121922.fb2 Das Olschieferskelett. Eine Zeitreise - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 6

Das Olschieferskelett. Eine Zeitreise - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 6

5

Lügen

Seit vier Tagen ruderten sie nun schon durch diese Landschaft, und nichts schien sich zu verändern, eine endlose Stein- und Geröllwüste, in der zackige Felsgebilde aufragten wie marode Zähne im Maul eines Riesen. Flirrende Luft lag über dem Land, das aussah, als hätten Frost und Hitze, Wind und Wetter über endlose Zeitspannen hinweg ihr Zerstörungswerk getan und an dem schroffen Fels genagt, bis er irgendwann einmal zu Sand und Geröll zersprungen und zermahlen wurde. Diese Erde, wie jung sie auch immer sein mochte, sah schon uralt aus.

Micha wußte nicht mehr recht, was er eigentlich erwartet hatte, ob er unbewußt damit rechnete, alle Ungeheuer dieser Zeit würden am Ufer Spalier stehen, Männchen machen und sie mit ohrenbetäubendem Gebrüll willkommen heißen, aber er war enttäuscht. Diese karge Verlassenheit, diese leblose Stille wirkte deprimierend und unheimlich, wie die Ruhe vor dem Sturm. Vögel, die mit ihren Stimmen für etwas Auflockerung hätten sorgen können, schien es hier nicht zu geben. Es rührte sich nichts, jedenfalls nicht tagsüber, und wenn die Bewohner dieser Wüste nachtaktiv waren, dann waren sie sehr rücksichtsvoll und verhielten sich bei ihren nächtlichen Verrichtungen ausgesprochen still. In all den Tagen auf dem Fluß hatten sie nicht ein einziges lebendes Tier gesehen, und sei es noch so unbedeutend. Micha war nicht einmal mehr sicher, ob es wirklich Vögel gewesen waren, die sie da draußen auf dem Meer gesehen hatten. Und der Wal? War das vielleicht auch nur Einbildung gewesen, eine Fata Morgana?

Langsam, kaum merklich, rückte die Bergkette näher. Man erkannte jetzt deutlich einige schroffe Felsformationen, insbesondere zwei wie Zwillingstürme nebeneinander aufragende Felsnadeln, die sie King und Kong tauften. Hin und wieder trieben dicke Wolkenkissen über die Berge, die sich aber oft bald wieder auflösten. Sie kamen von der anderen Seite, aber Regen brachten sie wohl nicht. Auch da vorne an den Berghängen gab es keine Bäume, keinen Wald, das konnten sie jetzt durch das Fernglas eindeutig erkennen.

Sie hatten sich ziemlich schnell entschieden, die empfindlich kalten Nächte an Land zu verbringen, obwohl sie nicht wußten, was dort möglicherweise auf sie warten würde. Keiner war nach den ersten Tagen besonders versessen darauf, noch eine Nacht in der Titanic zu schlafen. Sie verzichteten allerdings auf ihr Zelt und schliefen nur auf den Thermomatten, damit sie sofort verschwinden konnten, wenn die Wache Alarm schlug.

Aber alle ihre Befürchtungen erwiesen sich als übertrieben. Die Nächte vergingen eine nach der anderen, ohne daß sich irgend etwas tat. Da es außerdem wirklich keine besonders angenehme Beschäftigung war, drei Stunden in absoluter Dunkelheit und Geräuschlosigkeit auszuharren, ausschließlich damit beschäftigt, nicht einzuschlafen und auf das Lager aufzupassen, schafften sie die Wachen bald ab. Vielleicht war es leichtsinnig, aber sie hatten ja Pencil. Micha hatte selten eine gruseligere Zeit verbracht als diese wenigen, aber endlos erscheinenden Stunden seiner nächtlichen Wache. Nur der winzige Lichtfleck ihrer auf kleinste Flamme gestellten Petroleumlampe hatte vor ihm in der Nacht geschwebt wie ein einsames Glühwürmchen, eher mitleiderregend als beruhigend. Immer wieder spielte ihm seine Phantasie einen Streich und gaukelte ihm zwischen den Felsen in seinem Rücken riesenhafte dunkle Schatten vor. Ohne dieses kleine Licht wäre er vor Angst wahrscheinlich durchgedreht.

Mit der Sonne kam dann die Hitze, aber an der hei Tag und Nacht um sie herum herrschenden bedrückenden Grabesstille änderte sich nichts. Nur das Plätschern beim Eintauchen der Ruder begleitete sie und gelegentlich das Heulen des Windes.

Hin und wieder tanzten kleine Wirbel aus Staub über die Felsen und den ausgedörrten Boden.

Nur selten ragten direkt neben dem Fluß hohe Felswände auf, die Schatten auf das Wasser warfen und ihnen etwas Erleichterung verschafften. Gegen die geradezu brutale Sonneneinstrahlung gab es ansonsten außer einem Regenschirm, den Claudia dabeihatte, kaum einen Schutz, so daß sie sich trotz dicker Cremeschichten schon Sonnenbrände auf Oberschenkeln, Schultern, Nasen und Armen zugezogen hatten. Besonders Tobias hatte es übel erwischt. Sein Nasenrücken hatte sich mit einer blutigen Kruste überzogen. Nach den schmerzhaften Erfahrungen der ersten Tage zogen sich die jeweiligen Ruderer jetzt trotz der Hitze lange Hosen an und legten sich feuchte Handtücher oder T-Shirts auf Schultern und Kopf. Die dritte Person konnte sich unter Claudias Schirm verkriechen. Pencil lag hechelnd unter dem Bugsitz.

Zwar gab es in den Windungen des Flusses durchaus geeignete Badestellen, und ihr Bedürfnis nach Erfrischung hätte kaum größer sein können, aber keiner von ihnen war besonders scharf darauf, in diesem Fluß zu schwimmen. Es war nicht nur das graubraune Wasser, das sie abschreckte. Claudia hatte zwar mit ihrer Angel trotz wiederholter Versuche noch immer nichts gefangen, aber das hieß ja nicht, daß da drinnen nicht doch so allerhand lebte.

Ihr mitgebrachter Trinkwasservorrat hatte gerade für die Durchquerung der Meeresbucht ausgereicht und war mittlerweile aufgebraucht, so daß sie nun notgedrungen auf das lehmige Flußwasser zurückgreifen mußten. Anfangs kostete das einige Überwindung. Aber das war nicht der Grund, warum Micha immer unruhiger wurde. Sie konnten die trübe Brühe ja filtern und abkochen, und außerdem hatten sie einen großen Vorrat an Tabletten zur Wasseraufbereitung. Das war nicht das Problem.

Sie hatten genug zu trinken und zu essen, und das Gefühl unmittelbarer Bedrohung, das Micha die ersten Tage im Boot so zu schaffen gemacht hatte, war mit der Zeit schwächer geworden. Hier gab es einfach nichts, und deshalb konnte ihnen auch nichts gefährlich werden, jedenfalls nichts Größeres. Nein, er hatte keine Angst mehr. Auch Claudia nicht.

Es lag auch nicht daran, daß es ihm hier nicht gefiel. Nach einer guten Woche hatte er sich an die neue Situation gewöhnt, die anfangs so ungewohnten Beschäftigungen waren fast zur Routine geworden. Und ganz egal, in welcher Zeit sie sich nun tatsächlich befanden, wenn man sich erst einmal eine Weile in ihr bewegte, fühlte sie sich ziemlich real an, und er ertappte sich hin und wieder dabei, daß er gar nicht mehr darüber nachdachte, was hier eigentlich vor sich ging. Außerdem war die Landschaft eindrucksvoll, geradezu atemberaubend, und natürlich gesetzt den Fall, man mochte Wüsten, war es sicher einmalig, was ihnen hier geboten wurde. Besonders die Abende und der frühe Morgen brachten unvergleichliche Stimmungen, herrliches Licht ...

Es war nur so, daß in der ganzen Zeit der Vorbereitung, in den vielen Gesprächen in Berlin und während der Anreise nie von einer Wüste die Rede gewesen war.

Das Problem war Tobias.

Micha hatte ihn mehrmals darauf angesprochen, aber nur ausweichende oder absolut unbefriedigende Antworten bekommen. Trotz seiner gegenteiligen Beteuerungen vermittelte Tobias in keiner Weise den Eindruck eines selbstbewußten Forschungsreisenden, der hier auf seinen eigenen Spuren wandelte und sie in das von ihm entdeckte Land führte.

Wenn Tobias das alles schon einmal gesehen hatte, warum war er dann so nervös, warum mied er ihre Gegenwart und machte sich sofort aus dem Staube, sobald sie mit dem Boot irgendwo anlegten. Warum kletterte er bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf Felsen und kleine Anhöhen und suchte mit seinem Fernglas flußaufwärts die Gegend ab?

Auf die Frage, wo denn nun der Dschungel sei, von dem er erzählt habe, der Dschungel, aus dem die Seerose und der Prachtkäfer stammten, und der ihm solche Angst gemacht hatte, daß er schließlich wieder umgekehrt war, auf diese wiederholten und immer drängender gestellten Fragen hatte er nur geantwortet, der Urwald läge noch einige Tagesreisen von hier, und unbestimmt in die Richtung der Bergkette gezeigt, aus der ihr Fluß zu kommen schien. Aber das war zwei Tage her und nichts, aber auch gar nichts deutete daraufhin, daß aus dieser trostlosen, toten Wüstenlandschaft in nur wenigen Kilometern Entfernung ein üppiger Dschungel werden würde.

Was also hatte das zu bedeuten? Hatte sich die Gegend etwa verändert, seit Tobias das letzte Mal hier gewesen war? Wohl kaum. Wie sollte in einem halben Jahr aus einem Dschungel eine Wüste werden? Oder hatte sie die Höhle diesmal vielleicht in eine ganz andere Zeit versetzt? Oder an einen anderen Ort? Die Höhle und das, was sie mit ihnen gemacht hatte, war so verrückt, so jenseits von allem, was bisher für ihn Gültigkeit besessen hatte, daß Micha ihr nun buchstäblich alles zutraute.

Er hatte auch mit Claudia darüber gesprochen, aber da er sie nicht weiter beunruhigen wollte, hatte er nur gefragt, ob sie mit dem spärlichen Pflanzenwuchs etwas anfangen könne, der sich hin und wieder am Flußufer zeigte. Er war froh, daß sie ihre anfängliche Sprachlosigkeit endlich überwunden hatte und langsam wieder die alte wurde, und da wollte er sie nicht gleich mit einer erneuten Hiobsbotschaft vor den Kopf stoßen. Vielleicht bildete er sich das alles nur ein. Mit seiner Neigung zu paranoiden Zwangsvorstellungen hatte er ja schon in Berlin einschlägige Erfahrungen sammeln können und mußte nicht noch andere Leute damit anstecken. Er vermied es daher, mit Tobias darüber zu reden, solange sie dabei war.

Leider sagten Claudia die Pflanzen gar nichts, auch nicht die Schachtelhalme. Das sei eine so alte Pflanzengruppe, daß praktisch alle Erdzeitalter der letzten 300 Millionen Jahre in Frage kämen, sagte sie. Aber es sprach zumindest nicht gegen das Tertiär. Es war ihr anzumerken, daß sie keineswegs davon überzeugt war, sich hier wirklich in einer anderen Zeit zu bewegen. Auch Micha fand, daß die spärlichen Grashälmchen und Kräuter, die sich hier halten konnten, wenig Altertümliches an sich hatten, und war verunsichert.

Am Nachmittag des vierten Tages auf dem Fluß steuerten sie schon relativ früh das Ufer an, weil sie ihren Wasservorrat wieder auffüllen mußten. Das Filtern des lehmigen Flußwassers dauerte Stunden. Im Boot, während der Fahrt, war es zu eng, und es bestand die Gefahr, daß sie alles wieder verschütteten.

Als Claudia sich später mit Pencil vom Lagerplatz entfernte, und er mit Tobias unten am Flußufer neben dem Wasserkanister hockte, hielt Micha die Gelegenheit für günstig, Tobias noch einmal darauf anzusprechen.

»Ich versteh das nicht«, sagte er. »Wir müßten doch schon lange da sein. Du hast nie davon gesprochen, daß wir vorher tagelang durch eine Wüste fahren müssen.«

Tobias blickte nicht einmal auf. Wortlos schöpfte er Wasser und filterte es durch das Handtuch in den Kanister.

