121922.fb2 Das Olschieferskelett. Eine Zeitreise - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 5

Das Olschieferskelett. Eine Zeitreise - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 5

4

Erdrutsch

Der Mann stand am Rande des Moores und blickte betroffen auf die graubraune tote Masse, die dort jetzt alles bedeckte. Nachdenklich kraulte er seinen wilden Bart, der schon seit Monaten keine Schere mehr gesehen hatte, und betrachtete die Gegend ringsum, überprüfte die anderen Landmarken, an denen er sich orientiert hatte. Noch einmal kniff er ungläubig die Augen zusammen. Aber es half nichts, er hatte sich nicht geirrt. Er kannte diese Stelle doch genau. Da drüben am Berg hatte sich noch bei seinem letzten Abstecher in diese Gegend eine haushohe, überhängende Wand aus Geröll und fester Erde befunden. Oft hatte er hier gesessen und in der heraufziehenden Dämmerung dem Ausflug der Fledermäuse zugesehen, einem phantastischen Schauspiel, das alleine den strapaziösen Anmarsch hierher wert war. Zu Tausenden verbrachten sie in einer Höhle nahe der Mooroberfläche den Tag.

Aber statt der Wand und der Höhle sah er nun nur ein verheerendes Bild der Verwüstung. Der ganze Hang mußte ins Rutschen gekommen sein und war in das Moor gestürzt. Es hatte stark geregnet in letzter Zeit. Möglicherweise hatte sich eine Schlammlawine gelöst und schließlich den halben Berg mit ins Moor gerissen.

Es war zum Heulen. Die Fauna und Flora dieses relativ isoliert liegenden verlandenden Sees war einmalig gewesen. Natürlich waren der Wald und die darin liegenden Feuchtgebiete unermeßlich groß, und er hatte bisher nur einen Bruchteil davon erkunden können, aber dieser Moorsee schien ihm doch etwas ganz Besonderes gewesen zu sein. Viele Endemiten, Pflanzen und Tiere hatte er nirgendwo sonst gesehen, sie schienen nur hier vorzukommen. Alles hin, unter meterdickem Schlamm und Geröll erstickt, wirklich ein Jammer. Sogar die Vögel waren verschwunden, die hier sonst so zahlreich nach Nahrung gesucht hatten.

Erdrutsche kamen vor, natürlich, noch dazu in einer Gegend wie dieser, wo sintflutartige Regenfälle niedergingen und sich innerhalb von Minuten reißende Sturzbäche bildeten.

Aber da waren diese Explosionen gewesen, fünf, sechs kurz hintereinander. Sie waren hier aus dieser Gegend gekommen. Er hätte jedenfalls schwören können, daß es so war. Zuerst hatte er gedacht, es seien die Vulkane, ein Ausbruch oder mehrere, aber die großen Bergkegel in der Ferne stießen weiter ihre Rauchwölkchen aus und vermittelten ansonsten den Eindruck stoischer Ruhe.

Außerdem hatten die Explosionen anders geklungen, schärfer, kürzer, fast wie Gewehrschüsse, ohne das tiefe Grollen und Rumpeln, ohne das Beben der Erde, das er beim letzten Ausbruch der Vulkane trotz der großen Entfernung zu seiner Behausung verspürt hatte. Diese Explosionen hatten etwas Fremdes, Künstliches an sich gehabt.

Seit er die erste Falle gefunden hatte, war er unruhig und nervös. Außerdem war es nicht bei der einen Falle geblieben. Er hatte schon ein ganzes Arsenal davon aus dem Verkehr gezogen und war auch auf weitere Spuren gestoßen, die auf die Anwesenheit eines Menschen hindeuteten, abgeschlagene Bäume und Sträucher, ein Stück ausgefranstes Seil.

Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, daß auch dieser Erdrutsch auf das Konto des Unbekannten ging. Es wollte ihm jedoch absolut nicht einleuchten, was jemand damit bezweckte, einen Berghang loszusprengen und in ein Moor stürzen zu lassen. Das war blinde Zerstörungswut. Hier war ja wohl kein Ferienhotel, keine Dschungellodge oder so etwas geplant, für das Platz geschaffen werden mußte. Er lachte bitter.

Auf jeden Fall bedeutete es, daß er sich in Zukunft vorsehen mußte. Er konnte sich hier nicht mehr so ungezwungen bewegen wie bisher. Er war nicht mehr allein. Es gab in diesem Wald noch jemanden, und wenn dieser Jemand hier wirklich seine Finger mit im Spiel gehabt hatte, dann mußte er die Sache im Auge behalten.

Der Zusammenbruch

»Sag mal, was hast du denn mit Niedner angestellt?« fragte Schmäler am Telefon. »Der war ja völlig außer sich.«

»Ach, hat er gleich bei dir angerufen und gepetzt, ja?«

»Helmut!«

»Jaahh ...«, sagte Axt, »tut mir leid. Ich bin vielleicht etwas heftig geworden.«

»Ich kann mich nur wundern. Das ist doch sonst nicht deine Art. Was war denn los?«

»Hast du seinen Artikel nicht gelesen? Die Geschichte mit dem Halswirbel?«

»Ja, unerfreuliche Sache, aber, hör mal ...«, Schmäler räusperte sich, »so kannst du mit Niedner nicht umspringen. Das geht einfach nicht. Der Mann ist wichtig für uns.«

»Ich war einfach . ja, total sauer. Ist das so schwer zu verstehen? Als ob wir nicht schon genug Probleme am Hals hätten. Er hätte sich doch wenigstens vorher mit uns in Verbindung setzen können.«

»Natürlich, das habe ich ihm auch gesagt. Aber was beunruhigt dich eigentlich so? Die Sache mit den Grabungsräubern? Mit denen hatten wir doch schon seit Jahren keine Probleme mehr.«

»Das heißt ja nicht, daß sie einer so freundlichen Einladung widerstehen können«, sagte Axt. Vielleicht war er in der Hitze des Gefechts ein wenig über das Ziel hinausgeschossen.

»Na ja, ich glaube, ich habe ihn wieder etwas besänftigen können. Hab ihm erzählt, daß es dir nicht so gutgeht in letzter Zeit, und er zeigte sich sehr verständnisvoll. Ich muß dir ja nicht erklären, wie wichtig sein Labor für uns ist. Ohne ihn müßten wir unsere Proben zur Altersbestimmung um die halbe Welt schicken.«

So kannte er Schmäler, immer auf Schönwetter aus, immer ausgleichend, immer darauf bedacht, seine zahlreichen Kontakte und Beziehungen zu pflegen. Wahrscheinlich mußte man in seiner Position so sein, aber Axt fand es widerwärtig.

»Apropos Altersbestimmung. Da wäre übrigens noch etwas ...«

Axt hielt den Atem an. »Ja?«

»Ich habe kürzlich das Ergebnis der Kontrolluntersuchung aus München bekommen .«

»Welcher Kontrolluntersuchung?« Axt stellte sich dumm, obwohl er genau wußte, was Schmäler meinte. Er wollte ihn ein bißchen zappeln lassen, wollte die beiden Worte, die ihn so quälten, aus seinem Munde hören.

»Na, du weißt schon. Es geht um dieses .«

Ja, und wie schwer es Schmäler fiel, es auszusprechen. Er wand sich wie ein Wurm am Haken. Sollte er ruhig ein bißchen leiden. Es war zwar nur ein schwacher Trost, aber immerhin.

»... diesen Homo sapiens.« Schmäler hüstelte wie eine alte Oma, die gezwungen war, das Wort Scheiße auszusprechen.

»Und?«

»Leider nichts Neues.«

»Verstehe.«

»Tja, tut mir leid, daß ich dir nichts anderes mitteilen kann.«

»Hm.«

»Helmut, wir müssen uns bald ganz in Ruhe zusammensetzen und überlegen, was wir daraus machen.«

»Ja, das müssen wir, Gernot.«

»Aber jetzt ruft die Pflicht.«

»Natürlich, Gernot, ich verstehe.«

Ja, ja, dachte Axt, halt du dich nur raus, kneif deine faltigen Arschbacken zusammen und tu so, als wäre nichts.

Er saß eine Weile unbeweglich da und spielte mit Sonnenbergs Prachtkäfer herum, der einen Ehrenplatz auf seinem Schreibtisch bekommen hatte. Wenn er den Kunstharzblock mit dem Käfer in die Sonnenstrahlen hielt, die auf seinen Schreibtisch fielen, löste das Licht auf den metallisch glänzenden Flügeldecken des Tieres ein wunderbares Spiel der Farben aus.

Plötzlich spürte er ein mächtiges Gefühl, das sich irgendwo in seinem Bauch herauszubilden begann, dann mit Macht an die Oberfläche drängte und ihm das Wasser in die Augen trieb.

