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Die Falle
Das erbärmliche Quieken hatte er schon eine ganze Weile gehört, aber er konnte in der dichten Vegetation nicht ausmachen, von wo das seltsame Geräusch kam. Dann war er beinahe darüber gestolpert. Jetzt kniete der Mann in seinen kurzen Ledershorts neben dem spitzschnäuzigen Nagetier und versuchte, das kleine bissige Biest aus der Falle zu befreien.
Der Bügel war zwar zurückgeschnappt und hatte das Tier festgeklemmt und wohl auch verletzt, aber die Wucht des Aufpralls hatte nicht ausgereicht, um ihm das Genick zu brechen, dafür war es wohl doch zu groß. Trotzdem war es vielleicht schwer verletzt und zu geschwächt, um hier im Dschungel lange überleben zu können. Wer weiß, wie lange der kleine Kerl hier schon gefangen war.
Er überlegte, ob er das Tierchen töten sollte. Diese Nager, von denen es hier im Wald nur so wimmelte, schmeckten eigentlich nicht schlecht, aber wenn man nicht gerade kurz vor dem Verhungern war, gab es wirklich Besseres. Es war nicht allzuviel dran an ihnen, und auch die Felle waren zu klein, als daß er damit etwas Sinnvolles hätte anfangen können. Aber bevor es sich lange herumquälte, könnte er es auch mit einem kleinen Schlag seines Buschmessers erlösen.
»Autsch«, schrie er auf, als ihn das kleine Mistvieh in einem Moment der Unachtsamkeit in die Hand biß. Es schien noch ganz gut bei Kräften zu sein. Er lutschte das Blut von seinem Handballen und hielt die Falle mit dem zappelnden Tier mit der Linken vom Körper weg. Dann setzte er die Falle wieder auf den Boden, drückte das Tierchen vorsichtig gegen den Fallenboden und bog den Bügel zurück. Es piepste und stemmte sich mit überraschender Kraft gegen seine Hand. Er packte es im Nacken und warf es auf den Boden. Raschelnd verschwand der Nager sofort im dichten Unterholz. Hoffentlich fiel er nicht gleich der erstbesten Schlange zum Opfer.
In der Ferne hörte man ein Rauschen, das langsam lauter wurde. Der Mann schaute nach oben durch das dichte Blätterdach in die tiefhängenden dunklen Wolken. Regen, und er kam näher. Er mußte sich beeilen, wenn er von dem Unwetter nicht überrascht werden wollte. So ein Regenguß im Dschungel war kein Kinderspiel, keine kleine erfrischende Dusche, der man sich bei der hier herrschenden Hitze gerne aussetzte. Die extreme Feuchtigkeit und die von den Blättern abprallenden feinen Sprühwassertropfen bildeten schnell einen dichten Nebel, durch den man kaum ein paar Meter weit sehen konnte und Gefahr lief, völlig die Orientierung zu verlieren, auch wenn man sich so gut auskannte wie er. In diesem diffusen Licht sahen dann alle Pflanzen gleich aus, und hier gab es weit und breit nichts anderes als Pflanzen.
Er verstaute die leere Falle in seinem kleinen Lederrucksack, griff nach dem Buschmesser, das er auf dem Boden abgelegt hatte, und machte sich auf den Rückweg. Das Rauschen des Regens war zu einem bedrohlich klingenden Tosen angeschwollen, einem machtvollen Geräusch, das Klatschen von Millionen schwerer Wassertropfen auf breite sattgrüne Blattflächen, die sich den Raum in einem erbarmungslosen Wettkampf um Licht so optimal aufgeteilt hatten, daß der größte Teil des Regens gar nicht bis auf den Boden gelangte. Aber es würde immer noch reichen, um ihn in kürzester Zeit bis auf die Haut zu durchnässen.
Die Regenfront kam zu schnell. Innerhalb von Sekunden wurde es dunkel. Das Geräusch schwoll an wie ein Trommelwirbel, und plötzlich war er in einen dichten Vorhang von Wassertropfen gehüllt. Er mußte einen Unterschlupf finden, schnell. Er schaute sich suchend um und entdeckte ganz in der Nähe eine Palme und einen der schirmförmigen Baumfarne, deren Wedel zusammen ein dichtverflochtenes Dach bildeten.
Das war ein guter Platz, um abwarten, bis der schlimmste Guß vorüber war. Es konnte Stunden dauern. Er war es gewöhnt, lange Zeit zu warten, fast bewegungslos auf einem Fleck auszuharren. Geduld war eine Tugend, die er hier gelernt hatte.
Er hockte sich dicht neben den wie behaart aussehenden Stamm des Baumfarns auf den Boden und holte sich ein Stück Trockenfleisch aus seinem Rucksack. Nein, das Warten machte ihm nichts aus. Außerdem hatte er genügend Stoff zum Nachdenken. Während ihm einzelne dicke Tropfen auf die Krempe seines Hutes fielen und er langsam auf dem zähen Fleisch herumkaute, betrachtete er nachdenklich die Falle, aus der er den Nager befreit hatte. Es war eine normale Mausefalle, wie man sie überall kaufen konnte, vielleicht etwas größer und moderner als die, die sein Vater früher immer benutzt hatte, wenn er in der Speisekammer Mäusekötel entdeckt hatte.
Was ihn beschäftigte, war aber nicht sosehr die Konstruktion der Falle, sondern die Tatsache, daß sie nicht von ihm stammte. Hier trieb sich noch jemand herum, jemand, den er nicht kannte und der kleinen Tieren mit Fallen nachstellte. Das war neu und beunruhigte ihn wesentlich mehr als der Tropenregen, der nun mit voller Heftigkeit auf das Blätterdach des Dschungels niederging.
Der Plan
»Hallo, Micha, schön, daß du anrufst. Was gibt’s denn? Ich wollte gerade aus dem Haus.«
»Ich muß dich sofort sprechen.«
»Heute noch?«
»Oder morgen, jedenfalls so bald wie möglich.«
»Ja ... gut, heute nachmittag hätt ich Zeit, so gegen vier.«
»Okay. Und wo?«
»Komm doch zu mir. Worum geht’s denn?«
»Um deine beschissenen Mitbringsel!« schrie Micha in den Hörer. Was hatte der Kerl nur aus ihm gemacht? Seine wiedergewonnene Selbstbeherrschung war offenbar nur ein dünnes Häutchen, das bei der geringsten Erschütterung riß.
»Wird ja auch Zeit. Du hast ne ganz schön lange Leitung, das muß ich schon sagen. Hab schon viel früher mit dir gerechnet.«
Micha biß die Zähne zusammen und ignorierte Tobias’ Bemerkungen.
»Bis später.«
»Ja, ich erwarte dich.«
Gegen Mittag rief Claudia an und erkundigte sich nach seinem Befinden. Er hatte mit so etwas gerechnet und sich für diesen Fall eine ziemlich windige Erklärung zurechtgelegt, etwas von einem Referat, das er bis morgen fertiggestellt haben müßte und das ihm schreckliches Kopfzerbrechen bereitete. Deshalb sei er in der Bibliothek so nervös gewesen. Claudia schien das zu schlucken, jedenfalls bohrte sie nicht weiter nach und wünschte ihm nur viel Erfolg. Sie sagte noch, er solle doch mal wieder bei ihr vorbeikommen, und außerdem könnte er ihr bei Gelegenheit einmal seine Fossiliensammlung zeigen. Sie fände das sehr aufregend. Er war heilfroh, als sie endlich auflegte.
Den Rest des Tages verbrachte er damit, dem Treffen mit Tobias entgegenzufiebern. Er befand sich in einem eigentümlichen Schwebezustand zwischen Wachen und Träumen. Selbst die alltäglichsten Verrichtungen schienen ihm plötzlich tiefere Geheimnisse zu bergen. Seine beiden Mitbewohner, denen er nur kurz beim Frühstück begegnet war, warfen sich vielsagende Blicke zu: zu tief ins Glas geschaut oder frisch verliebt.
Gegen zwei Uhr hielt er es nicht mehr aus und machte sich auf den Weg. Er fuhr eine große Schleife durch die Stadt, um nicht allzufrüh bei Tobias einzutreffen, und stand kurz nach drei vor dessen Wohnungstür.
»Ah, Tag Micha, da bist du ja schon. Komm rein!«
Ohne ein Wort zu sagen, betrat er die Wohnung. Am liebsten wäre er Tobias sofort an die Gurgel gesprungen, hätte ihn gewürgt und hin und her geschüttelt und gefragt, was er sich dabei gedacht habe, warum er aus einem ausgeglichenen und friedliebenden Menschen wie ihm ein einziges Nervenbündel gemacht habe, ob ihm so etwas Spaß mache. Aber er tat nichts dergleichen.
Gleich neben der Wohnungstür befand sich der Eingang zur Küche, und, ohne zu zögern, nahm er an dem kleinen, quadratischen Küchentisch Platz, kramte seine Zigaretten aus der Lederjacke und zündete sich eine an.
»Magst du einen Kaffee oder lieber Tee?« fragte Tobias und machte sich am Herd zu schaffen.
»Kaffee!« antwortete Micha und versuchte ruhig zu bleiben.
Tobias setzte Wasser auf und füllte ein paar Löffel Kaffeepulver in eine weiße Kanne.
»Du hast also endlich herausgefunden, wo der Käfer und die Pflanze herstammen, ja?« Er warf Micha einen flüchtigen Blick zu, als er Zucker und Milch auf den Tisch stellte.
»Also ich muß dir sagen, daß ich anfangs total sauer auf dich war wegen dieses lächerlichen Versteckspiels, aber jetzt .« Er wollte so richtig Dampf ablassen, kam aber gleich wieder ins Stocken.
»Was ist jetzt?«
»Ach, ich weiß auch nicht. Ich blick nicht mehr durch.«
Tobias goß das Kaffeewasser in die Kanne und rührte mit einem Löffel eine Weile darin herum. »Was hast du denn nun herausgefunden?« Er schaute erwartungsvoll.
»Sie stammen nicht aus der Slowakei.«
»Hmm . Dafür hast du so lange gebraucht?«
»Scheiße, jetzt mach mich bloß nicht an, ja!« brüllte er, und Tobias hob beruhigend die Hände.
»Micha, was hätte ich denn tun sollen, he? Wenn ich dir einfach nur erzählt hätte, woher sie stammen, hättest du es mir dann geglaubt?«
»Was geglaubt?«
»Na, daß sie aus der Vorzeit stammen. Aus dem Eozän, um genau zu sein.«
Jetzt war es heraus! So deutlich hatte er es für sich bisher nicht zu formulieren gewagt. Er hielt sich unwillkürlich die Hände über die Ohren, und sein ganzer Körper verkrampfte sich.
»Aber das ist unmöglich!«, rief er.