»Tobias, ich hab dich was gefragt!«

»Hinter der Bergkette«, brummte er, ohne in seiner Beschäftigung innezuhalten.

»Wie bitte?«

»Wir müssen über die Berge.«

Micha glaubte, sich verhört zu haben. Über die Berge? Das war ja etwas ganz Neues. Bisher hatte es immer geheißen, einige Tagesreisen von hier, kurz vor der Bergkette, aber da waren die Berge so weit entfernt gewesen, daß man außer ihren Umrissen kaum etwas erkennen konnte. Sie wußten mittlerweile, daß es da vorne mit Sicherheit keinen Wald gab.

»Davon war nie die Rede. Du willst da rüber?« Micha richtete sich auf und schaute flußaufwärts. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Sonne hinter den Gipfeln verschwunden war. King und Kong ragten wie zwei Wachtürme in den wolkenlosen Himmel. Wie hoch waren sie? Das Ganze sah aus wie eine riesige Barriere. Für Micha hatte sie bisher eindeutig signalisiert: Halt! Bis hierher und nicht weiter.

»Tobias!«

»Ja, doch, was ist denn?« Er hob den Kopf, schaute Micha an und zuckte mit den Schultern. »Ich sag doch. Wir müssen über die Berge.« Seine Augen flackerten. Hatte er Angst? Was war nur los mit ihm?

»Und wieso sagst du das erst jetzt?«

Da stimmte doch etwas nicht. Micha war fest entschlossen, nicht locker zu lassen. »Du erzählst doch irgendwelche Scheiße! Du weißt selber nicht, was hier los ist. Wir sind irgendwo anders gelandet, stimmt’s?«

Tobias zuckte zusammen. »Quatsch! Wie kommst du denn darauf?«

Micha hätte schwören können, daß Tobias keine Ahnung hatte, wo sich dieser verdammte Dschungel befand. Aber er hatte die Seerose und den Käfer mitgebracht. Er mußte dort gewesen sein. Oder ...

Plötzlich hatte er einen Verdacht, der so schrecklich war, daß ihm schon bei dem bloßen Gedanken daran schwindlig wurde. Er hatte ja schon alles mögliche in Erwägung gezogen, aber vor diesem Gedanken, der ihm buchstäblich den Boden unter den Füßen wegzog, war er bisher zurückgeschreckt. Alles wäre plötzlich wieder offen, die Konsequenzen gar nicht absehbar. Nein, das war unmöglich. Soweit wäre er nicht gegangen.

Micha beobachtete, wie Tobias mit gesenktem Kopf weiter Wasser schöpfte. Er sah, wie die Brühe an den staubigen Seiten des Kanisters herunterlief und im Ufersand eine Pfütze bildete, bevor sie versickerte. Tobias’ Hand zitterte so stark, daß er die Hälfte verschüttete.

Mein Gott, dachte Micha, er hat Angst. Aber wovor? Vor mir? Vor was müssen wir hier Angst haben?

Er hielt die Luft an.

Es ist wahr.

Micha spürte ein Beben. Dann fühlte er förmlich, wie das ganze wackelige Kartenhaus in sich zusammenfiel. O Gott!

»Alles gelogen!« sagte Micha fassungslos vor sich hin, und je länger er Tobias dabei beobachtete, wie er mechanisch und scheinbar ungerührt den Kanister füllte, desto sicherer wurde er, daß er mit seinem Verdacht recht hatte.

Jetzt erinnerte er sich plötzlich daran, wie Tobias erst wenige Tage vor ihrer Abreise eingefallen war, daß sie mitten im Meer ankommen würden und deshalb unbedingt Trinkwasser brauchten. Das hätte ihn warnen müssen. Er hätte sich nicht überreden lassen dürfen. Und Claudia hatte er jetzt auch noch mit hineingezogen. So etwas Wichtiges wie Trinkwasser vergaß man doch nicht, schon gar nicht, wenn man erst vor kurzem selbst in der Situation war. Es sei denn ...

Wenn Tobias bisher nie davon gesprochen hatte, daß sie auf eine Wüste treffen würden, dann konnte das nur eines heißen: Er hatte es nicht gewußt.

»Du bist überhaupt noch nie hier gewesen, stimmt’s?«

»Phh«, machte Tobias.

»Du hast das alles zusammenphantasiert, oder? Du kennst das hier genausowenig wie wir.«

Schweigen.

»Tobias!« brüllte Micha, dem jetzt der Geduldsfaden riß. »Verdammt, sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!«

Eine ungeheure fassungslose Wut begann von ihm Besitz zu ergreifen, und er preßte seine Kiefer so fest aufeinander, daß die Muskeln schmerzten.

»Du gottverdammter Scheißkerl hast von Anfang an nur Mist erzählt.« Er boxte ihn gegen die Schulter und erschreckte fast vor Tobias angstgeweiteten Augen, als dieser endlich den Kopf hob und ihm ins Gesicht blickte.

»Ohhh«, stöhnte Micha auf. »Ich faß es nicht. Es war alles gelogen. Du .«

Er schnellte hoch und sprang ihn an, drückte Tobias’ Schultern in den feuchten Ufersand. Sie wälzten sich kurz herum und stießen dabei den schon halbgefüllten Wasserkanister um.

Micha kniete jetzt über Tobias und schlug ihn ins Gesicht. »Scheißkerl!«

Tobias machte kaum Anstalten, sich zu wehren. Er ließ es über sich ergehen, als hätte er darauf gewartet, versuchte nur mit den Armen sein Gesicht abzuschirmen und Michas Schläge abzufangen, die nun auf ihn einprasselten.

»Was hast du dir dabei gedacht, uns hierher zu locken, he? Du widerliche Vogelscheuche, machst du vielleicht mal den Mund auf.« Micha war außer sich. Mit der flachen Hand schlug er zwischen den Sätzen immer wieder zu. Tobias’ demonstrative Passivität provozierte ihn noch mehr.

Plötzlich spürte er zwei kräftige Hände, die an seinen Schultern zerrten und ihn von Tobias herunterrissen. Im nächsten Augenblick landete er im Matsch.

»Hört sofort auf! Was soll denn der Mist?« Claudia stand über ihnen, die Hände in die Hüften gestemmt, und schnaubte vor Wut und Anstrengung. Pencil knurrte.

»Spinnt ihr, oder was? Seid ihr völlig übergeschnappt?« Sie blickte rasch zwischen Micha und Tobias hin und her. »Männer!« sagte sie voll spöttischer Verachtung. »Ich finde, wir haben wirklich genug Probleme, da müßt ihr euch nicht noch gegenseitig den Schädel einschlagen. Außerdem brauchen wir Wasser.«

Micha richtete sich auf und rieb sich die Schulter. So leid es ihm tat, aber jetzt mußte er ihr wohl erzählen, was los war. Es war höchste Zeit, daß sie alle zusammen Tacheles redeten. Sie hatte zweifellos recht, sie hatten wirklich Probleme, allerdings in einer Größenordnung, von der sie sich wohl nicht die geringste Vorstellung machte.

»Frag ihn!« Er wies mit dem Kopf auf Tobias, der sich nun ebenfalls aufgerichtet hatte und auf den Ellenbogen stützte. Er wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht und verschmierte dabei einen Blutstropfen, der aus seiner Nase lief.

»Ach, lieber nicht«, sagte Micha und machte eine abfällige Handbewegung. »Falls du es noch nicht weißt, der Kerl lügt, sobald er seinen häßlichen Mund aufmacht. Da hilft auch kein Diamant.«

»Is gut, Micha!« Tobias war aufgestanden. Er wischte sich den Dreck von den Beinen. »Du hast es jetzt wirklich oft genug gesagt.«

Claudia schüttelte verständnislos den Kopf. »Könnt ihr mir vielleicht mal erklären .«

»Er ist noch nie hier gewesen«, sagte Micha und warf Tobias einen haßerfüllten Blick zu.

»Wie?«

»Na, alles erstunken und erlogen. Er weiß genausowenig wie wir, wo wir sind und wann und . na ja, was das hier alles zu bedeuten hat.«

Claudias Augen wurden immer größer. »Du meinst ...?« Sie sah entsetzt zu Tobias hinüber.

»Ganz so schlimm ist es nicht«, sagte Tobias. »Aber im Prinzip hat er schon recht.«

»Na, wunderbar, welche Offenherzigkeit!« Micha schüttelte fassungslos den Kopf und versuchte, einigermaßen Ordnung in die auf ihn einstürmenden Gedanken zu bringen. Wenn Tobias noch nie hier gewesen war, woher stammten dann die Mitbringsel, und wie hatte er überhaupt von dieser verdammten Hohle erfahren? Vielleicht war das mit dem Heimweg auch nicht so einfach, wie Tobias behauptet hatte. Von wegen nach Osten. Außerdem ...

»Aber wenn Tobias vorher noch nie hier war«, kam ihm Claudia zuvor. »Wer dann? Irgend jemand muß diese Seerose doch gefunden haben.«

Micha spürte, wie er wieder wütend wurde und die Aggressionen in ihm hochstiegen. Sein Hiersein kam ihm mit einem Schlage so absurd vor, auch die jetzt zwischen King und Kong, den beiden Felstürmen, untergehende Sonne sah so unwirklich aus, daß er meinte, kurzfristig den Verstand zu verlieren. Er hatte dieses Rätselraten satt, ein für allemal und endgültig satt. Er würde sich das keine Sekunde länger mehr anhören.

»Tobias!« sagte er betont ruhig, hob drohend den Finger und kam sich dabei irgendwie albern vor. Aber es war nur ungewohnt. Er meinte es ernst. »Wenn du uns nicht sofort diese ganze beschissene Geschichte erzählst, ich meine wirklich die ganze Geschichte, dann Gnade dir Gott. Ich habe noch nie jemanden krankenhausreif geschlagen, aber im Augenblick verspüre ich eine geradezu unwiderstehliche Lust dazu. Kannst du mir folgen?«

Tobias nickte. Dann verzog sich sein dreck- und blutverschmiertes Gesicht zu einem diamantenverzierten Grinsen. »Okay, okay! Ich erzähl’s euch. Alles. Ich versprech’s. Setzen wir uns oben auf die Matten?« Hinter ihm verschwand der rotglühende Rand der Sonne hinter den Bergen.

Dr. Di Censo

Als Axt an diesem schönen Vorfrühlingstag in die Station kam - es war Anfang März, und überall schauten schon die ersten Krokusse aus dem Boden -, wußte er noch nicht, daß dieser Tag für ihn eine entscheidende Wende herbeiführen sollte.

Es ging ihm deutlich besser. Er hatte die Nachwirkungen seines kleinen Malheurs gut überstanden, und vor allem die Tatsache, daß er gegenüber der Person, die ihm am meisten bedeutete, nicht mehr lügen mußte, ließ ihn sehr viel gefaßter, nüchterner und entschlossener in die Zukunft blicken. Voller Dankbarkeit dachte er an Marlis und den Sonntag nachmittag zurück. Wie hatte er nur so dumm sein können, ihr von alldem nichts zu erzählen? Bis in die Nacht hinein hatte sie sich die Geschichte angehört. Irgendwann waren ihr die Augen vor Müdigkeit zugefallen.

»Du mußt etwas unternehmen, Helmut«, hatte sie gesagt. »Du darfst dich nicht so passiv verhalten.« Er war nicht sicher, ob sie ihm wirklich glaubte, aber sie hatte ihm die Panik genommen, dieses unerträgliche Gefühl, nur hilfloses, ohnmächtiges Opfer zu sein.

Festen Schrittes lief er durch die beengten Räumlichkeiten der Station, grüßte Sabine und die anderen und steuerte in seinem Arbeitszimmer wie jeden Morgen sofort auf die Kaffeemaschine zu.

Natürlich änderte das alles nichts daran, daß dieses Skelett existierte. Eingeschlossen in seinem Schiefersarg lag es da unten in dem feuchten, kühlen Kellerraum inmitten der anderen Fossilien und zeigte ihm mit knochigen toten Fingern eine lange Nase. Der einzige Unterschied war, daß er sich nun nicht mehr ganz so allein damit fühlte.

Er hatte sich an den Schreibtisch gesetzt und etwa zwei Stunden konzentriert gearbeitet, als ein karmesinroter Ferrari auf dem Stationsgelände hielt und in einem grandiosen und unübersehbaren Auftritt das Schicksal in Gestalt von Dr. Emilio Francesco Di Censo das Haus betrat.