Stundenlang, nächtelang hatte er versucht sich für diesen Moment zu wappnen, für den Augenblick, da er dieses Phänomen in sein bisheriges Weltbild einordnen mußte. Er hatte nach den abenteuerlichsten Erklärungen gesucht, hatte wilde, mitunter die Grenzen seiner Wissenschaft sprengende Theorien gewälzt, damit genau in der Situation, in der er sich jetzt befand, nicht alles aus den Fugen geriet.

Wenn alle anderen die Station längst verlassen hatten, war er in den Keller gegangen und hatte das Skelett nach oben transportiert. Voller Angst, jemand der anderen könnte vielleicht etwas vergessen haben und noch einmal zurückkehren, saß er noch lange vor dem Röntgenschirm und starrte das Skelett an, in der Hoffnung, irgend etwas Neues zu entdecken, irgendeine Kleinigkeit, die er bisher übersehen hatte und die ihm das Ganze vielleicht erklären könnte.

Bisher wußte er nicht einmal genau, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. An einer einigermaßen frischen menschlichen Leiche wäre die Geschlechtsbestimmung natürlich kein Problem gewesen. In diesem Fall hatte er aber nur ein Skelett, und, um genau zu sein, nicht einmal das, sondern nur das Röntgenbild eines Skeletts. Sogar er selbst, der er ja in gewissem Sinne vom Fach war, hatte bisher keine Vorstellung, wie schwer es sein konnte, das Geschlecht eines unbekannten menschlichen Gerippes zu bestimmen. Was in lebendem Zustand so unterschiedlich aussah, müßte doch auch an Hand der Knochen leicht zu unterscheiden sein, sollte man meinen, aber weit gefehlt. Mit den Weichteilen schien auch die Geschlechtszugehörigkeit von den Knochen zu fallen und alles, was übrigblieb, war eine Reihe von erstaunlich unpräzisen Unterscheidungsmerkmalen, von denen viele überraschenderweise im Kopfbereich lagen und keineswegs dort, wo man sie vielleicht vermutet hätte.

Beim Lesen war er unter anderem auf eine Tabelle gestoßen, in der ein skeptischer Anthropologe einmal zusammengestellt hatte, welches Geschlecht verschiedene Wissenschaftler für jeweils dieselben Skelette herausgefunden zu haben glaubten. Das Ergebnis war niederschmetternd. Bei sieben untersuchten Skeletten - es handelte sich um Neandertaler, aber das änderte im Prinzip nicht viel -, waren sich die Forscher nur bei einem einzigen einig gewesen.

Auch was das Alter des Homo sapiens anging, war er nicht weitergekommen. War das nun ein Greis oder ein junger Mann? Die Suturen des Kopfes, die zackigen Nähte der Schädelknochen, boten normalerweise grobe, aber zuverlässige Anhaltspunkte. Aber gerade entlang dieser Nähte war der Schädel geborsten, so daß man nicht mehr erkennen konnte, in welchem Maße sie verwachsen waren.

Als das alles nichts nutzte, als er immer nur dieselben verwirrenden Details erkannte - die überkronten Backenzähne, den Schatten der Armbanduhr, die gebrochenen Rippen, das geborstene Schädeldach, die Bruchstelle am linken Arm -, begann er andere Wege zu beschreiten. Es war ja nicht so, daß ihn sein wissenschaftlich geschulter Verstand im Stich gelassen hätte, ganz im Gegenteil. Er zog komplizierte physikalischchemische Prozesse in Erwägung, die möglicherweise eine Rolle gespielt haben könnten.

Seine aussichtsreichste Hypothese ging von einer Manipulation aus, natürlich, etwas anderes war hundertprozentig auszuschließen. Jemand hatte das Skelett in die Grube geschafft und es irgendwie bewerkstelligt, daß die Schieferstruktur dabei intakt blieb. Das Wie blieb vorerst ein Rätsel, aber das hieß ja nicht, daß dafür keine Erklärung existierte. Wenn er sich schon jetzt von solchen fehlenden Mosaiksteinchen im Theoriegebäude beeindrucken ließ, konnte er alle Erklärungsbemühungen gleich einstellen. Lag das Skelett erst einmal im Schiefer, gab es möglicherweise chemische Prozesse, eine Art Osmose oder so etwas, Vorgänge jedenfalls, die es möglich machten, daß die für die Altersbestimmung relevanten Stoffe aus dem Schiefer in das Skelett diffundierten und schließlich die Analysegeräte narrten. Das wäre doch möglich. Das klang doch ganz plausibel. Warum kam Schmäler nicht auf so etwas, der große Schmäler?

Das schöne an dieser Theorie war, daß man mit ihr experimentieren konnte. Chemie, Diffusion, das war harte Wissenschaft. Wenn es stimmte, was er sich da zusammengereimt hatte, käme dies allerdings einer Art Bankrotterklärung der gesamten Fossilienkunde gleich, denn keiner der je und wo auch immer ermittelten Altersangaben wäre dann mehr zu trauen. Aber das war im Augenblick sein geringstes Problem.

Wer könnte so etwas tun, und warum? Um das Opfer eines Mordes zu beseitigen? Da gab es sicherlich bessere Methoden als die skelettierte Leiche ausgerechnet Paläontologen vor die Füße zu legen.

Versuchte da jemand, die Anthropologie auf den Kopf zu stellen? Ihm fiel wieder das Buch ein, das die 65 Millionen Jahre alte Vormenschheit zu beweisen vorgab. Jemand, der solche abstrusen Theorien beweisen wollte? Irre gab es überall, und es wäre nicht das erste Mal.

Der berühmte Piltdown-Schädel aus England war das beste Beispiel. Erst viele Jahrzehnte nach seiner Entdeckung Anfang des Jahrhunderts und nach langen hitzigen Debatten stellte sich heraus, daß es sich um eine ziemlich plumpe Fälschung handelte und keineswegs um das erhoffte Missing link, das Verbindungsglied zwischen Affe und Mensch. Jemand hatte der Geschwindigkeit anthropologischen Erkenntnisgewinns etwas nachhelfen wollen und ein eiszeitliches menschliches Schädeldach mit einem Gorillakiefer kombiniert. Das erstaunliche war nur, daß der Schwindel so lange unentdeckt blieb und erst durch moderne Methoden der Altersbestimmung entlarvt wurde. Das Geschehen um den Piltdown-Menschen führte sogar noch fünfzig Jahre nach seiner Entdeckung zu einer Staatsaffäre. Auf diesem Gebiet ging es eben um wesentlich mehr als um reine Wissenschaft, deswegen hatte Axt tunlichst die Finger von der Anthropologie gelassen. Hier spielten Religion und Weltanschauungen mit hinein, und diese Verbindung funktionierte meist nicht sehr gut.

Leider machte im Fall seines Messeler Homo sapiens auch diese schöne Erklärung keinen Sinn. Wenn jener mysteriöse Unbekannte die Vorstellung in die Welt setzen wollte, die Menschheit sei sehr viel älter als bisher angenommen, dann hätte er sich wirklich die Mühe machen sollen, seinem Skelett die Backenzähne zu ziehen und ihm die Armbanduhr abzunehmen. So war das Ergebnis einfach nur lächerlich.

Axt hatte also versucht sich vorzubereiten, sich ein Netz zu knüpfen, damit er nicht ins Bodenlose fiel, wenn die Kontroll-untersuchung zu demselben Ergebnis kam wie Niedners Labor in Frankfurt. Und doch, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, traf ihn diese Situation jetzt wie ein heimtückischer Überfall aus dunklem Hinterhalt, wie der Tod eines schwerkranken lieben Menschen, mit dem man immer rechnen mußte und der einen doch völlig unvorbereitet überwältigt.

Er warf den Kunstharzblock mit dem Prachtkäfer auf den Schreibtisch, sprang auf und lief ruhelos in seinem Arbeitszimmer umher. Aber der Raum wurde ihm bald zu eng, die Wände, die Decke schienen auf ihn zuzukommen, drohten ihn und alles andere im Raum zu zermalmen. Er griff nach seinem Mantel und stürzte aus der Tür.

Eigentlich wollte er nur raus aus diesem Gebäude, an die frische Luft, weg von dem Skelett. Ohne nachzudenken, lief er zur Grube hinunter.

Es war ein trüber Tag mit tiefliegenden, grauen, von einem kräftigen Wind angeschobenen Wolken. Er schlug den Mantel zu und klappte den Kragen hoch. Während er den Kiesweg hinter dem Eingangstor entlangschritt und in die Grube hinunterschaute, dachte er noch: Der Schiefer sieht heute tiefschwarz aus, schwärzer als sonst. Dann geschah es.