»Wieso unmöglich? Du hast den Käfer doch selbst gesehen.«
»Den kannst du in einem Laden gekauft haben, in diesem Naturaliendingsda.«
Tobias schüttelte lächelnd den Kopf.
»Oder du warst gar nicht in der Slowakei, sondern irgendwo in den Tropen, in Indonesien, oder weiß der Himmel.«
»Nein. Du glaubst doch selbst nicht, was du da sagst.« Er schaute ihn eindringlich ein. »Ich war in der Slowakei, und ich bin in die Höhle gefahren.«
»Was für eine Höhle?«
Micha sprang auf, saugte gierig an seiner Zigarette und lief in der Küche auf und ab. Tobias stellte Kaffeekanne, Milch, Zucker und zwei Tassen auf ein Tablett und sagte: »Komm, wir trinken unseren Kaffee drüben. Da ist es gemütlicher.«
Micha folgte ihm durch die Diele in ein Zimmer, das von der tiefstehenden Sonne hell erleuchtet war. Kaum trat er über die Türschwelle, blieb er wie angewurzelt stehen.
»O Gott!« entfuhr es ihm.
Das ganze Zimmer wimmelte von Dinosaurierfiguren in allen Größen, Formen und Ausführungen, Dinosaurier aus Metall, aus Plastik, aus Holz und Stein, als Radiergummi, Briefbeschwerer oder Buchstopper, in toto oder als Skelett, wie das fast brusthohe Holzgerippe eines auf den Hinterbeinen laufenden Fleischfressers, das direkt neben dem Kachelofen in einer Zimmerecke stand. An den Wänden hingen alte Filmplakate mit grellen Darstellungen diverser Ungeheuer sowie Ausschnitte aus verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften.
»Hab ich so zusammengetragen über die Jahre«, sagte Tobias.
»Da hast du in letzter Zeit ja Schwerstarbeit verrichten müssen.«
»Wieso? Wegen dem Film?«
»Klar.«
Tobias saß jetzt an einem kleinen runden Tisch neben dem Fenster, von wo aus er amüsiert und mit unverhohlenem Stolz verfolgte, wie Micha an den von Saurierfiguren überquellenden Regalbrettern entlangging. »Nein, nein, da bin ich nun doch ein bißchen zu alt für«, sagte er. »Das meiste ist uralter Kram, aber ich bring’s nicht übers Herz, ihn wegzuschmeißen. Ich häng dran.«
Zwischen den vielen kleinen Drachen entdeckte Micha nun auch andere Sammelstücke: Versteinerungen, Ammoniten, einen kleinen Trilobiten, Abdrücke von Farnwedeln und Blättern, Bernsteinbrocken, Muschelschalen und Schneckengehäuse, kleine Kristalle in den verschiedensten Farben und schließlich auch ein Exemplar jenes ominösen, ebenfalls in Kunstharz eingeschlossenen Prachtkäfers, was ihm in aufdringlicher Weise wieder den Grund seines Besuches in Erinnerung rief. Er hatte es plötzlich überhaupt nicht mehr eilig, darüber zu reden.
»Macht wohl etwas Mühe beim Staubwischen, der ganze Scheiß, hm«, sagte er.
Tobias lachte. »Freut mich, daß du deinen Humor wiedergefunden hast. Komm, der Kaffee wird kalt. Milch, Zucker?«
»Nein, schwarz«, erwiderte er und setzte sich endlich, ohne seine Augen von den zahllosen Ausstellungsstücken abwenden zu können.
»Also, jetzt mal im Ernst, du weißt, daß es stimmt, was ich sage, oder?«
»Wissen, wissen«, sagte Micha spöttisch. »Wie kann man so etwas Verrücktes schon wissen? Es würde einiges erklären . aber glauben kann ich es nicht.«
Er griff nach seiner Tasse und rührte mit dem Löffel gedankenverloren darin herum, bis ihm der heiße Kaffee auf die Hose schwappte.
»Mist!«
»Da kannst ja zweifeln, solange du willst, Micha, aber ich sage dir: Es stimmt! Ich war da. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.« Von irgendwoher zauberte er das Bild mit der Höhle hervor, das Micha schon an dem Abend in der Kneipe gesehen hatte, und legte es vor Micha auf den Tisch. »Es gibt diese Höhle, und sie führt in die Urzeit, ob du ‘s glaubst oder nicht.«
Er saß ganz entspannt auf seinem Stuhl, ein spindeldürres Bein über das andere geschlagen, hielt zwischen beiden Händen seine Kaffeetasse und machte ganz und gar nicht den Eindruck, als habe er irgendeine Vorstellung davon, welche Ungeheuerlichkeit er da gerade behauptet hatte.
»Wie kannst du erwarten, daß ich das glaube?« Micha schüttelte den Kopf. »Es ist so . so .«
»Was willst du denn noch? Ich habe dir die Beweise doch geliefert.«
»Beweise, ha!« Micha stellte die Tasse ab und ging in die Küche, um seine Zigaretten zu holen, die er dort auf dem Tisch liegengelassen hatte. »Das reicht mir nicht«, rief er von dort in Richtung Saurierzimmer.
»Welche Beweise würdest du denn akzeptieren?« fragte Tobias, als Micha mit Zigaretten und Aschenbecher zurückkam.
»Ich weiß nicht, ich ... vielleicht müßte ich es sehen.«
»Ja!« rief er. »Genau das will ich doch, Mensch. Ich will zusammen mit dir in die Höhle. Was meinst du, was das alles sonst für einen Zweck hatte?«
»Bist du verrückt?« Ihm krampfte sich bei dieser Vorstellung alles zusammen.
»Ich denke, du willst es selbst sehen?«
»Ja, aber .«
So ging es noch eine ganze Weile. Er wollte es sehen, aber er wollte es auch wieder nicht sehen. Er glaubte kein Wort von der Geschichte, und irgendwie wünschte er doch, sie wäre wahr. Er war hin und her gerissen.
Und Tobias? Was war das eigentlich für ein Mensch, der ihm da gegenübersaß und seinen Kaffee schlürfte. Ein Wahnsinniger, ein infantiler Bekloppter, der es bis heute nicht geschafft hatte, sich von einer fixen Kindheitsidee zu lösen? Ein Besessener, ein hoffnungsloser Fall, der ihn nun auch in seine Wahnwelt hinabziehen wollte? Man mußte sich ja hier nur einmal umsehen, all dies unsägliche Zeug, wie das Zimmer eines Zehnjährigen.
Micha war immer noch völlig verkrampft, jeder Muskel seines Körpers arbeitete, und er hampelte dauernd auf seinem Stuhl herum, weil er nicht wußte, wie er sich hinsetzen sollte.
»Ich schaff es nicht alleine, Micha. Ich will ganz ehrlich sein: Ich hatte solchen Schiß, daß ich mir vor Angst fast in die Hosen gemacht hätte. Im eozänen Dschungel bin ich umgekehrt. Ich hab’s einfach nicht mehr ausgehalten.«
Wie das klang, im Eozän umgekehrt, als sei dies irgendeine geographische Angabe. Dabei war es ein Erdzeitalter, eine Adresse in der Zeit, 50 Millionen Jahre her, eine unfaßbare Zeitspanne. Jedes Kohlenstoffatom, jedes Wassermolekül hatte seitdem wahrscheinlich schon unzählige Male im globalen Kreislauf zirkuliert, nichts war mehr übrig von den Lebewesen dieser Zeit, außer einigen spärlichen Überresten in Form plattgedrückter, von vielen Tonnen Gestein zusammengepreßter Skelette.
»Du willst mir doch wohl nicht im Ernst weismachen, daß diese Höhle in die Urzeit führt und irgend etwas mit dem Film zu tun hat, den wir damals gesehen haben«, sagte Micha.
»Du meinst Die Reise in die Urwelt?« Er lachte. »Natürlich nicht, für wie blöd hältst du mich eigentlich? Das ist einfach nur ein verrückter Zufall, nichts weiter. Ich bin da herumgefahren und stand plötzlich vor diesem Loch im Berg. Natürlich mußte ich in diesem Moment auch an Zemans Film denken, aber er hatte sicher nicht die leiseste Ahnung, wie nah er damit der Wirklichkeit gekommen war. Außerdem sieht Zemans Höhle ganz anders aus.«
Irgendwie hätte es ihn gereizt, da hineinzufahren, erzählte Tobias. Vielleicht habe die Erinnerung an den Film dabei auch eine Rolle gespielt, aber für einen angehenden Geologen besäßen Höhlen auch so eine unwiderstehliche Anziehungskraft. Er hatte sogar ein Kunststoffboot gekauft, das dort auf sie warten würde. Eine Petroleumlampe sei auch vorhanden. Alles sei vorbereitet.
Er redete lange auf ihn ein.
Die Leute in der Gegend seien sehr zugeknöpft gewesen, wenn er die Sprache auf die Höhle brachte. Unter den Einheimischen in der unmittelbaren Umgebung, offensichtlich ziemlich abergläubische Leute, galten die Höhle und der angrenzende Wald als verrufenes Gebiet, in das man sich nicht gerne hineinwagte. Nur ein zahnloser Alter habe ihm mehr erzählt. Im Flüsterton sprach er von der Teufelshöhle, die, solange man denken könne, immer wieder Opfer gefordert habe. Leute seien hineingefahren und für immer verschwunden. Tobias erzählte, ein Neffe des Alten habe zwar alles in ein englisch-deutsches Mischmasch übersetzt, dabei aber immer wieder mit der Hand vor seinen bebrillten Augen hin und her gewischt, wohl um anzudeuten, daß der Alte übergeschnappt sei und man sein Gefasel nicht ernst nehmen sollte.
Gegen Ende wurde Tobias immer nervöser. Wahrscheinlich spürte er, daß er mit seinen haarsträubenden Geschichten nicht bis zu seinem alten Schulfreund durchdrang. Micha schüttelte bei alldem nur immer wie unter Zwang den Kopf.
Nein, dazu würde Tobias ihn nie überreden können. Er war kein kleiner Junge mehr, der voller Begeisterung nach seinen Hirngespinsten griff, weil ihm selber nichts einfiel.
Aber abgesehen von dem Käfer und der Seerose und dem ganzen Unsinn mit der Reise in die Urzeit, gab es da noch etwas, das Micha brennend interessierte. Es fiel ihm schwer, Tobias danach zu fragen, aber es mußte einfach sein.
»Sag mal, noch was ganz anderes, diese Schwarzhaarige ...«
»Welche Schwarzhaarige?«
»Na die, die du neulich begrüßt hast, bei dem Colloquiumsvortrag. Sie war mit diesem Gartenzwerg da.«
»Ach, du meinst Ellen, Sonnenbergs Assistentin.«
»Das ist seine Assistentin?« Micha war verblüfft, ohne so recht zu wissen, warum. Es lag ja eigentlich nahe.