Schmäler hatte die Angewohnheit, die zahlreichen Gäste aus aller Welt, die ihn und das Frankfurter Senckenberg-Museum besuchten, hinaus nach Messel zu schicken, sobald sie ihm lästig wurden. »Waren Sie denn schon in der Grube draußen?« pflegte er in solchen Situationen zu fragen, und wenn seine Gäste bedauernd mit dem Kopf schüttelten, setzte er einen Ausdruck grenzenlosen Erstaunens und tiefsten Mitgefühls auf, schob die Besucher sanft, aber bestimmt aus seinem Büro und sagte: »Na, das müssen Sie unbedingt nachholen. Am besten, Sie fahren gleich raus. Es ist nicht weit. Es wäre doch ein Jammer, wenn Sie sich das entgehen ließen. Ich werde sofort anrufen und Ihren Besuch ankündigen. Unser Leiter dort, Dr. Axt, wird für Sie sicher ein hübsches kleines Fossil finden, das Sie als Andenken mit nach Hause nehmen können. Mich müssen Sie bitte entschuldigen. Die Pflicht ruft, Sie verstehen.«

In der Regel funktionierte diese Methode ganz hervorragend, denn die meisten Besucher des Museums wünschten sich nichts sehnlicher, als die berühmte Grube Messel besichtigen zu dürfen, von der man nicht wußte, ob sie in wenigen Jahren nicht vielleicht unter Tonnen von Babywindeln, Kartoffelschalen und Zahnpastatuben verschüttet sein würde. Und die Aussicht auf ein eigenes Fossil ließ ihre Augen leuchten, auch wenn das Ding - was viele nicht wußten - nach wenigen Stunden zu kleinen braunen Schieferschnipseln zerfallen würde. Schmälers Anruf in der Station blieb meistens aus, und so standen die Gäste dann plötzlich in der Tür, platzten unan-gekündigt in die alltägliche Arbeit hinein und tänzelten verlegen von einem Bein aufs andere, wenn sie merkten, daß sie gar nicht erwartet wurden.

So ähnlich mußte auch Di Censo hergefunden haben, aber sein Auftritt konnte sich sehen lassen. Im schweren Kamelhaarmantel, einen weißen Seidenschal lässig um den Hals geschlungen und auf dem mächtigen Schädel einen schwarzen breitkrempigen Hut fegte er durch die Tür wie ein heißer Wüstenwind, blieb kurz stehen, um sich zu orientieren, und als er Axt durch die offene Tür des Arbeitszimmers an seinem Schreibtisch erspäht hatte, breitete er seine kräftigen Arme aus wie ein Opernsänger, der sich anschickte, seiner Angebeteten das zweigestrichene C entgegenzuschleudern.

»Dottore, carissimo«, schallte es durch das ganze Haus, und während Axt der Stift aus der Hand fiel, heulte Lehmkes Sandstrahlgebläse laut auf, und Sabine vergoß den Inhalt ihrer Kaffeetasse über die Holzplatte ihres Arbeitstisches.

»Dr. Di Censo«, entfuhr es Axt nach einem kurzen Moment des Schocks. Dann stand er auf, lief auf den unverhofften Gast zu und ließ sich von diesem an den Kamelhaarmantel drücken. Verstärkt durch den Resonanzkörper eines enormen Brustkorbs schien Di Censos Lachen die Luft des ganzen Gebäudes in Schwingung zu versetzen.

»Hahaha! Wie geht es Ihnen, Dottore? Was macht Ihre entzückende Frau, mia bella fiamma?«

»Gut ...«, sagte Axt und wollte, nachdem er sich aus Di Cen-sos Umarmung befreit hatte, zu längeren Erklärungen ansetzen. Ganz benommen von soviel Herzlichkeit, fuhr er sich durch die in Unordnung geratenen Haare und strich seinen verrutschten Pullover wieder glatt.

»Auch Ihnen geht es gut wie immer, was?« fragte er und nahm aus den Augenwinkeln wahr, wie Sabine den verschütteten Kaffee aufwischte und sich mit dem Finger an die Stirn tippte. Lehmke arbeitete schon wieder an seinem Präparat, als wäre nichts geschehen.

»Benissimo, caro, benissimo«, bestätigte Di Censo und klopfte Axt donnernd auf die Schulter.

Die beiden kannten sich, wenn auch bei weitem nicht so gut, wie das ausgedehnte Begrüßungszeremoniell vermuten ließ. Sie hatten sich bei verschiedenen Tagungen im Ausland getroffen. Anläßlich eines Meetings in Rom hatte Di Censo auch Marlis kennengelernt und sich von ihren roten Haaren derart hingerissen gezeigt, daß er sie fortan nur noch mia bella fiamma, meine schöne Flamme, nannte und es bei ihren seltenen Treffen nie versäumte, sich nach ihr zu erkundigen.

»Nun zeigen Sie mir mal Ihre berühmte Grube, Dottore«, sagte Di Censo, nahm mit weit ausgreifenden Schritten den ganzen Raum in Besitz, schaute dem ungerührt weiterarbeitenden Lehmke über die Schulter und steckte sich, ohne zu fragen, eine von Sabines Pralinen in den Mund, die stets auf ihrem Tisch herumlagen.

»Und wen haben wir hier?« Er baute sich vor Sabine auf, die mit einer Mischung aus Ekel und Faszination an ihm emporschaute und rot anzulaufen begann.

Axt trat schnell dazu, um eine Katastrophe zu verhindern. »Das ist Dr. Schäfer, unsere Fledermausexpertin.«

»Ahhh«, machte Di Censo, »ich bin entzückt, che gioia.«

Er ergriff ihre Hand, schaute ihr tief in Augen und sagte: »Gestatten, Graf Dracula, hahaha .«

Sabine lächelte verkrampft und ließ zu, daß er ihre Hand küßte, nachdem sie Axts flehenden Blick empfangen hatte.

»Nun kommen Sie, Dottore, zeigen Sie mir Ihre Schätze. Ich habe leider nur wenig Zeit.«

»Äh, ich müßte eigentlich ... Aber, na gut, wenn es nicht allzulange dauert.« Es hatte wohl wenig Sinn, sich diesem Orkan zu widersetzen.

»Hahaha, immer beschäftigt, immer unserer Göttin, der Wissenschaft, zu Diensten. Das gefällt mir. Aber ein halbes Stündchen müssen Sie mir schon opfern, Dottore, sonst bin ich sehr, sehr böse auf Sie.«

Axt konnte sich lebhaft vorstellen, was das bedeuten würde, und lief hinüber in sein Arbeitszimmer, um den Mantel zu holen. Di Censo blieb solange neben Sabine stehen, betrachtete sie prüfend wie ein Metzger eine frisch gelieferte Rinderhälfte, lächelte sie dann mit seinen vollen Lippen an und verfolgte belustigt, wie sich in der Wissenschaftlerin vor seinen Augen ein Ausbruch von außerordentlicher Heftigkeit anbahnte.

Axt rettete die Situation, indem er kurz entschlossen zwischen die beiden trat.

»Ich bin dann soweit. Wir müssen dort entlang«, sagte er, und Di Censo nickte verständnisvoll. Draußen konnte Axt durch das Fenster gerade noch erkennen, wie Sabine aufsprang und wild gestikulierend umherlief.

Dr. Emilio Di Censo stammte aus einer steinreichen Industriellenfamilie. Er gehörte zu der sehr selten gewordenen Spezies der Privatgelehrten, lebte von seinem Vermögen und ging seinen Studien nach. Er war ein weltweit anerkannter Experte für fossile Insekten und hatte verschiedene Bücher veröffentlicht, die als Standardwerke auf diesem Gebiet galten. Auch wenn seine operettenhafte Erscheinung es nicht ohne weiteres vermuten ließ, er war ein exzellenter Wissenschaftler mit einem messerscharfen Verstand. Axt hatte bei verschiedenen Gelegenheiten miterlebt, wie Di Censo löchrige Argumentationsketten und schlecht vorbereitete Vorträge mit geradezu chirurgischer Präzision auseinandernahm und die bedauernswerten Referenten als zitternde Häufchen Elend zurückließ.

Bald standen sie unten in der Grube, und Di Censo rutschte mit seinem hellen Mantel und den teuren italienischen Schuhen in dem dreckigen, schmierigen Schiefer herum. Er war vor Begeisterung schier aus dem Häuschen, obwohl es außer unansehnlichen Gesteinstrümmern, dreckigen Plastikplanen und rostigem Bohrgestänge buchstäblich nichts zu sehen gab. Max und Rudi, die hier unten Ordnung schaffen sollten, verfolgten Di Censos Darbietung mit stoischer Gelassenheit.

Axt lud Di Censo noch zu einem kurzen Abschiedskaffee in sein Arbeitszimmer ein und achtete darauf, daß sein Gast auf dem Weg dahin nicht bei der in Alarmstimmung befindlichen Sabine hängenblieb.

Sie saßen schon ein paar Minuten zusammen und plauderten, als Di Censo zielsicher nach dem Kunstharzblock mit Sonnenbergs Prachtkäfer griff. Er betrachtete das Tier eingehend, legte die sonnengebräunte Stirn in Falten und brach dann in wieherndes Gelächter aus.

»Haha, ein schönes Stück. Wer hat Ihnen das denn gemacht?«

»Wieso gemacht?« fragte Axt verblüfft. »Ach, Sie meinen, wer ihn in das Harz eingebettet hat? Das weiß ich nicht. Das Tier stammt jedenfalls aus Mittelamerika, Costa Rica, soviel ich weiß. Ich fand es verblüffend, wie ähnlich es unseren Messeler Prachtkäfern sieht.«

Di Censo warf Axt einen Blick zu, der ihn auf das Format eines Überraschungseimännchens zusammenschrumpfen ließ. Der Mann hatte eine Ausstrahlung, vor der man nur vor Neid erblassen konnte. Axt wünschte, ihm hätte in den letzten Wochen nur ein Bruchteil dieser Kraft zur Verfügung gestanden.

»No, no, no, caro amico.« Di Censo betrachtete den Käfer von allen Seiten. »Das ist eine Fälschung, eine verdammt gute, das muß ich sagen. Ich komme gar nicht dahinter, wie das gemacht wurde. Aber, glauben Sie mir, so einen Käfer gibt es heute weder in Mittelamerika noch sonstwo, impossibile, absolutamente impossibile. Da wollte Sie jemand auf den Arm nehmen, Dottore.«

Axt war völlig perplex. »Meinen Sie das im Ernst?«

»Si, si.« Er machte jetzt ein nachdenkliches Gesicht, ganz der Wissenschaftler, der sich herausgefordert sah. »Ich kenne diese Tiere sehr gut. Es gibt heute nicht allzu viele von diesen großen bunten Arten auf der Welt, und die mittelamerikanischen Spezies sehen anders aus, ohne diese bronzefarbenen Streifen. Nein, das ist eine Fälschung, ein ganz bemerkenswertes Stück.« Kopfschüttelnd stellte er den Harzblock auf den Schreibtisch zurück, von wo aus er sofort in den Händen von Helmut Axt landete.

»Das ist ja ein Ding! Altes Schlitzohr!« Axt dachte gerade an sein Gespräch mit Sonnenberg, als der gellende Schrei einer Frau aus dem Präparationsraum drang. Di Censo sah ihn tragend an, dann sprangen sie auf, stürzten aus dem Zimmer und trafen auf eine leichenblasse, zitternde Sabine Schäfer, die entgeistert auf einen der Holzrahmen zeigte, in denen sich ihre Fossilien befanden.

»Was ist denn los?« fragte Axt atemlos.

»Sie ist weg!« »Wer ist weg?«

»Meine Hassianycteris.« Das war eine der Messeler Fledermausgattungen, von Sabine selbst entdeckt und beschrieben.

»Was meinst du damit, sie ist weg?«

»Na weg, verschwunden, in Luft aufgelöst, was weiß ich.« Sie zitterte am ganzen Leib.

»Das ist doch völlig unmöglich.« Axt trat näher und fand in dem Holzrahmen nur eine makellose, feuchtigkeitsglänzende Kunstharzplatte. »Du meinst, sie war da drin?«

»Hältst du mich für völlig bescheuert, oder was?« Sie funkelte ihn böse an. Auf ihren geröteten Wangen glänzten die Spuren von Tränen. »Ich habe wochenlang daran gearbeitet. Es war eine Hassianycteris magna, noch dazu ein besonders schönes Exemplar. Du hast sie doch selbst gesehen. Man konnte ganz deutlich die Flughäute zwischen den Fingerknochen erkennen.«

»Das begreife ich nicht.«

In Axts Rücken räusperte sich jemand. Er drehte sich um und schaute in Di Censos Gesicht. Der Italiener sah aus, als sei er sich nicht mehr so sicher, ob hier noch alle bei Verstand waren.