Zuerst hörte er nur ein Rauschen und Plätschern, das langsam anschwoll. Er verspürte ein leichtes Schwindelgefühl, Übelkeit. Mein Kreislauf, dachte er und blieb vorsichtshalber stehen, tastete haltsuchend nach den kahlen Ästen des Gestrüpps am Wegrand, nach irgend etwas, woran er sich festhalten konnte. Seine Knie zitterten. Die Farben der umgebenden Landschaft verblaßten, vertraute Konturen verschwammen wie hinter einer Milchglasscheibe. Grelle Lichtpunkte blitzten auf. Plötzlich leuchtete alles in einem intensiven Grün, und statt des Schiefers lag da eine glänzende Wasserfläche. Der Wind peitschte ihm Regentropfen ins Gesicht, und er hörte fremdartige Tierstimmen, das Rauschen der Baumkronen, das Rascheln der Palmwedel hoch über ihm, ein Klatschen im Wasser. Die Brise trug ihm einen fauligen Geruch in die Nase, dann roch es plötzlich süß und schwer nach Blütenduft. Der See lag wie ein dunkler Spiegel vor ihm, rechts ein Meer von Seerosen. Dazwischen konnte er deutlich die Nasenlöcher und Augenhöcker eine großen Krokodils erkennen, das unbeweglich im Wasser lag und ihn zu mustern schien. Er stand ganz in der Nähe des Seeufers, und jetzt spürte er, wie Feuchtigkeit in seine Schuhe sickerte. Mit großer Mühe gelang es ihm, den Kopf zu bewegen und auf den Boden zu schauen. Seine Schuhe standen auf einer schwärzlichen Schicht halbverrotteter Blätter. Als er seine Füße hob, füllten sich die Abdrücke langsam mit Wasser. Plötzlich hörte er ein seltsam vertrautes Geräusch, einen Schrei, den ihm wohl der Wind über die Wasserfläche zuwehte. Das war doch eine menschliche Stimme ...

Nach Osten

Es war heiß. Heiß und feucht. Wie in einer Sauna.

Micha riß die Augen auf, mußte sie aber sofort wieder schließen, weil er von einer gleißenden Helligkeit geblendet wurde.

Das war unmöglich! Er träumte noch.

Langsam hob er erneut die Lider und blickte ungläubig über den Bootsrand hinweg in eine endlose spiegelglatte Wasserwüste, über der ein milchiger Dunst schwebte. In der Ferne nur schemenhaft auszumachen, ragten gezackte Berggipfel in einen diesigen Himmel. Es herrschte absolute Stille, nur das Glucksen des Wassers am Bootsrand war zu hören. Er wollte sich aufrichten, aber sofort ließ ihn ein pochender Schmerz am Hinterkopf innehalten. »Autsch! Was zum Teufel ...?«

»Ah, unser Steuermann ist aufgewacht«, hörte er Tobias sagen. »Willkommen im Tertiär! Ist das nicht phantastisch?«

Claudia und Tobias saßen in T-Shirts nebeneinander auf der vorderen Ruderbank und hatten sich beide zu ihm umgedreht. Tobias zeigte ein seliges Lächeln, während Claudias Gesicht von Angst gezeichnet war. Sie sah aus, als ob sie mindestens zwei Nächte durchgemacht hätte.

»Tertiär, he?« sagte Micha und zwang sich trotz der Schmerzen in seinem Schädel ein Lächeln ab. Vorsichtig streckte er den Kopf in die Höhe und blinzelte in die blendende Helligkeit. Als er sich umdrehte, erkannte er in einiger Entfernung vom Boot eine zerklüftete Felseninsel. Waren sie daher gekommen?

Wo war die Höhle? Was war überhaupt passiert? Er war ohnmächtig geworden, soviel war klar, aber .

»Es ist also wirklich wahr«, sagte er leise und rieb sich seinen schmerzenden Hinterkopf. Er fühlte eine beachtliche Beule. Er mußte sich irgendwo den Kopf gestoßen haben.

»Was hast du denn gedacht?« Tobias strahlte. Wenn er den Mund aufmachte, sendete sein Diamant helle Lichtblitze aus und gab ihm etwas Diabolisches. »Du hast nicht daran geglaubt, was?« Er lachte aus vollem Halse.

Nein, natürlich hatte er es nicht geglaubt, und irgendwie glaubte er es auch jetzt nicht.

»Meinst du nicht, du solltest dich jetzt langsam mal mit dem Gedanken vertraut machen, daß ich recht haben könnte?« Er stieß Claudia in die Seite. »Deine Freundin hier hat damit allerdings auch noch große Probleme. Ich habe versucht, ihr alles zu erklären, wo wir sind und die ganze Vorgeschichte, aber sie glaubt mir einfach nicht. Ihr paßt wirklich prima zusammen. Kompliment!«

Sie war ein Bild des Jammers. Gerne hätte Micha ihr gesagt, sie solle sich keine Sorgen machen, das alles hier sei nur ein besonders realistischer Traum, aber die Tatsachen sprachen einfach für sich. Wenn das hier nicht das Tertiär war, dann hatte sie die Höhle, der Fluß oder was auch immer direkt nach Sansibar oder in die Südsee verfrachtet, was mindestens genauso erstaunlich wäre. Er war schwer angeschlagen, aber Claudia tat ihm wirklich leid. Sie hatte es unvorbereiteter getroffen als ihn. Das Lachen war ihr gründlich vergangen. Sie schüttelte wieder und wieder den Kopf und sah aus wie die personifizierte Ratlosigkeit.

»Wo ist eigentlich Pencil?« fragte sie kleinlaut. Ihre Augen wurden größer und blickten suchend umher.

Tobias’ gellendes Gelächter schallte über das Wasser. »Da unten!« Er deutete nach vorne. »Hat sich verkrochen, der Ärmste.« Tatsächlich hockte Pencil zitternd unter der Sitzbank im Bug und schien sie mit großen, vorwurfsvollen Augen zu mustern.

»Vielleicht solltest du dich mal etwas zeitgemäßer kleiden, Micha, sonst erkältest du dich noch und verscheuchst uns mit deinem Geniese die Säbelzahntiger.«

Tobias’ gute Laune war penetrant. Er triumphierte.

Micha wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und zog die Windjacke und den dicken Pullover aus.

Von Norden wehte plötzlich ein leichter Wind über das Wasser, und gleichzeitig hörte man in der Ferne ein tiefes Rumpeln. Dann noch einmal. Sie drehten sich alle drei in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war.

»Vulkane«, sagte Tobias ganz selbstverständlich.

Blödmann, tut so, als ob er das alles hier kennen würde wie seine Westentasche, dachte Micha. Aber da war es wieder! Diesmal besonders laut, ein dunkles, machtvolles Grollen, faszinierend und fremdartig. Sogar Pencil kam jetzt aus seiner Deckung hervorgekrochen, stützte sich aufrecht mit den Vorderpfoten an der Bordwand ab und starrte über das Wasser.

Nach den wenigen Sätzen, die sie gesprochen hatten, senkte sich bald eine bedrückende Stille über das winziges Boot. Keiner sagte mehr etwas, sogar Tobias schwieg. Bis auf den Vulkan schien hier alles tot zu sein. Nichts rührte sich, selbst der Wind legte sich wieder, und die Titanic dümpelte in einer schwülen Backofenhitze dahin. Später sahen sie in großer Höhe einige Vögel in Formation vorüberziehen, erste und tröstliche Vorboten einer belebten Welt. Aber was für eine Welt war das hier? Micha bekam sofort Kopfschmerzen, wenn er darüber nachdachte.

»Was ist? Wollen wir mal ein bißchen rudern?« Tobias schaute Claudia auffordernd an. Sie schüttelte den Kopf, erhob sich vorsichtig, damit das Boot nicht allzusehr schwankte, und setzte sich vorne in den Bug. Tobias zuckte mit den Achseln, rückte in die Mitte der Sitzbank und griff nach den Rudern. »Na, gut. Dann eben nicht. Aber ich fang schon mal an, ja? Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«

Er schaute kurz auf seinen Kompaß, zog das rechte Ruder durch das Wasser, um die Titanic etwas zu drehen, und begann dann mit beiden Riemen kräftig zu rudern. Das Knarren des Holzes löste Micha aus seiner Erstarrung. Nach ein paar Minuten setzte er sich auf die andere Holzbank und griff nach dem zweiten Ruderpaar.

Den Tag über ruderten sie ruhig, aber zügig, einerseits, um sich in der drückenden Schwüle mit der ungewohnten Tätigkeit nicht zu überanstrengen, andererseits war Rudern das beste und auch fast das einzige Mittel gegen die Angst. Micha zitterte wie Espenlaub. Das geringste Geräusch ließ ihn zusammenzucken. Die Angst war so elementar, so existentiell, daß irgend etwas in seinem Gehirn verhinderte, sie als solche überhaupt wahrzunehmen. Claudia ging es nicht anders. Sie signalisierte mit ihrem ganzen Körper, daß man sie auf jeden Fall in Ruhe lassen sollte, und dafür, daß er das alles hier schon einmal erlebt hatte, wirkte auch Tobias ziemlich unruhig und in sich gekehrt.