»Ja, warum nicht? Meinst du, sie sieht zu gut aus dafür?«
»Was? Nein, natürlich nicht, ich meine .«
»Na ja, sag doch, was du meinst!« In seine Augen trat ein lauernder Ausdruck. »Du bist scharf auf sie.«
»Quatsch, ich hab sie doch nur einmal gesehen.«
»Tu nicht so! Einmal reicht. Alle sind scharf auf sie.«
»Und .«
»Was und?« Tobias sah ihn forschend an, und Micha verfluchte sich schon, daß er überhaupt nach ihr gefragt hatte.
»Du willst wissen, ob ich etwas mit ihr habe, stimmt’s? Du, laß die Finger von ihr. Sie ist ein Eisblock, wunderschön, aber kalt und steif wie ein Brett.«
»Na, hör mal. Da hatte ich aber einen ganz anderen Eindruck.«
»Ja, ja, ich kenn das. Du brauchst mir nichts zu erzählen. Ich will dich nur warnen. An der hat sich schon der halbe Campus die Zähne ausgebissen.«
»Aber du nicht, oder wie?«
Tobias setzte ein derart widerliches, selbstverliebtes Grinsen auf, daß Micha ihn am liebsten gepackt und in diese Regale voller pubertärer Scheußlichkeiten geschleudert hätte. Hatte er sich dieses Grinsen angewöhnt, seit er den bescheuerten Diamanten im Zahn hatte?
»Wenn du es unbedingt genau wissen willst«, sagte Tobias, und jedes einzelne Wort traf Micha wie ein glühendes Eisen, »wir haben einmal zusammen geschlafen, vor ein paar Monaten, aber ich kann nicht gerade behaupten, daß es eine besonders beglückende Erfahrung war.«
Lügner! dachte Micha. Lügner, Lügner, Lügner. Der Kerl log doch, wenn er das Maul aufmachte. Entweder das Ganze war ein einziges Hirngespinst, Angeberei der schlimmsten, der lächerlichsten Sorte, oder es war ihm schon gekommen, als sie ihn nur einmal scharf anguckte und sich mit der Zunge die Lippen befeuchte. Verdammt, er mußte raus hier.
Tobias rief ihm im Treppenhaus noch hinterher, daß er sich sein Angebot überlegen solle, daß er schwöre, nur die Wahrheit gesagt zu haben.
In der Folge entwickelte das, was Tobias ihm erzählt hatte, ein fatales Eigenleben, weniger das mit Ellen, davon glaubte er kein Wort, sondern das andere, diese verrückte Reise, die er mit ihm unternehmen sollte. Er konnte an nichts anderes mehr denken, hatte Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, schlief, von Alpträumen und Schreckensvisionen verfolgt, miserabel, und selbst seine besten Freunde fühlten sich bald vernachlässigt, weil er sich kaum noch bei ihnen meldete. Zweimal ging er abends mit Claudia aus, in der vergeblichen Hoffnung, das könne ihn etwas ablenken. Beim zweiten Mal landeten sie sogar bei ihm zu Hause auf dem Bett, brachen ihre Bemühungen aber bald ab, weil er mit seinen Gedanken ganz woanders war. Claudia war ziemlich sauer, als sie ging.
Das schlimmste war, daß er mit niemandem reden konnte. Wem sollte man eine solche Geschichte schon auftischen, ohne Mitleid oder schallendes Gelächter zu ernten. Zwei-, dreimal rief Tobias an, wohl um ihn weiter zu bearbeiten, aber Micha legte möglichst schnell wieder auf, weil diese Telefonate das bißchen Stabilität, das er sich in der Zwischenzeit aufgebaut hatte, wieder zusammenbrechen ließen wie ein wackliges Kartenhaus.
Mit der Zeit wurde ihm aber klar, daß es nur eine Möglichkeit gab, diesem Alptraum ein Ende zu setzen. Er mußte auf Tobias’ Ansinnen eingehen und mit ihm zu dieser verfluchten Höhle reisen. Nur dort, in der Höhle des Löwen sozusagen, konnte er Tobias und sich selbst beweisen, daß die Welt noch so war, wie sie ihm bis vor kurzer Zeit erschienen war, chaotisch zwar, völlig außer Rand und Band und mit Karacho der sicheren Apokalypse entgegenschlingernd, aber doch nicht so verrückt, als daß in ihr irgendwelche obskuren Schlupflöcher in längst vergangene Erdzeitalter Platz gehabt hätten.
»Is ja super, Mann! Wahnsinn!« rief Tobias, als er ihm seinen Entschluß am Telefon mitteilte. Er war völlig aus dem Häuschen.
»Hör zu, erwarte bitte keine allzu große Begeisterung von mir«, versuchte Micha seine Euphorie zu bremsen. »Ich brauche Klarheit, verstehst du, sonst drehe ich durch.«
»Klar, Micha, versteh ich vollkommen. Aber wir müssen uns langsam ranhalten. Es gibt jetzt unendlich viel zu besprechen.«
Da hatte er wahrscheinlich recht, denn sie hatten mittlerweile Mitte Dezember. Wenn sie die Sache in den kommenden Semesterferien hinter sich bringen wollten, und dazu war er fest entschlossen, er wollte diese Angelegenheit so schnell wie möglich aus der Welt schaffen, dann blieben ihnen gerade noch zwei Monate für die Vorbereitung dieses Unternehmens. Wahrscheinlich war es ziemlicher Wahnsinn, Mitte Februar in die Slowakei fahren zu wollen, aber es mußte jetzt bald geschehen. Bis zum Sommer zu warten, war für ihn eine unerträgliche Vorstellung. Und Tobias war begeistert von seinem plötzlichen Elan. Tatsächlich verschaffte Micha diese Entscheidung etwas Erleichterung, so als hätte er nach längerer Verstopfung endlich einmal wieder auf der Toilette gesessen.
Er traf sich nun regelmäßig mit Tobias, um die Einzelheiten zu besprechen, wer sich um was zu kümmern hatte, wer Zelt, Kochgeschirr, Lebensmittel, Fotoausrüstung, und was man sonst so für eine Reise in die Urzeit brauchte, besorgen sollte und so weiter. Insgesamt planten sie etwa sechs bis acht Wochen ein. Hin und wieder fand Micha sogar zu seinem Humor zurück, aber es war ein böser, sarkastischer Humor, und manchmal stand er vor dem Spiegel, schaute in sein vertrautes Milchbubigesicht und dachte: Du bist übergeschnappt, mach du nur weiter so. Irresein fängt immer so an.
Ende Januar traf er Claudia noch einmal. Da er nun davon ausging, daß der Spuk bald vorüber sein würde, ging es ihm deutlich besser, und sie verbrachten einen netten Abend zusammen. Sie sahen sich endlich Jurassic Park im Kino an, und angesichts der zahlreichen, überzeugend lebensechten Saurier, die den Streifen bevölkerten, lief ihm eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken, wie er es schon seit Jahren nicht mehr erlebt hatte. Tobias hatte vom Eozän gesprochen. Wenn überhaupt irgendwohin, zu den Sauriern führte diese Höhle jedenfalls nicht. Das war beruhigend und enttäuschend zugleich. Wenn Tobias sich schon so einen himmelschreienden Blödsinn ausdachte, warum dann nicht gleich mit den richtigen Akteuren, den ungekrönten Majestäten der Vergangenheit? Wahrscheinlich hatte er befürchtet, das Ganze klänge dann von vornherein noch unglaubwürdiger.
Später beim Bier kamen sie auf die bevorstehenden Semesterferien zu sprechen. Während Claudia erklärte, sie sei noch unschlüssig, ob sie wegfahren solle, sie hätte sich eigentlich vorgenommen, endlich ihre Arbeit fertigzustellen, erzählte er von seiner Reise in die Slowakei.
»Ungewöhnlich«, war ihr erster Kommentar. Genau dasselbe hatte er auch gesagt, als Tobias ihm von seinen Plänen erzählt hatte, damals in dem Cafe.
»Und was wollt ihr da machen?« fragte sie.
»Na, rumreisen, Ski fahren, wandern, lesen, was man halt so macht im Urlaub. Du stellst vielleicht Fragen.«
»Hmm.« Sie schaute ihn, an ihrem Bier nippend, mit großen Augen an. »Is das derselbe Freund, der dir die Pflanze mitgebracht hat?«
»Ja, Tobias, warum?«
»Ach, nur so. Und wo genau wollt ihr da hin?«
Komisch, das wußte er selbst nicht. Tobias hatte mit keinem Wort erwähnt, wo diese seltsame Höhle lag. Bisher hatten sie nur Bahnkarten nach Prag gekauft. Daß das, was sie suchten, wie in dem Film eine Höhle sein sollte, fand er irgendwie phantasielos. Es hätte doch etwas anderes sein können, ein Vulkan wie bei Jules Verne oder ein Mahlstrom wie bei Poe.
»Hohe Tatra«, sagte er aufs Geratewohl, weil ihm diese Gegend noch irgendwie in Erinnerung war.
»Ach so, ja, davon habe ich auch schon gehört. Da kommen die slowakischen Wintersportler her.«
Sie saßen einige Minuten schweigend da, und er rauchte und versenkte sich in den Anblick ihrer neuen blonden Stoppelfrisur. Sie hatte früher schulterlange, sehr lockige Haare gehabt und trug seit ein paar Tagen einen ziemlich radikalen Kurzhaarschnitt.
»Stehen dir gut, die Haare, meine ich.«
»Findest du?« Sie fuhr sich mit der Hand durch die Stoppeln und lachte. »Ist noch sehr ungewohnt.«
»Das glaub ich.«
»Hat dir dein Freund eigentlich mal erzählt, wo er die Pflanze nun her hatte, die du mir gezeigt hast?« fragte sie plötzlich. Er erschrak fürchterlich.
»Ach so, die Pflanze, ja, haha, die . die stammte tatsächlich von da unten.«
»Von wo unten?«
»Na, aus Indonesien, wie du gesagt hast. War wirklich nur ein dummer Scherz von ihm.«
»Das kann man wohl sagen. Aber sonst versteht ihr euch gut, ja?«
»Och, ja, klar.«
»Ich frag nur, weil du doch ziemlich sauer auf ihn warst, wenn ich mich recht erinnere. Und jetzt willst du plötzlich mit ihm verreisen. Ist doch irgendwie seltsam, findest du nicht?«
»Wir haben uns eben wieder vertragen«, erwiderte er kurz angebunden. Er sah ihr an, daß sie ihm kein Wort glaubte.