Sorgen

Alois Sonnenberg saß an seinem Schreibtisch und rieb sich die schmerzende Hüfte. Es war erst Mitte März, aber vor zwei Tagen war plötzlich übergangslos der Sommer mit Temperaturen um die fünfundzwanzig Grad ausgebrochen. Solche rapiden Wetterwechsel machten seiner lädierten Hüfte immer schwer zu schaffen.

Unabhängig von dem abrupten Temperaturwechsel beherrschte ihn seit einiger Zeit eine quälende Unruhe, die von Tag zu Tag schlimmer wurde. Nicht daß er erwartet hätte, etwas von Tobias und seinem Freund zu hören. Da, wo die beiden sich jetzt wahrscheinlich aufhielten, gab es weder ein Postamt noch sonst irgend etwas, das auch nur im entferntesten an zivilisierte Einrichtungen erinnerte. Aber ihm war eingefallen, daß er dem Jungen viele sehr wichtige Dinge nicht mehr hatte sagen können. Er war so aufgeregt gewesen, so begeistert und überwältigt von der Aussicht, endlich jemanden gefunden zu haben, der den Mut und die Befähigung dazu hatte, in seine Fußstapfen zu treten, daß er vieles schlicht vergessen hatte.

Außerdem, seine eigene Reise - war es möglich, daß es schon so lange her war? - lag nun schon mehr als zwanzig Jahre zurück, und was ließ ihn eigentlich glauben, daß alles noch so war, wie er es damals erlebt hatte? Woher kam seine Zuversicht, daß es die Passage überhaupt noch gab? Vielleicht war die Höhle eingestürzt, oder dahinter, auf der anderen Seite, sah alles ganz anders aus, als er es in Erinnerung hatte. Er machte sich schwere Vorwürfe, daß er die beiden jungen Leute hatte fahren lassen, nur weil ihn Tobias’ Erregung irgendwie mitgerissen hatte und die Aussicht auf frisches Forschungsmaterial für ihn so unwiderstehlich gewesen war.

Da war zum Beispiel die Sache mit der Meeresbucht. Er hatte immer nur von einem Fluß gesprochen, dem sie folgen müßten, aber dann war ihm wenige Tage vor Tobias’ Abreise plötzlich eingefallen, daß die Höhle sie zunächst in eine große Meeresbucht entlassen wurde und die Mündung des Flusses, dem sie folgen sollten, einige Tagesreisen in westlicher Richtung entfernt lag. Zu seinem großen Entsetzen hatte er das vollkommen vergessen. Aber anstatt von dem ganzen Vorhaben Abstand zu nehmen oder wenigstens die Abreise zu verschieben, hatte Tobias nur gelacht und gesagt: »Na Gott sei Dank, daß dir das noch eingefallen ist. Ich hätte ganz schein dumm aus der Wäsche geguckt.«

Der Junge war so voller Vorfreude gewesen, daß ihm nicht recht klar geworden war, in welch ungeheure Gefahr er da möglicherweise durch seine Nachlässigkeit geschliddert wäre.

Und was war, wenn die beiden mit ihrem kleinen Ruderboot in ein Unwetter mit schwerer See gerieten?

Nein, er hatte unverantwortlich gehandelt, das wurde ihm jetzt klar. Nicht auszudenken, wenn ihnen etwas zustoßen würde. Hätte er doch nur etwas früher darüber nachgedacht. Jetzt blieb ihm nichts anderes als abzuwarten.

Manchmal war da sein fataler Hang zum Nervenkitzel, der ihn schon mehr als einmal in Teufels Küche gebracht hatte, ohne den er aber andererseits seine eigene Reise damals gar nicht angetreten hätte. Warum mußte er zum Beispiel diese Prachtkäfer, die er aus der tertiären Vergangenheit mitgebracht und in Kunstharz eingebettet hatte, für jeden sichtbar auf seinen Schreibtisch stellen? Warum hing diese Aufnahme des tertiären Urwaldes noch immer dort oben neben seinen anderen Erinnerungsfotos an der Wand?

Er liebte es einfach, sich mit Studenten, Kollegen und sonstigen Besuchern seines kleinen Instituts zu unterhalten, während zwischen ihnen auf dem Schreibtisch dieser Käfer lag, ein Tier, das vor 50 Millionen Jahren gelebt hatte, und somit eine ungeheuere Provokation war für dieses eindimensionale naturwissenschaftliche Denken, das heute vorherrschte und die Welt an den Abgrund manövrierte. Es war einfach köstlich und eine Quelle tiefster Befriedigung für ihn, den sie schon alle abgeschrieben und als Versager und Dummkopf abgestempelt hatten. Als dieser Wissenschaftler aus Messel hier gewesen war, hatte er sich sogar dazu hinreißen lassen, ihm eines der Tiere zu schenken, ihm, der dieselben Käfer als Millionen Jahre alte Fossilien aus seiner Schiefergrube holte. Wenn das kein geglückter Scherz war.

Das Leben schlug schon seltsame Kapriolen. Da reiste er monatelang durch eine archaische Wildnis, kehrte ohne eine Schramme, ohne die geringste Verletzung zurück und fiel dann zwei Jahre später von der Leiter, als erden Apfelbaum im Garten seiner Litern zurückschneiden wollte. Dabei zog er sich einen derart komplizierten Hüftgelenkbruch zu, daß er dank der tatkräftigen Mithilfe unfähiger Arzte dieses Andenken noch heute mit sich herumschleppte.

Nun ja, was er mit sich selber anstellte, war eine Sache. Aber hier ging es um das Leben zweier junger Leute, die zu den größten Hoffnungen Anlaß gaben, und da hätte er sich verdammt noch mal zusammenreißen müssen.

Tobias hatte seine Bedenken immer weggewischt. Er war genauso ein Draufgänger wie er selbst, als er vor zwanzig Jahren durch die Höhle gefahren war.

Das Tertiär war kein Spielplatz. Es war ein lebensgefährlicher Ort oder besser eine lebensgefährliche Zeit, das hatte er Tobias immer wieder einzutrichtern versucht. Aber der Junge hatte natürlich nur gelacht und gesagt: »Bestimmt nicht gefährlicher als die Kantstraße zur Hauptverkehrszeit.«

Nein, nachdem Tobias von dem Geheimnis erfahren hatte, gab es für ihn kein Zurück mehr, und er, Sonnenberg, hatte von Anfang an gewußt, daß es so sein würde. Die Aussicht, diese untergegangene Welt mit eigenen Augen erleben zu können, war für einen jungen Mann wie Tobias einfach unwiderstehlich. Dagegen kam er mit seinen ängstlichen Altmännerbedenken nicht mehr an. War man erst einmal infiziert von diesem Gedanken, ließ er einen nicht mehr in Ruhe.

Zuerst hatte er sich vehement dagegen gesträubt, daß Tobias einen Freund mitnehmen wollte, noch dazu einen, den er gar nicht kannte. »Alleine fahr ich nicht«, hatte Tobias kategorisch gesagt.

Sonnenberg hatte nur noch daran gedacht, daß nun auch für ihn die lange Zeit der Untätigkeit endlich zu linde sein würde. Seit damals, seit seiner eigenen Reise in die Vergangenheit, hatte er nichts mehr publiziert, keine einzige Zeile mehr geschrieben. Wie sollte er auch? Er hatte die Welt des Eozän erlebt, am eigenen Leibe erfahren und gefühlt. Und da sollte er weiter diese lächerliche Forschung an ebenso lächerlichen Fossilienresten betreiben? Es ging nicht mehr. Er konnte nicht einfach so tun, als ob seine Reise nie stattgefunden hätte.

Was die Paläontologie da notgedrungen betrieb, war wirklich ein hoffnungsloses Unterfangen, von geradezu rührender Hilflosigkeit geprägt. Wie sollte jemand etwa Krieg und Frieden rekonstruieren, wenn er statt der vielen tausend kunstvoll konstruierten Sätze Tolstois nur einhundert wahllos herausgegriffene Wörter des Buches kannte, ja, von vielen sogar nur einzelne Buchstaben? Und wie sollte man Beethovens fünfte Sinfonie verstehen, wenn nur das berühmte dada-dadaaa überliefert war? So war doch die Lage. Jede andere Einschätzung wäre Augenwischerei, das hatte er damals auch versucht, diesem Besucher aus Messel zu vermitteln. Aber wie die meisten, hatte der sich natürlich stur gestellt. Wer ließ sich schon gerne sein Spielzeug wegnehmen?

Aber er wußte, daß es so war, denn er hatte das Ganze gesehen. Auch über diese Gefahr hatte er Tobias nicht im unklaren gelassen. Er sei danach für die Paläontologie verloren, hatte er ihm gesagt, werde möglicherweise nie wieder mit derselben Begeisterung wie jetzt seinen Studien nachgehen können. Und was hatte der Bengel geantwortet? »Besser die Wahrheit kennen, als ewig wie ein Blinder im Dunkeln herumstochern«, hatte er gesagt und natürlich recht damit.

Deswegen mußte man ja mit dieser ungeheuren Möglichkeit so sorgsam umgehen. Prof. Hegerova, die ihm von der Höhle erzählt hatte, hatte damals gesagt, diese Information sei so gefährlich wie das Wissen um die Kernspaltung. Er dürfe sie unter keinen Umständen weiterleben, und wenn doch, dann nur an absolut zuverlässige Menschen, denen er ohne Bedenken sein eigenes Leben anvertrauen würde. Sonnenberg hatte sich fast drei Jahrzehnte daran gehalten, aber es war ihm mit den Jahren immer schwerer gefallen. Nur zwei Menschen hatte er davon erzählt, Ernst Herzog, dem berühmten Dinosaurierforscher und langjährigen guten Freund, der nach dem tragischen Tod seiner Frau spurlos verschwand. Wahrscheinlich hatte er Selbstmord begangen. Und jetzt Tobias.

Nun gab es noch einen Mitwisser, Tobias’ Freund, diesen Michael. Tobias versicherte ihm immer wieder, daß er für ihn die Hand ins Feuer legen würde, daß es keinen Besseren gäbe, und schließlich hatte er klein beigegeben. Als Tobias ihn darum bat, hatte er ihm sogar einige Fotos, einen der Prachtkäfer und das Herbarblatt gegeben, damit er seinen Freund auf diese Weise überzeugen konnte. Hoffentlich hatte er keinen schweren Fehler gemacht Tobias sollte ihm Proben aus der Vergangenheit mitbringen, Material, mit dem er endlich seine seit vielen Jahren unterbrochene Forschungsarbeit wiederaufnehmen konnte. Auch wenn niemand davon erfahren durfte, war das immer noch besser, als noch länger in dieser erzwungenen Untätigkeit zu leben. Natürlich hatte er seine Lehraufga-ben, und die erfüllte er, so gut er konnte, aber es war unendlich demütigend mitzuerleben, wie er mehr und mehr in der Vergessenheit versank. Wer nicht publizierte, existierte nicht, so war es nun einmal in der Wissenschaft.

»Was, der lebt noch?« hatte er einmal aus dem Munde eines Kollegen hören müssen, als dieser sich bei irgendeiner Gelegenheit mit Ellen, seiner Assistentin, unterhielt. Sie erzählte ihm gerade, daß sie beim alten Sonnenberg promovierte, und die beiden hatten ihn offensichtlich nicht bemerkt. Das tat weh. Und vor ein paar Jahren, als er sich das letzte Mal auf eine der Fachtagungen gewagt hatte, starrten ihn seine Kollegen an, als sei er ein lebendes Fossil, ein Untoter, der jüngst dem Grabe entstiegen war und nun wieder in den alten Kreisen herumgeisterte.

Wenn er wenigstens neues Forschungsmaterial hätte. Das würde ihm über diese verletzende, zutiefst demütigende Nichtexistenz innerhalb seiner Kollegenschaft hinweghelfen. Das hoffte er jedenfalls. Deshalb war er schwach geworden.

Aber war Tobias wirklich der Richtige? Hatte denn damals die alte Hegerova die richtige Wahl getroffen? In letzter Zeit bekam er da manchmal seine Zweifel.

