um mindestens einen Kopf überragte.
»Wer is’n das?« flüsterte Micha der neben ihm sitzenden Karin ins Ohr.
»Wen meinst du?« zischte sie zurück. »Die Frau?«
Wenn er ehrlich war, interessierte ihn tatsächlich nur die Frau. An seiner himmelschreienden Notlage hatte sich noch immer nichts geändert, und es grenzte schon an Untertreibung, wenn er diese Frau, die da plötzlich auf der Bildfläche erschienen war, nur als eines der hinreißendsten Geschöpfe beschrieb, die ihm jemals unter die Augen gekommen waren. Den zwei Dritteln der Zuhörerschaft, die dem männlichen Geschlecht angehörten, schien es nicht viel anders zu gehen. Die Köpfe folgten jeder Bewegung ihres Körpers wie an einem Gummizug, bis sie an der Seite ihres Begleiters endlich einen freien Platz gefunden hatte. Wenn es nach Micha gegangen wäre, dann hätte er diesen Fossilienfritzen da unten, der inzwischen nach seinem kurzen Stolperer unverdrossen weitergeredet hatte, auf der Stelle in Ehren entlassen und den Rest der Zeit damit verbracht, diese Frau anzuhimmeln.
»Na, beide«, sagte er zu Karin, die ihm einen spöttischen Blick zuwarf.
»Ich glaube, das ist Sonnenberg, der Paläontologe«, flüsterte sie, »aber ich bin mir nicht sicher. Ich habe ihn noch nie gesehen.«
Er schluckte. »Und sie?«
»Was weiß ich.« Sie grinste und legte den Kopf schief. »Vielleicht seine Geliebte?«
Nachdem Sonnenberg mit lautem Poltern endlich seinen Stock untergebracht hatte, konzentrierte sich die allgemeine Aufmerksamkeit wieder auf den Vortragenden.
»Nachdem 1971 der industrielle Abbau des Ölschiefers eingestellt wurde, entwickelte sich die Grube zum Eldorado der Hobbypaläontologen. An manchen Wochenenden tummelten sich bis zu dreihundert von ihnen in der Grube. Aus dieser Zeit stammen einige der bemerkenswertesten Fundstücke wie der 1974 ausgegrabene Ameisenbär, bis heute der einzige seiner Art. Obwohl die private Sammeltätigkeit offiziell verboten war, duldeten die Behörden das bunte Treiben, bis die Grube Ende 1974 für die Öffentlichkeit gesperrt wurde, weil das Gelände zur zentralen Mülldeponie Südhessens ausgebaut werden sollte.
Der Zweckverband Abfallverwertung Südhessen, kurz ZAS, kaufte 1975 das gesamte Grundstück der Grube Messel, und trotz weltweiter Proteste entschied das Verwaltungsgericht Darmstadt 1981 zugunsten der geplanten Mülldeponie ...«
Es fiel Micha zunehmend schwerer, den eintönig vorgetragenen Ausführungen des Paläontologen zu folgen, denn sie wandte ihm genau ihr Profil zu. Immer wieder kehrten seine Augen von dem nur geringe optische Reize bietenden Referenten zu ihrer süßen Stupsnase zurück, ihrer fast schwarzen Mähne. Ihr Körper hatte auf den wenigen Metern von der Privilegiertentür bis zu ihrem Sitzplatz so durchtrainiert gewirkt, so kraftvoll und von katzenhafter Geschmeidigkeit, als könnte sie, wenn sie nur wollte, die Schwimmweltrekorde einfach so aus dem Handgelenk schütteln. Während der kleine Professor, der von Micha aus gesehen zwischen ihnen saß, fast völlig in seinem Sitz versunken war, saß sie kerzengerade da und starrte mit unbeweglichem Gesicht, aber rosig glänzenden Wangen nach vorne.
»... Das Gestein besteht aus einem faulschlammähnlichen Pflanzenzersetzungsprodukt, das mit dem Mineral Montmoril-lonit zu einem fälschlicherweise als Ölschiefer bezeichneten Material verfestigt wurde. In der feinkörnigen Grundmasse sind Algen, Pilze und Pollen nachweisbar .«
In diesem makellosen Gesicht rührte sich nichts. Sie würdigte ihre Umgebung keines Blickes.
»... der See wies wie viele heutige Seen auch eine ausgeprägte Schichtung auf. Einer etwa fünf Meter tiefen vitalen, eutrophen Zone mit sehr hoher Biomassenproduktion folgte eine sauerstoffarme bis -freie Zone. Am Boden verfestigte sich das herabsinkende Sediment und das organische Material unter anaeroben Bedingungen zu Ölschiefer. Schließlich verlandete der Messeler See wie eine obenliegende Deckschicht aus Braunkohle beweist .«
Der kleine, fast unsichtbare Professor flüsterte ihr etwas zu, Micha und eine größere Zahl weiterer Zuhörer konnten es deutlich erkennen. Als sie ihren Kopf etwas zur Seite drehte, war ihm, als träfen sich für einen Sekundenbruchteil ihre Blicke. Plötzlich gab es nur diese dunklen Augen, ringsherum absolute Stille, und ihm schoß ein Hormonstoß durch die Gefäße, der es ihm fast unmöglich machte, still sitzen zu bleiben. Sie nickte. Dann drehte sich ihr Gesicht wieder nach vorne.
»... Die Fossilien des Sees stammen aus vier unterschiedlichen Lebensräumen:
1. dem Wasserkörper mit seinen Fischen und Planktonorganismen,
2. den Uferregionen des Sees, repräsentiert durch Schildkröten, Krokodile und verschiedene Amphibien,
3. der näheren und weiteren Umgebung, wobei die zu dieser Gruppe gehörenden Echsen und Säugetiere wie die Urpferd-chen vermutlich über Zuflüsse und Überschwemmungen in den See gespült wurden, sowie
4. dem Luftraum. Vögel, Fledermäuse und unter Umständen auch Insekten könnten beim Überfliegen des Sees durch aufsteigende giftige Faulgase betäubt, abgestürzt und ertrunken sein .«
Wer war sie? Warum war er ihr noch nie begegnet? Seine Tochter? Eine Studentin, eine Diplomandin? Er hatte noch nie von einem Paläontologen an ihrem Fachbereich gehört. Der Mann schien sich ziemlich rar zu machen. Vielleicht sollte er das Fach wechseln. Vielleicht war Insektenökologie doch nicht so aufregend, wie er gedacht hatte.
Plötzlich wurde es schummrig im Saal, denn Schuberts Assistent am Diaprojektor hatte das Signal erhalten, daß seine große Stunde gekommen war.
Da Sonnenbergs Nachbarin nun nicht mehr zu erkennen war, blieb Micha nichts weiter übrig, als sich den Dias zuzuwenden. Nach Übersichtsaufnahmen vom wenig eindrucksvollen Grubengelände folgte eine ermüdende Serie von bräunlichschwarzen Skeletten, deren verwirrende Knochenvielfalt Micha allenfalls signalisierte, daß es sich um verschiedene Arten von Wirbeltieren handelte. Die Luft im vollbesetzten Vorlesungssaal wurde langsam stickig. Die nicht enden wollende Folge von Schildkröten- und Krokodilarten, von Insektenfressern, Nagetieren, Schuppentieren und Urpferdchen fand ein abruptes Ende, als aus der Richtung des Diaprojektors plötzlich ein maschinengewehrartiges, nach der vorangegangenen Stille geradezu ohrenbetäubendes Rattern erklang, welches das Auditorium aus seinem kollektiven Dämmerzustand riß.
Der Projektor war irgendwie hängengeblieben. Jemand machte Licht und die in sich zusammengesunkenen Zuhörer und Zuhörerinnen begannen sich zu strecken und zu tuscheln. Endlich fand Schuberts Assistent, dem sich nun die Aufmerksamkeit des gesamten Saales zugewendet hatte, den Schalter, der das enervierende Geratter abstellte. Sein Kopf glühte wie eine Laterne, und mit hektischen Bewegungen versuchte er des Problems Herr zu werden. Auch sie hatte sich umgedreht und, ja, er täuschte sich nicht, ein feines, schlichtweg umwerfendes Lächeln umspielte ihren Mund.