»Na, ich wünsche euch jedenfalls viel Spaß zusammen«, sagte sie noch. »Hoffentlich schlagt ihr euch nicht gegenseitig die Schädel ein, wenn deinem Freund noch mehr so merkwürdige Scherze einfallen.«
Enameloid von Prionace
Axt saß an diesem trüben Februartag schon sehr früh an seinem Schreibtisch in der Station, weil er versuchen wollte, endlich den Artikel fertig zu schreiben, mit dem er sich nun schon seit Wochen herumquälte. Früher ging ihm so etwas leichter von der Hand. Neben ihm lagen Stapel von dicken Büchern und Fotokopien von Fachaufsätzen, und ihm kam plötzlich der Gedanke, daß er schon seit Ewigkeiten kein normales Buch mehr gelesen hatte. Er las überhaupt nichts anderes mehr als dieses trockene Fachchinesisch mit Titeln, die jedem normalen Menschen wie Überschriften irgendwelcher mystischer Geheimliteratur erscheinen mußten, Titel wie »Vergleichende Osteologie und Phylogenie der Anabantoidei«, »Enameloid von Prionace« oder etwas in der Richtung. Klar, sein Spezialgebiet waren die Fische, und so lauteten heute nun einmal die Überschriften wissenschaftlicher Veröffentlichungen, aber das, was ihm seit Jahren vertraut war, kam ihm plötzlich reichlich absurd vor.
Er mußte grinsen. Früher war das anders. Karl von Frisch, der berühmte Bienenforscher, hatte in den zwanziger Jahren einmal einen Artikel mit dem genialen Titel »Ein Zwergwels, der kommt, wenn man pfeift« veröffentlicht. Dabei handelte es sich sogar um eine angesehene Fachzeitschrift. So etwas würde heute kein Mensch mehr wagen. Auch wenn es in modernen Veröffentlichungen um ganz einfache Dinge ging, mußten sie hinter möglichst kryptischen Titeln verborgen werden. Geschadet hatte es von Frisch offensichtlich nicht. Jahre später bekam er den Nobelpreis, allerdings nicht für seine Arbeit über den folgsamen Zwergwels.
Vielleicht sollte er es auch einmal in dem Stil versuchen. »Ein 50 Millionen Jahre alter Fisch, der nicht stinkt, wenn man ihn ausgräbt« wäre doch nicht schlecht. Oder: »Über Ölschiefer, der weder Öl noch Schiefer enthält, dafür aber jede Menge anderer interessanter Sachen«. Er lachte in sich hinein.
»Na, dir scheint’s ja gut zu gehen«, sagte Sabine, die mit der Stationspost in der Hand am Türpfosten lehnte. »Freut mich! Ehrlich! Ich hab dich schon ewig nicht mehr lachen hören.«
»Unsinn«, erwiderte Axt. »Du mußt dich täuschen.«
»Nein, nein, das kannst du dir von einer alten Freundin ruhig einmal sagen lassen.« Sie legte ihm die Post auf den Schreibtisch. »Hier, vielleicht findest du ja da noch etwas, worüber du dich amüsieren kannst.«
Axt schaute ihr lächelnd hinterher, als sie den Raum verließ. Dann ging er den Poststapel durch und stieß auf einen großen Briefumschlag mit dem Absender des Geologischen Instituts. So wie sie hier in Messel hatten wohl auch die Geologen die Wintermonate dazu genutzt, um endlich Daten auszuwerten und zur Veröffentlichung vorzubereiten, denn der Umschlag enthielt einen Artikel, den Niedner und seine Mitarbeiter für eine geologische Fachzeitschrift geschrieben hatten. Er faßte die ersten Ergebnisse ihrer Untersuchungen in Messel zusammen.
Auf Seite drei war eine Karte der Grube abgedruckt. Darüber hatten sie ein schachbrettartiges Raster gelegt. In den Kreuzungspunkten befanden sich jeweils die Bohrlöcher. Irgendwo in der Nähe des steilen Grubenrandes, da, wo die Linien II oder III langführten, mußte das große Krokodil liegen. Es war wirklich ein bemerkenswert großer Wirbel, und alle waren in heller Aufregung gewesen. Axt schätzte, daß das vollständige Tier mindestens drei Meter lang sein mußte. Gegen seinen erbitterten Widerstand hatten die anderen das Krokodil auf den Namen Messi getauft. Er bekam jetzt noch eine Gänsehaut, wenn er daran dachte. Messi, so ein Unsinn.
Sie hatten damals lange diskutiert, was sie tun sollten. Das Skelett lag etwas abseits ihrer augenblicklichen Grabungsstellen. Sie gingen natürlich nach einem bestimmten Plan vor, gruben nicht wahllos mal hier, mal dort, sondern tasteten sich systematisch voran. Das Gebiet, in dem sie das Krokodil vermuteten, wäre eigentlich erst sehr viel später an die Reihe gekommen, und sie hätten die gesamte Planung umstellen müssen, wenn sie es sofort aus dem Schiefer holen wollten. Also beschlossen sie nach Rücksprache mit Schmäler, das Skelett zunächst dort zu belassen, wo es war. Schließlich gab es keinen sichereren Aufbewahrungsort als den Messeler Schiefer, in dem das Fossil schon die letzten 50 Millionen Jahre überdauert hatte.
Plötzlich fiel ihm auf, daß das Riesenkrokodil unmittelbar neben der Stelle lag, wo die Belgier letztes Jahr gegraben hatten. Es hätte nicht viel gefehlt und die Kollegen aus Brüssel wären mit einem wirklich spektakulären Fundstück nach Hause gefahren. Na ja, dicht daneben ist auch vorbei, dachte Axt und schnaubte kurz durch die Nase.
Er mochte Prof. Lenoir und seine Mitarbeiter. Sie kannten sich seit vielen Jahren. Aber auch die kollegialste Zusammenarbeit hatte irgendwo ihre Grenzen. Als die Belgier einmal bei einer einzigen Grabungskampagne eine unverschämte Glückssträhne hatten und nicht weniger als fünfzehn vollständige Fledermausskelette zu Tage beförderten, bekam Sabine einen schweren Heulkrampf und war danach tagelang nicht mehr ansprechbar. Und Axt konnte es ihr wirklich nicht verdenken. Er war entschieden der Meinung, daß die wichtigsten ihrer Fundstücke hier in Deutschland zu bleiben hatten. Dieses Krokodil hatte hier gelebt, war hier gestorben und sollte nun auch der hiesigen Wissenschaft und Öffentlichkeit zur Verfügung stehen.
Er blätterte langsam durch das schmale Heftchen und überflog den Text. Viel Neues hatte der Artikel nicht zu bieten, aber er stellte ja nur eine erste Übersicht über die durchgeführten Untersuchungen dar. Wirklich interessant würde erst die Feinuntersuchung werden, der genaue Verlauf der Schichten, die exakte Altersstruktur, die Lage von Bruchkanten und Verwerfungen, aber dazu war sicher noch viel mühsame Arbeit zu verrichten.
Seine Sympathie für die von den Geologen geleistete Arbeit schlug abrupt in blankes Entsetzen um, als er in der abschließenden Diskussion auf folgende Sätze stieß:
Im Bohrkern des Loches II 37 stießen die Verfasser in 2,48 m Tiefe übrigens auf einen vollkommen intakten Wirbelknochen. Wie eine genaue Untersuchung durch Dr. Helmut Axt von der Messeler Senckenberg-Station ergab, handelt es sich um den Halswirbelknochen eines eozänen Krokodils, vielleicht eines Asiatosuchus germanicus. Aufgrund der Größe des Knochens kann auf ein sehr großes Exemplar geschlossen werden.
Ein ungewöhnlich heftiger Wutanfall stieg in ihm auf wie glühendes Magma in einem Vulkanschlot.
»Das gibt’s doch nicht!« rief er aus und hämmerte mit der Faust auf die Schreibtischplatte. Und er war auch noch so gutgläubig gewesen und hatte Niedner sofort informiert. Sie hätten gleich dazu schreiben sollen, daß die Ausgrabungsstelle am Sonntag um dreizehn Uhr zur öffentlichen Ausschlachtung freigegeben war. Wußte der Mann denn nicht .
Ein Ruck ging durch seinen Körper und mit hastigen Bewegungen suchte er Niedners Telefonnummer heraus. Zwei Minuten später schallte dessen Stimme aus dem Telefonhörer.
»Ja, Niedner hier?«
»Axt, Messel.«
»Ach, Herr Axt, was machen die Menschenknochen, haha? Wie geht es .«
»Sagen Sie mal, sind Sie eigentlich von allen guten Geistern verlassen?« polterte Axt los. Er war keineswegs zu Scherzen aufgelegt und schon gar nicht, wenn es um Menschenknochen ging. Er war ganz im Gegenteil schrecklich wütend.
»Äh, ich verstehe nicht recht.«
»Ich rede von Ihrem Artikel.«
»Ja, und?«
»Warum haben Sie nicht gleich eine Zeitungsannonce aufgegeben. Riesenkrokodil meistbietend zu verhökern oder so. Haben sie die Stelle eigentlich mit bunten Fähnchen markiert?«
»Ich verstehe immer noch nicht.«
»Natürlich verstehen Sie nicht. Wenn Sie auch nur irgend etwas verstanden hätten, dann hätten Sie diese Krokodilgeschichte in Ihrem langweiligen Artikel wohl kaum erwähnt, geschweige denn, mit genauer Angabe der Tiefe und des Fundortes. Mir fehlen die Worte für soviel Ignoranz.«
»Also, hören Sie mal .«
»Nein, Sie hören jetzt zu! Wissen Sie überhaupt, was MesselFossilien auf dem Schwarzmarkt wert sind? Ein Krokodil dieser Größe bringt wahrscheinlich mehrere zehntausend Dollar.«
»Oh, das wußte ich nicht«, sagte Niedner kleinlaut.
»Ja, das kann ich mir denken. Sie haben wohl auch nicht gewußt, daß Sammler, die soviel Geld dafür hinblättern, geologische Fachzeitschriften lesen und auf solche Informationen ganz versessen sind? Das sind keine naiven Idioten. Haben Sie sich überhaupt irgend etwas gedacht mit Ihrem versteinerten Geologenhirn?«
»Nun reicht’s, Axt. Ihr Ton ist absolut unangemessen.«
»So, finden Sie? Angemessen wäre, wenn Sie uns die Wachmannschaften bezahlen, die jetzt eigentlich für die nächsten Jahre die Grube bewachen müßten. Vielleicht sollten Sie uns Ihre Artikel in Zukunft zur Durchsicht vorlegen, bevor Sie so einen Mist verzapfen.«
»Ich beende jetzt unser Gespräch!«
»Soweit kommt’s noch. Hören Sie sich ruhig an, was ich zu sagen habe. Sie haben nämlich das Glück, mich in einer Verfassung zu erleben, die nicht allzuhäufig vorkommt.« Axt holte noch einmal tief Luft. Dann brüllte er in die Leitung: »Das ist eine gottverdammte Schweinerei, die Sie uns da eingebrockt haben. Auf Wiederhören!« und knallte den Hörer auf die Gabel.
So, jetzt ging es ihm besser. Das hätte er schon viel früher machen sollen, irgendwo einmal richtig Dampf ablassen. Er wollte gerade die Whiskyflasche aus seinem Schreibtisch nehmen, als es vorsichtig an der Tür klopfte und kurz darauf Sabines Gesicht ins Zimmer schaute.