Tobias war vor etwa einem Jahr aufgetaucht. Er sprühte vor Energie und Wissensdurst, versäumte keine seiner Lehrveranstaltungen und wurde bald zu einem vertrauten Anblick in den Gängen und Räumlichkeiten des Institutes. Sonnenberg begann sich schon Sorgen zu machen, ermahnte ihn, daß er gerade jetzt in der Anfangsphase seines Studiums die anderen geologischen Disziplinen nicht vernachlässigen durfte, aber Tobias ließ sich nicht beeindrucken. Der Junge war besessen von der Vergangenheit, und das imponierte ihm.

Heutzutage gab es kaum noch Studenten, die sich ernsthaft für die Paläontologie interessierten. Die meisten strömten in die modernen biologischen Modefächer, die Physiologie, die Ökologie und besonders in die Genetik, seit sich andeutete, daß man als Biologe dort erstmals gutes Geld verdienen konnte. Oder sie wollten als Geologen nach Erdöl, Gold und Diamanten suchen. Und sogar im letzten Jahr, als seine Seminare und Vorlesungen im Zuge der Dinosaurierwelle plötzlich aus allen Nähten platzten, bröckelte das Interesse schnell wieder ab, als die Studenten mitbekamen, welch mühsames Tagewerk die Paläontologie für sie bereithielt, daß es unter Umständen Wochen dauern konnte, nur einen einzigen Knochen aus dem Gestein zu lösen und daß die dann mühselig rekonstruierten Skelette nicht brüllend und stampfend und voller Leben durch die Gegend marschierten.

Tobias war anders. Er konnte sich tagelang genauestens mit einem einzigen Fundstück befassen. Seine Geduld, die wichtigste Eigenschaft, die ein Paläontologe mitbringen mußte, schien unermeßlich, und Sonnenberg verfolgte seine Entwicklung mit immer größerer Sympathie und Aufmerksamkeit.

Irgendwann, es mußte etwa im Spätsommer letzten Jahres gewesen sein, erzählte er Tobias dann von der Höhle und dem Geheimnis, das sie verbarg. Es war ein schwieriges Stück Arbeit, aber er hatte sich genau überlegt, wie er vorgehen würde. Vorausgegangen waren Tage und Wochen, in denen er sich immer wieder gefragt hatte, ob Tobias endlich derjenige war, nach dem er so lange gesucht hatte. Er war ungeduldig geworden, hatte Angst, daß der Richtige vielleicht nie mehr auftauchen könnte, wenn er weiterhin so hohe Maßstäbe anlegte. Alles wäre sowieso ganz anders gekommen, wenn nicht in demselben Maße, indem Tobias sein Vertrauen gewann, das in seine Assistentin Ellen immer tieferer Ernüchterung wich.

Denn eigentlich hatte sie es sein sollen, die er einweihen wollte, sonst hätte er ihr nie die Assistentenstelle verschafft. Aber Ellen hatte ihn enttäuscht. Das in sie gesetzte Vertrauen erwies sich als eine einzige niederschmetternde Fehlinvestition. Es war noch nicht allzuviel Zeit vergangen, seit er sich zu einer so deutlichen und ungeschminkten Einschätzung der Lage durchgerungen hatte.

Ellen, seine schöne Ellen, wie hatte er sich nur so in ihr täuschen können? Natürlich hatte er sich damals, als seine Wahl für die frei werdende Assistentenstelle auf sie fiel, auch gefragt, welche Rolle dabei ihr Äußeres spielte. Sie war wirklich ein Traum von einem Mädchen. Auch wenn er auf die dreiundsechzig zusteuerte und ein lahmes Bein hatte, so war er doch kein Neutrum, den das völlig kalt ließ. Der Mann gleich welchen Alters, den Ellen nicht in helle Aufregung versetzt hätte, müßte noch geboren werden. Sie verstand es ja auch, ihre Wirkung auf Männer geschickt einzusetzen. Aber ausschlaggebend waren ihre fachlichen Qualitäten gewesen, ihr Diplom in Botanik, ihr scharfer Verstand, ihr ungeheurer Ehrgeiz, soweit hatte er sich schon unter Kontrolle gehabt.

Am Anfang lief alles recht erfreulich. Sie begann mit großem Eifer an ihrer Promotion über die eigenartigen Blütenstrukturen einiger fossiler Pflanzenfamilien zu arbeiten. Sie wollte versuchen, daraus Rückschlüsse auf deren Bestäubungsbiologie abzuleiten. Sonnenberg stand ihr zwar für Fragen zur Verfügung, hielt sich aber eher zurück. Er hatte ja mit eigenen Augen beobachtet, wie es funktionierte, hatte einsam unter seiner Plastikplane im Regen des eozänen Urwaldes gehockt und gesehen, daß es Fledermäuse waren, welche die Pollen aus den seltsam geformten Staubgefäßen unfreiwillig von Blüte zu Blüte transportierten. Aber das durfte er ihr natürlich nicht sagen. Seine Situation war deshalb nicht einfach.

Wenn alles optimal verlaufen wäre, hätte er ihr irgendwann bei einer gemütlichen Tasse Kaffee von der Höhle erzählt, und sie hätte es sich selbst ansehen können. Er hatte sich alles so schön vorgestellt - sie pflegten damals einen freundschaftlichen Umgangston, gingen hin und wieder sogar zusammen essen, und er genoß die erstaunten Blicke der anderen Gäste, neidisch bis empört, wenn er mit Ellen ein Restaurant betrat und sie sofort alle Augenpaare auf sich zogen.

Aber es lief eben alles andere als optimal. Irgendwann merkte er, daß sie immer verschlossener wurde, sich Schritt für Schritt von ihm zurückzog, schließlich sogar schnippisch und aggressiv wurde, wenn er sie ansprach oder sie sich in dem kleinen Institut über den Weg liefen. Er zermarterte sich das Gehirn, ob er irgendeinen Fehler gemacht, irgendein falsches Wort fallengelassen hatte, daß sie so reagierte und ihm aus dem Weg ging. Über ihre Arbeit, über die sie vorher so angeregt diskutiert hatten, schwieg sie sich zunehmend aus. Mitunter blieb sie tagelang verschwunden, ohne ein Wort zu sagen. Lange redete er sich ein, das Ganze werde schon vorübergehen, junge Frauen wie Ellen seien eben wankelmütige sensible Geschöpfe. Ihre Stimmungsschwankungen seien, ohne daß sie etwas dafür könnten, enormen Amplituden unterworfen, denen er alter Knacker nicht mehr zu folgen vermochte. Vielleicht hatte sie Liebeskummer oder irgendwelche anderen Probleme, über die sie nicht reden wollte.

Als dann Tobias auftauchte und die beiden sich bald näherzukommen schienen, schöpfte er noch einmal neue Hoffnung, dachte, daß sich alles wieder einrenken werde. Er träumte kurzzeitig sogar von einer kleinen dynamischen Arbeitsgruppe, etwas, das aufzubauen ihm nie zuvor nie gelungen war. Aber alles wurde nur noch schlimmer. Heute sprachen Ellen und Tobias kaum miteinander. Er wußte bis heute nicht, was zwischen den beiden vorgefallen war, und würde es wohl auch nie erfahren.

Er seufzte. Das Assistenten-Professoren-Verhältnis war eben eine besonders heikle Angelegenheit. Unter den Fittichen ihrer akademischen Ziehväter und -mütter spielte sich eine Art zweiter Pubertät ab, ein komplizierter, emotional aufwühlender Emanzipationsprozeß, der wie die Loslösung vom Elternhaus zu dramatischen Erschütterungen und Turbulenzen führen konnte, auch und gerade bei Frauen, deren Kampf um Anerkennung im patriarchalischen Wissenschaftsbetrieb besonders hart war. Nicht selten wuchsen die jungen Forscher und Forscherinnen ihren Betreuern über den Kopf, wenn sie sich mit jugendlichem Elan auf ihr neues Arbeitsgebiet stürzten, und es bedurfte auf Seiten der etablierten Wissenschaftler schon eines außerordentlichen Einfühlungsvermögens und einer gewissen menschlichen Größe, wenn sie diesen schwierigen Prozeß begleiten und fördern sollten, ohne ihn zu stören oder zu behindern.

Im Falle von Ellen war ihm das gründlich mißlungen. Er mußte sich damit abfinden und nach vorne schauen. Jetzt gab es Tobias. Ein gutes Jahr noch, dann lief Ellens Stelle aus, und er hatte ein Problem weniger am Hals. Schade, daß Tobias erst am Anfang seines Studiums stand und daher noch nicht ihren Platz einnehmen konnte.

In Gedanken versunken spielte Sonnenberg mit einem Kugelschreiber herum, malte abstrakte Figuren auf ein Blatt Papier, Linien, die aussahen wie mystische esoterische Zeichen.

Hatte er Tobias eigentlich von dem Wasserfall erzählt, den Stromschnellen, die sie an Land umgehen mußten, um in die Savanne und den Dschungel zu gelangen? In seiner Erinnerung hatte es nur noch diesen Dschungel und die Savanne gegeben, weil er sich damals nur dort länger aufgehalten hatte. Alles andere, die gesamte Anreise, war im Laufe der Jahre zu einem undeutlichen Wirrwarr von Eindrücken verschwommen. Und da er auf Anraten der Hegerova keine detaillierten Wegbeschreibungen festgehalten hatte, halfen auch seine Aufzeichnungen nicht weiter. Wenn sie sich doch nur bis zum Sommer Zeit gelassen hätten, dann hätte er vielleicht ...

Herr im Himmel, wenn dem Jungen etwas zustieß, würde er sich das nie verzeihen. Noch so ein Rückschlag wäre zuviel, das könnte er nicht mehr verkraften.

King und Kong

»O Gott!« stöhnte Micha, riß die Augen auf, soweit es ging, und rieb sich mit beiden Händen über das schweißbedeckte Gesicht. Es war noch früh am Morgen. Er hatte geträumt. Er richtete sich auf und starrte auf King und Kong. Wenige Kilometer entfernt ragten sie ungerührt in den Himmel. Ihre Gipfel wurden schon von der Morgensonne angestrahlt. Warum mußte er bei ihrem Anblick immer an Wachtürme denken?

Seitdem Tobias ihnen alles gestanden hatte, träumte er jede Nacht haarsträubenden Unsinn zusammen. Mal verirrte er sich in der endlosen gleißenden Helligkeit irgendeiner Eiswüste, mal stürzte er in Fallgruben urzeitlicher Jäger, wurde um ein Haar von wütenden Mammuts zertrampelt oder von hyperrealistischen Velociraptoren verfolgt, wie die Helden in diesem Dinosaurierfilm. Seitdem es für ihn keine Gewißheiten mehr gab, was diese Reise anging, spielte seine Phantasie verrückt, reimte sich im Traum irgendwelche Abenteuer zusammen, die in der Realität weiterhin hartnäckig ausblieben. Noch immer gab es nichts als den steingrauen Fluß, als Sand und Felsen, diese allerdings in erstaunlicher Vielfalt.

Den schlimmsten, weil hinterhältigsten aller Alpträume hatte er in der vergangenen Nacht gehabt. Er saß allein an einem Seeufer, hinter ihm ein dichter Kiefernwald. Es wurde rasch dunkel, und bald war um ihn herum nur mondlose Finsternis. Er fühlte sich ganz entspannt, glaubte, er säße irgendwo am Ufer eines heimatlichen märkischen Sees, als plötzlich durch die Baumkronen des gegenüberliegenden Seeufers ein schwacher Lichtschimmer zu sehen war, der rasch heller wurde. Wenige Minuten später schob sich eine blendend helle, riesige Mondscheibe über den Rand der Welt und raste bedrohlich schnell über den Himmel. Sie war viel größer als normal. Ein Zittern wanderte über den Erdboden. Die Baumkronen rauschten in einem plötzlichen Windstoß. Micha hatte vor Angst geschrien, sowohl im Traum als auch in der Realität. Tobias hatte ihnen am Vorabend allerhand Erstaunliches über den guten alten Mond erzählt, zum Beispiel, daß er im Erdaltertum vermutlich nur halb soweit von der Erde entfernt war wie heute und seine entsprechend größere Scheibe wohl auch viel schneller gewandert sei. Michas Gehirn griff dankbar nach solchen Bildern, um ihn später im Traum damit zu traktieren, um ihn mal hier-, mal dorthin zu versetzen und in irgendwelche meist katastrophal verlaufenden Abenteuer zu verwickeln.