Wenn Micha nicht ruderte, saß er meist auf der hinteren Bank und blickte ihrer Fahrspur hinterher, beobachtete, wie die von den Ruderschlägen ausgelösten Wirbel sich beruhigten, die zurückbleibenden Blasen sich langsam wieder auflösten, oder er starrte nach vorne auf die Bergkette, der sie sich unmerklich näherten. Unaufhörlich nagten dann Angst und Verwirrung an seiner Selbstbeherrschung, und mehr als einmal mußte er den schier übermächtigen Impuls bekämpfen, sich der Ruder zu bemächtigen, das Boot zu drehen und wieder mit voller Kraft in Richtung Heimat zu fahren. Untätigkeit war Gift für ihn in diesen ersten Tagen, und so versuchte er sich meistens irgendwie zu beschäftigen. Oft griff er zu seinem Tagebuch und füllte Seite um Seite mit ausufernden Schilderungen seiner Angst-und Wahnvorstellungen, die im Dunkeln schier übermächtig zu werden drohten.

Nachts ließen sie sich einfach treiben und versuchten zu schlafen. Es war entsetzlich eng und unbequem. Die erste Nacht war am schlimmsten. Micha hatte sich sogar noch einen Pullover übergezogen, aber ihm war trotzdem kalt. Beklemmende Angst und der Schock taten das übrige. Während Tobias bald leise vor sich hin schnarchte, konnte Micha lange kein Auge zutun, starrte nur mit klappernden Zähnen in die kalte Schwärze um sie herum und versuchte verzweifelt, seine amoklaufenden Gedanken im Zaum zu halten.

Auch Claudia schlief kaum. Sie lag mit offenen Augen da, zuckte bei jeder zufälligen Berührung zusammen, als wolle man ihr an die Gurgel springen. Erst jetzt, mit stundenlanger Verspätung, traf ihn die ganze Wucht der Erkenntnis, daß Tobias offensichtlich die Wahrheit gesagt hatte. Wie sollte man in einer solchen Situation schlafen? Es war ihm unmöglich, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Alles in ihm war in höchster Alarmbereitschaft. Schnatternd vor Angst und Kälte glaubte er immer wieder, irgendwelche schleichenden, schattenhaften Bewegungen in der Nähe des Bootes ausmachen zu können. Das gelegentliche leise Plätschern des Wassers versetzte ihn derart in Panik, daß an eine ruhige, besonnene Analyse der neuen Lage nicht im Traum zu denken war.

Nicht einmal die Sterne boten Trost, im Gegenteil. In fremder, willkürlich erscheinender Verteilung blinkten sie vom Himmel auf ihre erbärmliche Nußschale herab. Immer wieder versuchte Micha irgendwelche vertrauten Muster zu entdecken, aber da gab es nichts außer chaotisch anmutenden Sternhaufen, denen keine irgendwie geartete Ordnung zu entlocken war, und je länger er hinaufstarrte, desto verlorener kam er sich vor.

Die Vögel, die sie tagsüber hin und wieder vorbeifliegen sahen, blieben das einzige Zeichen von Leben, das ihnen in den nächsten drei Tagen begegnen sollte. Abgesehen von den Bergen, die aber noch in großer Entfernung lagen, gab es nichts als Wasser, so weit das Auge reichte, Wasser und schwere feuchte Luft.

Bei alldem war Micha unbegreiflich, wie Tobias das bei seiner ersten Reise alleine geschafft hatte. Schon der bloße Gedanke daran, hier allein, ohne jede Begleitung, auf dem Wasser zu schaukeln, machte ihn ganz krank. Sie redeten zwar kaum miteinander, aber wenigstens war er nicht allein.

Tobias hatte damals vier Tage benötigt, um das Wasser zu durchqueren. Das war die vage Aussicht, an die Micha sich klammerte, wenn er wieder mehr schlecht als recht eine Nacht überstanden hatte, endlose Stunden in schwüler mondloser Dunkelheit, in denen er mindestens zehnmal aufwachte, weil er sich an der Ruderbank, den Rudern oder den Rucksäcken stieß oder seine Gefährten ihm beim Umdrehen den Ellbogen in die Seite gerammt hatten.

Als Micha wieder einmal auf der Heckbank hockte und während der monotonen Bewegungen des Bootes versonnen die im Dunst zurückgelegte Wegstrecke überblickte, schoß ihm plötzlich ein Gedanke durch den Kopf, der ihn sofort alarmierte und ruckartig aufstehen ließ.

»He, Mann, paß doch auf! Bist du verrückt?« rief Tobias, und Claudia kreischte vorn auf, weil das Boot durch seine abrupte Bewegung bedenklich ins Schaukeln geraten war.

»Könnt ihr mir mal verraten, wie wir hier wieder zurückfinden sollen?« schrie Micha aus vollem Hals und zeigte mit weit aufgerissenen Augen in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Schaut euch doch an, wie es hier aussieht.«

»Trostlos«, sagte Claudia mit versteinertem Gesichtsausdruck.

»He, he, beruhige dich, Micha!« sagte Tobias. »Wir müssen immer nur nach Osten fahren, genau nach Osten!« Er tippte auf seinen Kompaß, den er an einer Schnur um den Hals trug. »Überhaupt kein Problem, glaub mir.«

Schlagartig fiel es ihm wieder ein: Tobias hatte es ja auch geschafft. Er war zurückgekommen. Es ging also. Nach Osten, immer nach Osten!

Micha ließ sich wieder auf die Sitzbank sinken und atmete tief durch. Nach Osten.

»Alles wieder okay?« Tobias hatte eine Hand auf seine Schulter gelegt. »Mach dir keine Sorgen! Die Insel mit dem Höhlenausgang ist ziemlich groß. Man kann sie kaum übersehen.«

Micha nickte. Besonders wohl fühlte er sich nicht, aber er zwang sich mit aller Kraft daran zu denken, daß Tobias auch zurückgefunden hatte, eine Methode, die sich auch in den nächsten Tagen bei ähnlichen Anfällen bewährte. Aufregen half eh nichts mehr. Der Wahnsinn hatte seinen Lauf genommen.

Sie ruderten jetzt immer zu zweit, lösten sich etwa im Stundenturnus ab, so daß sich jeweils einer ausruhen konnte. Kaum merklich war das Grollen und Rumpeln der Vulkane im Laufe der Zeit immer lauter geworden und hatte die Stille verdrängt. Aber die Einsamkeit und Verlorenheit, die Micha in dieser, Landschaft empfand, hätte nicht totaler sein können. Stundenlang saßen sie im Boot, ruderten mit langsamen, aber stetigen Schlägen und sprachen selten.

Claudia war besonders schweigsam. Das paßte nicht zu ihr und beunruhigte Micha. Aber was erwartete er eigentlich? Er war momentan auch kein sehr amüsanter Gesprächspartner. Da sie die ganze Zeit über auf engstem Raum zusammenhockten und jeder ununterbrochen unter Beobachtung der anderen stand, schienen sie sich alle so tief wie möglich in sich selbst zu verkriechen. Auch Tobias bildete da keine Ausnahme. Kaum einmal ein Lachen, nur unsichere Blicke.

Claudia saß gerade vorne im Bug, kraulte mit einer Hand Pencil, der unter der Sitzbank lag, und schaute in Fahrtrichtung in den Dunst hinaus. Es herrschte absolute Flaute.

Wie das plötzliche Kreischen einer Motorsäge zerschnitt ihr Schrei die Stille, und Michas Herzschlag machte einen Sprung. Sie hörten sofort auf zu rudern und drehten sich um. Claudia zeigte auf eine Stelle im Wasser. Etwa zwanzig Meter schräg rechts vor der Titanic bildete sich aus dem Nichts eine gigantische blauweiße Wasserblase, die immer größer wurde, schließlich zerfloß und den warzigen Rücken eines riesigen Lebewesens offenbarte. Eine meterhohe Dampf- und Wasserfontäne schoß direkt neben ihnen fauchend in die Luft, und sie hielten alle starr vor Schreck den Atem an. Das Boot begann zu schaukeln. Noch ein Aufschrei. Pencil verkroch sich winselnd tiefer in sein Versteck. Meter für Meter wälzte sich ein von Seepocken, Muscheln und anderem Bewuchs bedeckter Rük-ken durch das Wasser, bis die riesige Schwanzflosse eines Wals baumhoch und unverkennbar vor ihnen aufragte. Kurz danach erinnerten nur noch die sich auf dem spiegelglatten Wasser rasch entfernenden Wellenkreise daran.