»Ist irgend etwas, Helmut?« fragte sie mit besorgter Miene.
»Natürlich ist was. Warum sollte ich hier sonst so rumbrüllen, verdammt noch mal.«
Er griff nach dem Artikel und warf ihn Sabine entgegen. Wie ein zu groß geratener Schmetterling flatterte das Papier durch sein Arbeitszimmer und landete auf halbem Wege neben einer auf dem Fußboden stehenden Yucca-Palme.
»Lies selbst! Auf der letzten Seite«, sagte er und goß sich dann seinen wohlverdienten Drink ein.
Vorräte und Reiseutensilien begannen sich zu stapeln. Eva und Rainer, Michas Mitbewohner, verfolgten anfangs belustigt, später staunend, was sich da in imposanten Mengen auf dem Fußboden neben seinem Kleiderschrank anhäufte.
»Wo wollt ihr hin?« fragte Eva zum wiederholten Male und grinste, während Meier, der schwarz-weiße WG-Kater, schnurrend an den Büchsentürmen vorbeistrich. »Ihr habt wohl Angst, daß es da nichts zu essen gibt.«
»Ich hab wirklich noch nie gesehen, daß einer kiloweise Reis, Spaghetti, Kaffee, Zucker und so’n Zeug mitschleppt«, bemerkte Rainer. »Wollt ihr in die Antarktis?«
Micha hatte sich schon lange abgewöhnt, darauf zu reagieren. Am besten war es, sie einfach zu ignorieren, sonst lief man nur Gefahr, unangenehme Fragen zu provozieren. Als er eines Tages ungefähr zehn Tuben Tomatenmark und ebenso viele Büchsen Pfirsiche, Birnen und Gulasch die vier Treppen hochschleppte, hielten sie ihn endgültig für übergeschnappt.
»Kannst du mir mal verraten, wie ihr das alles tragen wollt?« fragte Eva, womit sie den Nagel auf den Kopf traf. Genau das hatte er sich auch gerade gefragt. Aber er sagte nichts, sondern stürmte wieder aus der Wohnungstür, um Vitamintabletten, Antibiotika, Pflaster und ähnliches zu besorgen. Nur gut, daß man in der Urzeit kein Geld braucht, dachte er, denn seines ging schon im Vorfeld ihrer Reise bedenklich zur Neige. Das Ganze entpuppte sich als ziemlich teurer Spaß.
Tobias kümmerte sich um Zelt, Schlafsäcke, Kocher und alles andere, was zu einer anständigen Expedition gehörte, während er sich um ihr leibliches Wohl sorgen sollte. Das alles war ziemlich verrückt, und er konnte es Eva und Rainer nicht verübeln, daß sie sich darüber lustig machten.
Sie hatten zwei alte Koffer organisiert, in die sie ihre Vorräte pressen wollten, was ihnen bei einem Probepacken unter größten Mühen auch gelang. Allerdings zerrissen dabei eine Tüte Naturreis und ein Paket Zucker, und es gab eine Riesenschweinerei auf Michas Teppichboden. Jeder hatte neben einem prallgefüllten Rucksack einen dieser bleischweren Koffer zu tragen, was mit Sicherheit kein Vergnügen sein würde.
Als ihre Abreise schließlich immer näher rückte, machte sich in ihm eine rastlose Nervosität breit, die durch nichts mehr zu beruhigen war.
»Meine Güte, hast du Hummeln in der Hose?« fragte Eva, als sie wenige Tage, bevor es losgehen sollte, mitansah, wie er hastig seine Frühstücksbrote in sich hineinstopfte, den Kaffee hinterherkippte und sofort danach, noch kauend, in sein Zimmer stürzte, um eine Liste aller Vorräte anzufertigen.
Was, wenn Tobias nun die Wahrheit erzählt hatte? Nur mal angenommen, nur so als Gedankenspiel. Alles mußte dann peinlich genau kontrolliert werden, damit sie ja nichts vergaßen. Er versuchte solche Gedanken zwar von sich abzuschütteln, aber das führte genau zu dieser unglaublichen Hektik, die es ihn nirgendwo lange aushalten ließ und die allen, die mit ihm zu tun hatten, zunehmend auf die Nerven ging.
Wenige Tage vor ihrer Abreise rannte er noch einmal kurz entschlossen aus der Wohnung, um in der Innenstadt eine Karte der Slowakei zu kaufen. Er war der festen Überzeugung, die würde ihnen letztlich mehr von Nutzen sein als die Tabelle der Erdzeitalter, die Tobias eingepackt hatte. Im Landkartenladen traf er überraschenderweise auf Claudia.
»Was machst du denn hier?« fragte Micha, als er sie, einen kleinen Rauhhaardackel an der Leine führend, vor den Regalen stehen sah. Sie zuckte zusammen.
»Na, ich stöbere nur so rum«, sagte sie, und ihr Blick flatterte unruhig zwischen ihm, dem Dackel und irgendwelchen Punkten im Raum hin und her.
»Ist das deiner?« Er wies auf den Hund.
»Ja, das ist Pencil.«
»Ah, ja, Pencil also.« Ihm fiel auf, daß sie eine Karte in der Hand hielt.
»Was hast’n da?« Sie wollte ihre Hand wegziehen, aber er hatte schon zugegriffen.
»Tschechoslowakei? Willst du jetzt auch dahin?«
»Nein, ach, ich ...« Sie schüttelte energisch den Kopf und riß ein paarmal unvermittelt an der Hundeleine, als ob sie ihren Dackel bändigen wollte. Pencil hockte aber ganz brav neben ihr und schaute verwundert nach oben. »Die fiel mir gerade in die Hände, und da du erzählt hast, daß du dahin fahren . Ja, komisch, ich hatte gerade an dich gedacht.«
»Na, wenn du sie nicht willst, kannst du sie ja mir geben. Deswegen bin ich nämlich hier.«
»Klar! Bitte!«
Er griff nach der Karte und warf kurz einen prüfenden Blick auf den Umschlag.
»Geht’s bald los bei euch?« fragte sie.
»Ja, in vier Tagen fahren wir nach Prag.«
»Na, dann viel Spaß.«
»Ja, danke. Du, ich hab’s eilig. Bis nach den Ferien dann.«
»Tschüs!«
»Tschüs!« rief er, schon auf dem Weg zur Kasse. Plötzlich machte er auf dem Absatz kehrt und umarmte sie. »Wo fährst du denn jetzt hin?« fragte er und küßte sie auf die Wange.
»Ich bleibe hier und schreibe meine Arbeit zusammen.«
»Klingt ja echt aufregend. Und da wolltest du wenigstens hier etwas vom Duft der großen weiten Welt schnuppern, was?«
Sie zuckte mit den Achseln und zog die Augenbrauen nach oben. »Nicht jeder hat es eben so gut wie du.«
»Wir sprechen uns nachher wieder«, sagte er voller dunkler Vorahnungen.
Er zahlte, winkte ihr noch einmal zu und verließ den Laden, um direkt zu Tobias zu fahren. Eigentlich war er ja immer noch der Meinung, sie würden eine ganz normale Urlaubsreise antreten, sofern eine Fahrt in die Slowakei zu dieser Jahreszeit als normal anzusehen war, aber er war vor einer Reise noch sie so aufgeregt gewesen. Er mußte noch einmal mit Tobias reden. Womöglich hatten sie etwas Wichtiges vergessen.
Als ob sie noch nicht genug zu tragen hätten, tauchte Tobias kurz vor ihrer Abreise plötzlich mit einem Zehn-Liter-Plastikkanister auf und behauptete, den müßten sie unbedingt mitnehmen, der sei für Trinkwasser gedacht und für sie so lebenswichtig, daß sie ohne ihn gar nicht erst aufzubrechen brauchten. Micha fand, daß ihre Gepäckmassen auch ohne den Kanister schon mehr als zumutbar waren, aber Tobias meinte, ihm sei eingefallen, daß sie hinter der Höhle mitten im Meer landen würden und daß sie ohne Trinkwasservorrat verloren seien beziehungsweise gleich wieder umdrehen könnten.
Von einer Ankunft im Meer war bisher noch nie die Rede gewesen, und Micha fiel aus allen Wolken. Die Sache brachte ihn so aus dem Konzept, daß er in eine große Krise geriet und die ganze Expedition abblasen wollte. Irgendwie schaffte Tobias es aber, ihn davon zu überzeugen, daß er damals bei seiner ersten Reise zufällig eine Wasserflasche mit dabei hatte, da er ja nicht gewußt habe, wie groß die Höhle war. Für ihn alleine hätte das Wasser gereicht, und deshalb habe er jetzt gar nicht mehr darüber nachgedacht. Aber für zwei Personen, und wenn sie unglücklicherweise in schlechtes Wetter gerieten und langsamer vorankommen sollten als er damals, waren zehn Liter Trinkwasser das absolute Minimum.
Daß sie nun plötzlich hinter der Höhle im Meer landen sollten, hier mitten in Europa, machte die Geschichte in Michas Augen nicht gerade glaubwürdiger. Aber er war nun schon so weit gegangen, daß er auch auf dieses Ansinnen einging und den Kanister zu den beiden bleischweren Koffern in sein Zimmer stellte.
Die Anreise war eine elende Schinderei und übertraf Michas Befürchtungen bei weitem. Bis sie schließlich, beladen wie zwei Packesel, nach vier endlosen Tagen das trostlose Kaff erreichten, in dessen Nähe nach Tobias’ Angaben die Höhle liegen sollte, hatte Micha seinen Entschluß schon bei etlichen Gelegenheiten bitter bereut. Jedes gottverdammte Gramm dieses verfluchten Koffers hatte er zum Teufel gewünscht, jeden Meter, den er das Gepäck schleppen mußte, nur an sein gemütliches Zuhause und seine weiche Matratze gedacht, während Tobias alles mit stoischer Gelassenheit und freudiger Erwartung hinter sich brachte. Michas Arme schienen mit jeder Minute, die er diesen Koffer tragen mußte, länger zu werden. Der auch nicht gerade leichte Rucksack auf seinem Rücken fiel dagegen kaum noch ins Gewicht.
Ihr Anblick war zweifellos mehr als lächerlich. Die Leute auf den Bahnsteigen und Busstationen starrten sie an, als kämen sie aus einer anderen Welt. Polizisten beäugten sie mißtrauisch. Mehrmals mußten sie ihre Papiere herauskramen und einmal sogar die Koffer öffnen, wobei den Beamten angesichts ihrer Vorräte fast die Augen übergingen. Ihre Erklärung, das sei alles für den Eigenbedarf bestimmt, rief ungläubiges Kopfschütteln und ein endloses Palaver hervor. Aber sie ließen sie ziehen. Glücklicherweise schien ihnen nicht aufzufallen, daß die ganze Ausrüstung eher in die Tropen als in die winterliche Slowakei paßte.