Der geplagte Vorführer hatte natürlich im Moment ganz andere Sorgen. Die Bedienung des Diaprojektors konnte sich in Windeseile von einem hochgeschätzten Privileg in ein elendes Martyrium verwandeln. So war es zum Beispiel keine leichte Aufgabe zu erkennen, wann die Referenten ein neues Dia projiziert haben wollten. Da die meisten Redner das monotone »Das nächste Dia, bitte!« vermeiden und sich neben ihren Folien und Manuskriptseiten nicht auch noch die Fernbedienung des Projektors aufhalsen wollten, hatte sich eine Art Zeichensprache eingebürgert, die nur leider in keiner Weise normiert war. Wurde ein langer Zeigestock aus Bambus oder Holz benutzt, war es üblich, mit dem Ende kurz auf den Boden zu tippen. Manche Referenten stampften derart herrisch mit dem Stockende auf den Boden, daß die auf diese Weise malträtierten Zeigestöcke ganz abgeplattete Enden bekamen und nur eine geringe Lebensdauer erreichten. Es hörte sich an, als würde ein Lakai bei Hofe das Erscheinen des Königs ankündigen. So unschön diese Methode auch war, sie verhinderte, daß eine flüchtige Geste, ein Kratzen am Kinn, ein Wechsel des Standbeins im verdunkelten Vortragssaal als Aufforderung zum Diawechsel mißverstanden wurde. Das Auditorium wurde nicht aus seiner Konzentration, der Vortragende nicht aus seinem Redefluß gerissen, und dem Vorführer blieb erspart, vor allen Anwesenden als der Dumme dazustehen, denn es gab eine unumstößliche goldene Regel: Was auch geschieht, der Referent hat immer recht.
Da der Fortschritt nun auch in der Zeigestocktechnologie Einzug gehalten hatte und sich in jüngster Zeit mit stark ansteigender Tendenz die modernen Lichtpfeile oder teleskopartig ausziehbaren Westentaschenzeigestöcke einbürgerten, kam das bewährte Stockstampfen leider außer Mode und das Bedienungspersonal an den Projektoren mußte ein geradezu übermenschliches Einfühlungsvermögen aufbringen, um den gestiegenen Anforderungen gerecht zu werden.
Schuberts hochnäsiger Lackaffe von Assistent, dem Micha seine prekäre Lage von Herzen gönnte, versuchte noch immer verzweifelt, das verklemmte Dia zu lösen, als Axt ein Einsehen mit ihm hatte und eine spontane Einlage zum besten gab. Er entpuppte sich als souveräner Meister der Situation und sammelte bei der langsam ungeduldig werdenden Zuhörerschaft Pluspunkte.
Der Wirbel
Bisher hatte Axt sein Programm relativ unengagiert und mit fast gelangweilter Routine heruntergespult. Weder die ungewöhnlich große Kulisse noch der spektakuläre Auftritt dieses ungleichen Pärchens gleich zu Beginn seiner Ausführungen hatte ihn stimulieren und aus seiner inneren Verkrampfung befreien können. Aber dieses hämmernde Stakkato des verklemmten Diaprojektors riß ihn aus seiner Lethargie, rüttelte ihn wach und verhalf ihm zu einer glänzenden Idee.
»Die kleine Verzögerung gibt mir Gelegenheit«, sagte er, »Ihnen von einem Vorfall zu berichten, der sich gerade zugetragen hat und der ihnen zeigen soll, welch ungewöhnliche Wege die Fossiliensuche bisweilen nehmen kann.« Er wartete einen kurzen Moment, bis die Gesichter seiner Zuhörer sich von dem bedauernswerten Studenten hinter dem Projektor wieder abgewandt hatten.
»Wir hatten in diesem Sommer eine geologische Forschungsgruppe zu Gast in der Grube. Sie führten auf dem ganzen Gelände systematisch Bohrungen durch, und der Zufall wollte es, daß sich in einem ihrer Bohrkerne ein vollständiger und unversehrter Halswirbelknochen fand. Unsere Untersuchungen haben nun ergeben, daß es sich dabei um den Halswirbel eines Krokodils handelt, der Größe des Knochens nach zu urteilen, sogar eines sehr großen Krokodils, wahrscheinlich des größten, auf das wir jemals gestoßen sind.«
Anerkennendes Raunen im Saal.
»Wir sind davon überzeugt, daß der Bohrer den Halswirbel säuberlich aus seinem Knochenverband herausgestanzt hat und der Rest des Skelettes noch im Schiefer liegt, in etwa zweieinhalb Meter Tiefe.«
Jetzt spürte Axt, daß er seine Zuhörer im Griff hatte. Sie hingen an seinen Lippen, öde wissenschaftliche Routine war plötzlich in aufgeregte Entdeckerfreude umgeschlagen. Der kleine Projektorzwischenfall hatte dank seiner Geistesgegenwart eine glückliche Wendung eingeleitet. Für den Rest seines Vortrags war ihm die ungeteilte Aufmerksamkeit des Auditoriums sicher. Er fühlte, wie sein Körper neue Kraft mobilisierte, wie er aus den neugierigen Blicken seiner Zuhörer Energie auftankte, und als dann der Projektor wieder lief, holte er die verlorene Zeit mühelos auf - er wußte, daß es sehr ungern gesehen wurde, wenn man die Vortragszeit überzog -, glänzte mit gewagten Formulierungen und überraschenden Pointen und kam schließlich zum Schluß seines Vortrages.
»Da wir uns hier in einem zoologischen Institut befinden, habe ich darauf verzichtet, Ihnen die botanischen Schätze der Grube Messel zu präsentieren. Natürlich haben wir auch auf diesem Sektor eine sehr reichhaltige Ausbeute an Fundstücken aufzuweisen. Unsere Paläobotaniker haben Hunderte von Arten aus mindestens 65 Pflanzenfamilien nachweisen können. Blätter von Tüpfelfarnen, Panzerfruchtpalmen und Aronstabgewächsen, Früchte von Walnußbäumen und Mondsamengewächsen sowie die Samen, Pollen und Blüten von Riedgräsern und Seerosen wurden in großer Zahl gefunden.
Da hier am Institut, wie ich hörte, sehr intensiv entomolo-gisch gearbeitet wird, möchte ich aber nicht versäumen, Ihnen zum Ende meines Vortrages wenigstens noch zwei unserer berühmten Messeler Insekten zu zeigen. Hier ein Rüsselkäfer, eine von etwa fünfzehn Käferarten, die wir entdecken konnten. Und als letztes, gewissermaßen als schillernder Abschluß, unser Prachtkäfer.«
Aus dem Halbdunkel des Zuschauerraums hörte man einen unterdrückten Aufschrei der Überraschung. Axt fing den Ball auf und fügte hinzu: »Kaum zu glauben, daß dieses Stück bei dem bemerkenswert guten Erhaltungszustand der Strukturfarben 50 Millionen Jahre alt sein soll, finden Sie nicht? Ich danke Ihnen für ihre Aufmerksamkeit.«
Donnernder Applaus prasselte auf ihn ein, als das Licht wieder anging. Mit Stiften und Fingerknöcheln hämmerte sein Publikum so heftig auf die hölzernen Klapptische, daß man unwillkürlich um die Statik des alten Saales zu fürchten begann. Für Axt war es eine ungeheure Wohltat, die ihm nach all den Problemen und Tiefschlägen der letzten Zeit vorkam wie ein erfrischendes Bad nach einem heißen, staubigen Arbeitstag in der Wüste.
Ein strahlender Schubert kam auf ihn zu, schüttelte ihm begeistert die Hand und wandte sich dann an das Publikum.
»Vielen Dank Dr. Axt für Ihren hochinteressanten Vortrag. Ich bin sicher, daß Sie viele neue Freunde für Ihre Grube Messel gewonnen haben. Es ist ja auch ein einmaliger Glücksfall, daß wir in Deutschland eine so bedeutende Fundstätte haben. Nicht umsonst hat das deutsche Wort >Fossillagerstätte< als Fremdwort Eingang in den angelsächsischen Sprachraum gefunden, nicht wahr? Ich bin sicher, es gibt viele Fragen, Kommentare und Anregungen. Die Diskussion ist eröffnet.«
Axt lächelte dankbar, atmete tief durch und erwartete die Fragen aus dem Publikum. Er war zwar etwas erschöpft, aber zum ersten Mal nach langer Zeit wieder zufrieden mit sich. Es war eine gute Idee gewesen, nach Berlin zu reisen. Wahrscheinlich, ohne es zu wollen, hatte ihm Schmäler letztlich doch einen Gefallen getan.
Die Diskussionen nach solchen Vorträgen ähnelten sich überall, folgten zumeist einer bestimmten Dynamik, die mehr mit den internen Auseinandersetzungen und Rangordnungskämpfen der jeweiligen Universität zu tun hatte als mit den eigentlich behandelten wissenschaftlichen Inhalten. Axt wußte meist schon im voraus, welche Fragen kommen würden.
Während Studenten sich in der Regel eher schüchtern und naiv nach dem Stand der Auseinandersetzung um die Mülldeponie oder den Problemen mit Grabungsräubern erkundigten, setzten einige der Wissenschaftler zu eigenen kleinen Vorträgen an, die nicht eigentlich Fragen oder Kommentare darstellten, sondern eitle und ziemlich unverblümte, mitunter ausgesprochen peinliche Selbstinszenierungen waren, die nichts mit seinem Vortrag zu tun hatten und die nicht persönlich zu nehmen, Axt mit der Zeit erst hatte lernen müssen.
