121922.fb2 Das Olschieferskelett. Eine Zeitreise - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 7

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Je weiter sie sich von ihrem Nachtlager am Berghang entfernten, desto vielgestaltiger wurde das Leben um sie herum, desto üppiger die Vegetation. Anfangs nur vereinzelt, säumten bald dichte Bestände hoher Laubbäume den gewundenen Flußlauf. In ihren ausladenden Kronen lebten viele Vögel, und Lemuren flohen mit lautem Kreischen die Stämme hinauf, wenn die kleine Expedition ihnen zu nahe kam. In einer Art Dominoeffekt scheuchten sie ihrerseits die dort sitzenden Vögel auf und regten sie zu heftigem Geflatter und Gezeter an. Nach der leblosen Stille in den Tagen zuvor war dieses schier überquellende Leben für Micha ein Schock. Er hatte sich auch in den zwei Tagen, die sie in ihrem Lager am Berghang zugebracht hatten, noch nicht daran gewöhnen können.

Pencil schien sich hier wohl zu fühlen, war aber sehr aufgeregt. Er flitzte durch das dichte Gebüsch, stürmte ruhelos vorneweg, entfernte sich aber nie sehr weit von den Menschen und kam bald zurück, um zu schauen, wo sie blieben.

»Seht mal da drüben!« rief Claudia und deutete auf eine kleine Herde hirschähnlicher Tiere, die ohne Eile am gegenüberliegenden Flußufer entlangtrotteten. Sie schaute durch das Fernglas. »Merkwürdig! Die haben Eckzähne wie Raubtiere.«

Tatsächlich konnte man durch das Glas erkennen, daß einigen der Tiere lange, spitze, eher an Katzen oder Paviane erinnernde Eckzähne senkrecht nach unten aus dem Maul ragten, ein irritierender, befremdlicher Anblick. Schon in den Tagen zuvor waren sie überall auf ähnlich verwirrende Details gestoßen. Solche Zähne hatten für ihre Begriffe im Maul von friedlichen Pflanzenfressern nichts zu suchen.

»Säbelzahnhirsche«, sagte Micha spöttisch, aber in Wirklichkeit verfolgte er die Bewegungen der kleinen Herde eher mit gemischten Gefühlen, war froh, daß sie sich auf der anderen Flußseite aufhielten.

»Die Moschushirsche haben heute noch solche Zähne«, kommentierte Tobias beiläufig. »Mit heute meine ich natürlich die Neuzeit, das Holozän.« Er grinste.

Micha spürte, wie ihn leichter Ärger überkam. Er hatte es kapiert, er hatte es jetzt wirklich kapiert und mußte es nicht alle fünf Minuten erneut aufs Butterbrot geschmiert bekommen. Ja, sie waren im Tertiär gelandet, wie Tobias es gesagt hatte. Ja, er hatte letztlich doch recht gehabt. Ja, ja, ja.

Aber über die Moschustiere mußte er ihm nichts erzählen, das wußte er selber. Sie präsentieren ihre Eckzähne drohend bei Rivalenkämpfen. Tobias sollte lieber bei seinen Steinen bleiben.

Nach etwa einer Stunde machte der Fluß eine große Schleife. Dahinter bot sich ihnen ein prachtvoller Ausblick auf die beiden kegelförmigen Vulkane, deren Grollen sie schon seit vielen Tagen gehört hatten. Es war mehr als nur ein Geräusch, das ihnen durch Mark und Bein ging. Ein leichtes Zittern der Erde schien es zu begleiten, in dem die Androhung einer ungeheuren Kraft und Gewalt lag.

Den ganzen Abend hatten sie gestern damit zugebracht, sich vorzustellen, wie die Welt denn aussah, in der sie sich jetzt befanden. Die beiden Vulkane waren sichtbare Zeichen für die dramatischen geologischen Prozesse, die zu dieser Zeit überall auf der Erde abliefen. Im Tertiär entstanden die Alpen, der Himalaja, die Rocky Mountains und der Oberrheingraben. Letzterer war ein riesiger, mehrere hundert Kilometer langer Riß der Erdkruste, in den hinein, wie ein gigantischer Keil, der heutige Rheingraben mehrere tausend Meter tief abgesackt war. Es entstand eine Schlucht von derart monströsen Ausmaßen, daß sich der Grand Canyon dagegen wie ein harmloser Kratzer in der Erdkruste ausnahm, Jahrmillionen der Erosion haben die ursprünglichen Höhenunterschiede schließlich wieder verschwinden lassen. Heute gibt es nur noch klägliche Erinnerungen an die Dimensionen, die dort früher einmal zu sehen waren. Auch Gebirge werden geboren und sterben.

Sie stritten darüber, ob menschliche Bewohner in der damaligen Zeit wohl gewußt hätten, welche umwälzenden Veränderungen die Oberflächengestalt der Erde gerade durchmachte, ob sie etwas davon gemerkt hätten, daß ganze Kontinente kollidierten, daß sich unvorstellbare Massen ineinanderschoben und dabei Gebirge von der Breite eines Erdteils auftürmten. Tobias hatte aufgelacht und gefragt, ob wir denn jetzt etwas davon merken würden oder ob wir es früher, zu Hause, gespürt hätten, wir seien doch selbst die Zeitzeugen, von denen wir gerade gesprochen hätten. Zwar sei das Tertiär, geologisch gesehen, wirklich ein relativ turbulentes Zeitalter gewesen. Aber die Steine würden eigentlich nie schlafen, auch nicht im vermeintlich so ruhigen Holozän. Natürlich, er hatte recht: Bewohner des Tertiärs hätten wahrscheinlich genausoviel oder -wenig von der Umgestaltung der Erdoberfläche bemerkt, wie die Mitteleuropäer des zukünftigen 20. Jahrhunderts etwas davon mitbekommen, daß der Riesenerdteil Afrika entlang des Rift Valley, quer durch Kenia und Äthiopien, unter spektakulären lokalen Begleiterscheinungen in zwei Teile auseinanderreißt. Letztlich kam es wohl wie so oft auf den Standpunkt an, von wo aus man das Geschehen verfolgte.

Tobias holte noch einmal seine kleine Kartenkopie hervor, welche die vermutliche Verteilung von Meer und Landmassen im eozänen Mitteleuropa zeigte. Jetzt, da sie endlich wußten, wo sie sich befanden, betrachteten sie die fremden Umrisse der dargestellten Insellandschaft mit anderen Augen. Das war die Welt, in der sie sich jetzt bewegten.

Obwohl weltweit schon einiges an die vertraute Oberflächengestalt der Erde erinnerte, hatte der Planet im Tertiär noch in vieler Hinsicht ein anderes Aussehen, zwischen Nord- und Südamerika gab es keine Landverbindung, was die eigentümliche Entwicklung der südamerikanischen Säugerfauna ermöglichte, auch Afrika und Kurasien waren noch durch einen Ozean, die Tethyssee, getrennt. Italien und Griechenland schwammen in trauter Einheit als große U-förmige Insel da, wo heute das Mittelmeer liegt, und auch Indien trieb als eigener Erdteil irgendwo im Ozean herum, bereitete sich sozusagen auf den unmittelbar bevorstehenden großen Zusammenstoß mit den asiatischen Festlandsmassen vor, der Geburtsstunde des Himalaja.

Tobias wußte ungeheuer viel über diese Vorgänge und hörte sich natürlich auch gerne reden. Abends im Schlafsack ärgerte Micha sich, wie unvorbereitet er auf diese Reise gegangen war. Aber er hatte ja nicht damit gerechnet, dies alles hier zu sehen, und eigentlich nur Tobias’ Schwindel beweisen wollen.

Unter anderem erzählte Tobias von einer neuen faszinierenden Theorie, nach der sich die Kontinente dieser Erde alle 500 Millionen Jahre zu Pangäa, einem einzigen Superkontinent, vereinigen würden, um dann, vielleicht in ganz neuer Gestalt, wieder auseinanderzudriften.

»Wann ist es denn wieder soweit?« fragte Micha.

»Vermutlich so in 300 Millionen Jahren.«

»Na dann haben wir ja noch ein Weilchen Zeit«, bemerkte Claudia. Sie kicherte. »Ich glaube allerdings kaum, daß die Amerikaner oder die Australier besonders begeistert sein werden, wenn sie wieder mit dem guten alten Europa vereint sind.«

Auch Micha mußte lachen. »Stellt euch vor, was das für weltpolitische Turbulenzen nach sich ziehen würde. Die Europäische Union und all die anderen Staatengebilde hätten gar keinen Sinn mehr. Völlig neue Konstellationen würden sich herausbilden. New York läge nur noch ein paar Autostunden von Berlin entfernt, Lissabon gleich neben Miami, Argentinien .«

»Ihr habt vielleicht Probleme«, unterbrach ihn Tobias kopfschüttelnd, und für einige Minuten schallte ihr ausgelassenes Lachen hinunter auf die Hochebene.

Sie waren ganz guter Stimmung gewesen gestern abend, froh, der deprimierenden Leblosigkeit der tertiären Wüste entkommen zu sein. Besonders Tobias schien erleichtert. Seit sie die andere Seite der Bergkette erreicht hatten, war er viel umgänglicher.

Die Vulkane, die zu diesen Gesprächen Anlaß gegeben hatten, waren allerdings weit entfernt, viele Kilometer. Sie würden sicherlich nicht in die Nähe der rauchenden Bergkegel kommen, aber ihre Umrisse beherrschten auch so die weite Savanne zu ihren Füßen.

Eine von Tobias’ Geschichten blieb Micha in besonders lebhafter Erinnerung.

Im Miozän, in ungefähr 35 Millionen Jahren also, platzt die Haut des Planeten im zukünftigen Bundesstaat Washington an der Westküste Nordamerikas und aus riesigen Erdspalten ergießen sich wahre Sturzbäche dünnflüssigen Magmas. Flutwellen aus Lava von hundert Kilometer Breite und mehr wälzen sich immer wieder von neuem über das von einer artenreichen Großtierfauna bevölkerte Land und begraben alles unter sich, was nicht rechtzeitig fliehen kann.

15 Millionen Jahre später, im Holozän, finden Geologen bei Bohrungen im Osten von Washington ein seltsames Loch in dem vulkanischen Basaltboden eines Weizenfeldes. Erste Untersuchungen deuten darauf hin, daß dieses Loch von der Größe eines Mittelklassewagens offenbar eine sehr eigentümliche Form aufweist, und lange wird gerätselt, was es damit auf sich hat. Man spekuliert über Ciasblasen, über komplizierte chemische Prozesse, die zu einer solchen Höhle mitten in einer mächtigen Lavaschicht geführt haben könnten. Dann hat jemand eine Idee und schlägt vor, das Loch mit Beton auszugießen. Als sie den Plan in die Tat umsetzen, erleben die Wissenschaftler eine Überraschung, zum Vorschein kommt kein formloser Klumpen, sondern ein perfekt gestaltetes Betonnashorn. Das Tier ist wohl im Miozän vor einer meterhohen und auf großer Breite herannahenden Lavafront geflohen, vielleicht viele Stunden oder gar Tage um sein Leben gerannt und schließlich entkräftet zusammengebrochen. Das Magma begräbt das urzeitliche Rhinozeros, und in dem viele tausend Grad heißen flüssigen Gestein verschmort der kräftige Tierkörper innerhalb kürzester Zeit. Aber das tragische Ereignis bleibt nicht ohne Spuren. Noch im Tod prägt das Leben dem Stein für alle Zeiten seinen Stempel auf. Der Nashornkadaver war groß genug, um die umgebende Lava deutlich abzukühlen, und so erstarrt die Schmelze rings um den Tierkörper zu einer harten Gesteinskruste, schließt sich zu einer nahezu perfekten Hohlform. Zurück bleibt ein Loch in Nashorngestalt.