Nach einem kurzen Moment verblüfften Schweigens entlud sich ihre Anspannung in freudigem Gejohle und Gekreische. Sie hatten einen Wal gesehen, einen richtigen, lebenden, riesig großen Wal. Wie um ihnen eine Freude zu machen, tauchte er hundert Meter weiter wieder auf, blies seine Fontäne in die Luft und verschwand schnaufend in der Tiefe. Diesmal begrüßten sie den Riesen mit lautem Geschrei.

Natürlich gab es danach stundenlang kein anderes Thema mehr. Sie mußten alle drei unwillkürlich daran denken, was die Menschen diesen grandiosen Kreaturen antaten.

»Wißt ihr, daß Onassis, dieser Oberkapitalist, die Barhocker seiner Luxusjacht mit Walpenishaut beziehen ließ?« fragte Claudia. »Wenn sich dann irgendwelche dickärschigen Damen darauf setzten, machte er anzügliche Bemerkungen wie: Ist ihnen klar, Madam, daß sie mit ihrem schönen Hintern auf dem größten Penis der Welt sitzen?« Ihr Gesicht verzog sich voller Ekel.

Tobias hatte eine erstaunliche kleine Karte dabei, die er aus irgendeinem geologischen Fachbuch kopiert hatte - Europa im Eozän. Aber von den vertrauten Formen ihres Kontinents war da nichts zu sehen, statt dessen nur seltsam verschlungene Küstenlinien und wahllos im Ozean verteilte Inselgruppen.

Ihnen allen war klar, daß sich die vertraute Topographie der Erde im Laufe der Jahrmillionen, gelinde gesagt, verändert hatte. Genaugenommen war das Unterste zuoberst gekehrt worden. Aus Meerestiefen waren zackige Bergketten geworden, und ganze Gebirge wurden durch Luft und Wasser wieder zu Staub zermahlen. Sogar die Gipfelfelsen des Mt. Everest, über 8000 Meter über dem Meeresspiegel, bestanden aus biogenem Kalk, den zahllose winzige Meereslebewesen über schwindelerregend lange Zeiträume hinweg gebildet hatten. Die den Menschen so vertrauten Küstenverläufe und Umrisse der Kontinente waren erdgeschichtlich betrachtet nur vorübergehende, flüchtige Erscheinungen, wie eine Wüstendüne, die permanent Standort und Form verändert. Heutige Bezeichnungen hatten in diesen Zeiten keinerlei Bedeutung. Völlig andere, geheimnisvoll klingende Namen bezeichneten die geographischen Strukturen, Namen, die klangen, als entstammten sie Tolkiens Fantasy-Welten.

Natürlich wußten sie das alles, aber es nützte ihnen nicht viel. Tobias’ kleine Kopie war ja wohl nicht ernst zu nehmen, und da man hier nirgends detailliertere Karten kaufen konnte, hatten sie keine Ahnung, wo sie sich augenblicklich befanden. Auch die magnetischen Pole hatten sich im Laufe der Jahrmillionen immer wieder umgekehrt. Was also wollte ihnen Tobias’ Kompaß sagen, wenn seine Nadel nach Norden wies?

Sie mußten sich wohl damit abfinden, auf absehbare Zeit in einer Wirklichkeit gewordenen Unmöglichkeit zu leben, so schwer das ihren naturwissenschaftlich geschulten - oder sollte man sagen: verbildeten - Gehirnen auch fiel. Nichts schien mehr festzustehen, alles war völlig neuartig, unbestimmt und bot reichlich Stoff für hitzige Streitgespräche.

Der einzige in ihrer Gesellschaft, den das alles nicht zu kümmern schien, war natürlich Pencil, der die meiste Zeit des Tages in seinem Versteck unter der Bugsitzbank döste und nur zum Leben erwachte, wenn er über die Bordwand gehalten werden wollte oder Claudia ihm eine Dose Hundefutter offnere. Das schlang er dann in sich hinein, als befände er sich zu Hause neben dem heimischen Herd. Die Banalität seiner alltäglichen Bedürfnisse hatte etwas Tröstliches inmitten all der Ungewißheit. Außerdem bot er einige der wenigen Anlässe für Erheiterung, etwa wenn er im Schlaf immer wieder anfing, knurrend irgendwelche imaginären Löcher zu buddeln. Ihm fehlten eben die Bäume, der Sand, die kleinen Dinge, die ein Hundeleben lebenswert machten.

In Richtung Westen, ihrer Fahrtrichtung, waren sie dem Festland so nahe gekommen, daß durch Tobias’ Fernglas vor den in größerer Entfernung liegenden Berggipfeln Einzelheiten eines braunen, flachen Landes erkennbar wurden. Außerdem entdeckten sie etwas südlich von ihrer Route eine breite Flußmündung und änderten daraufhin ihren Kurs. Tobias hatte die Mündung schon vorher angekündigt. Es war immerhin beruhigend, daß wenigstens einer von ihnen wußte, wo es langging.

Besonders verlockend war die Aussicht nicht. Alles in allem bot die sich nähernde Landschaft einen ziemlich trostlosen Eindruck. Keine Bäume, nicht einmal ein paar mickrige Sträu-cher, und an einen Dschungel war gar nicht zu denken. Je näher sie kamen, desto deutlicher wurde, daß der Fluß sie mitten in eine Wüste hineinführen würde.

Trotzdem legten sie sich kräftig in die Riemen, um noch vor Einbruch der Nacht endlich das Festland zu erreichen. Zwei Stunden später passierten sie die Flußmündung, ruderten gegen eine schwache Strömung ein Stück flußaufwärts und suchten einen günstigen Anlegeplatz. Sie einigten sich auf eine kleine sandige Bucht, und wenige Minuten später betraten sie zum ersten Mal seit Tagen wieder festen Boden. Keiner war glücklicher darüber als Pencil, der, kaum hörte er das Knirschen des Bootsrumpfes auf dem Ufersand, wie von der Tarantel gestochen aus der Titanic schoß und kreuz und quer durch die Gegend peste.

»Pencil!« brüllte Claudia erschreckt. »Komm sofort zurück!« Aber sie schrie sich vergeblich die Seele aus dem Leib.

»Laß ihn doch! Er braucht Auslauf«, sagte Micha und sprang mit nackten Füßen in das kühle braune Wasser. »Ich kann selber kaum glauben, daß wir an Land sind.«

Während Claudia sich vergeblich bemühte, Pencil wieder einzufangen, der sich ein Spiel daraus zu machen schien und sie ganz nahe herankommen ließ, um dann wieder mit fliegenden Ohren und heraushängender Zunge zwischen den verstreut herumliegenden Felsbrocken hindurchzuhetzen, zogen Tobias und Micha die Titanic ans Ufer und vertäuten sie an einem großen Felsen.

»Ich gehe mal’n bißchen spazieren«, sagte Tobias ziemlich unvermittelt. Er wirkte unruhig und marschierte sofort los, ohne eine Reaktion abzuwarten.

Claudia, die inzwischen die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen eingesehen hatte, kehrte schwer atmend zum Boot zurück und lachte. Es war das erste Mal, daß Micha sie lachen sah, seit sie in die Höhle gefahren waren.

»Puh, es hat keinen Zweck«, sagte sie. »Den kriegt keiner.«

Sie half ihm, das Zelt an Land zu transportieren, und entdeckte dabei die Angel. »Ohh, eine Angel, super! Ich versuch, uns ein paar Fische zu fangen«, rief sie, schnappte sich die Angel und den kleinen Spaten und stapfte im nächsten Moment schon im Ufersand flußaufwärts.

»Es dämmert bald«, rief Micha ihr hinterher.

»Da beißen die Fische am besten«, hörte er sie noch rufen. Dann war sie hinter einigen Felsblöcken verschwunden. Pencil trottete hinter ihr her.

Statt das Zelt aufzubauen, hockte er sich auf einen Stein und betrachtete die Umgebung. Es war das erste Mal seit vielen Tagen, daß er für einen Moment allein war, und er genoß es aus vollen Zügen. Sein Blick schweifte über die Bergkette, über die goldenen Brauntöne der weiten Wüstenlandschaft am anderen Flußufer. Im Westen verschwand die Sonne als roter Glutball hinter den Berggipfeln, und im Osten schimmerte die spiegelglatte Wasserfläche eines Meeres, dessen Namen er nicht einmal kannte. In der diesigen Ferne verschmolz das Wasser, durch das sie gekommen waren, zu einer einzigen weißen Linie am Horizont, die Erdball und Himmel zu trennen schien. Irgendwo dort lag auch die Höhle.

All das war wunderschön und majestätisch und gleichzeitig erschreckend fremdartig und beunruhigend. Er stand auf und lief am Fluß auf und ab, genoß es, wieder richtige Erde unter den Füßen zu haben.