Auch hier schien die Diskussion dieselbe Richtung zu nehmen, bis der kleine spitzbärtige Mann, der zusammen mit dieser bildhübschen Schwarzhaarigen mitten in seinen historischen Überblick geplatzt war, die Hand hob und schließlich von Schubert, nachdem er ihn eine Weile geflissentlich übersehen hatte, mit vorwurfsvollem Blick aufgefordert wurde, seinen Beitrag abzuliefern.
»Dr. Sonnenberg!«
Der Erwähnte richtete sich mühsam auf und fragte mit einer überraschend kräftigen Stimme: »Dr. Axt, mich würde interessieren, ob Sie in Messel in jüngerer Zeit endlich auch Primaten gefunden haben. Sie haben in Ihrem Vortrag nichts davon erwähnt.«
»Äh ... ich verstehe nicht recht.« Axts Diskussionsbedürfnis sackte auf den Nullpunkt, und das erfrischende Bad in der Menge war plötzlich eiskalt. Primaten waren Affen, Affen und Menschen, wenn man es genau nahm. Jetzt hatte er es geschafft, dieses unsägliche Skelett einmal für eine Stunde zu vergessen, hatte für kurze Zeit wieder das Gefühl gespürt, was es hieß, Wissenschaftler zu sein und kein Hampelmann, dessen Arbeit der Lächerlichkeit preisgegeben war, und da war es wieder, präsenter denn je. Er riß sich zusammen.
»Sie meinen Affen?«
»Ja, natürlich Affen.« Der schmale Brustkorb des Fragestellers wurde von einem heiseren Lachen geschüttelt. »Menschen werden Sie ja wohl kaum gefunden haben, oder?«
Spontane Heiterkeit im Saal. Besonders die Schöne an der Seite des Spitzbärtigen schien sich geradezu auszuschütten vor Lachen.
Axt wurde rot, versuchte dann aber mitzulachen. Die Sache wuchs ihm über den Kopf. Er war nicht gewohnt, soviel zu lügen, jedenfalls nicht, wenn es um seine Wissenschaft ging.
Mitte der letzten Woche hatten sie das Ergebnis der Altersbestimmung erhalten. Das Skelett war 48 bis 50 Millionen Jahre alt, wies also dasselbe Alter auf wie alle anderen Fundstücke in der Grube auch, ein Ergebnis, wie es in diesem Fall schlimmer nicht hätte ausfallen können.
Damit war die letzte Hoffnung dahin, noch eine einigermaßen vernünftige Erklärung für die Existenz dieses Gerippes zu finden. Es war und blieb eine einzige unerträgliche Verhöhnung ihrer Arbeit, ein reales Ding der Unmöglichkeit.
Schmäler schien damit besser fertig zu werden als er. Sein Optimismus war in keiner Weise erschüttert, und er hatte ihm mitgeteilt, er habe bei den Kollegen in München schon eine Kontrolluntersuchung in Auftrag gegeben. In Niedners Labor müsse irgend etwas schiefgegangen sein, vielleicht Verunreinigungen oder einfach ein Computerfehler. Das Ergebnis aus München würde die Sache sicher bald klären. Die hätten dort die bessere Laborausstattung.
Kontrolluntersuchung hin, Kontrolluntersuchung her, Axt war fertig mit der Welt. Was würden sie als nächstes finden? Einen fossilisierten Farbfernseher? Einen flachgepreßten PC?
Einfach lachhaft.
Als sich das Auditorium wieder beruhigt hatte, blieb ihm nichts weiter übrig, als die Frage zu beantworten.
»Haha, natürlich nicht.«
Doch, schrie es in seinem Kopf, doch, und was für ein Prachtexemplar. Er schluckte und rieb sich mit der Hand über die Mundwinkel. Dann hatte er sich wieder im Griff. »Bisher haben wir nur Fragmente einer Lemurenart gefunden. Wir erwarten da aber noch mehr.«
Allerdings, meldete sich wieder dieser Teufel in seinem Kopf, es ist schon da, es liegt in unserem Keller, samt Armbanduhr und Zahnkronen.
»Wie Sie vielleicht wissen, sind aus dem etwa gleich alten Ausgrabungsgebiet im Geiseltal in der Nähe von Halle fünf Primatenarten bekannt«, fuhr er fort. »Möglicherweise sind diese baumbewohnenden Tiere in Messel eher unterrepräsentiert, weil sie nur auf Umwegen in den See gelangen konnten.«
»Ja, das wäre natürlich eine plausible Erklärung. Ich danke Ihnen.«
Geschafft! Der Spitzbärtige ließ sich wieder auf seinen Sitz fallen, beugte sich kurz zu seiner Begleiterin hinüber und sagte irgend etwas. Sie nickte und warf Axt einen flüchtigen Blick zu.
Schubert ergriff das Wort und erlöste ihn.
»So, da ich keine weiteren Wortmeldungen mehr sehe, beende ich hiermit die Diskussion, danke unserem Referenten Herrn Dr. Axt und möchte Sie noch auf unseren Vortrag in der nächsten Woche hinweisen. Ich bin sicher, er wird ebenfalls auf großes Interesse stoßen. Prof. Riedl aus Wien wird über Evolutionäre Erkenntnistheorie sprechen. Ich bitte wieder um zahlreichen Besuch. Danke!«
Sofort entlud sich lautes Stimmengewirr, man hörte das Zurückklappen der Sitzflächen, das Schnappen von Aktentaschenverschlüssen. Die Spannung in Axt ließ langsam nach.
Das war wohl noch einmal gut gegangen. Er packte seine Unterlagen zusammen und bereitete sich innerlich auf den Ansturm der persönlichen Fragesteller vor, der nun zu erwarten war. Aus den Augenwinkeln sah er sie schon sternförmig auf ihn zukommen, aber es waren nicht so viele, wie er befürchtet hatte. Neben zwei, drei Wissenschaftlern, die ihm vielleicht nur die Hand schütteln oder sich verabschieden wollten, näherte sich ein unsicher und schlaksig wirkender, baumlanger junger Mann, wahrscheinlich ein Student. Kurz hinter ihm folgte eine hagere, dürre Gestalt mit unregelmäßigen Zähnen, die er grinsend präsentierte. Axt nahm etwas Schwärzliches, Blinkendes an seinem rechten Schneidezahn wahr, als er von rechts den Spitzbärtigen mit seiner Miss Universum im Schlepptau auf sich zuhumpeln sah.
Dumme Fragen
Das Bild des schillernden Prachtkäfers traf Micha wie ein Donnerschlag in finsterer Nacht. Plötzlich war er hellwach und saß kerzengerade, so als hätte ihm jemand mit einem Ruck eine Lanze durch den Rücken getrieben. Ohne daß er es wollte, gab er einen erstickten Laut von sich, so daß sich Karin und Detlef umdrehten und ihn fragend anschauten.
Natürlich hatte er das Bild nur kurz betrachten können, viel zu kurz, um Einzelheiten zu erkennen, aber die Ähnlichkeit mit dem Käfer von Tobias war erstaunlich. Er hatte bisher gar nicht gewußt, daß es, abgesehen von Bernsteineinschlüssen, überhaupt so gut erhaltene Insektenfossilien gab, geschweige denn, daß diese Käfer den modernen Formen so ähnlich waren.
Er nahm sich vor, nach der Diskussion zu Axt zu gehen und ihn darauf anzusprechen. Normalerweise hielt er nichts von diesen Typen, die, kaum war das letzte Wort verklungen, nach vorne stürzen und den erschöpften Referenten Löcher in den Bauch fragen mußten. In seinen Augen wollten sie sich nur wichtig machen. Aber er mußte versuchen, mehr über dieses Tier herauszubekommen.
Die Diskussion verlief wie üblich. Einige Fragen mutiger Studenten und dann die Monologe von Persigel und Zeugner, den beiden High-Tech-Biologen, die demonstrieren mußten, daß sie über alles und jedes Bescheid wußten. Micha war so damit beschäftigt, sich seine Fragen zu überlegen, daß er fast den Auftritt von Sonnenberg und den darauffolgenden Heiterkeitsausbruch seiner Schönen verpaßt hätte, deren lautes, fast gehässiges Lachen alles andere übertönte.
Dann war es soweit. Schubert beendete das Colloquium. Micha nahm allen Mut zusammen und pirschte sich langsam an Axt heran, der noch damit beschäftigt war, ihm entgegengestreckte Hände von Wissenschaftlern des Instituts zu schütteln.
Als er von links Sonnenberg und darüber, fast in einer anderen Sphäre, ihren Kopf näherkommen sah, verlor er fast den Mut, aber Axt hatte ihn schon bemerkt und sah ihn erwartungsvoll an. Jetzt oder nie.
»Äh, Herr Axt, ich hätte da noch eine Frage«, hörte er sich sagen. Seine Stimme klang in dieser ungewohnten Situation ganz fremd für ihn, wie die Stimme eines anderen Menschen, quäkig, regelrecht unangenehm.