Stunden später. Wieder eine neue Windung des Flusses.

Während sich auf ihrer Seite der Biegung einige große Bäume mit dichtem Unterholz zu einem Wäldchen gruppierten, hatte der Fluß auf der anderen Seite eine große flache Bucht ausgespült, in der zahlreiche Wasserpflanzen wuchsen. Was sie dort sahen, verschlug ihnen den Atem. Sie blieben wie angewurzelt stehen.

Im Uferbereich und in den dichten Beständen der Wasserpflanzen tummelte sich die verrückteste und außergewöhnlichste Gesellschaft von Lebewesen, die ihnen bis dahin unter die Augen gekommen war. Es gab sicherlich noch viel fremdartigere Wesen als die, die sie hier sahen, aber wahrscheinlich war es gerade die Kombination von Vertrautem mit völlig Ungewöhnlichem, die diese hier so besonders faszinierend machte. Es waren allesamt eindeutig Säugetiere, aber keines ließ sich so ohne weiteres in bekannte Schemata einordnen. Mit dem Tertiär begann ja das Zeitalter der Säuger, die innerhalb relativ kurzer Zeit eine große Formenfülle hervorbrachten. Sie befanden sich jetzt gewissermaßen in der Morgenröte dieser Entwicklung.

Auf der Lichtung, die sich bis zu dem Wäldchen erstreckte, lagen einzelne Felsblöcke herum, die eine hervorragende Deckung boten. Hinter diesen Steinen versteckten sie sich, legten ihre Rucksäcke ab und rührten sich für die nächsten Stunden kaum von der Stelle. Leider besaßen sie nur ein Fernglas, mit dem sie das Treiben auf der anderen Seite beobachten konnten. Ungeduldig rissen sie es sich nun immer wieder gegenseitig aus den Händen. Zur Not konnte man auch durch Tobias’ Teleobjektiv schauen.

Zwei große, massige Burschen standen im flachen Wasser und fühlten sich dort unter vernehmlichem Schnaufen augenscheinlich sehr wohl. Tobias nannte sie Schaufelzähner. Es war schon beeindruckend, daß er für fast jedes dieser Tiere einen Namen parat hatte. Was die lateinischen Namen anging, mit denen er ausgesprochen gerne um sich wart, so konnte er ihnen natürlich den größten Unsinn erzählen, ohne daß sie etwas davon nachprüfen konnten. Aber diesmal sah Micha sein vor Erregung glühendes Gesicht und glaubte ihm. Er selbst kannte kaum eines dieser Tiere. Tobias war in diesen Stunden vorbehaltlos und uneingeschränkt glücklich, und Micha verspürte zum ersten Mal seit längerer Zeit wieder so etwas wie Sympathie für seinen alten Schulfreund. Tobias’ Begeisterung war ansteckend und übertrug sich auch auf ihn und Claudia. Es half ihnen, das mulmige Gefühl im Magen zu vergessen, das die zum Teil riesigen Urzeitwesen in ihnen hervorriefen. Micha nahm sich jedenfalls zum wiederholten Male vor, sich nach ihrer Rückkehr viel mehr mit diesen Dingen zu beschäftigen.

Den Namen Schaufelzähner hätte er im übrigen keine Sekunde angezweifelt, denn er beschrieb die Tiere sehr zutreffend. Es waren frühe Elefanten, wie die Dinotherien ein später ausgestorbener Seitenzweig der großen Gruppe der Rüsseltiere, von deren großem Artenreichtum in ferner Zukunft nur kümmerliche zwei Formen übrigbleiben sollten. An der Ausrottung der dritten, der Mammuts, waren ja wahrscheinlich die eiszeitlichen Frühmenschen nicht ganz unbeteiligt. Einer der frühesten Fälle von Menschen verschuldeter Ausrottung einer Großtierart. In jüngster Zeit hatte man allerdings auf der Wrangelinsel in der ostsibirischen See die Überreste von Zwergmammuts entdeckt, die sich dort noch ein paar tausend Jahre länger halten konnten als ihre großen Vettern auf dem Festland und erst 4500 Jahre vor der Neuzeit ausstarben. Micha konnte nicht anders, als an das Schicksal ihrer Verwandten zu denken. Ob es in der Zukunft für die letzten Überlebenden der Rüsseltiere, die Elefanten, auch solche Rückzugsgebiete geben wird? Oder werden diese Refugien aussehen wie Zirkuszelte und Freigehege zoologischer Gärten?

Die Schaufelzähner besaßen vier Stoßzähne, von denen zwei als flache parallele Schaufeln ausgebildet waren und nach vorne aus dem langgestreckten Unterkiefer ragten. Die Tiere operierten damit wie ein Bagger, fuhren mit ihrer Zahnschaufel zwischen die dichten Matten der Wasserpflanzen, klemmten sie mit ihrem darüber hängenden, breiten Rüssel fest, rissen mit einer kräftigen Kopfbewegung dicke Büschel aus dem Untergrund und kauten dann langsam und genüßlich, wobei ihnen eimerweise eine grünlich braune Flüssigkeit, eine Mischung aus schlammigem Wasser und Pflanzensaft, aus den Mäulern lief.

Wie gebannt beobachteten sie diese friedlichen Riesen, die keinerlei Notiz von ihnen nahmen. Eine sanfte Brise wehte ihnen entgegen, so daß die Tiere sie nicht wittern konnten. Atemlos vor Spannung hockten sie hinter ihrem Felsen und verhielten sich so still wie möglich, nur Claudia hatte alle Hände voll damit zu tun, Pencil zu beruhigen, der offenbar am liebsten aus ihrem Versteck gestürzt wäre, um sich den beiden Schaufelzähnern als neuer Spielpartner vorzustellen.

Es herrschte ein ununterbrochenes Kommen und Gehen.

Durch Zufall hatten sie einen Platz ausfindig gemacht, der anscheinend die bevorzugte Badestelle und Tränke der ganzen Gegend darstellte. Sie mußten sich nur ruhig verhalten und abwarten, dann flanierte alles an ihnen vorbei wie auf dem Boulevard einer Großstadt.

Neben den Tieren mit den seltsamen Eckzähnen stellten sich allerlei andere Arten von Antilopen und Hirschen ein. In kleinen Gruppen oder größeren Herden näherten sie sich vorsichtig dem Wasser, tranken und verschwanden wieder. Eine Gruppe fiel ihnen besonders auf, denn die Tiere trugen zwei Paar Geweihe, wieder eines dieser merkwürdigen Details, die ihnen sofort ins Auge stachen. Hunderte von »normalen«, zweihörnigen Exemplaren hatten sie kaum beachtet, angesichts der Vierhörnigen bekamen sie sofort eine Gänsehaut. Aber gab es einen anderen Grund, Vierhörnige weniger normal als Zweihörnige zu finden, als daß sie einfach neu für sie waren? Das zusätzliche Geweihpaar wuchs den Tieren auf der Mitte des Kopfes zwischen Nase und Augen, und die beiden V-förmig auseinanderstrebenden Hörner waren wie die Fühler einer Schnecke an den Enden zu Kolben verdickt. Einer anderen Art wuchs dort nur ein einzelnes, an der Spitze gegabeltes Horn. Sie konnten beobachten, wie einzelne Tiere kurze Kämpfe damit ausfochten. Der Wind wehte das Krachen der aufeinanderprallenden Geweihe und Schädel bis zu ihrem Versteck hinüber.

Unter den Hornträgern sah man auch einzelne massige, schwerfällige Tiere, die drei paar knöcherne, grotesk aussehende Fortsätze auf ihren schweren Köpfen trugen. Tobias nannte sie Uintatherien. Die großen Eckzähne des Oberkiefers, die ihnen wie den Hirschen aus dem Maul ragten, gehörten hier wohl zur Grundausstattung. Vielleicht war es in diesen harten Zeiten nötig, sich mit Hilfe eines möglichst grimmigen Äußeren unter all diesen urzeitlichen Riesen Respekt zu verschaffen, auch wenn nicht viel dahintersteckte.

Zwei riesige Dinotherien fanden sich ein. Erst jetzt konnten sie sehen, wie groß diese Dickhäuter wirklich waren. Von oben und aus großer Entfernung hatten sie in der endlosen Savanne doch eher wie fehlkonstruierte Spielzeugelefanten gewirkt. Jetzt aber überragten sie mit ihren hohen Schultern alle anderen Tiere, und ihr Aussehen erzeugte in Micha ein ganz ähnliches Befremden wie zuvor die vierhörnigen Geweihträger. Diese seltsamen, fast rechtwinklig nach unten gekrümmten Unterkieferstoßzähne deklassierten sie zu einer jahrmarktreifen Elefantenmißgeburt. Die Riesen planschten eine Weile würdevoll herum, tranken, bespritzen sich mit Wasser und zogen dann langsam und majestätisch ausschreitend wieder davon. Was sie mit ihren umstrittenen Stoßzähnen anfangen konnten, blieb weiterhin ein Rätsel.

Plötzlich wurde Micha von einer Bewegung auf ihrer Seite des Flusses abgelenkt. Mit lautem Getrappel traf eine Gruppe hundegroßer Tiere auf der Lichtung vor dem Wald ein und begann sogleich, an den Blättern der Sträucher am Waldrand herumzuknabbcrn.

»Urpferdchen!« flüsterte Tobias.

»Das sollen Pferde sein?« fragte Claudia ungläubig, wobei sie unter Mühen Pencil festzuhalten versuchte, den es unwiderstehlich auf die Lichtung zu ziehen schien.

»Nicht Pferde, Eohippus ist das, ein Vorläufer unserer Pferde. Schau genau hin, sie haben noch sieben Zehen, vier vorne und drei hinten.« Mit offensichtlicher Mißbilligung verfolgte Tobias aus dem Augenwinkel, wie Pencil immer unruhiger wurde. »Halt ja den Köter fest! Laß ihn nicht weg!« zischte er.

»Das sagst du so«, erwiderte Claudia mit dem zappelnden Dackel auf dem Arm. »Ich weiß nicht, ob ich ihn noch lange festhalten kann.«

Wie Pferde sahen die kleinen Gesellen wirklich nicht aus, eher schon wie Miniesel. Sie hatten ein paar Fohlen bei sich, die ausgelassen auf der Lichtung herumtollten.