Claudia schlief ein paar Meter weiter, gleich neben der Feuerstelle, und hatte sich so tief in ihren Schlafsack verkrochen, daß kaum noch etwas von ihr zu sehen war. Nur ein paar blonde Haarsträhnen lugten heraus. Pencil lag mit der Schnauze auf den Vorderpfoten und offenen Augen neben ihr und verfolgte jede seiner Bewegungen.

Es ist schön, daß sie hier ist, mußte er plötzlich denken. Ob sie das genauso sah? Er empfand ihr gegenüber fast so etwas wie Dankbarkeit, weil sie ihn nicht mit diesem Lügner allein gelassen hatte. Wer weiß, was aus ihnen geworden wäre, wenn Claudia sie nicht getrennt hätte, vor ein paar Tagen, als er drauf und dran gewesen war, Tobias zu Hackfleisch zu verarbeiten. Er hatte gar nicht gewußt, daß er zu einem solchen Ausbruch von Aggressivität überhaupt fähig war. Einen kurzen Moment lang hatte er rotgesehen. Seitdem beschäftigte ihn immer wieder der Gedanke, wie weit er wohl gegangen wäre, wenn es Claudia nicht gegeben hätte. Wie sie mit dieser ganzen, für sie völlig unerwarteten Situation fertig geworden war, nötigte ihm jedenfalls größten Respekt ab.

Nur langsam verschwanden die Bilder des Traumes aus seinem Bewußtsein und hinterließen ein unbestimmtes Gefühl der Bedrohung. Er war nervös und versuchte sich abzulenken, indem er aus seinem Schlafsack kroch und das Feuer neu entfachte.

Sie hatten gestern tatsächlich Holz am Ufer gefunden, einen großen, völlig ausgeblichenen und blankpolierten Ast, und der Versuchung nicht widerstehen können, damit ein Lagerfeuer zu entfachen. Es war eine nette Abwechslung und der Situation irgendwie angemessener als die Petroleumlampe, die ihnen sonst als Lichtquelle diente. Aber, was viel wichtiger war als die Möglichkeit, ein Feuer zu machen: Der Ast bewies, daß es hier anscheinend doch irgendwo Bäume gab. Claudia konnte zwar an Hand des Holzes nicht feststellen, um was für eine Art von Pflanze es sich handelte, aber der Ast stammte zweifellos von einem Baum und mußte vom Fluß hierhertransportiert worden sein.

Hatte Tobias womöglich recht, und sie mußten nur da hinüber, auf die andere Seite der Berge?

Er schaute hinauf und verfolgte einige Wolken, die gerade über die Gipfel trieben. Der Bergzug war nicht besonders hoch. Es gab überall Sattel und Pässe, die sie sicher ohne halsbrecherische Klettertouren erklimmen konnten. Ob sie allerdings auf der anderen Seite wieder herunterkamen, mußte sich erst noch herausstellen. Wasser würde ein Problem sein, und die Vorräte. Sie würden alles tragen müssen. Vielleicht konnten sie sich in der Nähe des Flusses halten.

Aber wenn es so wäre, wenn da oben oder dahinter tatsächlich Dinge auf sie warteten, die sie aus ihrem irgendwie zeitlosen Zustand herausrissen, etwas, das ihnen unmißverständlich anzeigte, was die Uhr geschlagen hatte, ein ... nun ja, ein Dinosaurier zum Beispiel oder ein Urpferdchen, lebendig wohlgemerkt, warum hatte dann Sonnenberg Tobias nur so mangelhaft darauf vorbereitet, warum hatte er nichts davon erzählt, daß sie auf dem Weg dorthin erst eine siebentägige Wüstendurchquerung mit anschließender Gebirgswanderung absolvieren mußten? Das war so, als bitte man jemanden einzutreten, ohne ihm zu sagen, daß hinter der Schwelle ein etwa zwei Meter breites und fünf Meter tiefes Loch wartete. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn sie kein Wasser mitgeführt hätten. Was hatte sich Sonnenberg dabei gedacht? So verkalkt hatte er gar nicht gewirkt. Oder war auch diese Version der Geschichte wieder nur eine von Tobias’ Lügen?

Und was war mit ihm selbst? Wäre er wirklich zufriedener, wenn er endlich Gewißheit hätte? Hatte er diese ganze Reise nicht nur angetreten, um endlich zu beweisen, daß Tobias log? In diesem Falle hätte der Beweis doch kaum überzeugender ausfallen können und er hatte wirklich allen Grund, zufrieden zu sein. Tobias hatte tatsächlich gelogen, allerdings in einem gänzlich anderen Zusammenhang, als Micha das ursprünglich vermutet hatte. Es gab die Höhle, und es geschahen zweifellos ungewöhnliche Dinge, wenn man durch sie hindurchfuhr, aber auch Tobias kannte all das nur vom Hörensagen. Er war alles andere als ein vertrauenswürdiger Expeditionsleiter, an dem sie sich aufrichten konnten, wenn Angst und Zweifel sie überkamen. Sie drei zusammen waren hier auf einem völlig neuen Trip, einer Reise, die, wollte man Tobias’ neuer Geschichte ausnahmsweise einmal Glauben schenken, zuletzt vor mehr als zwanzig Jahren unternommen worden war.

Zwanzig Jahre. Micha hatte gedacht, ihm schwinden die Sinne, als Tobias fast beiläufig erwähnte, wie lange Sonnenbergs Reise schon zurücklag. Wie konnten die beiden nur so naiv sein und glauben, daß etwas so Unbegreifliches wie diese Höhle nach mehr als zwanzig Jahren noch haargenau so funktionieren würde wie damals? Im Grunde waren sie nichts weiter als Versuchskaninchen. Wie die Affen, die als erste mit Gemini in den Weltraum fahren durften.

Was hatte dieses Loch im Fels mit ihnen gemacht? Was war das hier, das Erdmittelalter, das Devon? Australien? Oder doch das mittlere Tertiär, das Eozän, wie Tobias noch immer behauptete, obwohl er nicht die geringsten Beweise dafür hatte?

Das alles war sehr verwirrend. Micha mußte an den Planet der Affen denken. Das Ganze hier hatte sowieso sehr viel mehr Ähnlichkeit mit Hollywoods Zelluloidwelten als mit der Realität. Charlton Heston, die junge, aus der Sklaverei der Affen gerettete Menschenfrau hinter sich im Sattel, reitet am Ende des Films durch das flache Wasser immer an der Meeresküste entlang. Er ist auf dem Weg in das verbotene Land und findet dort den spektakulären Beweis dafür, daß er sich auf der Erde befindet: die zerschmolzene und verschüttete New Yorker Freiheitsstatue. War das hier am Ende eine Art MadMax-Endzeit-Szenario, weder Vergangenheit noch Gegenwart, sondern die Zukunft? Scheißzeitreisen!

Michas Vertrauen in Tobias war so tief erschüttert, daß er überhaupt nicht mehr wußte, was er glauben sollte und was nicht. War wirklich Sonnenberg, dieses kleine verkrüppelte Männchen, derjenige, der hinter dieser ganzen mysteriösen Angelegenheit stand? Natürlich war ihm auch Ellen wieder eingefallen und was Tobias über sie gesagt hatte. Steif wie ein Brett. Mit Sicherheit war auch das eine Lüge.

Die Luft war kalt, und mit seinen Handflächen versuchte er, die von den bald aufflackernden Flammen ausgehende Wärme aufzunehmen. Das Holz brannte gut. Es ging in dieser toten Welt etwas beruhigend Lebendiges von dem kleinen Feuer aus. Vielleicht durch das Knacken des brennenden Holzes geweckt, kam Leben in die große blaue Plastikrolle, bis schließlich Claudias verschlafenes Gesicht herausguckte.

»Morgen!«

»Morgen, Claudia! Gut geschlafen?«

»Na ja, es ging.« Sie öffnete den Reißverschluß ihres Schlafsacks und richtete sich auf. »Es ist noch früh, oder?« Sie gähnte.

»Hm.«

Er schaute auf die Uhr: halb sieben. Normalerweise bekam ihn zu dieser Zeit kein Mensch aus dem Bett. Er sah hier nur noch selten auf die Uhr. Sein Bezug zur Zeit hatte irgendwie Schaden genommen auf dieser Reise.

Er stand auf, ging zu Claudia hinüber, hockte sich auf die Knie und nahm sie in den Arm. »Ich hab vielleicht wieder einen Unsinn zusammengeträumt«, flüsterte er. Er spürte, wie sie sich an ihn drückte.

»Was war’s denn diesmal?«

»Du kamst auch vor, als Kettenraucherin.«

»Als was?«

»Ach, ist doch unwichtig.« Er vergrub sein Gesicht an ihrem Hals. Es tat gut, ihre Wärme zu spüren. Eine Weile hielten sie sich eng umschlungen.

»Ah, schon auf, die Turteltäubchen.«

Micha fuhr zusammen, verkrampfte sich und stand ruckartig auf. Tobias’ Kopf schaute aus dem Schlafsack und blinzelte sie mit zusammengekniffenen Augen an.

»Sieht nach idealem Reisewetter aus!« sagte er.

Micha fühlte sich ertappt. Gleichzeitig ärgerte er sich darüber, daß Tobias’ Auftauchen ein solches Gefühl in ihm hervorrufen konnte. Der Kerl hatte schon wieder eine ziemlich große Klappe. Ein, zwei Tage lang war er wie ein verprügelter Hund mit gesenktem Kopf umhergeschlichen, aber je näher sie den Bergen kamen, desto besser wurde seine Laune. Er war überzeugt davon, daß der Dschungel hinter der Bergkette lag und daß Sonnenberg aus irgendeinem Grunde nicht mehr daran gedacht hatte, genauso wie ihm die Sache mit der Meeresbucht erst im allerletzten Moment wieder eingefallen war. Das Holz am Flußufer kam ihm da natürlich wie gerufen. Jetzt wußten sie immerhin, daß es irgendwo auf diesem Planeten Bäume geben mußte, was den Rahmen der in Frage kommenden Erdzeitalter immerhin um ein paar hundert Millionen Jahre einengte. Seitdem hatte er eindeutig Oberwasser.

Trotz ihrer vollkommen ungeklärten Lage dachte Micha seltsamerweise nicht daran, umzukehren. Er hatte sich mit Claudia darüber verständigt, daß sie den immer näher rückenden Berghang hinaufklettern und nachschauen würden, was dahinter lag. Wenn es auf der anderen Seite der Bergkette nicht anders als hier aussah, würden sie umkehren, ganz egal, was Tobias davon halten mochte. Ihm würde nichts anderes übrigbleiben, als sich ihnen anzuschließen. Aber jetzt, nein, jetzt dachte er noch nicht an Umkehr. Er wollte wissen, wo er denn nun hier gelandet war, was das alles zu bedeuten hatte. Claudia ging es genauso. Jetzt waren sie schon so weit gefahren. Es war simple Neugierde. Sie würden diese gottverdammten Berge hinaufsteigen und dann weitersehen.

Der Moment kam früher als erwartet. Schon am nächsten Tag zogen sie das Boot an Land und versteckten es hinter einem großen Felsen.

Die Strömung des Flusses war zu stark geworden. Es hatte keinen Sinn mehr, mit Muskelkraft dagegen ankämpfen zu wollen. Sie verbrauchten zuviel Energie dabei und zerbrachen möglicherweise noch eines der Ruder. Wenn sie wissen wollten, wie es hinter den Bergen aussah, dann mußten sie von jetzt ab laufen.

Sie ließen alles im Boot zurück, was ihnen irgendwie entbehrlich erschien, und füllten die so in den Rucksäcken entstandenen Lücken mit Vorräten aus den beiden Koffern und anderen Ausrüstungsgegenständen. Sämtliche geeigneten Gefäße mußten mit Trinkwasser gefüllt werden, da sie nicht wußten, wie lange es dauern würde, bis sie wieder auf Wasser stießen.

Es war ein beklemmendes Gefühl, die Titanic zurückzulassen. Als legten sie in zwanzig Meter Wassertiefe die Tauchgeräte ab, um von nun an ohne Luftzufuhr weiterzuschwimmen. Alle empfanden das so, aber niemand sprach darüber.

Bald hatten sie die kahlen Berghänge erreicht. Das Gelände stieg an. Claudia war sehr gut zu Fuß. Sie legte mit ihrem großen Rucksack ein solches Tempo vor, daß die beiden Männer kaum folgen konnten. Mit einem aufgeregten Pencil an ihrer Seite lief sie vorneweg.