»Ja, bitte, fragen Sie!« erwiderte Axt freundlich, schien aber aus den Augenwinkeln ebenfalls zu verfolgen, wie Sonnenberg und seine Begleiterin auf ihn zusteuerten.
»Dieser Käfer hat mich fasziniert.«
»Der Rüßler?«
»Nein, der andere, der Prachtkäfer.« Sie war jetzt so nahe, daß sie ihn verstehen mußte. Gott, sie war groß, sehr groß, mindestens eins achtzig. Um sie zu küssen, hätte er seinen Kopf nur leicht nach unten beugen müssen, keine lusttötenden Verrenkungen, keine yogareifen Verbiegungen. Und sie müßte den ihren nur leicht in den Nacken legen. Klang es nicht absolut lächerlich, wenn er sich bei Axt nur nach dem Käfer erkundigte?
»Ja, und?« Axt wirkte nervös.
»Wissen Sie zufällig, ob es heute noch ähnliche Formen gibt, ich meine, sehr ähnliche?«
»Oh, da bin ich überfragt. Da müssen Sie einen Entomologen fragen. Soweit ich weiß, sind Sie doch hier in den besten Händen.«
»Ja, natürlich, Sie haben recht. Und ... wie werden diese Insektenfossilien eigentlich aufbewahrt? Ich meine, kann man sie einfach trocknen?«
Eine dumme Frage, eine entsetzlich dumme Frage, und sie konnte sie hören! Wieso fiel ihm nichts Intelligenteres ein?
»Nein, nein.« Axt lächelte nachsichtig. Seine Augen schwenkten flüchtig zu Sonnenberg hinunter, der jetzt direkt neben Micha stand, und es klang so, als ob das folgende eher für den kleinen Paläontologen bestimmt war als für ihn. »Sie werden in Glyzerin aufbewahrt, sonst verblassen die Farben sehr schnell, und die sind ja gerade das Besondere an diesen Stücken. Wissen Sie, mitunter zeigen sogar bergfrische Funde von Vögeln noch deutliche Spuren der Gefiederfärbung. Faszinierend! Wenn man das einmal gesehen hat, vergißt man es nicht so schnell. Es ist fast so, als ob in diesen Fossilien noch ein Rest Leben steckt, der erst nach ihrer Entdeckung wie ein Geist entweicht. Leider ist die Konservierung sehr kompliziert.«
»Vielen Dank!«
»Bitte, bitte«, sagte Axt und wandte sich nun endgültig Sonnenberg zu. Michael brachte es nicht fertig, die direkt hinter Sonnenberg stehende Schwarzhaarige aus der Nähe zu betrachten. Er verspürte einen schmerzhaften Stich. Wieder eine verpaßte Gelegenheit. Feigling, dachte er, elender Feigling.
Er drehte sich mit gesenktem Kopf um, wollte rasch zu seinen wartenden Kollegen zurückkehren und lief direkt in Tobias hinein, der, ohne daß er etwas davon bemerkt hätte, direkt hinter ihm gestanden hatte.
»Huch!« entfuhr es ihm. »Was machst du denn hier?«
»Na, dasselbe wie du, nehme ich an.« Tobias grinste so dämlich, daß Micha ihm am liebsten seinen diamantengeschmückten Vorderzahn eingeschlagen hätte. Aber dann geschah etwas Unfaßbares, und das versetzte ihn in tiefste Depression, die noch tagelang anhalten sollte. Tobias kannte sie.
Während Sonnenberg Axt begrüßte und Micha mit halbem Ohr hörte, wie der kleine Paläontologe sich vorstellte und Axt zu einem Besuch seines Instituts einlud, mußte er mitansehen, wie Tobias ihn stehenließ, auf die dunkelhaarige Schönheit zuging, ihre Hand ergriff und ihr einen Kuß auf die Wange drückte. Auch wenn sie keine Miene dabei verzog, Tobias keinen Millimeter entgegenkam und auch kein Wort sagte, versetzte ihm die bloße Tatsache, daß diese Vogelscheuche, dieses knochige, kantige, abstoßend häßliche Klappergestell ihre Hand schütteln, ihre Wange küssen durfte, einen solchen Tiefschlag, daß er augenblicklich das Weite suchte und nicht mehr mitbekam, wie Axt Sonnenbergs Einladung annahm und die beiden sich für Freitag nachmittag verabredeten.
Halluzinationen
Zwei Tage später ging Micha in die Bibliothek und suchte dort alles über die Grube Messel zusammen, was er finden konnte. Überall in den einschlägigen Büchern prangte ihm dieser Käfer entgegen. Er schien so eine Art Paradebeispiel zu sein. Er glich dem Exemplar, das ihm Tobias geschickt und das er sich mittlerweile noch einmal genau angeschaut hatte, tatsächlich in verblüffender Weise. Natürlich konnte man außer Form und Farbe der Flügeldecken kaum Einzelheiten erkennen, aber Größe, Gestalt und metallischer Glanz des Tieres stimmten genau, sogar die unterbrochenen bronzefarbenen Linien waren deutlich zu erkennen.
Als er in drei weiteren schwergewichtigen Werken Bemerkungen über ein fossiles Seerosengewächs mit dem schönen Namen Barclaya fand, das zu Messeler Zeiten offensichtlich weit verbreitet war und dessen nahe Verwandte noch heute in Südostasien zu finden waren, schwanden ihm die Sinne, und er umfaßte mit aller Kraft die Tischkante seines Lesepultes, um nicht vom Stuhl zu kippen. Mitten im tiefsten Gefühlsdurcheinander spürte er plötzlich eine Hand auf der Schulter, so daß er vor Schreck laut aufschrie und sich ringsumher die von ihrer Lektüre aufblickenden Gesichter der anderen Bibliotheksbenutzer in seine Richtung drehten.
»Na, na, so schreckhaft?« hörte er Claudias tiefe Stimme. Reflexartig klappte er die Bücher zu, die er vor sich auf dem Lesepult ausgebreitet hatte.
»Ach, du hast das!« sagte sie und nahm einen der dicken Wälzer in die Hand. »Das hab ich gerade gesucht.«
»Ja, ich ... ich ...« Verzweifelt suchte er nach einer Erklärung.
»Mann, du siehst ja aus, als ob dir der Leibhaftige persönlich erschienen wäre.« Sie sah ihn besorgt an. »Geht’s dir nicht gut?«
»Doch, doch, alles klar, wirklich. Ich sammle Fossilien, weißt du.«
»Na, da ist doch nichts dran auszusetzen«, erwiderte sie schmunzelnd.
»Na ja, und da habe ich mir eben diese Bücher zusammengesucht.«
»Ist doch in Ordnung!«
»Und außerdem muß ich jetzt weg«, stieß er atemlos hervor, sprang auf und verließ fluchtartig den Lesesaal, ohne sich noch einmal umzuschauen.
O Gott, was soll die jetzt von mir halten, dachte er und mußte unten auf der Straße mit Gewalt den Impuls bekämpfen, wieder umzudrehen. Aber was sollte er ihr sagen? Er hatte sich so ungewöhnlich verhalten, daß jede Erklärung alles nur noch schlimmer gemacht hätte. Die Wahrheit konnte er ihr kaum erzählen, sonst hätte sie ihn für völlig übergeschnappt gehalten.
Aber was war eigentlich die Wahrheit? Das Ganze nahm so absurde Züge an, daß das Wort Wahrheit in diesem Zusammenhang unangebracht schien. Im Kino hätte er das alles sicher sehr komisch gefunden, genau die Art realitätssprengender Phantastik, die ihm gefiel, zack, ein klaffender Spalt, ein Riß in der Welt und dahinter etwas völlig Neues, Unbekanntes, aber, verdammt noch mal, das hier war kein Film, eher schon eine besonders hinterhältige Form von Alptraum, ein böser Flashback halluzinogener Drogen, nur daß er keine Drogen genommen hatte. Immerhin wäre das eine halbwegs vernünftige Erklärung gewesen.
In ihm war eine absurde Idee aufgestiegen, so aberwitzig, daß ihm schwindlig davon wurde. Tobias, seine fixe Idee von der Reise in die Urzeit, damals, als sie noch Kinder waren, dieses ganze Theater um den Käfer und die mitgebrachte Pflanze und die widersprüchlichen Ergebnisse, die seine und Claudias Nachforschungen ergeben hatten. All diese verwirrenden Ereignisse der letzten Wochen schienen plötzlich einen völlig verrückten, absolut unmöglichen Sinn zu geben.