Plötzlich geschah etwas Unglaubliches. Völlig überraschend brach ein riesiger, auf zwei Beinen laufender Vogel aus dem dichten Unterholz des Wäldchens, stieß mit seinem fast pferdegroßen Kopf und weit aufgerissenen Schnabel nach einem der Fohlen. Augenblicklich herrschte auf der Lichtung helle Aufregung. Die Urpferdchen rannten wiehernd in panischer Angst hin und her, und kurze Zeit später war die ganze Herde verschwunden. Micha konnte sie gut verstehen, denn seine Gefühle gingen in eine ähnliche Richtung, und um ein Haar hätte er sich ihnen angeschlossen. Sogar auf der anderen Flußseite machte sich Unruhe bemerkbar. Die diversen Hornträger hatten ihre Köpfe gehoben und starrten zu ihnen herüber. Sogar die Schaufelzähner hielten kurz inne.

Erst jetzt sah Micha, daß der braungefiederte Angreifer mit seinem Überfall Erfolg gehabt hatte. Eines der jungen Urpferde hing schlaff in seinem furchterregenden Schnabel, und mit eisigen Augen spähte der Vogel sichernd umher. Diese unbeweglichen Raubvogelgesichter mit dem durchdringenden Blick hinterließen bei Micha immer den Eindruck, die Tiere seien irgendwie unleidlich und gerade furchtbar schlecht gelaunt, auf jeden Fall sei nicht gut Kirschen essen mit ihnen. Auf diesen hier traf das ganz besonders zu.

»O Gott, was ist das denn für ein Bursche?« flüsterte Claudia. Micha spürte, wie sie sich fest an seinen Arm krallte.

Sie drückten sich eng an den Felsblock. Claudia preßte Pencil fest an sich und hielt ihm die Schnauze zu. Tobias spähte mit dem Fernglas vorsichtig zu dem Riesenvogel hinüber, der keine fünfzig Meter von ihnen entfernt war.

»Ein Diatryma«, flüsterte er. »»Diatryma gigantea. Unglaublich, das Tier! Guckt euch nur diese riesigen Krallen an.«

Neugierde ließ auch Micha wieder über den Felsen schauen. Der Vogel hatte seine Beute auf dem Boden abgelegt, einen Fuß mit den furchtbaren Krallen daraufgesetzt und stand nun mit gesenktem Kopf da.

»Der Schnabel reicht mir schon. An dem ist alles gigantisch«, sagte Micha. Das Tier überragte ihn sicher um einiges.

Der Kopf des Vogels zuckte plötzlich nach oben, und seine riesigen Augen schienen Micha genau zu fixieren. Wie zwei Pfeile bohrten sich die starren Pupillen des Räubers in sein Gehirn. Ihm blieb fast das Herz stehen. Er wagte kaum zu atmen und mußte daran denken, daß der Diatryma vielleicht schon die ganze Zeit über dort im Unterholz gehockt und auf Beute gelauert hatte. Möglicherweise wußte er, daß sie hier hinter dem Felsen saßen. Als potentielle Beute waren sie für ihn sicherlich zu groß, aber es reichte ja, wenn er sie als Konkurrenten ansah, die ihm seine Beute abspenstig machen wollten. Micha war jedenfalls fest entschlossen, sich auf keinerlei Auseinandersetzung mit diesem Burschen einzulassen und konnte nur hoffen, daß dieser es genauso sah.

»Was hat er denn, dein Diadingsda?« Claudia war kaum zu verstehen, so leise sprach sie. Pencil schien auf ihrem Arm endlich begriffen zu haben, daß jetzt nicht der Moment für Spielereien war, und verhielt sich ruhig.

»Diatryma heißt der«, antwortete Tobias. »Ich weiß auch nicht, er ist nervös.«

Der Riesenvogel schaute immer wieder zu ihnen herüber, spähte zum anderen Flußufer und in die offene Savanne und wandte sich dann wieder seiner Beute zu. Von einer Gänsehaut begleitet wurde Micha klar, daß es sich bei den dunklen Flek-ken an seinem Schnabel um frisches Blut handeln mußte. Ein paarmal hob er den kleinen Kadaver in die Luft und ließ ihn wieder fallen. Er oder sie war unschlüssig.

Plötzlich streckte der Vogel seinen Kopf vor in ihre Richtung, stieß einen krächzenden Schrei aus, der Micha noch nächtelang in seinen Träumen verfolgen sollte, packte das tote Urpferd, warf es ein paarmal im Schnabel hin und her und schlang die leblose Beute in einem Stück hinunter. Dann rannte er auf seinen ungemein kräftigen Beinen zurück in den Wald, aus dem er gekommen war. Eine Weile hörte man aus dem Gesträuch noch das Knacken der Äste.

»Verdammt, habt ihr das gesehen? Habt ihr gesehen, wie der mich angeglotzt hat?« keuchte Micha. Er war leichenblaß und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Und ... ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, er wußte genau, daß wir hier sitzen.« Für heute war sein Bedarf an Riesenvögeln gedeckt. Claudia schien es nicht viel anders zu gehen. Sie wirkte sehr erleichtert.

»Mann, Leute, ich hab vergessen, ihn zu fotografieren«, sagte Tobias mit weinerlicher Stimme. Auch ihm standen Schweißperlen auf der Stirn. »Das verzeih ich mir nie.«

Claudia schüttelte verständnislos den Kopf. »Du hast Sorgen. Ich bin froh, daß ich noch lebe, und du hast nur deine Kamera und deine nicht gemachten Fotos im Kopf. Die kannst du doch später außer Sonnenberg sowieso niemandem zeigen.«

Der Diatryma hatte die Idylle dieses Platzes gründlich zerstört. Während die Tiere wieder zur Tagesordnung übergegangen waren und friedlich badeten, tranken oder fraßen, vermutete Micha nun hinter jedem Busch, jedem Baum und jedem Felsen hungrige Säbelzahnkatzen und Schlimmeres. Wo so viele große Pflanzenfresser herumliefen, konnten eigentlich auch die entsprechenden Raubtiere nicht weit sein. Und wenn hier schon kleine Hirsche mit zentimeterlangen Eckzähnen bewaffnet waren, wie mochten dann erst die wirklichen Räuber aussehen?

Ihm war plötzlich völlig unverständlich, wie sie hier sorglos und ohne jede Bedenken, mit nichts als ihren Taschenmessern bewaffnet, durch diese wilde Landschaft spazieren konnten, als befänden sie sich auf einem Sonntagnachmittagsausflug durch den sommerlichen Tiergarten. Er begann zu zittern. Wie jemand, der unter starker Höhenangst leidet und sich nicht auf eine schwankende Hängebrücke traut, drückte er sich mit dem Rücken gegen den schützenden Felsen und umklammerte seine Knie dabei.

Sie blieben noch etwa anderthalb Stunden in ihrem Versteck, und diese Zeit brauchte Micha auch, um sich überhaupt wieder in der Lage zu sehen, weiterzulaufen. Er versenkte sich wieder in den Anblick der friedlichen Gesellschaft am anderen Flußufer, deren offensichtliche Arglosigkeit auch ihn langsam wieder ruhiger werden ließ. Besonders die Schaufelzähner boten einen ungemein friedlichen und gelassenen Anblick. Schubkarrenweise mummelten sie wieder ihre Wasserpflanzen, als wäre nichts geschehen.

Gerade als sie aufbrechen wollten, machte sich ein leichtes Vibrieren des Bodens bemerkbar. Sie schauten sich zu den Vulkanen um, weil sie unwillkürlich vermuteten, diese seien für das Beben verantwortlich, aber die beiden Bergriesen stießen nur unverändert ihre Rauchwolken aus und sahen ansonsten so friedlich und unschuldig aus, wie das einem tätigen Vulkan eben möglich ist. Es waren nicht die Vulkane. Es war etwas anderes, Lebendiges. Claudia entdeckte die Staubwolke als erste, die sich aus der Ferne dem gegenüberliegenden Flußufer näherte. Die Tiere an der Tränke schienen ebenfalls zu bemerken, daß dort irgend etwas Großes im Anmarsch war, dem man besser aus dem Wege ging. Ohne allzu große Eile an den Tag zu legen, zogen sie sich zurück und machten Platz.

Aus dem Vibrieren war ein tiefes Donnern geworden. In der Staubwolke konnte man bald die Umrisse großer Tierkörper erkennen, die im Laufschritt unaufhaltsam zu der Tränke strebten und dabei alles niederzuwalzen drohten, was sich nicht rechtzeitig aus dem Staube gemacht hatte. Es mußte eine riesige Herde sein. Kurz darauf trafen die ersten schnaufend am Flußufer ein, und sie konnten erkennen, daß es sich um ungeheuer kräftige und bullige Tiere handelte, die entfernt an Nashörner erinnerten, aber erheblich größer waren.

»Donnertiere, Brontotherien«, sagte Tobias und begann sofort wild herumzuknipsen.

Claudia stand vor Erstaunen der Mund offen. »Der Name paßt«, flüsterte sie.

Micha dachte zuerst, Tobias wolle sie auf den Arm nehmen. Donnertiere, den Namen hatte er sich doch ausgedacht. Aber ohne den Blick von der Herde abzuwenden, erklärte Tobias mit leiser Stimme, daß der Name auf die nordamerikanischen Indianer zurückginge. Sie waren häufig auf die Knochen dieser Tiere gestoßen und glaubten, daß es sich um riesige Pferde gehandelt habe, die über den Himmel galoppierten und dabei Gewitterstürme auslösten.

Micha mußte kurz daran denken, was wohl aus ihnen geworden wäre, wenn sich diese Donnertiere auf ihrer Seite des Flusses eingefunden hätten. Er mußte an die großen Herden denken, die in ihrem Rücken weideten und von dem vielen trockenen Gras sicherlich auch irgendwann einmal Durst bekamen. Diese gewaltigen Säuger hätten nicht allzu viel von ihnen übriggelassen. Die Brontotherien, deren Schultern sie sicher um Haupteshöhe überragten, machten zwar einen relativ gutmütigen Eindruck, aber ein einziger ungeschickter Schritt oder ein unabsichtlicher Stubser eines solchen Fleischberges hätte sie mit Schwung in die ewigen Jagdgründe befördert.

Es waren Hunderte. An der Kopfspitze trugen sie ein großes Y-förmiges Horn mit stumpfen, kolbenartigen Enden, hatten relativ kleine Augen und Ohren und eine derart massige Schulter- und Nackenpartie, daß sich daran wohl selbst ein Säbelzahntiger die Zähne ausgebissen hätte.

Immer mehr Brontotherien drängten sich ans Wasser. Dicht an dicht standen sie nebeneinander, eine einzige undurchdringliche Wand dampfender, graubrauner Leiber, deren Durst sie unwillkürlich um den Fortbestand des Flusses fürchten ließ. Die sanfte Brise wehte einen durchdringenden Geruch zu ihnen herüber. Pencil, den Claudia wieder auf den Boden gesetzt hatte, hob schnüffelnd die Nase, ließ sich dann seufzend im Gras neben dem Felsen nieder und machte Anstalten, ein Nickerchen zu halten. Er hatte offensichtlich ein gutes Gespür dafür, in welchen Momenten es besser war, keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. Zwischen ihnen und der Bron-totherienherde strömte zwar das braune Flußwasser, aber man konnte ja nie wissen.