Schließlich entdeckte er an der kleinen Uferböschung ein paar Pflanzen. Neugierig betrachtete er die mickrigen Grashalme. Ein paar Meter weiter fand er sogar einige unscheinbar blühende Kräuter. Aber sah tertiäres Gras genauso aus wie heutiges, wirkten tertiäre Blumen irgendwie primitiver als die heimischen Gänseblümchen? Oder war das hier gar nicht das Tertiär?

Wenig später kam Tobias zurück und stutzte, als er ihn ansah. »Ist dir ein Engel erschienen, oder hast du dich heimlich über unsere Vorräte hergemacht?«

»Wieso?«

»Du siehst so zufrieden aus.«

»Ja? Hm, vielleicht liegt das an den Pflanzen hier«, sagte Micha und zeigte auf die dürren Hälmchen in Ufernähe. Tobias schaute ihn kurz an.

»Wo ist eigentlich Claudia?«

»Fische fangen!«

»Hier?« Tobias schien überrascht. »Na, hoffentlich ist sie erfolgreich.«

Er hatte sich während der Tage im Boot nie wieder darüber beklagt, daß Claudia und Pencil jetzt mit ihnen fuhren. Aber sie wurde von ihm besonders kritisch beobachtet, und Micha hatte das Gefühl, daß Tobias immer wieder nach Gründen suchte, die ihrer Anwesenheit für ihn irgendeinen Sinn verliehen.

Während Tobias unten am Ufer auf- und abschritt, quälte Micha sich an einer flachen, trockenen Stelle etwas oberhalb der kleinen Bucht mit den Zeltstäben und einer verwirrenden Vielzahl von Leinen ab. Er kannte dieses Zelt nicht und hatte keine Ahnung, was wohin gehörte. Als mit Macht die Dämmerung hereinbrach, versuchte er immer noch, Ordnung in das Chaos zu bringen. Endlich gelang es ihm, mit vier Heringen den Boden des Zeltes zu fixieren. Der Rest ergab sich dann schnell von selbst.

»Wenn Claudia nicht sofort mit dem Abendessen kommt, mach ich mich über unser Gulasch her«, rief Tobias vom Ufer hoch und rieb sich den Magen.

Micha fand auch, daß sie langsam wieder auftauchen könnte. Die Sonne war schon untergegangen, und es wurde jetzt rapide dunkel. Sie hockten sich nebeneinander unten ans Ufer und wärmten sich die Hände an der kleinen Flamme des Petroleumkochers. Es wurde empfindlich kalt. Sie warteten.

»He, Jungs, schaut mal, was ich hier habe!« Claudia stand auf einem Felsen und hielt irgend etwas in die Luft. Micha konnte in der Dämmerung nicht genau erkennen, was sie da in der Hand hielt, aber eines war sicher: Fische waren es nicht.

»Ach, das ist ja bloß Grünzeug«, sagte Tobias verächtlich, als Claudia kurze Zeit später neben ihnen am Flußufer stand.

»Immerhin etwas Lebendiges. Ansonsten ist hier ja absolut tote Hose.« Micha schaute zu Tobias hinüber. »Sagtest du nicht etwas von einem Dschungel?«

»Ihr habt ja keine Ahnung!« sagte Claudia entrüstet. »Bloß Grünzeug, Schachtelhalme sind das und was für welche. Sie wachsen ein Stück weiter flußaufwärts in einer morastigen Mulde. Der einzige grüne Fleck weit und breit. Hätt ich hier nicht erwartet.«

»Ich hab auch ein paar Pflanzen entdeckt«, sagte Micha.

»Und was ist mit Fischen?« fragte Tobias.

Claudia schüttelte den Kopf.

»Sag mal ...« Micha rieb sich nachdenklich das Kinn und betrachtete die feingliedrigen Gewächse, die Claudia mitgebracht hatte. Sie waren für Schachtelhalme ziemlich groß, fast einen Meter lang. »Sind so große Schachtelhalme nicht eher typisch für das Erdaltertum, Karbon und so?«

Er schaute zu Tobias, der den Blick sofort senkte und mit einer Hand im Sand herumspielte.

Sonntagnachmittagsschinken

Als Helmut Axt wieder zu sich kam, lag er am Rand des Kiesweges und blickte in das besorgte Gesicht von Max.

»Gott sei Dank, er kommt wieder zu sich«, rief Max, während er sich nach hinten umdrehte. Er war ganz außer Atem. Kurze Zeit später kam Rudi schnaufend und hustend die Auffahrt hoch und ließ sich ebenfalls neben Axt nieder, der gerade versuchte sich aufzurichten.

»Bin ich ohnmächtig gewesen?«

»Sie sind umgekippt«, keuchte Max. »Wir haben es von unten gesehen und sind gleich hochgerannt.«

»Tsss«, machte Axt und schüttelte benommen seinen Schädel. Er war noch immer völlig desorientiert.

Nur langsam und zögernd erinnerte er sich, was passiert war. Er hatte wieder dieses seltsame Gefühl gehabt, nur stärker als sonst, viel stärker. Alles hatte so real gewirkt, geradezu beängstigend, als ob er mitten im urzeitlichen Dschungel gestanden hätte. Was war das für Zeug da an seinen Schuhen?

Ihm fiel das Krokodil ein. Ganz deutlich hatte er es gesehen, lauernd hatte es zwischen den Seerosen gelegen. Es war ein besonders großes Tier gewesen, vielleicht so groß wie das, was dahinten am Grubenrand noch im Schiefer lag. Wir müssen es bald herausholen, dachte er. Wir dürfen nicht warten ...

»Er wird schon wieder ganz blaß. Wir sollten ihn so schnell wie möglich nach oben in die Station bringen. Was meinst du, Rudi?« Max schaute zu seinem Kollegen, der aber noch viel zu heftig nach Luft schnappte, um ihm antworten zu können, und nur mit dem Kopf nickte.

Er wandte sich wieder Axt zu. »Können Sie aufstehen?«

»Ja, natürlich«, sagte er selbstsicher, aber es gelang ihm auch mit Hilfe der beiden Grubenarbeiter nur mühsam, sich aufzurichten. Nach ein paar Minuten ließ das Kribbeln in seinen Beinen nach, und sie konnten sich langsam in Bewegung setzen.

»Sie sollten zum Arzt gehen«, sagte Max, der sich den rechten Arm seines Vorgesetzten um die Schulter gelegt hatte. »Mit so was ist nicht zu spaßen.«

»Hm«, erwiderte Axt, aber er hatte gar nicht richtig zugehört. Er stand noch ganz unter dem Eindruck dessen, was er gesehen hatte oder sich eingebildet hatte zu sehen.

Von Max und Rudi flankiert, erreichte Axt schließlich nach einer halben Stunde den Eingang der Senckenberg-Station. In Windeseile hatte sich unter der Belegschaft herumgesprochen, daß er auf dem Weg in die Grube zusammengebrochen war.

Seine Beteuerungen, ihm gehe es wieder gut und alles sei in Ordnung, nützten nichts, im Gegenteil. Alle wuselten aufgeregt um ihn herum, preßten ihn in seinen Stuhl und räumten die Schreibtischplatte frei, damit er seine Füße hochlegen konnte. Dann flößten sie ihm heißen Tee ein, setzten ihn schließlich in ein Taxi und rangen ihm das Versprechen ab, sich zu Hause sofort ins Bett zu legen. Er solle ja nicht wagen, sich hier in dieser Woche noch einmal blicken zu lassen, sondern sich endlich einmal richtig ausruhen. Er habe in letzter Zeit ausgesprochen nervös und überarbeitet gewirkt. Sabine wollte Schmäler in Frankfurt anrufen und ihm sagen, daß Axt krank war.

»Aber sag ihm nicht, daß ich zusammengebrochen bin«, flehte er sie an. »Er macht sich sonst unnötige Sorgen.«

»Ich mach das schon, Helmut. Denk du jetzt mal an dich.« Sie streichelte ihm über den Kopf.

Meine Güte, dachte er. Sie meinten es ja sicher gut, aber solch geballtes Mitgefühl, derart massive Hilfsbereitschaft konnte einem wirklich auf die Nerven gehen. Sie taten so, als sei er todkrank. Es war nur eine kleine, vorübergehende Unpäßlichkeit, nichts weiter. So etwas konnte doch jedem passieren.

Zu Hause legte er sich aber dann doch sofort ins Bett. Im Nu war er eingeschlafen.