Er beschloß, zu Fuß zum Institut zurückzulaufen, um in der kalten Herbstluft etwas Ordnung in sein gedankliches Chaos zu bringen. Wie eingesponnen in einen Kokon düsterster Traumwelten, lief er los, ungefähr in die Richtung, wo er sein Institut vermutete, das zwei U-Bahnstationen entfernt lag. Mechanisch setzte er einen Fuß vor den anderen, achtete kaum darauf, was um ihn herum vorging, wählte an Kreuzungen, ohne groß nachzudenken, die eine oder andere Richtung und stellte irgendwann fest, daß er sich verirrt hatte.
Die Freie Universität mit ihren zahllosen Instituten und sonstigen Einrichtungen lag über ein großes Areal verstreut, ein Wirrwarr von kleinen Straßen mit rätselhaften Namen wie Im Dol oder Im Schwarzen Grund und niedlichen Parkanlagen mit kleinen Teichen und gepflegten Blumenrabatten, eine der besten Wohnlagen Berlins, eine ausgedehnte Gartenstadt mit hochherrschaftlichen, weinlaubüberwucherten Villen und schmucken Einfamilienhäusern, und manche davon entpuppten sich bei näherem Hinsehen als Institute der Universität.
Die Straßen, durch die er jetzt lief, waren ihm völlig unbekannt und menschenleer, so daß er auch niemanden fragen konnte. Wirklich beunruhigend war seine Lage freilich nicht, denn irgendwo würde er sicher auf eine Buslinie treffen, die ihn wieder in vertrautere Gefilde zurückbefördern konnte, aber in seinem Zustand hochgradiger Erregung mußte er bald gegen Panikgefühle ankämpfen. Sein Gang wurde schneller, ausgreifender und immer wieder blickte er gehetzt um sich, weil er meinte, Schritte gehört zu haben. Außerdem hoffte er, in irgendeinem der Vorgärten jemanden zu finden, den er nach dem Weg fragen konnte.
Plötzlich sah er eine zierliche Gestalt, die auf einen Stock gestützt aus der Tür eines weit zurückgesetzt stehenden Hauses trat und sich umblickte, irgendein pensionierter Arzt oder Anwalt, der sich hier zur Ruhe gesetzt hatte, und mal ein bißchen frische Luft schnappen wollte, dachte Micha. Er öffnete den Mund, um ihm etwas zuzurufen, da trat eine zweite, wesentlich größere Gestalt aus dem Haus, ein dürrer Mensch, ein Strich in der Landschaft, der ihm seltsam bekannt vorkam.
Micha kauerte sich instinktiv hinter einen der Steinpfeiler, die an beiden Seiten die Grundstücksauffahrt flankierten, als er in einem schmerzhaften Moment des Erkennens begriff, daß er diese Person tatsächlich kannte. Er spürte, wie das Blut in seinen Adern pochte, so laut, daß er meinte, jeder im Umkreis von zwei Kilometern müßte es hören, insbesondere die beiden, die jetzt vor dem Haus in der herbstlichen Sonne standen und sich unterhielten. Es war Tobias, Tobias Haubold, der Grund für seinen desolaten Seelenzustand, und nun erkannte er auch, mit wem er sprach. Es war Sonnenberg, der spitzbärtige Paläontologe.
Als wäre er gerade einem blutlüsternen Monster begegnet, verbarg er sich, mit dem Rücken gegen den Pfeiler gepreßt, und atmete mit weit aufgerissenen Augen tief durch. An einen Zufall konnte er nicht mehr glauben. Da irrte er hier verloren durch diese gottverlassene Gegend und lief ausgerechnet den beiden in die Arme. Nichts lag ihm ferner, als aus seinem Versteck zu treten und auf sie zuzugehen.
Das Ganze kam ihm plötzlich wie ein teuflisches Komplott vor, eine von langer Hand geplante Intrige, die er nicht verstand. Wie in diesen alten Hollywoodstreifen, wo reiche Frauen durch Schritte auf Treppen und Dachböden, durch flackernde Lampen oder mysteriöse Anrufe von ihren Ehemännern in den Wahnsinn getrieben werden. Seine Hände preßten sich gegen das kalte, rauhe Gestein des Pfeilers, rieben darauf auf und ab. Der Schmerz, den er dabei verspürte, brachte ihn wieder etwas zur Besinnung.
Was taten die beiden da? Tobias kannte also nicht nur diese Schwarzhaarige, sondern auch den Professor, und offensichtlich ganz gut, denn als er jetzt vorsichtig an dem Pfeiler vorbei zum Haus schaute, sah er, wie Sonnenberg väterlich auf den Rücken seines Schulfreundes klopfte, als wolle er ihn zu irgend etwas ermuntern.
Schnell verbarg Micha sich wieder hinter dem Pfeiler. Plötzlich fühlte er mit der rechten Hand statt des rauhen Gesteins eine glatte, kalte metallische Fläche. Er fuhr herum und schaute zu seiner grenzenlosen Verblüffung auf ein in Brusthöhe angebrachtes Blechschild, das dieses Haus als Teil der Universität auswies.
Institut für Paläontologie der
Freien Universität Berlin
Kurz darauf hörte er knirschende Schritte die Auffahrt entlang näherkommen. Er überlegte nicht lange, sondern rannte, hinter die niedrige Hecke geduckt, so schnell er konnte, davon. Er kam sich vor wie ein Einbrecher auf der Flucht, aber er hörte nicht auf zu rennen, immer weiter die menschenleeren, mit Herbstlaub bedeckten Alleen entlang, so lange, bis sich seine Kehle durch die angesogene kalte Luft anfühlte, als hätte er mit Salzsäure gegurgelt. Schwer atmend stützte er sich mit beiden Armen auf seinen Knien ab und sah, wie die Schweißtropfen von seiner Stirn auf den Boden tropften.
Als sein Puls sich beruhigt hatte, schien sich zögernd auch sein Verstand zurückzumelden. Er benahm sich wie ein Wahnsinniger, wie ein paranoider Irrer, dem langsam der Bezug zur Realität entglitt.
Er lief in normaler Geschwindigkeit weiter und stand wenige Minuten später vor der vertrauten U-Bahnstation Dahlem Dorf, die sich aus der Wüste um ihn herum wie eine üppig blühende Oase zu materialisieren schien.
Anstatt ins Institut zu gehen, wie er es ursprünglich vorhatte, fuhr er nach Hause, warf sich dort auf seine Matratze und blieb minutenlang liegen, die Hände vor das Gesicht gepreßt.
In was war er da hineingeraten? Alles wegen dieses dämlichen Typen, dieser plötzlich wie ein Zombie aus grauer Vergangenheit, aus tiefstem Vergessen aufgetauchten Spukgestalt. Drehte er jetzt durch oder was? Das konnte doch alles unmöglich wahr sein. Glücklicherweise waren seine beiden Mitbewohner nicht zu Hause. So, wie er aussah, hätten die noch den Notarzt gerufen.
Er raffte sich auf, ging in die Küche und kochte sich einen Tee. Eine halbe Stunde später lag er in der dampfenden Badewanne, auf einem Holzbrett, das quer über seiner Brust auf dem Wannenrand lag, stand eine große Tasse dampfenden Tees, und von seiner auf dem weißen Emaillerand liegenden Hand kringelte sich der Rauch einer Zigarette hoch zur Badezimmerdecke. Langsam verließ ihn das Gefühl, nur mit knapper Not einem Alptraum entkommen zu sein.
Daß Tobias Sonnenberg kannte, erschien ihm nun gar nicht mehr ungewöhnlich. Er studierte Geologie und interessierte sich für Fossilien. Das hatte er schon damals getan, als sie so auf diesen Film abgefahren waren. Was lag da näher, als sich dem hiesigen Paläontologen anzuschließen. Vielleicht beabsichtigte er sogar, sich darauf zu spezialisieren, ein völlig normales, ja, geradezu vorbildliches und weitsichtiges Verhalten, das bei jedem Studienberater helle Begeisterung ausgelöst hätte.
Nein, er hatte sich verhalten wie ein kompletter Idiot, und es war an der Zeit, die Sache aus der Welt zu schaffen.
Der Lazaruseffekt
»Entschuldigen Sie bitte die kurze Unterbrechung«, sagte Sonnenberg, als er zurück in sein Zimmer gehumpelt kam.
»Ein Mitarbeiter von Ihnen?« Axt fragte nur halbherzig. Er wußte gar nicht, wie lange Sonnenberg draußen mit dem jungen Besucher gesprochen hatte, einer auffallend dürren Gestalt, mit der er sich schon nach seinem Vortrag im Zoologischen Institut kurz unterhalten hatte. Seine Aufmerksamkeit wurde ganz von einem in Kunstharz eingeschlossenen Käfer in Anspruch genommen, den er auf einem Papierstapel entdeckt hatte. Er stand über das Präparat gebeugt neben Sonnenbergs Schreibtisch, als dieser wieder den Raum betrat.
»Nein, nein, ein Student«, antwortete er. »Einer meiner besten. Aber ich sehe, Sie haben meinen Prachtkäfer entdeckt.«
Er schloß die Tür hinter sich.