Mindestens eine halbe Stunde lang beherrschte das Schnaufen und Grunzen der Donnertiere die Szene. Selbst die Schau-felzähner schienen Respekt vor den Neuankömmlingen zu haben, jedenfalls hatten sie sich etwas tiefer ins Wasser zurückgezogen, fraßen dort aber seelenruhig weiter. Dann, wie auf ein unhörbares Kommando, kam Unruhe in die Herde, und die Tiere machten ihrem Namen alle Ehre, galoppierten wieder in einer haushohen Staubwolke davon in die Weite der Graslandschaft und hinterließen einen völlig zertrampelten und verwüsteten Uferbereich. Erst nach und nach kehrten die anderen Tiere an die Tränke zurück.

Für sie wurde es höchste Zeit aufzubrechen. Sie mußten sich noch einen sicheren Lagerplatz suchen, und nach allem, was sie gerade erlebt hatten, fand Micha, daß sie sich bei der Auswahl dieses Platzes wirklich große Mühe geben sollten. Sie schulterten ihre Rucksäcke und machten sich auf den Weg. Tobias redete die ganze Zeit über wie ein Wasserfall. Er war absolut begeistert.

Einige Zeit später hatten sie im Schatten eines riesigen freistehenden Baumes das Zelt aufgestellt. In der Ferne der sanft hügeligen Graslandschaft vor den hoch aufragenden Vulkankegeln konnte man wieder große Tierherden erkennen, aber sie waren so weit entfernt, daß sie selbst mit Hilfe des Fernglases nicht sagen konnten, um was es sich handelte, vielleicht Bron-totherien, vielleicht aber auch irgendwelche anderen Riesen, die sie noch nicht kannten. Da aber das, was im Augenblick in großer Ferne herumlief, auch einmal hier in der Nähe des Flusses auftauchen konnte, beschlossen sie, reihum Wache zu halten. Sie sollte auch und vor allen Dingen auf das Feuer aufpassen.

Es war nicht ganz einfach, genügend Brennholz zu finden, aber mit vereinten Kräften sammelten sie doch einen größeren Haufen, der für eine Nacht reichen sollte. Das Feuer würde zwar meilenweit zu sehen sein, aber immerhin gab es hier keine Menschen, die dadurch alarmiert werden könnten, und wenn doch, dann hatten sie wenigstens die Genugtuung, sämtliche wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Entstehung der Gattung Homo über den Haufen geworfen zu haben. Der Mensch, ja, sogar seine frühesten Vorläufer waren noch einige Zehnmillionen Jahre entfernt. Zum Abendbrot gab es Spaghetti mit Büchsenfleisch. Tobias verkroch sich danach früh ins Zelt und Micha blieb mit Claudia allein am Feuer sitzen. Sie unterhielten sich leise über die Erlebnisse des Tages und lauschten dann schweigend dem Prasseln der Flammen und den unbekannten Lauten der Nacht. Über den fernen Gipfeln der Vulkane schwebte in der Dunkelheit ein rötlicher Schimmer.

Nach einer Weile stand Claudia auf, kam zu ihm hinüber auf die andere Seite des Feuers und kuschelte sich wortlos an ihn. Er freute sich darüber, fühlte sich aber gleichzeitig gehemmt. Er hatte Angst, Tobias könnte sie aus dem Zelt beobachten. Der Zelteingang war nicht geschlossen. Er hatte nur die Fliegengaze hinter sich zugezogen. Dahinter war nichts zu erkennen. Vielleicht lag er da im Dunkeln auf seiner Matte und starrte zu ihnen hinaus.

Es war der vierte Tag, den sie am Fluß entlang durch die Savanne marschieren wollten. Aber nach dem Frühstück beschlossen sie spontan, nicht weiterzulaufen, sondern hier an Ort und Stelle zu bleiben, sich auszuruhen und etwas die Gegend zu erkunden. Sie waren träge und sehnten sich alle danach, einmal einen ruhigen Tag zu verbringen. Außerdem bot sich ihr sicherer, wie eine Festung ringsum von Felsen umgebener Lagerplatz für einige faule Stunden geradezu an. Die großen Felsmonolithen bildeten eine Art natürlichen Irrgarten mit engen Durchlässen und dunklen Sackgassen, kein geeigneter Platz für Herden großer Tiere.

Claudia spielte mit Pencil am Flußufer, Tobias putzte sein Taschenmesser, und Micha versuchte ein Buch zu lesen. Nach ein paar Zeilen klappte er es aber wieder zu. Er fand es hier, 50 Millionen Jahre vom heimatlichen Bücherschrank entfernt und umgeben von Schaufelzähnern, Brontotherien und Diatrymas, doch zu absurd, in einem Buch zu lesen. Wenn er wenigstens Fachliteratur mitgenommen hätte, um all die Fragen zu beantworten, die ihm durch den Kopf geisterten. Statt dessen verschränkte er die Hände im Nacken, saß eine Weile reglos da und ließ seinen Blick über die Savanne zu den rauchenden Vulkanen und den großen Herden schweifen. Dann begann er Tagebuch zu schreiben. Es gab da einiges, das ihm nach den Eindrücken der letzten Tage nicht mehr aus dem Kopf ging. Je länger er sich an diese urtümliche Welt und ihre Bewohner gewöhnte, desto unverständlicher und deprimierender fand er den Gedanken, daß all dies nicht überleben würde. Für jede Lebensform schlug irgendwann die Stunde der Wahrheit. Er hatte diesen Gedanken noch nie so schmerzhaft empfunden wie angesichts dieser üppigen tropischen Welt, von der er wußte, daß sie keinen Bestand haben würde. Nichts hatte Bestand. Jener zukünftigen Welt, aus der er stammte, würde es nicht besser ergehen, auch ohne die unrühmliche Rolle, die seine eigene Spezies dabei spielte. Welchen Sinn hatte das alles?

Claudias Stimme riß ihn aus seinen Gedanken.

»Micha, Tobias, kommt mal her!« Sie hatte irgend etwas entdeckt.

Claudia stand keine zweihundert Meter entfernt mit hängenden Schultern in einer kleinen, vom Flußwasser rundlich ausgespülten Bucht und zeigte völlig entgeistert auf einen Punkt vor ihr im Ufersand.

Was dort lag, war jedoch kein urzeitliches Wasserwesen von abenteuerlichem Aussehen, es war überhaupt nichts Lebendiges. Es war auch kein Stein oder Holz. Es war etwas vollkommen anderes, etwas, das ihnen allen nur zu gut bekannt war. Micha hätte jedenfalls noch eine Minute vorher die Existenz eines solchen Dings hier und jetzt genauso vehement ange-zweifelt, wie er Tobias’ Ansinnen einer möglichen Reise in die Urzeit von sich gewiesen hatte. Dieses Ding hatte hier absolut nichts zu suchen und angesichts der großen Sinnfrage, der kosmischen Sphären, in denen sich seine Gedanken noch wenige Minuten zuvor bewegt hatten, mußte er sich beherrschen, um nicht laut loszulachen. Aber so wahnsinnig komisch war Claudias Fund bei näherer Überlegung eigentlich nicht. Vor ihnen lag eine zerbeulte Cola-Dose.

Sie waren sprachlos.

Dann versuchte Micha sein Glück. »Vielleicht ist sie vom Fluß hierhergespült worden?«

»Du meinst, die ganze Strecke durch die Höhle, über die Meeresbucht?« fragte Claudia zweifelnd. »Und gegen die Strömung?«

Er zuckte mit den Achseln. Nein, besonders wahrscheinlich klang das nicht.

»In der Slowakei gibt es keine Coca Cola-Dosen. Das ist Pepsi-Territorium«, behauptete Tobias.

»Vielleicht hat sie ein Tourist in den See geworfen«, schlug Micha vor, aber so recht glaubte er selbst nicht daran.

Am wahrscheinlichsten war eine Möglichkeit, an die sie naiverweise bisher noch nie gedacht hatten oder nicht hatten denken wollen: Die Höhle existierte, und es gab Menschen, die von ihr und ihrem Geheimnis wußten. Warum sollten sie dann die einzigen sein, die davon Gebrauch machten?

Claudia war die erste, die es aussprach: »Nein, es war schon jemand vor uns hier.«

»Natürlich, Sonnenberg«, sagte Tobias mit gequältem Gesichtsausdruck.

»Gab es denn damals schon Cola-Dosen?« fragte Micha. »Vor mehr als zwanzig Jahren?«

Es war wirklich verrückt. Da hatten sie die urtümlichsten Landschatten, die abenteuerlichsten Lebewesen gesehen und einen Sprung über unvorstellbare Zeiträume hinter sich gebracht, aber nichts hatte bisher ihre Aufmerksamkeit derart gefesselt wie diese beschissene Alubüchse. Die Aussicht, daß sich hier Menschen aufhalten könnten, erschien ihnen aus irgendeinem Grunde beunruhigender als alle Untiere dieser Zeit zusammengenommen.

Tobias wirkte regelrecht verzweifelt, als stürze für ihn eine Welt zusammen. Er hockte neben der Cola-Dose und starrte sie an, als wolle er sie hypnotisieren, als würde sie Auskunft geben, wenn man sie nur eindringlich genug musterte oder recht höflich darum bat.

Plötzlich kam Leben in ihn. Seine Knie knackten, als er sich abrupt aufrichtete. »Laßt uns mal gucken, ob wir noch mehr finden!«

Sie schwärmten sofort aus und suchten die Umgebung ab. Ohne auch nur eine Sekunde zu verweilen, schweifte Michas Blick über eigentümliche Pflanzen und seltsamste Kleintiere, die ihn noch vor wenigen Minuten gefesselt und in Entzücken versetzt hätten. Schließlich stieß er gar nicht weit entfernt auf etwas, das wie eine alte Feuerstelle aussah. Er schrie sich den Hals aus dem Leib.

»Tatsächlich!« sagte Tobias, vom Rennen atemlos.

Jetzt gab es kein Herumgerede mehr. Es war jemand vor ihnen hier gewesen, und dieser jemand war kein verfrühter Urmensch, was die Sache ja noch einigermaßen reizvoll gemacht hätte. Herumliegende Konservenbüchsen, deren deutsche Aufschriften man gerade noch erahnen konnte, und eben jene Cola-Dose sprachen eine deutliche Sprache.

»Vielleicht hat Sonnenberg die halbe Universität hier runtergeschickt. Nur wir haben davon nichts mitbekommen«, sagte Micha und erntete einen giftigen Blick von Tobias.

Was waren das für Leute, die mit Cola-Dosen bewaffnet in die Vergangenheit reisten und diese dann auch noch achtlos in der Gegend herumliegen ließen, als befänden sie sich am Strand von Palma de Mallorca?