Drei Tage später saß er allein am Küchentisch, grübelte vor sich hin und spießte mit der Gabel die Reste seines Rühreis vom Teller. Marlis war nicht zu Hause. Sie war über das Wochenende mit Stefan zu ihrer Freundin Monika nach Frankfurt gefahren und würde erst am Nachmittag zurückkommen. Natürlich hatte sie ihn nur unter größten Bedenken alleine gelassen, aber da er sowieso nur schlafen wollte, hatte er auf diese Weise seine Ruhe. Ihm fehlte ja nichts Ernstes, das hatte auch der Arzt gesagt. Ein Schwächeanfall, nichts weiter. Den gestrigen Tag hatte er im Bett verbracht, zweimal kurz mit Marlis telefoniert. Er fühlte sich matt und kraftlos.

So etwas war ihm noch nie passiert. Er war einfach völlig überarbeitet. Seit drei Jahren hatte er keinen richtigen Urlaub gemacht, nur diese zwei Wochen in Dänemark letzten Sommer. Statt dessen hatte er Nacht für Nacht über seinen Papieren gesessen, Berichte abgefaßt und Fachliteratur studiert. Und dann diese Geschichte mit dem Skelett. Das war einfach zuviel des Guten. Marlis hatte es ihm prophezeit. Er fühlte sich für alles und jedes verantwortlich und war unfähig, Arbeiten zu delegieren. Jetzt hatte er das Ergebnis.

Der Sonntag vormittag zog sich endlos in die Länge. Bald wünschte Axt , Marlis und Stefan wären hier und könnten ihn auf andere Gedanken bringen. Er versuchte Schmäler, den Homo sapiens, diese ganze leidige Geschichte aus seinen Gedanken zu verbannen, aber es wollte ihm einfach nicht gelingen. Er konnte an nichts anderes mehr denken. In seinem Kopf gab es nur dieses furchtbare Skelett. Sein Zusammenbruch in der Grube, so schien ihm jetzt, war der traurige Höhepunkt seines Niedergangs. Eine steile Karriere, die einmal zu den größten Hoffnungen Anlaß gab, hatte ihren Zenit überschritten, und nun ging es in rasendem Tempo bergab.

Er überlegte kurz, ob er einen Spaziergang machen sollte. Er war schon seit Tagen nicht mehr vor der Tür gewesen. Ein Blick aus dem Küchenfenster ließ ihn davon Abstand nehmen. Draußen regnete es Bindfäden.

Ratlos lief er durch die Zimmer ihres Hauses, bahnte sich durch herumliegendes Spielzeug und Dinosaurierfiguren einen Weg in das Kinderzimmer und versuchte sich eine Weile an einem von Stefans Gameboys. Aber er schaffte es einfach nicht, auch nur das erste der Monster zu überwinden. Außerdem bekam er von dem ununterbrochenen Gepiepe Kopfschmerzen.

Er blätterte wahllos in verschiedenen Büchern herum, las hier eine Seite, betrachtete dort eine Abbildung. Ihm fiel das Werk von Ernst Herzog in die Hände, einer der berühmtesten Dinosaurierkenner Deutschlands. Im Zuge des aufkochenden Saurierfiebers hatte man sich des Klassikers erinnert und vor kurzem eine modernisierte, reich illustrierte Neuausgabe herausgebracht. Obwohl er im Augenblick auf Dinosaurier nicht gut zu sprechen war, hatte er nicht widerstehen können und das Buch gekauft, aber aus Zeitmangel bisher kaum hineingeschaut. Im Vorwort der Neuausgabe las er vom rätselhaften und bis heute nicht aufgeklärten Verschwinden Herzogs, von einer Familientragödie, die den großen Gelehrten möglicherweise aus der Bahn geworfen und ihn zu einer tragischen, allerdings nie nachgewiesenen Verzweiflungstat getrieben hatte. Seltsam, dachte Axt, daß Menschen heutzutage einfach so verschwinden können. Er blätterte noch etwas in dem Buch herum und legte es dann mit einem gelangweilten Seufzer aus der Hand.

Schließlich landete er vor dem Fernseher. Er schaltete durch die Programme, schaute sich ein paar Ballwechsel eines Tennisspiels an, verfolgte einige grelle Musikvideos und blieb bei einer blonden Fernsehansagerin hängen, die den Beginn eines Spielfilms ankündigte.

Wunderbar, dachte Axt, so ein richtiger Sonntagnachmittagsschinken, das ist jetzt genau das richtige, je dümmer, desto besser. Ohne darüber nachzudenken, ging er an den Wohnzimmerschrank, griff nach einer vollen Flasche Malt Whisky, ließ sich in den großen Sessel fallen und starrte auf die flak-kernde Mattscheibe.

Halb amüsiert, halb gelangweilt und zwischendurch immer wieder sein Glas füllend, verfolgte er, wie vier Jungs in ein Ruderboot stiegen, eine große Höhle passierten und sich dann durch dichtes Packeis kämpfen mußten. Er fand den Film nur mäßig, aber als er das Mammut mit seinen unbeholfenen stereotypen Bewegungen sah, das die Jungs bei der Einfahrt in eine Flußmündung mit erhobenem Rüssel wie ein Empfangskomitee begrüßte, als er die gemalten Hintergrundkulissen sah und die Pappmacheaufbauten der dargestellten eiszeitlichen Landschaft, mußte er lauthals lachen, und aus seinen Augenwinkeln lösten sich einige Tränen.

Als Marlis kurz vor vier nach Hause kam und ins Wohnzimmer trat, bot sich ihr ein seltsamer Anblick. Zuerst sah sie die halbgeleerte Whiskyflasche auf dem Tisch und wollte schon aus der Haut fahren, aber dann blickte sie in das Gesicht ihres Mannes und hielt erschreckt inne. Auf dem Fernsehschirm stürzten sich gerade zwei laut brüllende Dinosaurierpuppen aufeinander und davor, auf dem Fußboden, hockte ihr Mann mit geröteten Augen und feuchten Wangen und sah sie mit einem derart mitleiderregenden und jammervollen Gesichtsausdruck an, daß sie die große Tasche mit Stefans Spielsachen einfach fallen ließ, sich neben Axt auf den Teppich hockte und ihn in den Arm nahm.

»Helmut, was ist denn los?« brachte sie nur heraus, bevor er sie umklammerte wie ein Ertrinkender seinen Retter und an ihrer Schulter in lautes, seinen ganzen Körper erschütterndes Schluchzen ausbrach.

»Um Gottes willen, Helmut, was ist passiert? Ist jemand gestorben?« Alle möglichen Katastrophen geisterten ihr durch den Kopf: Job verloren, Krebs, multiple und andere Sklerosen

»Vielleicht ist eine Zeitreise die Lösung«, nuschelte er und sah sie mit verheultem Gesicht an. »Das wäre doch wirklich eine verdammt gute Erklärung, findest du nicht?«

»Tut mir leid, ich verstehe kein Wort. Meinst du den Film da?« Sie zeigte auf den Fernseher. Das unterlegene der beiden Trickmonster schleppte sich mühsam weg, bis es schließlich von trauriger Musik untermalt regungslos liegenblieb. Es war ein Stegosaurus, soviel hatte sie als Mutter in den letzten Wochen gezwungenermaßen mitbekommen.

»Was is’n mit Papa los?« fragte Stefan, der mit großen fragenden Augen in der Zimmertür stand.

»Papa geht’s nicht gut«, sagte Marlis und ging zu dem Jungen. »Komm, sei lieb, geh nach oben in dein Zimmer. Ich ruf dich, wenn’s Essen gibt, ja?«

»Okay«, sagte Stefan zögernd und versuchte noch einen Blick auf seinen Vater zu erhaschen, als Marlis ihn hinaus in die Diele schob.

Sie hockte sich neben Helmut auf den Teppich und strich ihm über das Haar. Er weinte noch immer, verbarg das Gesicht hinter seinen Händen. Hinter ihm, auf der Mattscheibe, kletterten Kinder auf dem Stegosaurus herum und maßen die Knochenplatten mit einem Maßband. Sie beugte sich vor und schaltete den Apparat aus.

Die plötzliche Stille schien ihn aufzuwecken. In einem vollkommen ungeordneten Wortschwall brach alles aus ihm heraus. Er war betrunken und lallte, und sie hatte Mühe, ihn zu verstehen.

Marlis wurde es langsam unheimlich. Schon in Frankfurt hatte sie so ein komisches Gefühl gehabt und war deshalb relativ früh aufgebrochen. So hatte sie ihren Mann noch nie erlebt. Er war in einer absolut desolaten Verfassung, erst dieser Zusammenbruch in der Grube und jetzt das hier. Er hatte die halbe Flasche ausgetrunken. Am hellichten Tage schon betrunken. Sie hätte ihn nie alleine lassen dürfen. Er redete vollkommen konfuses Zeug und sah aus, als ob er einer Nervenheilanstalt entsprungen wäre.