»Ein erstaunliches Tier!«
»Nicht wahr?« Sonnenberg ließ sich mit einem Schnaufen auf seinem Sessel nieder und schaute seinen Gast freundlich an. »Ich dachte mir schon, daß er Ihnen gefällt.«
»Sie meinen, weil er unserem Messeler Käfer so ähnlich sieht? Darf ich?«
Sonnenberg nickte und beobachtete schmunzelnd, wie sein Gast nach dem zigarettenschachtelgroßen Harzblock griff und ihn von allen Seiten eingehend betrachtete.
»Diese Ähnlichkeit ist .« Axt schüttelte verwirrt den Kopf.
»Verblüffend?«
»Hm .« Verblüffend war gar kein Ausdruck. Das hier war eindeutig kein Fossil, aber es glich dem Messeler Prachtkäfer wie ein Ei dem anderen. Anders als bei seinem frühtertiären Gegenstück konnte man an diesem Tier allerdings auch die Unterseite erkennen, die mit goldig glänzenden Härchen übersät war. Die sechs Füße endeten jeweils in einem kräftigen Krallenpaar. Außerdem war er wesentlich größer.
»Er stammt aus Mittelamerika, Panama, Costa Rica, Nicaragua«, erläuterte Sonnenberg. »Ist sogar ziemlich häufig dort. Ich war so begeistert, als ich ihn fand, daß ich ihn unbedingt mitnehmen mußte.«
»Das kann ich verstehen«, sagte Axt, noch immer wie hypnotisiert von dem ungewöhnlichen Tier. Er legte den Block zurück auf den Papierstapel, ohne aber seine Augen davon lösen zu können. Ein seltsames Gefühl, ein leichter eiskalter Schauder, strich wie ein Windstoß über seinen Körper. Noch nie hatte er ein heute lebendes Tier gesehen, das seinen 50 Millionen Jahre alten Verwandten aus dem Messeler Eozän so ähnlich sah. Er erschrak fast ein bißchen. Es war, als strecke diese Zeit, mit der er sich so intensiv beschäftigte, die Hand nach ihm aus, als gäbe es plötzlich eine Art Verbindung zwischen dem Jetzt und jener Vergangenheit, die unendlich lange her zu sein schien und doch nur den Beginn des jüngsten und vorläufig letzten der drei Erdzeitalter markierte.
»Wissen Sie, es ist seltsam«, sagte Axt. »Vorgestern, nach meinem Vortrag, kam ein junger Mann zu mir und fragte, ob es denn heute noch so ähnliche Formen gäbe wie damals zu Messeler Zeiten, und er meinte genau diesen Prachtkäfer hier. Sie müßten ihn eigentlich gesehen haben. Er stand direkt neben Ihnen.«
»Ach wirklich?« Sonnenbergs Schmunzeln verschwand.
»Ja, wenn ich das gewußt hätte, ich meine, wenn ich Ihren Käfer hier vorher gekannt hätte ... aber ich hatte ja keine Ahnung.«
»Tja«, Sonnenberg lehnte sich in seinem Sessel zurück und schlug das gesunde Bein über das andere, »was wissen wir schon über die wirkliche Lebensdauer der Tier- und Pflanzenarten.«
»Sie wollen doch nicht behaupten, daß es sich bei dem Messeler Prachtkäfer und diesem hier um dieselbe Art handelt? Bei aller Ähnlichkeit, aber ...«
Sonnenberg zog die buschigen Augenbrauen hoch. »Lieber Dr. Axt, was für eine Frage? Einen Test auf fruchtbare Kreuz-barkeit werden wir mit diesen beiden Exemplaren wohl kaum zustande bringen. Ein 50 Millionen Jahre altes Fossil, etwas lädiert, und eine in Kunstharz steckende Käferleiche, was soll dabei wohl herauskommen?« Als er fortfuhr, war von seinem spöttischen Unterton nichts mehr zu hören. »Obwohl diese Teufelskerle in der Genetik vielleicht etwas damit anfangen könnten, meinen Sie nicht? Wenn sich in Ihrem Messeler Käfer noch etwas DNS findet, ließe sich diese Frage schnell beantworten. Außerdem, wenn Sie sich einmal die damalige Lage der Kontinente anschauen, ist es ja durchaus denkbar, daß es auch in der Insektenwelt zu einem Austausch gekommen ist. Die große Ähnlichkeit der Säugetierfaunen von Nordamerika und Europa im frühen Eozän ist ja bekannt. Es gab die Beringstraße und diverse Verbindungswege über den Nordatlantik.«
»Aber das hier ist eine tropische Art«, warf Axt ein. »Sie konnte wohl kaum über den Nordpol wandern, auch wenn es damals wesentlich wärmer war als heute. Außerdem, eine Insektenart, die 50 Millionen Jahre nahezu unverändert überlebt hat und noch dazu an einem ganz anderen Ort, als die fossilen Urkunden vermuten lassen, das wäre ein starkes Stück.«
»Na und?« Aus den Augen des kleinen Paläontologen sprühten winzige Funkenfontänen. »Die ganze Erdgeschichte ist ein starkes Stück, da werden Sie mir ja wohl kaum widersprechen. Ich bin fest davon überzeugt, daß wir noch ganz am Anfang stehen und gerade erst beginnen, die wirklichen Phänomene und Gesetzmäßigkeiten der Evolution auszumachen. Der gute alte Darwin hat uns ganz grob den Weg gewiesen. Und mein Vertrauen in die Angaben, die bisher über die Lebensdauer der Organismenarten gemacht wurden, ist äußerst begrenzt.«
»Natürlich gibt es da beträchtliche Unsicherheiten«, räumte Axt ein. Ohne daß er es wollte, schwenkten seine Augen immer wieder zu dem eingeschlossenen Prachtkäfer zurück, und er war nur mit halbem Ohr bei der Sache. Hatte dieses Tier wirklich 50 Millionen Jahre überlebt? Vielleicht war es sogar noch wesentlich älter. Es gab ja solche Fälle. Der Rückenschaler Triops cancriformis, ein heute in vielen Tümpeln lebender Krebs, war die älteste bekannte Tierart der Welt. Fossilien aus dem frühen Erdmittelalter, dem Trias, nicht weniger als 180 Millionen Jahre alt, waren von der heutigen Form nicht zu unterscheiden. Offenbar gab es Tiere und Pflanzen, an denen sich die Evolution die Zähne ausbiß.
»Unsicherheiten nennen Sie das?« stieß Sonnenberg aus. »Ich nenne es schlicht Unwissenheit. Wir haben einfach keine Ahnung. So ist doch die Situation. Denken Sie doch nur an die Lazarusarten, die Quastenflosser zum Beispiel. Diese Fische seien seit 90 Millionen Jahren ausgestorben, hieß es immer.
Und dann kommen eine Frau Courtenay-Latimer und ein Herr Smith, finden einen seltsamen Tiefseefisch, und die Lücke ist geschlossen. 90 Millionen Jahre lang haben die Quastenflosser keinerlei fossile Überreste hinterlassen, und wir sind darauf hereingefallen. Ach, wußten Sie übrigens, daß diese Tiere auf den Komoren schon seit Generationen bekannt sind. Die Leute dort nennen sie Kombessa und mögen die Quastenflosser nicht besonders, weil sie bestialisch stinken, nur traniges Fleisch liefern und außerdem extrem zählebig sind. Kein Wunder bei dem Alter, was? Die Fischer können mit diesen Tieren so gut wie nichts anfangen. Das einzige, was sie verwenden, sind die großen Schuppen der Fische. Und was glauben Sie wohl, was sie damit machen? Halten Sie sich fest! Sie benutzen sie zum Aufrauhen ihrer Fahrradschläuche. Ist das nicht komisch? Vielleicht sollten wir, statt überall alte Steinbrüche zu durchwühlen, lieber die Werkzeugtaschen der Menschen durchsuchen. Wer weiß, was wir auf diese Weise noch an lebenden Fossilien zu Tage befördern könnten.«
Sonnenberg begann heiser zu lachen, und Axt lachte mit, obwohl er eigentlich eher befremdet war und darüber nachdachte, was sein Gastgeber da behauptet hatte.