Nach drei Nächten, die sie auf Bahnhöfen und in einem schäbigen Hotel zugebracht hatten, erreichten sie schließlich, völlig durchgefroren und übermüdet, mit schmerzenden Gelenken und Blasen an den Händen, ihr erstes Etappenziel. Sie mieteten sich in einem einfachen Landgasthaus ein und polterten dort, mit den sperrigen Koffern und dem leeren Kanister überall gegenstoßend und von den in der Gaststube herumsitzenden Einheimischen mit offenen Mündern bestaunt, eine knarrende Holztreppe hinauf zu ihrem Zimmer, wo Micha sich sofort ins Bett fallen ließ.
Am nächsten Morgen, gleich nach einem spärlichen Frühstück, wollte Tobias, dem die Strapazen der letzten Tage nichts ausgemacht zu haben schienen, sofort nach seinem Boot sehen, das er in dem Schuppen eines Bauern zurückgelassen hatte.
»Ohne Boot keine Expedition«, sagte er, und obwohl er damit zweifellos recht hatte, sah Micha sich außerstande, an diesem Tage auch nur einen Schritt mehr als unbedingt nötig zu gehen. Also zog Tobias alleine los. Micha hielt sich solange in ihrem Zimmer auf, lief später ein paar Schritte durch das ärmliche Dorf und bewunderte die schöne Umgebung. Sie hatten Glück. Es war für diese Jahreszeit viel zu mild. Überall tropfte es. Es lag schon fast ein Hauch von Frühling in der klaren Bergluft. Ringsum ragten schroffe Felsklötze auf, die das Dorf schon am frühen Nachmittag beschatteten und auf denen sich an geschützten Stellen noch einige Schneereste gehalten hatten, und gleich hinter den letzten Häusern, angrenzend an einige Viehweiden und Felder, begann ein urtümlich wirkender Bergwald. Durch das Dorf plätscherte ein kleines Flüßchen in seinem steinigen Bett, und er fragte sich, ob dies wohl schon ihr Fluß wäre, der, der sie in die Höhle führen sollte.
Am Nachmittag kam Tobias zurück, berichtete, daß alles in Ordnung sei und daß er das Boot schon zu dem kleinen See gerudert habe. Das Gewässer, in dem eine ziemlich starke Strömung herrschte, sei, Gott sei Dank, nur mit einer dünnen Eisschicht bedeckt gewesen. Sie würden ohne Probleme vorankommen. Das Boot warte jetzt in der Nähe der Höhle auf sie. Alles sei bereit.
»Wie weit ist denn dieser See von hier entfernt?« fragte Micha und räkelte sich gähnend auf seinem Bett. Der kurze Marsch durch das Dorf hatte ihn sehr angestrengt.
»Etwa vierzig Minuten. Er liegt mitten im Wald.«
»Vierzig Minuten?« Micha schoß sofort senkrecht in die Höhe und starrte ihn ungläubig an. »Willst du damit sagen, daß wir die Scheißkoffer vierzig Minuten durch den Wald schleppen müssen?«
»Von selbst werden sie wohl kaum dahin laufen.«
»Na dann prost Mahlzeit«, seufzte Micha und ließ sich zurück in das Kissen fallen.
Später eröffnete ihm Tobias, daß er schon am nächsten Tag aufbrechen wollte. Micha versuchte ihn dazu zu überreden, ein, zwei Tage abzuwarten, noch etwas auszuruhen vor dem Unternehmen Urzeit. Jetzt, wo ihr Ziel so nahe lag, wurde ihm die ganze Sache ziemlich unheimlich, und er suchte nach Gründen, um den Aufbruch hinauszuzögern. Tobias trug eine solche Selbstsicherheit zur Schau, daß die seine immer mehr ins Wanken geriet. Für jemanden, dessen hochtrabende Ankündigungen sich sehr bald als reines Phantasieprodukt erweisen sollten, war er wirklich von einer bemerkenswerten Gelassenheit.
Was Micha nicht schaffte, besorgte ein Wetterumschwung. Für die nächsten zwei Tage verzogen sich die Berge hinter dicke Wolkenpolster, und der Winter kehrte zurück. Es schneite ununterbrochen. Das war dann doch nicht das Wetter, das sie sich für ihren Aufbruch gewünscht hatten. Die meiste Zeit verbrachten sie dösend und lesend in ihrem Zimmer, was Micha nur recht war, Tobias aber von Stunde zu Stunde nervöser werden ließ. Er saß vor dem Fenster, meditierte über die unaufhörlich fallenden Schneeflocken und trommelte dabei ununterbrochen mit seinen Fingern auf das Fensterbrett. Als es wieder aufklarte, gab es für ihn kein Halten mehr.
»Moment mal«, versuchte Micha ihn zu bremsen. »Du kennst das hier alles schon. Aber ich möchte mir doch diese Höhle, in die ich hineinfahren soll, wenigstens einmal vorher anschauen, wenn’s recht ist, ja.«
Was darauf folgte, konnte man mit Fug und Recht als ihren ersten handfesten Streit bezeichnen, aber es gelang ihnen nach langer Diskussion, einen Kompromiß zu finden. Sie würden ihr Gepäck in zwei Hälften teilen und die eine heute, die andere morgen unmittelbar vor der Abreise zum Boot transportieren. Auf diese Weise hatte Micha noch einen Tag gewonnen, konnte wenigstens einmal einen Blick auf diese mysteriöse Höhle werfen, und auch Tobias mußte zustimmen, daß sie sich so die unvermeidliche Schlepperei wesentlich erleichterten.
Sie räumten die beiden Rucksäcke aus und verstauten darin statt dessen einen Teil des Proviants. Mit den Rucksäcken, dem Kanister und einem leeren Koffer beladen, in den sie am Boot angekommen die Vorräte wieder einpacken wollten, brachen sie dann endlich auf, wanderten an schneebedeckten Viehweiden vorbei in den Wald hinein. Es war kalt, aber Micha genoß die Luft und den frisch verschneiten Winterwald und wünschte, sie könnten es dabei belassen, könnten - möglichst ohne diese Massen an sinnlosem Gepäck - einfach hier umherwandern wie ganz normale Bergtouristen und sich an der herrlichen Landschaft erfreuen.
Nach etwa einer halben Stunde gelangten sie an einen Fluß, dessen Lauf sie folgten, bis dieser in einen kleinen See mündete. Auf der Eisdecke lag jetzt eine frische, makellose Schneeschicht. Kaum hatten sie den See erreicht, stockte Micha der Atem, denn am gegenüberliegenden Ufer klaffte in einer vielleicht fünfzig Meter steil aufragenden Felswand ein tiefes, schwarzes Loch: die Höhle.
»Das ist sie«, sagte Tobias und breitete voller Besitzerstolz seine Arme aus, als wolle er ihm in seiner unendlichen Großmut den See, die Berge, den Wald und die Höhle zu Füßen legen.
»Sieht ziemlich unheimlich aus«, sagte Micha und wollte den Rucksack vom Rücken hieven.
»Warte noch! Das Boot liegt ein Stückchen weiter dahinten.« Tobias war schon vorausgelaufen, und Micha folgte ihm, ohne seinen Blick auch nur eine Sekunde von diesem gähnenden Loch in der Felswand abwenden zu können. Dort wollten sie hineinfahren? Verrückt!
Es war seltsam still hier, aber wahrscheinlich kam ihm das nur so vor. Er erkannte, daß der kleine See, der kaum mehr als hundert Meter Durchmesser aufwies, keinen Abfluß hatte, jedenfalls konnte er keinen entdecken. Der Fluß, an dem sie entlanggelaufen waren, mündete eindeutig in das Gewässer, schien aber nirgends wieder hinauszuführen, sondern tatsächlich in die Höhle zu fließen. Kurz vor dem Höhleneingang endete die Eis- und Schneeschicht, und man sah einen spiegelglatten Fleck pechschwarzen Wassers. Einzelne kleine Eisschollen hatten sich gelöst und trieben in die Finsternis des Berges.
»Mannomann, das ist ja Wahnsinn«, murmelte Micha vor sich hin.
»Was sagst du?« fragte Tobias, der ein paar Meter vor ihm ging und sich jetzt umdrehte.
»Ich sagte, daß es Wahnsinn ist, da hineinzufahren.«
»Hast du Angst?«
»Du nicht?«
»Ein bißchen, doch, klar hab ich Angst.« Er lief noch ein paar Schritte weiter und blieb dann stehen.
»Hier ist es!«
Das Boot beziehungsweise das, was man von ihm unter der dicken Schneeschicht noch erkennen konnte, war überraschend groß. Es sah so aus, als ob es zwei Ruderbänke hätte und sowohl im Heck als auch im Bug Sitzflächen, unter denen eine ganze Menge Stauraum vorhanden war. Irgendwie beruhigte ihn der Anblick des Kahns mit seinen vom Schnee abgerundeten Formen.
»Ich habe es Titanic getauft, weil es uns zu den Titanen führen soll«, sagte Tobias.
»Sehr sinnig.«
»Die hier kann nicht untergehen.«
»Das haben die Leute damals auch gesagt.« Micha wuchtete endlich den schweren Rucksack von seinem Rücken und setzte ihn vorsichtig im Uferschnee ab. »Aber ich gebe zu, es gefällt mir.« Er grinste.
Zusammen machten sie sich daran, das Boot von den Schneemassen zu befreien, und während Micha sich danach ans Ufer hockte, eine Zigarette anzündete und mit einer Mischung aus Faszination und Grauen auf die dunkle Höhle gegenüber starrte, sprang Tobias wieder in das Boot und zeigte ihm stolz allerhand Gerätschaften, die er unter der Hecksitzbank hervorzauberte: eine Petroleumlampe, zwei angerostete Kanister, einen kurzen Spaten, einen Gummihammer, eine Axt, schließlich sogar eine Angel.
»Wo hast du denn das alles her?« fragte Micha erstaunt und belustigt zugleich. All das war seltsam unwirklich. In seinem Magen machte sich ein Kribbeln bemerkbar.
Tobias lachte. Er schien jetzt ganz in seinem Element zu sein. Sein geschäftiges Poltern, das von der gegenüberliegenden Felswand zurückschallte, bildete einen seltsamen Kontrast zu der winterlichen Stille.
»Reich mir doch mal die Rucksäcke rüber«, rief er Micha zu, während er versuchte, den leeren Koffer unter die hintere Sitzbank zu schieben.
»Dacht ich mir’s doch! Absolute Maßarbeit!« Tatsächlich paßte der Koffer genau hinein. »Der zweite hat auch noch Platz.« Schließlich setzte er sich auf eine der Ruderbänke und schaute wie Micha über die unberührte Schneefläche des Sees.
»Morgen geht’s los«, sagte er in die Stille hinein und lächelte dabei.