Solange es ging, hielten sie sich in unmittelbarer Nähe des Flusses, dessen Wasser immer wilder wurde. Schließlich mußten sie aber auch ihn links liegen lassen, da die Uferböschung zu steil wurde. Wie unter Zwang mußte sich Micha auf den ersten Kilometern ihres Marsches immer wieder umdrehen und zurückschauen. Ohne das Boot gab es für sie keine Rückkehr.

Am Nachmittag desselben Tages stöberten sie zwischen den Felsen eine ziemlich normal aussehende Eidechse auf, wobei sie sich gegenseitig einen höllischen Schrecken einjagten. Sie war das erste lebende Wesen, das ihnen seit vielen Tagen begegnete, aber die Begrüßung fiel nicht besonders freundlich aus. Als sie dem Tier zu nahe kamen, präsentierte es plötzlich einen zackigen, bunten Hautkamm auf Rücken und Kopf und fauchte sie wütend an.

Wenig später fanden sie einen ersten Hinweis, daß hier vielleicht auch größere Tiere existierten, sogar sehr viel größere.

Abends, im Licht der letzten Sonnenstrahlen, streiften sie noch etwas durch die Mondlandschaft in der Umgebung ihres Lagerplatzes. Dabei stieß Tobias auf die Fährte eines Tieres. Als Claudia, Pencil und Micha durch sein gellendes Geschrei alarmiert und voller schlimmer Befürchtungen bei ihm eintrafen, saß er in einem riesigen Fußabdruck, den Rücken an die Ferse gelehnt, die Arme lässig vor der Brust gekreuzt und mit den Beinen über Abdrücke monströser Zehen hinausragend, wie in einem morbiden, ausgetrockneten Whirlpool.

Das waren die Spuren eines riesigen Sauriers, da konnte nicht der geringste Zweifel bestehen. Sie erstreckten sich über etwa hundert Meter und rissen dann plötzlich ab, als ob das Tier die Lust am Laufen verloren und sich kurzerhand in die Lüfte erhoben hätte. Aber wie alt war die Fährte? War das der Beweis, auf den sie die ganze Zeit gewartet hatten? Wohl kaum, schließlich hatten sich eine große Zahl solcher Fußabdrücke bis in die Neuzeit erhalten. Diese hier mochten Jahrtausende, vielleicht Jahrmillionen alt sein, unter Umständen aber auch nur wenige Wochen. Der Boden war jedenfalls steinhart. Zu dem Zeitpunkt, als das Tier hier entlanggegangen war, mußte er weich gewesen sein, so daß sich die Spur tief eingedrückt hatte. Im Augenblick sah es wirklich nicht danach aus, aber vielleicht gab es hier doch gelegentlich heftige Regenfälle oder Überschwemmungen. Leider wurden sie durch diese Entdek-kung nicht sehr viel schlauer, im Gegenteil. Michas Verwirrung nahm zu. Erdmittelalter, Dinosaurier, bei aller Liebe, aber das hatte ihm gerade noch gefehlt.

Er machte ein Foto von Tobias, wie er in dem Fußabdruck saß und so tat, als ob er sich einseife und abdusche. Sie hatten sich schon lange nicht mehr richtig gewaschen. Wahrscheinlich stanken sie zum Himmel. Claudia kicherte, aber ihm ging Tobias’ Getue schon bald auf die Nerven. Es waren nur ziemlich leicht durchschaubare Versuche, mit albernen Scherzchen Schönwetter zu machen.

In der nächsten Nacht träumte Micha von einer großen Herde Hadrosaurier. Tobias ging darin aus und ein, spielte in den großen Nestern mit den übermütigen Jungtieren herum und wurde von den riesigen Echsen begrüßt und beschnüffelt wie ein alter Bekannter. Sobald Micha aber versuchte sich ihnen zu nähern, wandten sie ihm ihre riesigen Köpfe mit den flachen Entenschnäbeln zu, knurrten bedrohlich und brüllten in ohrenbetäubender Lautstärke. In den Morgenstunden legte Claudia ihre Matte dicht neben Michas und schlief eng an ihn geschmiegt wieder ein. Danach hörten endlich die Alpträume auf.

Sie näherten sich der Paßhöhe. Der Anstieg in der zunehmenden Tageshitze war mörderisch, und Micha wurde es ab und zu schwarz vor Augen, er stolperte und mußte einige Minuten ausruhen. Der Fluß lag jetzt linker Hand tief unter ihnen und brauste dort mit elementarer Gewalt durch eine enge Schlucht. Hinter ihnen erstreckte sich die Wüste. Irgendwo da unten lag ihr Boot. Unmittelbar vor ihnen ragten jetzt King und Kong in die Höhe wie ein gigantisches Victory-Zeichen. Ihr Weg würde sie ganz nah an den beiden Felstürmen vorbeiführen.

Jetzt hatte Tobias die Führung übernommen. Er kletterte immer schneller zwischen den überall verstreuten Felsbrocken hindurch in Richtung Gipfel. Als er oben war, verschwand er aus Michas Blickfeld, aber er hörte ihn irgend etwas rufen.

Bald hatte auch Micha die letzten Meter zurückgelegt und stand schwer atmend auf einem breiten Bergsattel. Er suchte Tobias und fand ihn hundert Meter weiter an einen Felsen gelehnt. Er hielt sich das Fernglas vor die Augen. Auch Claudia und Pencil waren schon dort eingetroffen. Sie wuchtete gerade den schweren Rucksack vom Rücken und trank anschließend aus ihrer Wasserflasche. Micha schleppte sich noch ein paar Schritte weiter und ließ sich neben den anderen erschöpft auf den Boden fallen.

Unten, auf der anderen Seite, erstreckte sich eine weite goldgelbe Hochebene, durch die sich als breites grünes Band der Fluß schlängelte. In diesiger Ferne erkannte man dicke Wolken am Himmel, darunter kegelförmige Berge, Vulkane. Tobias blickte angestrengt durch das Fernglas, schwenkte mal hierhin, mal dorthin. Hin und wieder gab er ein Schnauben oder Grunzen von sich.

»Na, gibt’s wenigstens was zu sehen?« fragte Claudia. Ihr Gesicht war von der Anstrengung gerötet und glänzte vor Schweiß.

»Allerdings«, brummte Tobias. »Allerdings!«

Er machte keine Anstalten, das Glas abzusetzen.

Da unten rührte sich etwas. Micha erkannte jetzt einzelne kleine Punkte in der Ebene, die sich zu bewegen schienen. Es waren viele. Weit weg.

Plötzlich ging ein Ruck durch Tobias. Sein Rücken straffte sich. Er versuchte sich lang zu machen, stellte sich auf die Zehenspitzen.

»Was hast du denn?«

Einen Moment lang rührte sich Tobias nicht, dann setzte er das Fernglas ab, bot es Micha an und grinste. »Hier! Schau selbst! Damit dürften dann wohl alle Unklarheiten beseitigt sein.«

»Was meinst du?« Micha konnte oder wollte zunächst nichts Besonderes erkennen. Sein Kopf war träge nach dem anstrengenden Aufstieg. Seine Augen begannen zu tränen, weil ihm beißender Schweiß hineinlief. Er mußte blinzeln. Erst nach und nach sickerte in sein Bewußtsein, was diese Bilder zu bedeuten hatten.

Unten am Flußufer gab es dichte Vegetation, ein Galeriewald. Da waren die Bäume, die sie gesucht hatten. Kein Dschungel, aber immerhin große, weit ausladende Baumriesen, dichtes Gesträuch. Und ... Was war das? Ja, natürlich, das waren Vögel .

»Nein, nicht da«, sagte Tobias, faßte ihn an den Schultern und drehte ihn herum. »Du mußt weiter rechts gucken. Ja, weiter rechts. Noch weiter.«

»Oah!«

Micha mußte vor Schreck das Glas absetzen. Aber jetzt sah er sie auch mit bloßen Augen, vier schwarze Punkte, die gemächlich in Richtung Fluß trotteten. Drei Alte und ein Kalb.

Elefanten!

Aus der Entfernung sahen sie zunächst wie ganz normale Dickhäuter aus, ähnliche Größe, dieselben charakteristischen Bewegungen, der federnde schaukelnde Gang. Aber irgend etwas an ihnen stimmte nicht. Es war offensichtlich, aber es dauerte einen Moment bis Micha verstand, was ihn an den Tieren irritierte. Er bekam eine Gänsehaut.

Das da waren ganz und gar keine gewöhnlichen Elefanten. Was er da sah, waren Dinotherien. Es war der Rheinelefant, das berühmte Schreckenstier von Eppelsheim, das da quicklebendig im Familienverband die Tränke ansteuerte, ein Tier, dem die Leute im 19. Jahrhundert angesichts der ersten ausgegrabenen Schädelfragmente ziemlich ratlos gegenübergestanden hatten und das Micha aus Abbildungen wohlbekannt war. Kein Wunder, daß die verwirrten Gelehrten der damaligen Zeit den Unterkiefer zunächst falsch herum am Kopf montierten.

Es waren vor allem die Stoßzähne, die nicht stimmten. Anders als beim modernen Elefanten ragten sie in scheinbar sinnlosem Bogen nach unten aus dem Kiefer. Wegen der furchtbaren Eckzähne dachten die Leute damals, ihr Fund könne nur ein großes Raubtier gewesen sein, und ehrten es wie die großen Saurier mit der Vorsilbe Dino-: Dinotherium, schreckliches Biest. Den schweren Köpfen der Dickhäuter fehlten die ausgeprägten Stirnhöcker der Elefanten, der Rüssel war kürzer. Sie sahen zugleich verwirrend vertraut und irgendwie beunruhigend fremdartig aus.

Micha setzte das Fernglas langsam ab. Mit offenem Mund schaute er zuerst Tobias, dann Claudia an, die nach unten starrte und dabei versuchte, ihre Augen mit der Hand zu beschatten.

»Na, weißt du jetzt, wo wir sind?« fragte Tobias spöttisch, nahm dem konsterniert wirkenden Micha das Glas aus der Hand und reichte es an Claudia weiter.

Ja, er wußte es.

Dinotherien waren eine im Tertiär erfolgreiche Rüsseltiergruppe. Sie hielten sich viele Millionen Jahren lang und starben erst zwei Millionen Jahre vor der Neuzeit aus. Jetzt konnten sie vielleicht herausfinden, was sie nun wirklich mit ihren nach unten gerichteten Zähnen taten, ob sie Wurzeln ausgruben oder ob sie tatsächlich, wie einige glaubten, Flußlebewesen waren, die ihre Zähne vom Wasser aus in den Uferboden rammten, um sich auf diese Weise zu verankern und beim Ruhen nicht von der Strömung fortgerissen zu werden.

Es konnte wohl wirklich keinen Zweifel mehr geben. Tobias hatte recht gehabt, von Anfang an.

Sie befanden sich in einer anderen Zeit. Das hier war das Tertiär.

Kunstharz

Sabines Hassianycteris magna, ihre seltene Messeler Fledermaus, war und blieb verschwunden. Sie standen vor einem Rätsel. Di Censo hatte sich nach dem Zwischenfall ziemlich schnell aus dem Staube gemacht und dabei den Eindruck vermittelt, als sei in der Station eine schreckliche Epidemie ausgebrochen, als wüchsen ihnen plötzlich eitrige Geschwüre im Gesicht. Alle hatten sich um die völlig verstörte Sabine versammelt und die Ärmste mit Fragen bombardiert.

»Laßt mich doch endlich in Ruhe«, hatte sie geschrien und die Hände verzweifelt vors Gesicht geschlagen.

Zuerst verhielten sie sich ziemlich idiotisch, aber angesichts der außergewöhnlichen Umstände war das vielleicht zu entschuldigen. Vollkommen unsystematisch durchsuchten sie Schränke und Schreibtischschubladen, durchstöberten dicke Papierstapel und wühlten in Abfalleimern herum, so, als sei es bei ihnen üblich, wertvolle Fossilien achtlos herumliegen zu lassen und zu vergessen, oder als sei es möglich, daß seit Äonen konservierte Tiere plötzlich zum Leben erwachten und sich ängstlich irgendwo verkrochen, um den Manipulationen durch ihre Entdecker und deren furchteinflößendes Instrumentarium zu entgehen.