»Wir wissen doch über die Lebensdauer vieler Tiergruppen sehr gut Bescheid«, sagte er, als Sonnenberg sich wieder beruhigt hatte. »Ich weiß gar nicht, was Sie daran bemängeln. Simpson hat das doch in beeindruckender Weise zusammengestellt. Die Lebenserwartung einer Muschelgattung betrug etwa 80, die von Ammoniten etwa 8, von Armfüßern 20 Millionen Jahre. Die Evolution der Säuger verläuft schneller. Eine Säugetiergattung überlebt durchschnittlich nur 5 Millionen Jahre, einzelne Arten leben sogar noch kürzer, nur ein oder zwei, maximal 8 Millionen Jahre.«
»Ja ja, ich kenne diese Zahlen.« Sonnenberg winkte geringschätzig ab und schüttelte den Kopf. »Und wenn ich ihnen nun sage, daß ich davon so gut wie nichts halte? Da stimmt so vieles nicht. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Das Beispiel des Quastenflossers zeigt es doch. Was ist mit Neopi-lina, der kleinen Schnecke? Ähnliche Schalen kannte man schon aus dem Kambrium, über 500 Millionen Jahre alt, und man glaubte, die Tiere seien seit dem Oberen Devon ausgestorben, also seit mehr als 400 Millionen Jahren. Aus dieser ganzen unendlich langen Zeitspanne, das sind wohlgemerkt mehr als zwei Drittel des Zeitraumes, in dem überhaupt höheres Leben auf der Erde existierte, hat sich nicht das geringste Fossilchen dieser Tiere erhalten, nicht die kleinste Schale. Also haben wir sie für tot erklärt, für ausgestorben, bis die GalatheaExpedition sie vor ein paar Jahren wieder aus der Tiefe geholt hat. 400 Millionen Jahre lang hat Neopilina irgendwo überlebt, und wir hatten nicht die geringste Ahnung davon. Das sagt doch eigentlich alles, oder?«
»Und? Worauf wollen Sie eigentlich hinaus, Professor?« Axt wurde langsam etwas ungehalten. Ihm war noch niemals ein Paläontologe begegnet, der so wenig von seiner eigenen Wissenschaft hielt. Er hatte dem Treffen mit Sonnenberg schon mit etwas gemischten Gefühlen entgegengesehen, aber daß es jetzt einen solchen Verlauf nahm, überraschte ihn doch sehr. Mochte Sonnenbergs Frage nach den Primatenfunden in Messel noch so unverfänglich gemeint gewesen sein, Axt steckte sie noch immer in den Knochen. Er war machtlos dagegen, auch wenn er sich natürlich sagte, daß Sonnenberg nichts dafür konnte und die Frage als solche durchaus berechtigt war. Aber er hatte nicht damit gerechnet, daß er sich hier stellvertretend für seinen ganzen Berufsstand würde rechtfertigen müssen. Schließlich war Sonnenberg keiner dieser modernen Systematiker, die gut reden hatten bei der Fülle an Datenmaterial, mit dem sie ihre Analysen stützen konnten. In deren Augen waren Paläontologen wie er unwissenschaftliche Scharlatane, Opfer eines tragischen Selbstbetruges. Aber Sonnenberg war ein Kollege, einer von ihnen.
»Sollen wir einpacken, das Denken einstellen, unsere Museen dichtmachen?« fragte Axt. »Glauben Sie, daß es gar keine Evolution gegeben hat und die Erde im Grunde von Neopilinas und Quastenflossern nur so wimmelt, wenn wir uns einmal die Mühe machen und richtig nachschauen würden? Ich verstehe Sie nicht. An der Lückenhaftigkeit der Fossilüberlieferungen wird sich wohl auch in Zukunft wenig ändern, und wenn wir unsere Wissenschaft weiter betreiben wollen, werden wir uns damit abfinden müssen. Das können Sie doch nicht ernsthaft der Paläontologie anlasten.«
»Das nicht, nein, aber wenn sie aus einem mangelhaften Datenmaterial zu weitreichende Schlüsse zieht, das kann ich ihr vorwerfen. Aber Sie haben recht. Ich muß mich entschuldigen. Manchmal schlage ich über die Stränge. Ich neige zu Extrempositionen innerhalb unserer Wissenschaft, ich weiß. Verstehen Sie, mich ärgert diese hochnäsige Sicherheit, die von vielen Kollegen immer wieder verbreitet wird. Meiner Meinung nach ist nichts sicher, oder jedenfalls sehr wenig. Daß eine Evolution stattgefunden hat, gehört, um Ihre Frage gleich zu beantworten, sicherlich dazu. Ich bin kein Kreationist. Viel weiter darüber hinaus reicht unser Wissen allerdings nicht. Ich kann’s nicht ändern.« Er sah seinen Gast lächelnd an.
»Warten Sie!« Sonnenberg stemmte sich aus seinem Sessel, öffnete im Stehen die Tür eines einfachen Holzschrankes, der neben dem Schreibtisch in der Ecke des Raumes stand, und entnahm ihm eine Flasche und zwei Gläser. »Ein wunderbarer Grappa. Vielleicht wirkt der etwas beruhigend auf unsere Gemüter«, sagte er, lachte und prostete seinem Gast zu.
»Auf daß es immer weiter vorangehe mit unserer faszinierenden Wissenschaft«, sagte er.
Axt akzeptierte das Versöhnungsangebot. »Ah, Sie sehen doch noch eine Chance, daß die Paläontologie Ihren Ansprüchen gerecht werden könnte? Das freut mich. Prost!«
»Wissen Sie«, nahm Sonnenberg das Gespräch wieder auf, »ich halte die Frage nach dem Evolutionstempo für sehr entscheidend. Ich muß Ihnen ja nicht erläutern, welche weitreichenden Spekulationen unsere amerikanischen Kollegen auf der Tatsache aufgebaut haben, daß sich in vielen Entwicklungslinien über lange Zeiträume hinweg offensichtlich kaum etwas verändert hat, während andererseits die wirklichen Neuheiten stets sehr plötzlich auf der Bildfläche erschienen sind. Hatten Sie schon einmal Gelegenheit, sich die einzelne Solnhofer Archaeopteryx-Feder aus der Nähe anzuschauen?«
Axt schüttelte den Kopf. »Leider nein. Ich kenne nur die Fotografien. Sie ist sicher sehr eindrucksvoll.«
»Absolut faszinierend, die erste Feder, die wir überhaupt kennen, und bereits perfekt bis in alle Einzelheiten, als stamme sie von einer modernen Taube. Und davor gab es nichts Vergleichbares, nur Reptilienschuppen. Es ist doch seltsam, daß ausgerechnet wir Paläontologen zu den schärfsten Kritikern des Darwinismus geworden sind, nicht wahr? Dabei sollte es doch eigentlich umgekehrt sein.«
Er richtete sich auf und schenkte nach. Axt wollte erst ablehnen, willigte dann aber ein. Der Grappa war wirklich nicht schlecht.
»Und trotzdem glauben die Gradualisten, zu denen ich mich im übrigen nicht zähle«, bekannte Sonnenberg, »durch immer wieder neue Berechnungen und Argumente zeigen zu müssen, daß der langsame, kontinuierliche Wandel der Organismenarten, wie Darwin ihn gesehen hat, die ganze Vielfalt des Lebens auch ohne größere Sprünge hervorbringen konnte. Finden Sie nicht, daß das krampfhafte Festhalten an diesen alten Anschauungen auch etwas Verzweifeltes an sich hat? Sie ertragen einfach die Unsicherheit nicht.« Er sah Axt an und fuhr fort, als dieser keine Anstalten machte, seine Frage zu beantworten. »Entscheidend sind immer die Anfangs- und Endpunkte einer Tierart, Geburt und Tod gewissermaßen, und Sie werden mir sicherlich nicht widersprechen, wenn ich sage, daß unser Wissen in dieser Hinsicht noch sehr unbefriedigend ist.«
»Natürlich. Das herauszufinden, dachte ich, sei unter anderem Aufgabe unserer Wissenschaft.«
»Ah, Sie haben mich falsch verstanden, ich meine nicht die Art und Weise, wie neue Arten entstehen und wieder untergehen, sondern ich meine das Problem, woran wir das Erscheinen einer neuen Art oder Verschwinden einer alten überhaupt festmachen können. Wo wollen Sie innerhalb eines Kontinuums Grenzen ziehen?«
»Sie meinen, wie wir unsere Arten definieren?« fragte Axt und mußte innerlich stöhnen. Das war ja ein uralter Hut. Allerdings ein durchaus umstrittener, das mußte er zugestehen. Sonnenberg hatte sich für ihr Treffen offensichtlich ein Art Generalabrechnung vorgenommen. Leider war er dazu ganz und gar nicht in der richtigen Stimmung. Seine Gründe, an der Paläontologie zu zweifeln, waren momentan anderer Art. Sie waren etwa einen Meter achtzig lang und ruhten im Keller der Messeler Senckenberg-Station. Er schaute kurz auf Uhr.