Da hatten sie geglaubt, zu einem kleinen, elitären Kreis von Menschen zu gehören, denen sich ein ungeheuerliches Geheimnis offenbarte - und nun stellte sich heraus, daß hier vielleicht ein reges Kommen und Gehen herrschte, womöglich eine Art Urzeittourismus mit knipsenden und grinsenden Japanern, mit Kaugummi kauenden Amerikanern in karierten Hosen und schmerbäuchigen Deutschen mit vom Sonnenbrand geröteter Haut.

Was war aus ihnen geworden? Waren sie zurückgekehrt und hatten ihre Urzeit-Dias zwischen T wie Tansania und V wie Venezuela in den Schrank gestellt, um sie dann, Bier saufend und Kartoffelchips mampfend, einmal ihren gelangweilten Freunden zu zeigen und damit anzugeben?

Das Unternehmen war irgendwie entweiht. Tobias’ Laune sackte nach dieser Entdeckung in den Keller. Fluchend und schmollend sonderte er sich ab und trieb sich eine Weile in der Gegend herum. Die verlorene Exklusivität ihrer Erlebnisse vermieste ihm gründlich und sehr nachhaltig die Stimmung. Er übertrieb mal wieder maßlos, bis Claudia und Micha seine Bemerkungen überhörten oder mit einem »Du spinnst ja!« oder »Nun komm mal wieder auf den Teppich!« abkanzelten.

An diesem Tag ging Micha zum ersten Mal ernsthaft der Gedanke durch den Kopf, sie könnten Menschen begegnen, feindseligen, verzweifelten Menschen, die es zum Beispiel auf ihre Titanic abgesehen hatten, weil sie ansonsten keine Möglichkeit sahen, wieder nach Hause zu kommen. Eine entsetzliche Vorstellung, die ihm augenblicklich das Blut in den Adern gefrieren ließ: bis zum Skelett abgemagerte, verwilderte, dem Wahnsinn nahe Gestalten, die sich knüppelschwingend aus einem Hinterhalt auf sie stürzten, weil durch ihr Erscheinen die verzweifelte Hoffnung auf Rückkehr aufgekeimt war.

Micha sah, wie sich Tobias das Fernglas schnappte und das Lager verließ.

»Wo willst du denn hin?«

»Ich lauf mal ‘n paar Schritte. Muß ich dir über jeden Schritt Rechenschaft ablegen?« fragte Tobias und machte sich, ohne eine Reaktion abzuwarten, auf den Weg.

Was immer er vorhatte, er wollte es offenbar alleine tun. Er blickte sich nicht einmal um, ob jemand Anstalten machte, ihm zu folgen. In seinen staubigen Sachen sah er aus wie ein alten Westernfilmen entsprungener Desperado. Nur die modernen Turnschuhe wollten nicht dazu passen.

Claudia, die gerade ihren Schlafsack nach irgendwelchen ungebetenen Untermietern durchsuchte, blickte kurz zu ihm herüber und tippte sich mit dem Finger an die Stirn.

»Jetzt schnappt er total über«, sagte sie, als Tobias zwischen den Felsen verschwand. Sie schüttelte verständnislos den Kopf.

»Laß ihn doch! Wenn er unbedingt den Held spielen muß«, antwortete Micha. Sie hatte recht. Es war Wahnsinn, hier alleine herumzulaufen. Was wußten sie denn schon von den Gefahren, die hier auf sie warteten?

Claudia hatte keinen Erfolg bei ihrer Suche, rollte den Schlafsack wieder sorgfältig zusammen und hockte sich neben Micha auf eine der Matten. Pencil kam angetrottet. Sie hob ihn hoch und setzte ihn auf ihren Schoß, wo er es sich sofort bequem machte. Zusammen schauten sie auf den Fluß hinaus.

Claudia untersuchte ihren Schlafsack mehrmals täglich. Sie war förmlich besessen von der Vorstellung, irgend etwas Stachliges oder Schuppiges könnte sich tagsüber in ihrem Schlafsack verstecken und dort auf sie warten. Bisher hatte sie noch nie etwas gefunden.

Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Claudias Nähe erregte ihn. Er legte den Arm um sie, küßte sie mehrmals zärtlich auf die Schläfe und spielte mit den gekräuselten Locken in ihrem Nacken. Die blonden Härchen auf ihrem Arm glänzten verführerisch in der Sonne. Je brauner ihre Haut wurde, desto goldener funkelte dieser feine, weiche, bisher fast unsichtbare Flaum auf Armen und Beinen. Er fand das sehr aufregend und wollte es ihr gerade sagen. Aber er kam nicht dazu. Ein gellender Schrei irgendwo in ihrem Rücken traf sie völlig unvorbereitet.

»Was war das?« Sie sprangen beide auf. Pencil wurde abrupt in den Sand gestoßen.

»Tobias?« schrie Micha. Claudia war leichenblaß.

Völlig kopflos rannte er erst in die eine, dann in die andere Richtung. Dieser Schrei ... das war ernst.

Plötzlich brüllte er: »Du bleibst hier!« und stürmte in die Richtung, in der Tobias verschwunden war.

»Sei vorsichtig!« horte er Claudia hinter sich rufen. »Pencil! Bleib hier, du sollst hier bleiben, verdammt noch mal!« Ihre Stimme klang schrill.

Im nächsten Moment schoß ein kleines pelziges Etwas an ihm vorbei und verschwand zwischen den Felsen. Er hetzte weiter und sah hinter einer Biegung des Weges, wie der Dackel mit gesenktem Kopf und wedelndem Schwanz einer für ihn unsichtbaren Spur folgte. Eine paar Minuten rannten sie durch das Gewirr der Felsen, die Augen starr auf den Boden gerichtet. Der Schrei schien noch immer wie ein Fremdkörper zwischen den Felsen zu schweben, als suche er sich in hektischer Eile einen Weg durch dieses urtümliche Labyrinth aus Stein.

Dann fand Micha ihn. Er hockte am Fuße eines großen Felsblocks auf dem Boden, vor ihm tänzelte ein aufgeregter Pencil.

Erst, als Micha ihn fast erreicht hatte, merkte er, daß etwas nicht stimmte. Tobias saß in sich zusammengekauert da, schwankte leicht hin und her und schien völlig mit sich selbst beschäftigt. Die Arme hielt er eng an den Körper gepreßt. Hin und wieder gab er ein leises Wimmern und Stöhnen von sich.

»Tobias! Da bist du ja!« rief er ihm zu. »Alles okay?«

Das Wimmern schwoll an und entlud sich in einem lauten Aufschrei voller ohnmächtiger Wut und Enttäuschung.

»Scheiße! Sehe ich aus, als ob alles okay wäre?« Er wandte ihm sein schmerzverzerrtes Gesicht zu. Micha erschrak. Seine Stirn war blutverschmiert.

»Was ist denn passiert, um Gottes Willen? Bist du verletzt?«

Er antwortete nicht gleich, wohl weil ihm die Schmerzen den Mund versiegelten. »Ich hab mir den Arm gebrochen«, preßte er schließlich hervor. Es war kaum zu verstehen.

»O Gott!«

Micha hockte sich neben ihn und sah jetzt, daß auch seine Hände voller Blut waren. Pencil winselte.

Messi

Axt wollte gerade das Haus verlassen, um zur Arbeit zu fahren, als das Telefon klingelte.

»Gehst du mal ran, Marlis?« rief er ihr zu. »Wenn jemand nach mir fragt: Ich bin schon weg.«

Sie kam aus der Küche, wo sie für den Jungen irgendeinen Zaubertrank zubereitete.

Stefan war krank. Nichts Ernstes, er hatte leichtes Fieber, aber Marlis hatte ihn ins Bett gesteckt und in der Bibliothek angerufen, daß sie heute nicht kommen könnte.

Axt trat vor die Haustür und schauderte. Es war noch einmal empfindlich kalt geworden. Leichte Nachtfröste, hatte der Wetterbericht gesagt. Er schaute auf die Uhr. Fast halb zehn. Er war spät dran.

»Helmut, es ist Sabine. Sie sagt, sie muß dich unbedingt sprechen.«

Wahrscheinlich hat sich jetzt die ganze Grube in Luft aufgelöst, dachte er grimmig, und die Station gleich mit. Er ließ seine Aktentasche draußen vor der Tür stehen und lief zurück ins Haus. Marlis stand in der Diele, bedeckte die Muschel des Hörers mit ihrer Hand und sagte mit betroffenem Gesicht: »Irgendwas ist los. Sie ist sehr aufgeregt.«

Voller dunkler Vorahnungen nahm er ihr den Hörer aus der Hand.

»Ja, Sabine, was gibt’s denn?«

»Helmut, es ist etwas Schreckliches passiert. Du mußt sofort herkommen!«

»Wenn du mich nicht aufhalten würdest, wäre ich schon fast da. Was ist denn los?«

»Wir hatten heute nacht Besuch in der Grube. Irgend jemand hat sich an der Bohrstelle zu schaffen gemacht.« Sie war total durcheinander, das hörte Axt sogar durch das Telefon. Ihre Stimme bekam so einen piepsigen Klang, wenn sie aufgeregt war. Aber er verstand nicht, was sie meinte.

»Welche Bohrstelle?«

»Na da, wo die Geologen den Halswirbel im Bohrkern gefunden haben.«

»Was?« Jetzt hatte er verstanden. »Und?«

»Sie haben es fast erreicht.«

»Heißt das, daß sie das Skelett nicht mitgenommen haben?«

»Nein, nein, Messi ist noch im Schiefer. Aber wenn sie es noch einmal versuchen, haben sie es.«

»Ich komme!«

Auch das noch! Grabungsräuber! Er hatte doch gewußt, daß sie Probleme bekommen würden. Niedners Artikel mußte in den Ohren dieser Typen wie eine Einladung geklungen haben. Kommt und holt es euch! Jetzt hatten sie den Salat. Nur, weil diese Geologen so hyperkorrekt sein mußten, hatten sie den Kerlen einen der spektakulärsten Funde der letzten Jahre auf dem silbernen Tablett präsentiert. Die hatten offensichtlich genau gewußt, wo sie suchen mußten. Nicht nur, daß ihre Messeler Fossilien einfach verschwanden, jetzt hatten sie auch noch diese Kriminellen am Hals.

»Was ist denn passiert?« Marlis stand in der Küchentür und trocknete sich die Hände ab.

»Wir hatten heute nacht Grabungsräuber in der Grube«, sagte er und rieb sich mit der Linken über den Nasenrücken. Er hatte leichte Kopfschmerzen.

Marlis schüttelte den Kopf. »Sag mal, bei euch geht’s ja drunter und drüber in letzter Zeit. Ich dachte, ich hätte einen Mann mit einem ruhigen, krisensicheren Job geheiratet.«

»Tja«, sagte er und zuckte mit den Achseln. Diese Zeiten schienen ein für allemal vorbei zu sein. Er konnte sich kaum noch daran erinnern, wie es war, in der Grube Messel ohne Fossilienschwund, ohne anachronistische Homo sapiens-Skelette zu arbeiten.

»Ich muß los«, sagte er.