Dabei lag der Fall ziemlich klar, nur wollte es zunächst niemand wahrhaben. Sie hatten nämlich mit der Aufarbeitung und Präparation von Fossilien genug zu tun, als daß es ihnen in den Sinn gekommen wäre, vollkommen normale, fossillose Schieferplatten, wie sie unten in der Grube tonnenweise herumlagen, mit einem Holzrahmen zu versehen, diesen säuberlich mit Kunstharz auszugießen, um dann von der Rückseite vorsichtig, Schicht für Schicht, den Schiefer abzutragen und zu einer makellos leeren Kunstharzplatte vorzudringen, auf der es absolut nichts zu sehen gab. Genau das müßte aber mit dem fraglichen Stück geschehen sein, denn auf dem holzgerahmten leeren Harzblock, der vor Sabine auf dem Tisch lag, klebten, wie Axt bei näherer Betrachtung feststellte, hier und da noch Reste des Schiefers. Wenn Sabine sich also in den letzten Wochen nicht mit einem vollkommen leeren Stück Ölschiefer abgeplagt hatte - und das war ja wohl auszuschließen -, dann hatte sie, so schwer das auch zu begreifen war, recht, und das ursprünglich darin befindliche Skelett hatte sich regelrecht in Luft aufgelöst. Sie beteuerte immer wieder, noch den ganzen Tag daran gearbeitet zu haben, auch vorhin, als Di Censo sich neben ihr aufgebaut hatte. Irgendwann sei sie nur mal rasch auf die Toilette gegangen, und als sie zurückkam, sei ihre schöne Hassianycteris weg gewesen. Und wie die Dinge lagen, stimmte das wohl.

Axt blieb in der ganzen Aufregung seltsam gelassen. Er plagte sich ja nun schon seit Monaten mit einem ähnlich absurden, wenn auch völlig anders gelagerten Fall herum, von dem die anderen nicht die Spur einer Ahnung hatten, auch wenn der kaum zu übersehende Beweis nur wenige Meter unter ihren Füßen im Kellermagazin lagerte. Plötzlich gab es nicht nur dieses wahnwitzige Menschenskelett, sondern nun auch dieses vollkommen rätselhafte Verschwinden eines Fossils. Aus einem obskuren, jeglichen gesunden Menschenverstand sprengenden, isolierten Phänomen waren nun unversehens deren zwei geworden, und er vermutete sofort, daß es eine Verbindung geben könnte, einen verrückten, nie dagewesenen, aber erklärbaren Zusammenhang.

Plötzlich war er sicher, daß die Zweifel und die Verunsicherung, die er in den letzten Monaten durchgemacht hatte, nicht ein Produkt seiner zu lebhaften Phantasie waren, sondern daß hier tatsächlich etwas sehr, sehr Merkwürdiges im Gange war, daß es irgendwo da draußen ein mysteriöses Phänomen gab, das ihnen diese bisher unerklärlichen Ereignisse bescherte. Der ernsten Situation gänzlich unangemessen, verspürte er tatsächlich so etwas wie Erleichterung. Was auch immer es war, es harre sich nun nicht mehr nur ihn allein als Zielscheibe für seine seltsamen Scherze ausgesucht.

Und das Verschwinden von Sabines Fledermaus sollte kein Einzelfall bleiben. In den nächsten Tagen und Wochen häuften sich Meldungen wie diese. Von überall her kamen plötzlich aufgeregte Anrufe, aus Brüssel, aus Berlin, aus New York, sogar aus Tokyo, aber der erste, der Axt erreichte, kam hier ganz aus der Nähe, aus dem in dem alten Fachwerkrathaus untergebrachten Fossilien- und Heimatmuseum des Städtchens Messel. Am Telefon war eine völlig aufgelöste Gertrude Hohnerbach, eine pensionierte Lehrerin, die dort an den Wochenenden ehrenamtlich Dienst tat.

»Wirklich, Dr. Axt«, schluchzte sie herzzerreißend, »mir ist völlig unerklärlich, wie das geschehen konnte.«

»Nun beruhigen Sie sich mal, liebe Frau Hohnerbach. Niemand macht Ihnen einen Vorwurf.«

Sie schien ihn gar nicht gehört zu haben. »Ich weiß noch nicht einmal, wann das eigentlich passiert ist. Ich schaue ja nicht jedes einzelne Ausstellungstück an, bevor ich abschließe.« Sie schneuzte sich so laut in ein Taschentuch, daß Axt den Hörer weghalten mußte und den Anfang ihrer weiteren Beteuerungen verpaßte. ». verstehen. Natürlich kontrolliere ich alle Schlösser an den Vitrinen, bevor ich gehe, das ist ja selbstverständlich, und wenn eines der Schlösser aufgebrochen oder eine Scheibe zerschlagen gewesen wäre, hätte ich das bestimmt bemerkt, schon wegen der Glasscherben. Sie wissen ja, daß ich es in solchen Dingen sehr genau nehme. Ich fege jeden Abend einmal von oben bis unten durch. Die Menschen bringen ja soviel Dreck von draußen herein, Sie machen sich keine Vorstellung, wie .«

»Ist das Vogelskelett denn gestohlen worden? Sie sagten doch, daß es ein Vogel war, oder habe ich Sie da falsch verstanden?«

»Ja, eine Ralle, jedenfalls steht das auf dem Schild. Eine Ralle ist doch ein Vogel, oder nicht? Himmelherrgott, ich bin vollkommen durcheinander. Daß ausgerechnet mir so etwas passieren muß. Es ist mir so schrecklich peinlich. Sie glauben ja gar nicht, wie mir zumute war, als ich das entdeckt habe. Ich .«

»Was haben Sie den nun entdeckt, Frau Hohnerbach?« Die arme Frau. Sie konnte einem wirklich leid tun.

»Es ist weg«, schluchzte sie, »einfach verschwunden. Ich meine, nur das Skelett. Die Platte steht noch völlig unversehrt in der Vitrine, aber da ist nichts mehr. Sie ist leer.«

Später kamen dann die Anrufe aus Brüssel und den anderen Städten. Keine Tränen, weniger Emotionen, aber immer wieder große Aufregung und dieselben Botschaften. In Brüssel waren es gleich zwei Fledermäuse, allerdings keine Hassianycteris, in Rom ein Frosch, in New York eine Schlange, in Tokyo ein kleiner Nager, in Berlin ein Insektenfresser und in London wieder eine Fledermaus. Was immer es war, es schien Fledermäuse in besonderer Weise zu betreffen. Insgesamt acht Fälle zählte Axt schließlich und erkannte überall dasselbe Phänomen. Niemand war dabei gewesen, niemand hatte etwas beobachtet, aber plötzlich hatten sich all diese wertvollen Stücke scheinbar in Luft aufgelöst. Es geschah in Museumsvitrinen, in dunklen Sammlungsschubladen und mitten auf den Arbeitstischen forschender Paläontologen.

Er hatte große Mühe, die aufgeregten Anrufer zu beruhigen. Fossilien aus Messel waren nicht gerade billig, ganz davon abgesehen, daß an Nachschub in beliebiger Menge nicht zu denken war.

Bei ihnen im Hause sei dasselbe passiert, sagte er den Anrufern, als könne er sie damit über ihren Verlust hinwegtrösten. Vielleicht handele es sich um einen bisher unbekannten Zerfallsprozeß, eine Art chemischer Zersetzung, sie tappten da selber noch im dunkeln, sagte er und überhörte den mitunter durchklingenden vorwurfsvollen Ton seiner Gesprächspartner, so, als ob sie irgend etwas damit zu tun hätten, als hätten sie eine Art Bestandsgarantie auf ihre Messeler Fossilien abgegeben, die von geprellten Kunden einklagbar wäre.

So chaotisch und undurchschaubar sich die Situation zunächst darstellte, es gab ein paar Gemeinsamkeiten, die Axt im Geiste sorgsam notierte. Es schien nur Fossilien aus Messel zu betreffen, nur solche, die aus der relativ späten Messelzeit stammten. Da war kein allgemeines Fossiliensterben im Gange oder so etwas.

Reginald Wood vom New Yorker Museum of Natural Histo-ry, das über eine besonders umfangreiche Dinosauriersammlung verfügte, schnappte hörbar nach Luft, als Axt ihn fragte, ob bei ihnen im Haus noch andere Fossilien verschwunden seien. »Na, hören Sie mal! Die Leute rennen uns hier in Scharen die Bude ein, weil sie unsere Dinos sehen wollen. Was meinen Sie wohl, was hier los wäre, wenn sich plötzlich unser Tyrannosaurus verkrümeln oder die Dinomumien in Luft auflösen würden? Um Himmels willen, ich darf gar nicht darüber nachdenken. Eine Katastrophe wäre das. Wir könnten den Laden hier dichtmachen, sofort. Nichts für ungut, Dr. Axt, aber wegen der jetzt verschwundenen Messeler Schlange ist bestimmt niemand ins Museum gegangen, so schön und bedeutend sie auch gewesen sein mag. Ich fürchte, außer uns wird sie kaum jemand vermissen.«

Auch alle anderen Gesprächspartner, die er danach fragte, versicherten ihm, daß ihnen keine vergleichbaren Fälle mit Fossilien aus anderen Epochen der Erdgeschichte bekannt seien, weder jüngeren noch älteren Datums.

Es gab noch andere Gemeinsamkeiten. Es schien nur Tiere zu befallen, Landtiere, um genau zu sein, Tiere mit amphibischer Lebensweise und größerem Aktionsradius sowie solche, die fliegen konnten, wie Vögel, Insekten und natürlich Fledermäuse. Fische waren bisher nicht betroffen, was ihn als Ichthyologen in gewisser Weise beruhigte.

Das war zwar nicht viel, aber immerhin etwas, auch wenn es auf der nicht gerade beeindruckenden Datengrundlage von nur acht ähnlichen Fällen beruhte. Seltsamerweise schien ausgerechnet die umfangreiche Messel-Sammlung des Frankfurter Senckenberg-Museums von dieser weltweit grassierenden Fossilienseuche verschont zu bleiben.

Das Ganze war sicher alles andere als erfreulich, und Axt hätten die Tränen kommen können angesichts der schier unersetzlichen Fundstücke, die verschwunden waren, aber was ihn wirklich wütend werden ließ und endgültig auf die Palme brachte, war, wie Schmäler sich in dieser Sache verhielt. Er hatte natürlich schon mehrmals mit ihm darüber sprechen wollen, schließlich war er der Chef, und wann, wenn nicht in einer solchen Situation, sollte ein Direktor schnellstens und aus erster Hand unterrichtet werden, aber entweder Schmäler war nicht im Hause, ließ sich schlicht verleugnen, führte irgendwelche bedeutenden Besucher durch die hochmodernen Museumsräumlichkeiten, oder er zeigte sich seltsam uninteressiert und schien das Ganze am liebsten gar nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen. Axt stieß bei Schmäler auf eine undurchdringliche Mauer erstaunlichen Verdrängungsvermögens. Eigentlich hätte ihn das kaum noch überraschen dürfen. Er hatte es ja in anderem Zusammenhang schon einmal durchexerziert. Auch die großartig angekündigte Aussprache über das Homo sapiens-Skelett hatte bis zum heutigen Tage nicht stattgefunden.

Trotz wiederholter Enttäuschungen hatte Axt aber bisher die Beherrschung behalten können. Bei einem erneuten Versuch, mit Schmäler zu reden, platzte ihm dann allerdings der Kragen.

»Ach, du bist es«, meldete sich Schmäler zerstreut und nicht gerade begeistert. Immerhin, ein erster Teilerfolg. Es geschah selten genug, daß man ihn überhaupt einmal in seinem Büro erwischte. »Was gibt es denn, Helmut?«

»Was es gibt?« Axt war fassungslos. »Du fragst allen Ernstes, was es gibt? Du hast nicht das Gefühl, daß es irgend etwas zu besprechen gäbe, nein? Ich meine, in aller Welt lösen sich unsere Fossilien in Rauch auf, ach was, wenn es wenigstens Rauch wäre, buchstäblich in nichts lösen sie sich auf, und du fragst mich, was es gibt?«

»Ja, ja, dumme Geschichte«, sagte Schmäler mit gequälter Stimme. »Sehr unangenehm, aber, hör mal, ich erwarte ...«

Nun reichte es. Axt sprach mit dem Mann, dem er vieles, fast alles zu verdanken hatte, und zum ersten Male brüllte er ihn an, so laut er konnte: »Weißt du, es wäre wirklich sehr hilfreich, wenn du deinen Verstand einmal dazu benützen könntest, darüber nachzudenken, was hier, verdammt noch mal, eigentlich vor sich geht!«