»Ganz genau.« Sonnenberg nippte an seinem Glas und schmunzelte wieder in sich hinein. Axt fühlte sich irgendwie provoziert. »Sie sagten vorhin, eine Muschelart hätte bisher in der Erdgeschichte etwa die zehnfache Lebenserwartung einer Säugetierart gehabt. Diese Angaben stehen und fallen doch mit der Definition der Anfangs- und Endpunkte der betrachteten Spezies.«
»Sicher. Da wir keine Kreuzungsexperimente durchführen können, sind wir dabei allein auf die Morphologie angewiesen. Das ist unbefriedigend, aber nicht zu ändern. Abgesehen davon, daß sie uns die theoretischen Schwierigkeiten erleichtern würden, hätten solche Kreuzungsexperimente allerdings auch kaum Sinn. Ein Tier hat in der Realität nur wenig Aussichten, sich mit seinen stammesgeschichtlichen Vorläufern zu paaren. Wir betrachten ein Lebewesen daher erst dann als neue Art, wenn es sich morphologisch in ausreichendem Maße von seinen Vorgängern unterscheidet, so daß ein neuer Name gerechtfertigt erscheint.«
»Sehen Sie, und genau da liegt der Hase im Pfeffer. In der Regel stehen uns für unsere Untersuchungen ja nur die Hartteile, die Skelette, zur Verfügung. Ehe Sie protestieren: Ich weiß, daß Ihre Messel er Fossilien da eine faszinierende Ausnahme darstellen. Aber, was glauben Sie wohl, auf wie viele Spezies unsere heute lebenden knapp neuntausend Vogelarten zusammenschrumpfen würden, wenn man ihren Kadavern alle Federn ausrisse, säuberlich das Muskelgewebe entfernte und das übriggebliebene, vielleicht noch von einer Presse plattgedrückte Skelett den Experten zur Bestimmung vorlegen würde? Was glauben Sie: Wie viele blieben übrig? Die Hälfte, ein Zehntel? Wie viele Arten von Darwinfinken gäbe es wohl für die Wissenschaft, wenn wir nur ihre Skelette kennen würden und aus irgendeinem Grunde sämtliche Schnäbel fehlten? Wie wollten Sie Fitislaubsänger und Zilpzalp auseinanderhalten, die sich praktisch nur im Gesang unterscheiden und doch streng getrennte Arten sind?« Sonnenberg lehnte sich zurück und machte einen zufriedenen Eindruck. »Und wenn Sie schon damit ihre liebe Mühe hätten, wie wollen Sie dann anhand der fossilen Überreste Arten unterscheiden, die auseinander hervorgegangen sind, sich also zwangsläufig noch sehr, sehr ähnlich sind. Wie wollen Sie da eine Grenze ziehen? Woher wollen Sie andererseits wissen, ob anatomisch identische Fossilien nicht doch streng getrennten Arten entstammen, die eine vielleicht nachtaktiv, die andere tagaktiv, die eine eine Frühjahrsart, die andere eine Herbstart, Tiere, die sich in der Natur kaum jemals begegnen? Dafür gibt es heute doch Hunderte von Beispielen. Was ist mit der beträchtlichen Variation innerhalb der Arten, mit den Geschlechtsdimorphismen? Was ...«
»Prof. Sonnenberg, es tut mit leid, aber Sie argumentieren wie ein Outsider, nicht wie einer von uns. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als verantwortungsvoll unsere Arbeit .«
»Was ist mit Ihren Fischen, Sie sind doch Ichthyologe, nicht wahr? Wie viele Arten von Buntbarschen gibt es heute im Viktoriasee? Sagen wir fünfhundert, und viele davon sind sich verdammt ähnlich. Wie viele würden Sie davon als echte, von anderen isolierte Arten ansprechen, wenn Sie nur die Fossilien hätten?«
»Es tut mir leid .«
Sonnenberg ignorierte ihn erneut. »Außerdem ... was würden Sie sagen, wenn ich behauptete, die Muschelarten hätten nur scheinbar eine so lange Lebenserwartung gehabt oder die Säuger eine so kurze. In Wirklichkeit sind die Muschelschalen nur ungleich ärmer an Merkmalen, mit denen sich eine Artunterscheidung begründen läßt, als ein aus mehreren hundert Knochen bestehendes Säugetierskelett. Die Zahl ihrer Arten .«
Axt sah flüchtig auf die Uhr. Er mußte bald aufbrechen. In einer guten Stunde ging sein Zug vom Bahnhof Zoo. Viel Konstruktives war hier wohl auch nicht mehr zu erwarten. Er atmete tief ein und streckte seinem Gastgeber beide Handflächen entgegen. »Also, lieber Professor, ich gebe mich geschlagen. Ich kapituliere auf ganzer Linie. Es tut mir leid, aber ich kann nur wiederholen, was ich vorhin schon gesagt habe: Sie reden wie einer, dem unsere Tätigkeit ein Dorn im Auge ist. Sie wissen doch genausogut wie ich, daß nicht wir, die Paläontologen, die Grenzen unserer Wissenschaft so eng gesteckt haben.« Er sagte das in der vagen Hoffnung, das Gespräch zu einem versöhnlichen Ende zu bringen und Sonnenberg keinen Anlaß zu weiterer Fundamentalkritik zu liefern. »Die Überreste, mit denen wir notgedrungen auskommen müssen, geben einfach nicht mehr her. Sie können eben an Knochen nicht die falschen Fragen stellen. Fossilien verhalten sich nun einmal nicht, zwitschern keine Lieder, tragen in der Regel keine bunten Federn oder Haare als Bestimmungshilfe. Wenn Ihnen das nicht gefällt, waren Sie als Paläontologe wohl kaum ein besonders glücklicher Mensch.«
»Nun seien Sie nicht so mimosig, mein Lieber! Ein kleiner Methodenstreit unter Kollegen hat noch niemandem geschadet. Alles, was ich sagen will, ist doch, daß wir uns unserer Grenzen bewußt bleiben müssen.«
»Das ist Ihnen gelungen.«
Axt fand es plötzlich gar nicht mehr seltsam, daß er bis vor wenigen Tagen noch nie etwas von einem Prof. Alois Sonnenberg gehört hatte. So viele von ihrer Sorte gab es ja nicht, und da war es schon erstaunlich, daß er hier jemanden kennenlernte, noch dazu an relativ exponierter Stelle, dem er noch nie begegnet war. Wenn alle seine Gespräche unter Kollegen so verliefen wie dieses, hatte Sonnenberg sich sicherlich nicht sehr beliebt gemacht über die Jahre und war möglicherweise völlig isoliert. Axt nahm sich vor, Schmäler nach Sonnenberg zu fragen. Die beiden stammten ja in etwa aus derselben Wissenschaftlergeneration. Vielleicht wußte er etwas über diesen seltsamen Kauz, von dem Axt nicht eine einzige Veröffentlichung kannte und keine Ahnung hatte, woran er überhaupt arbeitete. Er hatte ihn eigentlich danach fragen wollen, aber nun war das Gespräch ganz anders verlaufen, und in Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit war es wohl besser, er verzichtete darauf.
»Sie schauen immerzu auf die Uhr. Haben Sie es eilig oder langweile ich Sie?«
Axt schreckte aus seinen Gedanken auf. »Nein, nein, Sie langweilen mich keineswegs. Es tut mir leid, ich wollte nicht unhöflich erscheinen. Ich muß nur die Zeit ein wenig im Auge behalten. Mein Zug geht in einer Stunde.«
»Was? Dann müssen Sie ja bald aufbrechen. Warum haben Sie denn das nicht früher gesagt? Ich dachte, wir essen noch gemütlich zusammen.« Sonnenberg war sichtlich enttäuscht. »Und da rede ich die ganze Zeit wie ein Wasserfall und betätige mich hier als Nestbeschmutzer sondergleichen. Was müssen Sie jetzt für einen Eindruck von mir haben.«
»Da machen Sie sich mal keine Sorgen, Herr Sonnenberg.« Axt winkte ab und lächelte. »Ihre Kritik ist ja größtenteils berechtigt.«
Sein Gastgeber machte ein betroffenes Gesicht. »Ach, das sagen Sie jetzt nur, um mich zu beruhigen. Zu schade, daß Sie schon wegmüssen. Ich hatte gehofft, noch viel Interessantes über die Grube Messel zu erfahren, aus erster Hand sozusagen.«
»Das müssen wir leider auf ein anderes Mal verschieben.«
»Ich komme darauf zurück. Das ist eine Drohung. Sie müssen nämlich wissen, daß mich gerade das Eozän außerordentlich interessiert. Es muß wie das Paradies gewesen sein, glauben Sie nicht? Mitteleuropa hat sicherlich nicht sehr viel schönere Zeiten erlebt als diese. Und niemand kennt das europäische Eozän besser als Sie. Ihre Grube lag ja sozusagen mittendrin.«
Sonnenberg war wie verwandelt. Er wirkte unsicher und schien nun besondere Liebenswürdigkeit an den Tag legen zu wollen. »Sie müssen mir aber wenigstens erlauben, Ihnen etwas zu schenken, Dr. Axt. Darauf muß ich bestehen!« Er hielt ihm den Kunstharzblock mit dem mittelamerikanischen Prachtkäfer hin. »Hier, bitte! Keine Widerrede! Als kleine Entschädigung dafür, daß Sie sich so lange meine Monologe angehört haben. Ich wüßte wirklich niemanden, dem ich ihn lieber schenken würde.«