»Klar. Viel Glück!«

Plötzlich drehte er noch einmal um, ging erneut zum Telefon und rief Schmäler in Frankfurt an. Der wußte schon Bescheid. Sabine hatte in ihrer Aufregung anscheinend die ganze Gegend alarmiert.

»Geht’s dir wieder besser?« fragte Schmäler, ohne auf den Vorfall einzugehen.

»Wieso?«

»Na, neulich schienst du nicht besonders ...«

»Ja ja«, unterbrach er ihn, »mir geht’s bestens.« Er hatte ihre kleine Auseinandersetzung schon fast wieder vergessen. »Hör mal, Gernot, kannst du uns nicht ein paar Studenten von euch rüberschicken. Wir brauchen unbedingt Hilfe, sonst schaffen wir das nicht alleine. Wir müssen das Skelett möglichst noch heute herausholen.«

»Ich werde mal nachschauen, wer da ist.«

»Tu das. Wir brauchen so viele Leute wie möglich, und am besten, sie setzen sich sofort in einen Wagen und kommen raus in die Grube. Sie sollen oben am Tor warten. Wir holen sie dann runter.«

»Ich werd sehen, was sich machen läßt. Aber paß auf dich auf, Helmut. Du solltest dich schonen. Schäfer hat mir gesagt .«

»Quatsch! Ich fühle mich bestens. Wir haben jetzt wirklich Wichtigeres zu tun.«

»Na gut. Du mußt wissen, was du tust. Ich wünsche euch jedenfalls viel Glück!«

In der verlassenen Station angekommen, schlüpfte Axt schnell in seine Gummistiefel und machte sich unverzüglich auf den Weg in die Grube. Kaum kam er in die Nähe des Zaunes, packte ihn die Angst. Plötzlich mußte er wieder daran denken, was ihm hier erst vor wenigen Wochen zugestoßen war. Von einem Moment auf den anderen fühlten sich seine Beine schwer und bleiern an.

Wenn es ihm nun wieder passierte, wenn er noch mal einen solchen Anfall hatte und zusammenbrach, jetzt, wo sie alle auf ihn warteten, wo es darauf ankam, daß sie schnell und zielstrebig handelten? Er zögerte. Durch den Maschendraht erkannte er unten eine Gruppe von Menschen, die mit Spaten und Brecheisen im Schiefer arbeiteten.

Sie haben schon angefangen, dachte er. Ich muß hinuntergehen, sonst wundern sie sich, wo ich bleibe. Vielleicht haben sie mich schon gesehen. Man kann von unten den gesamten Kiesweg gut überblicken. Winkte da jemand?

Er schloß das Tor auf und ging mit gesenktem Kopf den Kiesweg entlang. Nicht hinunterschauen, dachte er, nur nicht hinunterschauen. Hier irgendwo muß es doch gewesen sein. Es darf nicht wieder geschehen. Ich muß mich zusammenreißen, muß mich konzentrieren.

Es schockierte ihn ungemein, daß er Angst davor hatte, diesen Weg zu gehen. Bis vor wenigen Wochen noch war dies alles hier sein Leben gewesen, seine Bestimmung. Und jetzt sollte er nicht einmal mehr in der Lage sein, hinunter zu ihren Ausgrabungsstellen zu gehen? Nein, er durfte sich nicht so gehen lassen, nicht zulassen, daß diese wahnwitzigen Ereignisse sein Leben zerstörten. Er mußte dagegen ankämpfen, wieder zu alter Tatkraft und Initiative finden, er mußte .

Ein Ruck ging durch seinen Körper. Er richtete sich auf und lief nun entschlossenen Schrittes und mit erhobenem Kopf weiter.

Fünfzehn Minuten später stand er unten bei den anderen. Lehmke, Kaiser, Sabine, die beiden Praktikantinnen und Rudi schüttelten ihm erleichtert die Hand. Max fehlte. Alle redeten aufgeregt durcheinander, und er verstand zunächst überhaupt nichts. Erst, nachdem er laut um Ruhe gebeten hatte, konnte Sabine ihm im Zusammenhang erzählen, was geschehen war.

Rudi hatte es als erster entdeckt. Er war wie jeden Morgen in die Grube gegangen und hatte gesehen, daß sich dort jemand ziemlich brutal am Bohrloch zu schaffen gemacht hatte.

Sie gingen hinüber zum Grubenrand, damit sich Axt selbst ein Bild machen konnte. Es war zum Heulen. In einer Nacht hatten sie etwa zehn Quadratmeter rigoros abgeräumt. Die zerstörten Schieferplatten lagen natürlich ohne Abdeckung in der Gegend herum. Vielleicht steckten noch die größten Schätze darin, aber vieles war unwiederbringlich zerstört. Glücklicherweise war es in der Nacht ja sehr kalt und feucht gewesen, so daß sich die Schäden durch die Austrocknung des Schiefers noch in Grenzen hielten.

Das war ja das Schlimme an diesen Grabungsräubern. Nicht nur, daß sie für irgendwelche reichen Fanatiker, die nicht wußten, wohin mit ihrem Geld, Fossilien stahlen, diese unschätzbar wertvollen Zeugnisse der Vergangenheit, die allen Menschen gehörten, insbesondere natürlich den Wissenschaftlern, nein, sie zerstörten mit ihrem rücksichtslosen Vorgehen viele unscheinbare, aber wertvolle Fundstücke, die nur für die Paläontologen von Interesse waren. Diese kriminellen Banausen konnten damit natürlich nichts anfangen.

Axt teilte die Anwesenden in zwei Gruppen ein. Die einen sollten das achtlos weggeworfene Abraummaterial der Plünderer nach noch verwertbaren Stücken durchsuchen. Vielleicht ließ sich da noch einiges retten. Für sie waren ja auch geringste Spuren von Interesse, Abdrücke von Blättern etwa, fossilisierte Früchte oder winzige Insekten. Um die zu entdecken, mußte man sich jedes einzelne Schieferbruchstück noch einmal genau anschauen.

Leider waren die ursprünglichen Lagebeziehungen der einzelnen Schieferplatten nicht mehr zu rekonstruieren. Schon das alleine war eine Katastrophe. Selbst, wenn sie darin noch etwas fänden, hätte es doch viel von seiner ursprünglichen Aussagekraft verloren. Die Ölschieferablagerungen in Messel hatten eine Stärke von etwa 190 Metern. Wenn man für den tertiären Messel-See von einer durchschnittlichen Ablagerungsrate ausging, wie sie von anderen, heutigen Seen her bekannt war, bedeutete dies, daß die Schieferschicht einem Zeitraum von immerhin zwei Millionen Jahren entsprach. Das war kein Pappenstiel und entsprach in etwa der durchschnittlichen Lebensdauer einer Säugetierart. Es war für die exakte Zuordnung und Interpretation der Funde also sehr wichtig zu wissen, wo genau die Fossilien gelagert hatten. Feine mineralische Sedimentschichten wie die sogenannten Sandhäute waren dabei wichtige Orientierungsmarken. Alles kaputt, alles sinnlos zerstört. Überall Stiefelabdrücke. Axt fluchte.

Gegen Mittag traf die Verstärkung aus Frankfurt ein. Sechs Studenten und Studentinnen machten sich durch lautes Rufen oben am Tor bemerkbar. Axt teilte sie sogleich der zweiten Gruppe zu, zu der auch er selbst sowie Lehmke und Rudi gehörten. Seltsamerweise war Max noch immer nicht aufgetaucht, und niemand schien zu wissen, was mit ihm los war. Sie hätten ihn heute wirklich dringend gebraucht.

Die zweite Gruppe arbeitete weiter an der Freilegung des Krokodils. Vorsichtig trugen sie Schicht für Schicht ab, übergaben die Schieferplatten zur Feinuntersuchung an die Kollegen und tasteten sich so langsam an das Skelett heran. Um vier Uhr hatten sie es erreicht.

Es war ein wirklich außergewöhnliches Fossil, mindestens drei, wenn nicht vier Meter lang. Axt mußte natürlich sofort an das andere, menschliche Skelett denken, das oben in der Station lag. Dieses hier war noch wesentlich größer.

Im Laufe des Nachmittags wurde ihm klar, daß sie es heute wohl kaum noch schaffen würden, den Fund in Sicherheit zu bringen. Die Grabungsstelle befand sich in relativ schlecht zugänglicher Lage in der Nähe des Grubenrandes und war für schweres Bergungsgerät praktisch unerreichbar. Ob ihnen die Deponie noch einmal ihren Kran zur Verfügung stellen würde, mußte sich erst noch herausstellen. Darum kümmerte sich Sabine.

Im das freigelegte Fossil in eine für den Abtransport günstigere Position zu bringen, mußten sie eine Art Rampe bauen. Die Studentengruppe aus Frankfurt sollte sich darum kümmern. Die sechs jungen Leute machten sich sofort mit Feuereifer an die Arbeit, begannen Schieferplatte auf Schieferplatte zu schichten und arbeiteten sich langsam an die Fundstelle heran. Für sie schien das Ganze eine Mordsgaudi zu sein. Axt war es nur recht.

Wieder mußten sie einen großen Schieferquader herausarbeiten. Bis zum Einbruch der Dunkelheit heulte immer wieder die Motorsäge auf, mit der sie einen nahezu fünf Meter langen schwarzen Schieferblock aus dem weichen Gestein schnitten. Diesmal wußte Axt zwar, was darin verborgen war, aber die auf einem breiten Sockel liegende, irgendwie bedrohlich wirkende schwarze Steinplatte erinnerte ihn fatal an ihr kleineres Gegenstück im Keller der Station. Er hoffte, daß es den anderen nicht genauso ging.

Als es zu dunkel wurde, um weiterzuarbeiten, brachen sie die Bergung ab, und Axt rief alle Beteiligten zu sich.

»Wer bleibt heute nacht mit mir hier unten?« fragte er und schaute in die Runde. Die meisten sahen ziemlich erschöpft aus. Immerhin hatten sie den ganzen Tag lang ohne größere Pausen durchgeschuftet.

Zuerst schien sich niemand besonders darum zu reißen, ihm hier unten in der Kälte Gesellschaft zu leisten, aber dann meldete sich Sabine, und nach einem kurzen Palaver trat einer der Studenten vor und sagte, wenn er, Axt, nichts dagegen hätte, würde sich die ganze Gruppe gerne zur Verfügung stellen.

»Wunderbar!« rief Axt hocherfreut. »Wir sind für jede Hilfe dankbar. Ich denke, dann sind wir genug. Treffpunkt für die anderen ist morgen früh acht Uhr dreißig hier unten in der Grube. Wir müssen die Sache morgen unbedingt zum Abschluß bringen. Dank Frau Schäfers Verhandlungsgeschick werden unsere Nachbarn uns dann hoffentlich wieder mit ihrem Kran zu Hilfe kommen. Vielen Dank, daß ihr alle so tatkräftig mitgeholfen habt.«

Der Gedanke, die Nacht hier unten in der Grube zu verbringen, war ihm schon vor Stunden gekommen. Er hatte zwar nach seinem kleinen morgendlichen Rückfall auf dem Weg hinunter ein mulmiges Gefühl dabei, aber wenn sie ihren Fund jetzt unbeaufsichtigt ließen, dann mußten sich die Fossilienjäger heute nacht nicht einmal mehr die Finger schmutzig machen und brauchten sich nur zu bedienen. Das im Schiefer eingeschlossene Skelett lag jetzt wie auf dem Präsentierteller.