»Mhm«, machte Micha und zog so kräftig an seiner Zigarette, daß er husten mußte. »Und wo ist der Eisbrecher?«
Tobias sagte nichts, sondern schlug mit dem Ruder auf das Eis. Es brach sofort. Wasser spritzte auf.
Plötzlich knackte es ganz in der Nähe im Wald, und ihre beiden Köpfe fuhren herum. Es raschelte, und dann war wieder Ruhe. Einen Moment später kläffte irgendwo ein Hund.
»Komm, wir räumen den Koffer ein und gehen zurück«, sagte Tobias und stand auf. Micha erhob sich ebenfalls, kletterte in das sanft schaukelnde Boot, und zusammen packten sie ihren Proviant aus den Rucksäcken in den alten Koffer um. Anschließend schoben sie ihn wieder unter die Bank, legten die anderen Utensilien darauf und wollten gerade aus der Titanic klettern, als sie plötzlich eine Stimme hörten, die Micha seltsam bekannt vorkam.
»Wo wollt ihr denn hin mit dem ganzen Zeug?«
Im nächsten Moment fegte ein kleines haariges Wesen durch das Unterholz und blieb hechelnd und mit Schnee bepudert am Ufer sitzen. Es war ein Dackel, ein Rauhhaardackel, der fröhlich mit dem Schwanz wedelte. Micha bekam einen solchen Schreck, daß er fast aus dem schwankenden Boot gefallen wäre.
»Mach’n Mund zu, es zieht!« sagte Claudia, die neben den Baum trat, an dem das Boot festgemacht war. Sie meinte Tobias, dem vor Verblüffung der Unterkiefer heruntergeklappt war.
»Du bist wohl Tobias?« fragte sie ihn und grinste.
»Kennst du die?« Er drehte den Kopf zu Micha und zeigte ungläubig auf Claudia.
»Ja«, sagte Micha, weniger verblüfft über ihr Erscheinen, als er es eigentlich sein sollte. »Das ist Claudia.«
»Und das ist Pencil«, sagte sie und deutete auf den Hund.
»Aha, und was habt ihr hier zu suchen?« fragte Tobias.
»Wieso? Ist das hier dein Privatwald?« antwortete Claudia herausfordernd.
»Wie kommst du denn hierher?« fragte Micha, kletterte aus dem Boot und baute sich neben ihr auf.
»Mit dem Morgenbus.« Sie zwinkerte ihm zu. »War nicht besonders schwierig, eurer Spur zu folgen. Ihr seid so auffällig wie zwei bunte Hunde. Ich hab den Leuten was vorgeheult, daß ich meine Freunde verloren hätte. Was meinst du, wie hilfsbereit die Menschen werden, wenn eine schluchzende junge Frau vor ihnen steht.«
»He!« rief Tobias, der immer noch im Boot stand. »Was soll das hier darstellen, ne Art Familienzusammenführung oder was?« Er starrte sie feindselig an.
»Quatsch! Ich kenn sie vom Studium her. Sie ist Botanikerin, und ich hatte ihr damals die Pflanze gezeigt.«
»Was?« schrie Tobias. »Du hast ihr die Pflanze gezeigt? Ich hatte dich doch gebeten, niemandem davon zu erzählen.«
»Jetzt mach aber mal halblang, ja!« gab Micha zurück. »Du schickst mir diese bescheuerte Pflanze und willst wissen, was das ist, behauptest, sie sei aus der Slowakei. Warum soll ich da nicht jemanden fragen, der davon mehr Ahnung hat als ich, he? Wie sollte ich bei deiner beschissenen Geheimniskrämerei wissen, was wirklich dahintersteckt?«
Er zeigte auf Claudia, die ihre Auseinandersetzung mit sichtlichem Vergnügen verfolgte. Wahrscheinlich hatte sie mit so etwas gerechnet. »Und außerdem hatte ich keine Ahnung . ich meine, ich weiß auch nicht, wie sie darauf kommt, uns hierher zu folgen.«
»Für wie blöd hältst du mich eigentlich, Micha«, schaltete sich Claudia ein. »Diese Pflanze wächst weder in der Slowakei noch in Indonesien, sondern ist seit vielen Millionen Jahren ausgestorben, basta. Da hat mich natürlich interessiert, was dahintersteckt, wenn du entschuldigst. Und dann erzählst du mir auch noch, daß du mit Tobias in die Slowakei fahren willst, genau dahin, wo die Pflanze ja angeblich herstammte, und mit demselben Tobias, über den du dich kurz vorher noch schwarz geärgert hast. Da hab ich eins und eins zusammengezählt, und hier bin ich.«
»Scheiße!« sagte Tobias, hockte sich wieder auf die Sitzbank und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. »Und was willst du nun hier, wenn ich mal fragen darf?«
»Na, ich komme mit euch, ist doch klar. Ich will auch wissen, wo diese Pflanze herkommt«, sagte Claudia selbstbewußt.
»Dann hast du doch eine Karte kaufen wollen.« Claudia zuckte mit den Schultern und grinste Micha an.
»Was?« fragte Tobias aufgebracht.
»Ach, nichts!« Micha hockte sich ans Ufer und stocherte unschuldig mit einem Holzstöckchen im Schnee herum.
»Also nur über meine Leiche. Diese Tussi kommt mir nicht ins Boot«, sagte Tobias, kletterte aus der Titanic und begann wütend Steine auf das Eis zu werfen. Es antwortete mit einem seltsamen flirrenden Laut.
»Jetzt spiel dich hier bloß nicht als Chef auf, ja, sonst kannst du nämlich gleich alleine losfahren.« Micha ärgerte Tobias’ Art, schließlich war Claudia eine Freundin von ihm, wenn auch hier sehr unerwartet. »Willst du sie wieder nach Hause schik-ken?«
»Mir ist völlig egal, was sie macht. Interessiert mich nicht. Mitkommen kann sie jedenfalls nicht.«
»Hör mal, sie ist Kugelstoßerin. Sie nimmt’s mit Leichtigkeit mit uns beiden auf und hat ne Bombenkondition. Außerdem kennt sie sich mit Pflanzen aus. Warum soll sie eigentlich nicht mitkommen?«
Tobias sah jetzt seine Felle davonschwimmen. »Na fein! Hätt ich nicht von dir gedacht, Micha, daß du mir jetzt so in den Rücken fällst. Ich dachte, wir beide wollten diese Expedition durchführen.« Der Schwung, mit dem er die Steine auf den See schleuderte, ließ etwas nach. »Außerdem reichen unsere Vorräte nicht für drei.«
Claudia klopfte auf den riesigen, prallgefüllten Rucksack auf ihrem Rücken. »Alles dabei«, sagte sie.
»Was ist mit Trinkwasser?« fragte Tobias. »Und die Töle?« Er zeigte auf Pencil.
»Wieso Trinkwasser? Hier gibt’s doch reichlich Süßwasser, oder etwa nicht? Und für den Hund ist auch gesorgt. Außerdem sucht der sich selbst, was er braucht.«
»Du hast ja keine Ahnung.« Tobias verdrehte die Augen und winkte verächtlich ab. »Er soll wohl kleine Dinosaurier reißen, dein Raubtier, was?«
Pencil merkte wohl, daß sie über ihn sprachen und mischte sich mit einem Knurren in die Diskussion ein. Tobias quittierte es mit einem angewiderten Gesichtsausdruck.
»Wieso Dinosaurier? Was meint der damit?« fragte Claudia mit gerunzelter Stirn.
Micha ignorierte ihre Frage. »Wo wohnst du eigentlich? Mir ist immer noch schleierhaft, warum wir dich nicht schon vorher gesehen haben.«
»Nicht schlecht, was?« Sie schaute ihn neckisch an. »Ich bin gestern erst angekommen und wohne bei einem sehr netten alten Ehepaar.« Sie setzte mit spielerischer Leichtigkeit den enormen Rucksack ab. Tobias musterte sie von oben bis unten.
»Das mit den Dinosauriern verstehe ich immer noch nicht«, sagte sie. »Wo soll denn die Reise eigentlich hingehen? Hier gibt’s mit Sicherheit keine Seerosen, jedenfalls nicht um diese Jahreszeit.«
»Hat irgend jemand was von Seerosen gesagt?« schnaubte Tobias. »Du faselst die ganze Zeit davon.«
Micha wies auf die Höhle.
»Wie? Da hinein?«
Er nickte. Tobias machte irgendeine geringschätzige Bemerkung, die Micha nicht verstand.
»In die Höhle? Und dann?« Claudia war sichtlich verwirrt.
»Das hat doch alles keinen Zweck!« Tobias stand mit einem Ruck auf.
»Ihr braucht mich nicht für dumm zu verkaufen.« Claudia hatte die Hände in die Hüften gestemmt und schaute sie herausfordernd an. »Erklärt mir doch lieber mal, was ihr eigentlich vorhabt. So schnell werdet ihr mich ohnehin nicht los. Wenn es dort, wo diese Pflanzen herkommen, noch mehr davon gibt, dann ist das eine Sensation - versteht ihr, was ich meine? -, eine absolute Sensation.«
»Wir fahren in die Höhle«, sagte Micha.
»Ja, das sagtet ihr schon einmal. Und dann?«
Er zuckte mit den Achseln. Da fragte sie den Falschen. Das wüßte er ja selbst gern. In die Höhle, und dann? Wahrscheinlich würden sie im Dunkeln herumirren, gegen eine Felswand donnern und sich ein paar riesige Beulen an den Köpfen holen.
»Macht, was ihr wollt, aber ich geh jetzt zurück«, sagte Tobias und marschierte los.
»Halt! Nun warte doch mal! Ich komme mit.« Micha gestikulierte Claudia, sie solle das übrige ihm überlassen, und folgte Tobias, der schon zehn, zwanzig Meter vorausgeeilt war. Claudia und Pencil blieben zurück.
Tobias redete auf dem Heimweg kein Wort. Er starrte stur geradeaus und stapfte verbissen durch den Schnee, aber man sah, daß es in ihm rumorte. Jeden zweiten Stein, der auf dem Pfad lag, beförderte er mit einem wütenden Fußtritt in den Wald und würdigte Micha keines Blickes.
In ihrem Hotelzimmer legte er dann los, überhäufte Micha mit Vorwürfen, von Vertrauensbruch war die Rede, Gefährdung des ganzes Projektes, von Ballast, den sie nun mitschleppen müßten, und er solle, verdammt noch mal, sehen, wie er ihnen die Frau wieder vom Hals schaffe, wenn er schon nicht in der Lage gewesen sei, die Klappe zu halten. Micha versuchte, ganz ruhig zu bleiben und ihm Claudias Anwesenheit irgendwie schmackhaft zu machen, aber Tobias blieb, bis sie schlafen gingen, stur.