»Paß mal auf Helmut, was hältst du davon, wenn ich uns jetzt erst einmal einen starken Kaffee mache, hm? Und dann erzählst du mir alles noch mal ganz in Ruhe. Aber zuerst bringe ich dich mal ins Bad. Vielleicht kommst du durch eine Dusche wieder zu dir.«

Sie führte ihn ins Badezimmer. Während er unter der Dusche stand, kochte sie schnell Kaffee. Irgendwann schlurfte er in seinen weißen Frotteebademantel gehüllt in die Küche. Sie kauten stumm auf ein paar Keksen herum, tranken den Kaffee.

»So, nun fang bitte noch einmal von vorne an, ich meine, wirklich von Anfang an, und wenn möglich in der richtigen Reihenfolge.«

Sie hielt ihre Tasse zwischen beiden Händen und sah ihren Mann an, der mit gesenktem Kopf auf die Krümel auf seinem Teller starrte. Sein Löffel malte unsichtbare Figuren in das Porzellan.

»Na ja, es fing damit an, daß Max einen außergewöhnlichen Fund machte, vor ein paar Monaten schon, und dann .«

Die Ralle

Während Axt vor dem Fernseher saß, betrat Familie Peters nur wenige Kilometer entfernt das Messeler Fossilienmuseum. Sie wollten eigentlich einen Waldspaziergang machen, aber dann hatte sie der Regen überrascht. Daniel, der Sohn der Peters, war ganz verrückt nach Fossilien und hatte sie schon lange gelöchert. Aber nach wenigen Minuten war klar, daß dieser Sonntag nachmittag kein reines Vergnügen werden würde.

Es war immer dasselbe mit dem Jungen. Er setzte sich irgend etwas in den Kopf, terrorisierte mit seiner Sturheit tagelang die ganze Familie, triezte die Kleine bis zur Weißglut mit seinen hinterlistigen Attacken, und wenn sie ihm dann nachgaben, um des lieben Familienfriedens willen das taten, was er wollte, war natürlich alles eine einzige Enttäuschung, war nichts so, wie er es sich vorgestellt hatte, gab es Tränen und lange Gesichter. Mit diesem Museum war es genauso.

Das Haus schien nicht gerade aus allen Nähten zu platzen, jedenfalls waren die Peters offenbar die einzigen Besucher. Es war ziemlich schwierig gewesen, den alten windschiefen Fachwerkbau überhaupt zu finden. Und es war ein sehr kleines Museum. Mehr als die zwei Mark Eintritt war es wirklich nicht wert. Außerdem könnten sie irgendwo wenigstens einen Getränkeautomaten oder so was aufstellen, Gummibärchen oder Schokoriegel und Comics für die Kinder anbieten. Die Deutschen hatten eben keine Ahnung, wie man so etwas aufziehen mußte, damit der Laden lief.

Die Amerikaner waren da ganz anders. Letztes Jahr waren sie in Florida gewesen und hatten das Sea-World-Aquarium in Orlando besucht. Was er da erleben durfte, hatte ihn tief beeindruckt. Sogar Daniel war ausnahmsweise einmal zufrieden gewesen. Aber so eine spektakuläre Reise war eben nicht jedes Jahr drin.

Peters blickte sich um. Wo steckte der Bengel? Ah ja, er lief im Nebenraum umher und ließ seine Hand mit entsetzlich gelangweiltem Gesicht über das Vitrinenglas gleiten. So sehr ihn Daniels Verhalten auch provozierte, insgeheim mußte er ihm recht geben. Dieses Museum war so aufregend wie die Streichholzschachtelsammlung seines alten Vaters, Gott hab ihn selig, verstaubte gläserne Kästen mit Skeletten, die toter nicht hätten aussehen können, lieblos präsentiert mit völlig unverständlichen, überfrachteten Schautafeln daneben. Peters’ Verstand pflegte angesichts der Zeiträume, um die es bei diesen Fossiliengeschichten ging, sowieso zu kapitulieren. Millionen, ja, Milliarden Jahre, wie sollte man so etwas begreifen? Ihm fiel es mitunter schon schwer, sich daran zu erinnern, was er letztes Wochenende gemacht hatte. Und was sollte dieses lateinische Kauderwelsch überall, bei dessen Entzifferung er sich fast die Zunge verrenkte. Da verging einem doch gleich die Lust. Außerdem gab es hier nur Krokodile, Schildkröten, Schlangen, Echsen und so etwas, alles Tiere, die selbst in lebendigem Zustand nicht besonders attraktiv waren, immer nur apathisch herumlagen und Daniel neulich im Frankfurter Zoo zu der berechtigten Frage veranlaßt hatten, ob die denn überhaupt echt seien.

Gut, da war dieses Urpferdchen, das wohl ziemlich berühmt war, und vor dessen Vitrine er noch einmal vergeblich versucht hatte, Daniels Interesse zu wecken (»Das soll’n Pferd sein?«), aber, ehrlich, da war doch jeder lebendige Ackergaul tausendmal interessanter.

Schon von außen hatte das alte Haus mit seinen Geranien und Yucca-Palmen in den Fenstern und dem hölzernen Treppenaufgang eher wie eine Puppenstube gewirkt. Das hätte ihn schon warnen müssen. Das Haus war selber ein Fossil. Keine Spur von aufregender Wissenschaft. Unten am Eingang hatte sie dann diese alte Jungfer empfangen. Sie wirkte genauso verstaubt wie all dies tote Zeug hier. Er verstand das einfach nicht. Warum sie da nicht eine junge hübsche Frau hinsetzten, vielleicht ein bißchen Zigeunerin, ein bißchen Hexe, so was wie die Einarmige im Haiaquarium von Orlando, mit dunklen, unergründlichen Augen, in denen irgendwie ein geheimnisvolles Feuer glomm, die unermeßlichen Tiefen der Zeit, das Wissen um die Vergänglichkeit alles Irdischen oder so etwas in der Richtung.

Die Kleine begann zu plärren, und Elsbeth warf ihm einen flehenden Blick zu. Sie stand dahinten vor der Vitrine mit der Schildkröte, die aussah, als sei sie unter eine Dampfwalze geraten, und versuchte die Kleine zu beruhigen. Er wollte gerade nach Daniel rufen, als die aufgeregte Stimme seines Sohnes aus dem Nebenraum drang.

»Papa, komm mal her!«

Sollte er doch noch etwas gefunden haben, das seine Aufmerksamkeit erregt hatte? Kaum zu glauben. Er bedeutete Elsbeth mit einer Handbewegung, daß sie sofort aufbrechen würden, und ging hinüber. Daniel drückte sich dort an einer der Glasvitrinen die Nase platt.

»Du, Papa, Fossilien können doch nicht einfach verschwinden, oder?« fragte er, ohne sich von der Stelle zu rühren.

»Natürlich nicht, wie kommst du denn darauf?« brummte Peters. Was war das nun wieder für eine Schnapsidee?

»Na, eben waren hier noch Knochen, und jetzt sind sie weg.«

»Das bildest du dir ein. Sachen verschwinden nicht einfach von einem Moment auf den anderen.« Er stand jetzt hinter dem Jungen und hatte ihm beide Hände auf die Schultern gelegt. »Komm, Daniel, wir wollen gehen.«

»Aber es stimmt!« beharrte der Junge. »Guck doch selbst! Da ist nichts mehr.«

»Ich sagte, wir wollen gehen.«

»Ich hab aber recht! Ich will jetzt nicht gehen.« Er stampfte mit dem Fuß auf den Boden und preßte beide Handflächen gegen das Glas.

»Du, werd jetzt nicht bockig, ja.« Nein, von ihm hatte er das bestimmt nicht. Er war als Kind ganz anders gewesen.

Peters zog den quengelnden Jungen von der Vitrine weg und schob ihn durch die niedrige Tür vor sich her in den Nebenraum. Wirklich gelungen, ihr Sonntagsausflug. Jetzt mußten sie sich auch noch durch den Ausflugsverkehr nach Hause quälen. Daniel wurde neuerdings immer schlecht im Auto. Schöne Aussichten. Das war jedenfalls das letzte Mal, daß er dem Genörgel des Jungen nachgegeben hatte. Elsbeth war wohl mit der Kleinen schon vorausgegangen, jedenfalls war sie nirgendwo zu sehen.

Beim Hinausgehen blickte er noch einmal über die Schulter. Da war tatsächlich nichts, nur dieses bräunliche Zeug, in dem die Fossilien eingebettet waren. Darunter stand: Messelornis cristata, Messelralle, was auch immer das sein sollte. Wäre doch wirklich nett, wenn sie sich wenigstens noch ein, zwei erklärende Worte abringen könnten.

Komisch, dachte er, während er den Jungen voranschob. Na ja, vielleicht ist der oder die Ralle gerade zum Entstauben im Labor, oder wie das bei den Fossilienfritzen hieß. Könnte alles mal ein Staubtuch vertragen hier.