Sie gingen nach oben in die Station. Einige der Studenten fuhren nach Hause, um Schlafsäcke und Luftmatrazen zu holen. Zwei Stunden später waren sie zurück und mit ihnen etliche Flaschen Rotwein und ein Kassettenrekorder.

Er selbst griff zum Telefonhörer, um seiner Frau Bescheid zu sagen. Danach fuhr er nach Hause, um seine Campingutensilien abzuholen und kurz nach Stefan zu sehen. Im Schein zweier Petroleumlampen hockten sie dann abends auf ihren Luftma-trazen, ließen den Wein kreisen und hofften, ihre bloße Gegenwart werde die Plünderer davon abhalten, ihr Zerstörungswerk fortzusetzen.

Weil alle von der anstrengenden Arbeit müde und erschöpft waren, verkroch sich bald einer nach dem anderen in den Schlafsack. Auf Wachen verzichteten sie. Wenn die Grabungsräuber sich hier hinunterwagen sollten, würden sie über die schlafenden Fossilienwächter stolpern.

Auch Axt war in seinen dicken Daunenschlafsack geschlüpft, aber er konnte nicht schlafen. Es war eiskalt. Sein Atem gefror zu einer kleinen Wolke. Meistens lagen die Temperaturen hier unten noch um einige Grade niedriger als in der Umgebung. Die Grube war ein Kälteloch. Vielleicht hatten es die Diebe deshalb nicht geschafft, ihre Beute in einer Nacht zu bergen. Es war gut möglich, daß der Boden hier nachts auch jetzt noch gefror.

Er hörte vereinzelte Schnarcher, und von der Studentengruppe wehte leises Geflüster herüber, das aber bald verstummte. Die Nacht war stockfinster, der Himmel bedeckt, kein Mond, keine Sterne, nichts, woran sich seine Augen festhalten konnten, und so starrte er einfach in eine schwarze, unendliche Leere.

Marlis hatte recht gehabt. In der letzten Zeit hatte sich seine ruhige, gemächliche Tätigkeit in einen Streßjob sondergleichen, der ansonsten so betuliche Stationsalltag in ein Tollhaus verwandelt. In einem unaufhörlichen Gedankenstrom jagten die Ereignisse der letzten Zeit durch seinen Kopf. Aufgeschreckt durch die katastrophalen Folgen seines Schweigens, hatte er Marlis seit dem Zusammenbruch alles erzählt. Sie war bestens informiert, und nächtelang hatten sie zusammen im Wohnzimmer gesessen und überlegt, was das Ganze zu bedeutet hatte. Wenn er bei alldem nicht völlig durchgedreht war, dann war das nicht zuletzt ihr Verdienst.

Sie war es auch, die ihn vor kurzem auf einen ganz und gar verrückten Gedanken gebracht hatte, der ihn seitdem nicht mehr losließ.

»Kannst du dich noch an den Sonntag erinnern, wo ich dich stockbetrunken vor dem Fernseher angetroffen habe?« hatte sie gefragt, und natürlich konnte er sich erinnern. Das würde er nie vergessen. »Da lief doch dieser Film im Fernsehen mit ein paar Kindern, die irgendwie durch die Vergangenheit reisten.«

Die Möglichkeit einer Zeitreise hatte er bisher aus gutem Grund außer acht gelassen. Schließlich war er Naturwissenschaftler, auch wenn die Kollegen aus den härteren Disziplinen über einen wie ihn die Nase rümpfen mochten. Nur damals, als er mit seinem vom Alkohol benebelten Kopf vor dem Fernseher gesessen hatte, war ihm eine Zeitreise plötzlich als eine mögliche Erklärung erschienen. Aber die Existenz dieses Menschenskeletts in seiner Grube Messel und nun das spurlose Verschwinden der Fossilien, war das nicht alles so verrückt, so außergewöhnlich, daß man dazu auch außergewöhnliche Erklärungen in Erwägung ziehen mußte?

Plötzlich schoß ihm eine Erinnerung durch den Kopf, die ihn sich augenblicklich aufrichten ließ. Im Trubel der letzten Tage hatte er ihn völlig vergessen, diesen Pavarotti der Paläontologie, Dr. Emilio Di Censo, ihn, und was er zu dem Prachtkäfer gesagt hatte, den Sonnenberg ihm geschenkt hatte.

»Das ist eine Fälschung«, hatte Di Censo behauptet, und der Mann war eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Sicher, auch so jemand konnte sich irren, aber sein Urteil anzuzweifeln grenzte schon an Majestätsbeleidigung.

Und so abwegig war der Gedanke nicht. Fälschungen waren in ihrem Gebiet leider keine Seltenheit. Fossilien und die damit verbundenen weitreichenden Spekulationen haben die Phantasie der Menschen schon immer außerordentlich beflügelt, und im Laufe der Jahrhunderte hatten viele der Versuchung nicht widerstehen können, heißumstrittenen Theorien auch durch gezielte Verbreitung von Fälschungen zum Durchbruch zu verhelfen. Der englische Piltdown-Mensch war nur ein Beispiel von vielen.

Anfang des achtzehnten Jahrhunderts wurde der fürstbischöfliche Leibarzt Johannes Bartholomäus Beringer, stimuliert durch einige Skelettfunde, zum fanatischen Sammler und ließ seine Studenten in Kompaniestärke in die Steinbrüche der Würzburger Umgebung ausschwärmen. Und diese wurden trotz anfänglichen Murrens in überraschender Weise fündig. Sie schleppten seltsame Steintafeln an, mit noch seltsameren Darstellungen darauf: kopulierende Frösche, fressende Käfer und Spinnen, Blütenknospen, Kometen, Sterne und schließlich sogar Schriftzeichen. Beringer war hingerissen und schrieb mit den Lithopraphiae Wirceburgenis ein dickleibiges Werk mit genauen Beschreibungen aller Fundstücke. Für ihn waren sie der überzeugende Beweis für eine schöpferische Naturkraft, die natürliche Dinge in Stein formte und ihnen dann womöglich Leben einhauchte. Für die Nachwelt waren es die Lügensteine. Erst als ein Stein mit Beringers eigenem Namenszug auftauchte, flog der Studentenulk auf. Verzweifelt versuchte der arme Mann daraufhin, die Verbreitung seines Werkes zu verhindern, indem er alle Bände aufkaufte, deren er habhaft werden konnte. Aber seine Scham war so groß, daß er sich schließlich umbrachte.

Auch Paul Kammerer setzte seinem Leben ein Ende, als herauskam, daß seine sensationellen Präparate gefälscht waren. Kämmerer war Lamarckist und versuchte durch Experimente mit Geburtshelferkröten die Vererbung erworbener Merkmale zu beweisen. Er zwang die armen, normalerweise landlebenden Tiere dazu, sich im Wasser zu paaren, und behauptete, den Männchen wüchsen infolgedessen die für andere Arten typischen, dunkel gefärbten Paarungschwielen. Diese anatomische Veränderung ließe sich auch in der folgenden Generation nachweisen und sei demnach vererbbar. Quod erat demonstrandum! Aber die dunklen Schwielen an den Fingern der Männchen erwiesen sich als das Resultat einer weder von Darwin noch von Lamarck vorgesehenen Chinatinteninjektion, und auch die in seinen Veröffentlichungen angegebene Zahl von untersuchten Krötengenerationen war so hoch, daß Kam-merer mit seinen Untersuchungen schon als Kleinkind begonnen haben mußte.

Bis heute ist der Vorwurf der Fälschung eine scharfe Waffe geblieben. Erst in jüngster Zeit hatte sich Sir Fred Hoyle sehr kritisch zu dem angeblichen Federkleid des Archaeopteryx geäußert. Die englische Presse stürzte sich auf die vermeintliche Wissenschaftssensation und nannte den berühmten Urvogel fortan spöttisch Piltdown-chicken. Wieder war das Ganze nur vor dem Hintergrund einer Auseinandersetzung zwischen verfeindeten Theorien zu verstehen. Wie kann, darauf hatte ja auch Sonnenberg in ihrem Gespräch damals abgehoben, eine so komplizierte Struktur wie die Vogelfeder plötzlich, scheinbar aus dem Nichts auftauchen, ohne daß sich vorher auch nur die Spur einer Andeutung dieser Entwicklung gezeigt hätte? Wer das nicht glauben wollte, für den war es einfacher, die Federn für eine Fälschung zu halten.

Oft genug regierte natürlich auch nur der schnöde Mammon. Viele der auf Trödelmärkten und in Steineläden angebotenen Fossilien waren falsch. Aber es war ein himmelweiter Unterschied, ob künstlerisch begabte Menschen versuchten, Trilobi-ten oder Muschelschalen aus Stein zu formen, um damit Geld zu verdienen, oder ob jemand ein modernes Insekt so manipulierte, daß es einem tertiären Verwandten zum Verwechseln ähnlich sah. Wenn Di Censo recht hatte und der Käfer tatsächlich eine Fälschung war, was hatte Sonnenberg dann damit bezweckt, das Tier ausgerechnet an ihn weiterzugeben? Oder war auch er nur auf einen Betrug hereingefallen?

Wenn Sonnenberg die Flügeldecken des Prachtkäfers mit Metallfarbe oder was auch immer verändert hatte, dann jedenfalls nicht, um das Tier als Fossil auszugeben. Im Gegenteil, er behauptete ja, es sei ein heute lebendes Insekt, das einer fossilen Art nur sehr ähnlich sah. War das einfach nur ein seltsamer Scherz eines schrulligen Alten, oder ging es Sonnenberg vielleicht um mehr, zum Beispiel um diese Lazarusphänomene, die ihn schon während ihres Gespräches so beschäftigt hatten? Wollte er beweisen, daß die Welt nur so wimmelte von uralten, totgeglaubten Kreaturen? Axt ärgerte sich jetzt, daß er Di Censo nicht noch viel intensiver über das Tier befragt hatte. Nach allem, was passiert war, konnte er jetzt schlecht noch einmal nachhaken.

Er lag schon lange wach, war müde und erschöpft, aber die Erinnerung an den Prachtkäfer hatte jede Aussicht auf Schlaf vorerst unmöglich gemacht. Denn da gab es noch etwas, etwas, das auch mit dem Käfer zu tun hatte. Irgend etwas im Zusammenhang mit diesem mysteriösen Käfer spukte da noch in seinem Kopf herum, aber er kam einfach nicht darauf. Es ließ sich nicht greifen, entwischte ihm immer wieder. Es war wichtig, er wußte es genau, hatte es die ganze Zeit über gewußt, aber es wollte ihm im Augenblick nicht einfallen. Sonnenberg und seine Assistentin waren es nicht, aber es hatte mit seinem Vortrag in Berlin zu tun. Zu dumm! Manchmal war man einfach wie vernagelt. Es lag ihm auf der Zunge, es ...