Am nächsten Morgen war er schon vor Tagesanbruch auf den Beinen und polterte im Zimmer herum. Micha versuchte mit allen Mitteln, ihren endgültigen Aufbruch hinauszuzögern. Da sie diesmal neben den vollgepackten Rucksäcken auch noch abwechselnd einen der schweren Koffer tragen mußten, kamen sie wesentlich langsamer voran als am Vortag, und er hoffte inbrünstig, daß Claudia es doch noch irgendwie schaffen würde, rechtzeitig an Ort und Stelle zu sein. Ihm lag mittlerweile eine ganze Menge daran, daß sie mitkam. Ja, er freute sich, daß sie da war. Innerlich begann er sich schon auf eine Auseinandersetzung mit Tobias einzustellen, falls er versuchen sollte, ohne sie abzulegen. Aber als sie bei dem Boot ankamen, sah er, daß seine Sorgen überflüssig waren. Claudia hockte schon auf einer der Ruderbänke und winkte ihnen zu, als sie näherkamen. Sie war wirklich hartnäckig, das mußte man ihr lassen.
Tobias sagte kein Wort zu ihr, verstaute schweigend den zweiten Koffer unter der Sitzbank, und auch als Claudia später ihren Rucksack ins Boot reichte, zeigte er keinerlei Reaktion. Erst als sie alle drei in der Titanic saßen, Tobias und Micha auf den beiden Ruderbänken, Claudia vorne im Bug und Pencil noch irgendwo am Ufer durch das Unterholz flitzte, machte er zum ersten Mal an diesem Morgen den Mund auf: »Was ist? Braucht dein Köter eine Extraeinladung?«
Claudia grinste, pfiff kurz durch die Zähne, und sofort schoß Pencil aus dem Wald, schüttelte sich den Schnee vom Fell und versuchte winselnd ins Boot zu kommen. Claudia wollte schon aufstehen, aber Micha sagte: »Laß, ich mach das schon«, stand auf, kletterte hinaus und hob Pencil über die Bordwand, der sofort vorne bei Claudia unterkroch.
Jeder, der sie hier beobachtete, mußte sie für völlig übergeschnappt halten. Mitten im Winter hatten sie nichts Besseres zu tun, als auf einem gefrorenen See herumzurudern, beladen mit Gepäck- und Ausrüstungsmassen, die einer Weltumsegelung zur Ehre gereicht hätten. Aber der See, auf den sie hinausfuhren, war nur wenige hundert Quadratmeter groß.
Micha löste die Leine vom Baum und stieß das Boot mit einem Tritt vom Ufer ab. Das Eis knirschte.
Es ging los.
Bald hatten sie die offene Wasserfläche vor dem Höhleneingang erreicht und ließen sich auf das gähnende Loch am Fuße der fast senkrechten Felswand zutreiben.
»Was soll denn nun in der Höhle sein?« fragte Claudia, die sich umgedreht hatte und auf das schwarze Loch starrte. »Jetzt könnt ihr mir’s doch sagen. Seerosen ja wohl nicht, Pflanzen brauchen Licht.«
Die Arme, dachte Micha, sie hat noch weniger Ahnung, was uns da möglicherweise erwartet, als ich. Selbst wenn er ihr jetzt gesagt hätte, was er ja selber nicht glauben konnte, wäre sie nicht mehr umgekehrt. Sie hätte es für einen Scherz gehalten.
»Ich weiß es auch nicht«, sagte er und mußte schlucken.
»Laßt euch doch überraschen«, sagte Tobias und beförderte sie mit einem kräftigen Ruderschlag durch das graue, jetzt aus der Nähe riesig wirkende Felsentor ins Innere des Berges. Kurze Zeit später befanden sie sich schon einige Meter hinter dem Höhleneingang, vor ihnen nur noch undurchdringliche Schwärze.
»Mach mal unseren Scheinwerfer an, Micha!«
Tobias’ Stimme hatte in der nun völlig veränderten Akustik einen fremden, voluminösen Klang bekommen. Micha stutzte kurz, überlegte, welchen Scheinwerfer er wohl meinte, dann kletterte er vorsichtig über ihre Rucksäcke zur Heckbank, wo die Petroleumlampe stand. Seine Hand zitterte. Erst beim dritten Versuch gelang es ihm, den Docht zu entzünden. Dann reichte er die Lampe nach vorne zu Claudia durch, die sie im Bug hochhielt.
Mit vorsichtigen Schlägen ruderte Tobias tiefer in die Höhle hinein. Micha blieb im Heck sitzen, stützte sich auf seine Knie und war regelrecht paralysiert vor Spannung. Hier vorne in der Nähe des Eingangs bildete die Grotte ein riesiges Gewölbe, mindestens zehn Meter hoch und etwa doppelt so breit. Seltsamerweise wunderte er sich in diesem Moment darüber, daß hier noch kein Touristenrummel herrschte. So etwas sah man nicht alle Tage. Die Höhle war wirklich außergewöhnlich. Sein Gehirn klammerte sich an diesen Einfall.
Soweit man erkennen konnte, verengte sich der Fluß weiter vorne. Als sie noch tiefer eingedrungen waren, schrumpfte der Höhleneingang zu einem blendend hellen Guckloch in die Außenwelt zusammen. Was sie hier taten, war Wahnsinn.
»Huh, ist das gruselig«, sagte Claudia mit zitternder Stimme. Micha nickte und sah wie Tobias bei ihrer Bemerkung das Gesicht verzog.
Jetzt machte der Fluß eine Biegung, und als sie diese passiert hatten, erleuchtete nur noch das gelbliche Licht ihrer Petroleumlampe die Umgebung. Der Höhleneingang war verschwunden. Die einzigen Geräusche waren das vorsichtige Eintauchen von Tobias’ Ruderblättern und ein leises ununterbrochenes Glucksen und Tröpfeln.
»Wie groß ist die Höhle eigentlich?« fragte Micha und erschrak über den dröhnenden Klang seiner Stimme. Ihm fielen jetzt überhaupt tausend Fragen ein, auf die er gerne eine Antwort gewußt hätte, am besten draußen am Ufer, bei einer gemütlichen Zigarette und einer dampfenden Tasse Tee. Es war empfindlich kalt hier drinnen, kalt und feucht.
»Ziemlich groß«, sagte Tobias und stieß sie wieder ein Stück weiter voran. Die Höhlenwände rechts und links kamen immer näher, waren vielleicht zu jeder Seite noch zwei Meter vom Bootsrand entfernt. Auch die Decke senkte sich zusehends, schwebte vielleicht noch drei Meter über ihren Kopten. Sie fuhren wie durch ein riesiges, immer enger werdendes Felsenrohr.
Was, wenn sie hier einfach steckenblieben?
Plopp! Wie ein Stöpsel, von der Strömung blockiert, kein Vor und kein Zurück mehr. Gefangene tief im Inneren des Berges. Micha bekam ernsthafte Zweifel, ob er diesem Abenteuer wirklich gewachsen war.
Sie fuhren immer tiefer in die Höhle, und nichts änderte sich. Irgendwann hörte Tobias auf zu rudern, und sie ließen sich von der leichten Strömung treiben, achteten nur noch darauf, daß sie nicht gegen die Höhlenwand stießen. Ein plötzliches Plätschern ließ sie alle zusammenzucken. Irgendwo ergoß sich aus dem Fels ein Rinnsal in den Fluß.
Micha hatte jedes Zeitgefühl verloren. Seine Uhr wollte ihm zwar einreden, daß sie erst fünfzig Minuten unterwegs waren, aber aus irgendeinem Grunde bezweifelte er das. Zeit? War die hier überhaupt gültig? Vielleicht waren schon Stunden vergangen?
»Aua!« schrie Claudia plötzlich und riß ihn aus seinen Gedanken. Sie hatte sich an einem überraschend auftauchenden Felsvorsprung gestoßen und rieb sich den Kopf. Tobias verdrehte die Augen. Wieder endloses Dahingleiten, ohne daß sich etwas tat. Irgendwann begann Pencil zu winseln.
»Halt ja den Köter fest!« zischte Tobias. Claudia hob Pencil auf ihren Schoß, aber der kleine Dackel wollte nicht wieder aufhören. Es klang herzzerreißend, er jaulte und heulte. Micha kam es vor, als ob der ganze Berg mitvibrierte.
»Kannst du ihn nicht abstellen?« Tobias drehte sich auf seiner Ruderbank zu Claudia um und musterte sie finster.
»Keine Ahnung, was er hat«, sagte sie und drückte Pencil noch fester an sich.
»Na, Schiß hat er, was denn sonst? Ich im übrigen auch, verdammt noch mal. Das ist doch alles Wahnsinn«, sagte Micha. »Außerdem ist mir schlecht.«
»Mir auch!« sagte Claudia und verzog das Gesicht.
»Wir kommen der Sache wohl näher«, meinte Tobias.
Micha war tatsächlich hundeelend zumute. In seinen Einge-weiden rumorte es beängstigend, und er hatte das Gefühl, daß es ihm mit jedem Meter, den sie vorantrieben, schlechter ging.
»Welcher Sache?« fragte Claudia.
»Dem Zeitsprung«, antwortete Tobias und lachte schallend.
Es klang ohrenbetäubend, wie der Beginn eines Erdbebens.
»Was für ein Zeitsprung? Wovon redet der?«
Micha war mittlerweile so kotzübel, daß er glaubte, sich jeden Augenblick übergeben zu müssen. Außerdem bekam er dröhnende Kopfschmerzen. Sein Gleichgewichtssinn schien nicht mehr zu funktionieren. Alles drehte sich. War das die Angst? Auch Tobias verzog das Gesicht. Warum sagte er nichts? War ihm auch schlecht?
»Au, Mann, mir ist zum Kotzen«, stöhnte Claudia. »Was, in Gottes Namen, geht hier vor?« Pencils Jaulen wurde noch lauter.
Tobias’ hageres Gesicht war eine verzerrte Maske. Er sah grauenerregend aus in dem schummerigen Licht. »Könnt ihr nicht mal die Klappe halten?« zischte er mit zusammengepreßten Zähnen.
Micha hatte das Gefühl, als ob ihm eine Schraubzwinge den Kopf zerquetschte, ganz langsam, Umdrehung für Umdrehung. Gleichzeitig streikte sein Magen.
Dann ging plötzlich alles ganz schnell. Claudia schrie: »Da vorne! Ich sehe Licht!« Tobias ließ eine Art Triumphschrei los, Micha konnte sich nicht mehr beherrschen und spuckte sein spärliches Frühstück über die Bordwand, und kurz danach verlor er wohl das Bewußtsein, denn in seinem Gedächtnis fehlten später ein paar Minuten.
Man spule das Band des Lebens bis in die Frühzeit zurück und lasse es noch einmal vom gleichen Ausgangspunkt ablaufen: Die meisten Möglichkeiten werden nie realisiert, und wer kann schon sagen, was dadurch verlorenging? Stephen Jay Gould, Zufall Mensch