Dann, als hätte der Gedanke an Di Censo eine Art Erdrutsch in seinem Kopf ausgelöst, sah er diesen hoch aufgeschossenen Studenten auf sich zukommen, damals in Berlin nach seinem Vortrag. Die Diskussion war gerade beendet worden, und er war dabei gewesen, sein Manuskript zu ordnen, da hatte er ihn schon kommen sehen. Er hatte so unsicher gewirkt, so, als ob ihn irgend etwas zutiefst erschüttert hätte. Das war nicht nur einfaches Interesse gewesen, von der üblichen Nervosität überlagert.

Ja, jetzt, Monate später, meinte er plötzlich eine Art Seelenverwandtschaft zwischen sich und dem Fragesteller zu entdek-ken, eine Verbindung, so als litten sie an derselben Krankheit, als schleppten sie dieselben Zentnergewichte mit sich herum, als kämpften sie mit denselben unsichtbaren Feinden. »Wissen Sie zufällig, ob es heute noch ähnliche Formen gibt«, hatte er gefragt und dann noch hinzugefügt: »Ich meine, sehr ähnliche.« Er konnte sich jetzt genau erinnern.

»Ich meine, sehr ähnliche ...«

Außerdem interessierte ihn noch etwas anderes, etwas, das Axt trotz Dutzender solcher Vorträge noch nie jemand gefragt hatte.

»Kann man sie einfach trocknen?«

Das waren doch eigentlich seltsame Fragen. Damals war ihm das nicht aufgefallen, aber jetzt .

Diese Fragen klangen für ihn so, als ob der junge Mann ein solches Tier schon einmal gesehen hätte. Er hatte sich nach dem Prachtkäfer erkundigt, nicht nach irgendeinem der anderen Messeler Insektenfunde, nach genau demselben Käfer, dessen täuschend echtes Pendant in Sonnenbergs Kunstharzblock steckte und laut Di Censo eine raffinierte Fälschung darstellte.

Mit einem Stöhnen ließ er sich wieder auf seine Matratze fallen und schloß die Augen. Die Grabungsräuber waren vergessen. Er spürte, er wußte, daß er jetzt ganz nah an der Lösung des Rätsels war, so nah wie noch nie zuvor, auch wenn ihm noch viele Mosaiksteinchen fehlten. Er lag noch lange wach und überlegte, was er als nächstes unternehmen könnte.

Von den ersten Sonnenstrahlen geweckt, schlug er am frühen Morgen die Augen auf, ohne daß es zu irgendwelchen Zwischenfällen gekommen wäre. Einmal war ihm, als hätte ihn der Schein einer Taschenlampe gestreift, aber er wußte nicht, ob er das nur geträumt hatte. Langsam erwachte einer nach dem anderen zum Leben, und eine Stunde später kamen auch die anderen Mitarbeiter der Station den Kiesweg herunter. Sie brachten ihnen Thermoskannen mit heißem Kaffee und belegte Brötchen.

Als sie ihren Kaffee tranken und die Brötchen verzehrten, kam Max den Kiesweg herunter. Er wirkte mürrisch, hatte tiefe Ringe unter den Augen. Er sei gestern völlig von der Rolle gewesen, was sie ihm angesichts seines Aussehens auch ohne weiteres abnahmen, aber nachdem ihn Rudi gestern abend angerufen und berichtet hätte, was passiert sei, habe er sich aus dem Bett gequält und sei hergekommen. Axt freute sich, daß sie noch einen Mann mehr hatten, der mitanpacken konnte. Trotz der unbequemen kalten Nacht fühlte er sich seltsam erfrischt und voller Tatendrang.

Sie entschlossen sich schweren Herzens, die große Schieferplatte mit dem Krokodilskelett in der Mitte durchzuschneiden. Die Gefahr, daß der sperrige Block beim Transport unkontrolliert in viele einzelne Bruchstücke zerfiel, war einfach zu groß. Mit über zwei Metern Länge waren die beiden Teile noch immer groß genug, um ihnen viel Mühe zu bereiten. Und es war kein Problem, die mit einem sauberen, geraden Schnitt getrennten Teile später nach der Präparation wieder zusammenzusetzen. Es passierte bei ihrer normalen Arbeit immer wieder, daß Fossilien auseinanderbrachen. Der Schiefer war ohnehin an vielen Stellen auseinandergerissen. An diesen Stellen setzten sie dann mit ihren Brechstangen, Aluminiumkeilen und Vorschlaghämmern an, um die senkrechten Klüfte zu vergrößern. Dabei kam es oft vor, daß sie auf Fossilienbruchstücke stießen. Sie mußten dann an der Bruchkante nach dem Rest des Fundes suchen. Später, nach der Präparation, wurden die Teile wieder zusammengesetzt. Auch den Krokodilhalswirbel, den die Geologen in ihrem Bohrkern gefunden hatten, würden sie am Ende wieder in die ursprüngliche Position einfügen wie das letzte Teil eines großen dreidimensionalen Puzzlespiels.

Es dauerte den ganzen Tag, bis sie die beiden Schieferplatten nach oben in die Station transportiert hatten. Mit ein paar Flaschen Sekt, den Axt schnell in einer nahegelegenen Tankstelle besorgt hatte, feierten sie die erfolgreiche Bergung. Alle waren müde und stolz, und die Stimmung war ausgelassen. Sie hatten es geschafft. Sie hatten eines der größten Fundstücke, die jemals in Messel gefunden wurden, für die Allgemeinheit und die Wissenschaft gerettet und waren diesen Plünderern zuvorgekommen.

Einer nach dem anderen verabschiedete sich. Schließlich blieb Axt allein in der Station zurück, er und Max, der sich den ganzen Tag über sehr schweigsam gezeigt hatte. Während ihrer kleinen Feier hatte er sich irgendwo im Hintergrund gehalten, und Axt war überrascht, daß er überhaupt noch in der Station war. Nun kam Max auf ihn zu und fragte: »Könnt ich Sie mal ‘n Moment sprechen?« Er sah wirklich krank aus.

Max

Auch wenn Max im Grunde kerngesund war, er fühlte sich ziemlich mies. Wäre es nur irgendwie möglich gewesen, er hätte die Zeit bis zu diesem gottverdammten Abend in Manfreds Kneipe zurückgedreht und diesem Freddy, anstatt sich von ihm um den Finger wickeln zu lassen, in die Eier getreten, daß ihm Hören und Sehen verging. Aber was hatte er statt dessen getan? Sich auf dieses Scheißspiel eingelassen und nur noch Geldscheine gesehen vor seinem inneren Auge. Ein kleiner, schäbiger Krimineller war aus ihm geworden, ein schmieriger Gauner, der seine eigene Visage kaum noch ertragen konnte.

Es waren drei Mann gewesen, Freddy und noch zwei Burschen, die aussahen, als wäre nicht gut Kirschen essen mit ihnen. Sie kamen mit einem großen Transporter ohne Licht wie ein Geisterschiff den Fahrweg hinunter und hielten knirschend vor dem Tor, wo Max auf sie wartete. Er schloß auf, stieg zu ihnen in das von Zigarettenrauch völlig verqualmte Wageninnere, und zusammen rollten sie mit ausgeschaltetem Motor hinunter zu den Ausgrabungsstellen.

Max stand unschlüssig in der Gegend herum, als die drei mit Spitzhacken und Vorschlaghämmern auf den Schiefer eindroschen. Er hatte ihnen tatsächlich die Stelle gezeigt, die sie suchten, aber kurzzeitig auch daran gedacht, ob er sie nicht einfach zu irgendeinem der anderen Bohrlöcher führen sollte. So wie er die Kerle einschätzte, hatten sie so wenig Ahnung von Fossilien wie eine Ameise von altägyptischen Hieroglyphen, oder wie die Dinger hießen. Sie hätten den Irrtum sicher erst bemerkt, wenn es zu spät war. Aber dann hatte er es doch mit der Angst bekommen. Was würden sie mit ihm machen?

Als sie dann mit ihren brachialen Methoden ohne Rücksicht auf Verluste den Schiefer abräumten, stand er Höllenqualen aus und mußte ununterbrochen an die vielen kleinen Fossilien denken, die da jetzt achtlos zerschlagen und zertreten wurden. Plötzlich hatte er die Leute aus der Senckenb erg-Station vor Augen, wie liebevoll und sorgfältig sie selbst mit den kleinsten Fundstücken umgingen.

Mit einem Mal erschien es ihm, als ob seine Arbeit, auch wenn er sie oft verfluchte, doch Teil eines irgendwie großartigen Ganzen war, ein winziges, kaum wahrnehmbares Rädchen in einem riesigen, unüberschaubaren Getriebe, von dessen Bedeutung, dessen eigentümlicher Schönheit und Faszination diese armseligen Wichser nicht die geringste Ahnung hatten. Banausen waren das, stumpfsinnige, geldgeile, brutale Arschlöcher. Ihr wahlloses Drauflosgehacke war plötzlich so unerträglich für ihn, daß er sich abwenden und hinüber zur Müllkippe schauen mußte, wo einige kahle Glühbirnen gegen die Finsternis ankämpften.

Aber es war eiskalt in dieser Nacht, der Schiefer von feinem Rauhreif überzogen, und die Kerle kamen nur langsam voran.

Es war wie ein Wunder. Der Frühling hatte ja schon fast begonnen, überall sah man frische Triebe, und in einigen Gärten blühten schon die ersten Obstbäume. Und nun diese Kälte. Der Schiefer war gefroren, das hörte er an dem charakteristischen knirschenden Geräusch, mit dem die Platten auseinanderbrachen, und in dem Maße, wie deutlich wurde, daß sie es nicht schaffen würden, stieg seine Stimmung. Zweieinhalb Meter Schiefer auf einer Fläche von mehreren Quadratmetern abzuräumen war kein Pappenstiel, schon gar nicht bei diesen Temperaturen und mit dieser Ausrüstung. Wer hätte das besser beurteilen können als er?

Als sich der Zeiger seiner Uhr auf drei, dann auf vier Uhr morgens zubewegte, wurden die drei sichtlich nervös, und schließlich kam Freddy zu ihm herüber und forderte ihn auf mitzuarbeiten.

»Nee, mach ich nich. Das war nicht abgemacht«, sagte Max kategorisch und spürte ein Gefühl des Triumphes, als er im schwachen Lichtschein von Freddys glimmender Zigarette die wachsende Wut in dessen Augen sah. Zuerst hatte es den Anschein, als ob Freddy sich gleich auf ihn stürzen würde, und er kniff die Augen zusammen und hielt die Luft an, weil er glaubte, gleich würde eine Faust in seinem Gesicht explodieren oder ein Pistolenschuß die nächtliche Stille zerreißen und er im nächsten Moment mit glasigen Augen im überfrorenen Schiefer liegen, eine klaffende Wund im Kopf, aus der sein warmes Blut lief und leise knisternd in den feinen Spalten und Rissen des uralten Gesteins versickerte. Aber kurze Zeit später hörte er, wie Freddys Schritte sich wieder entfernten, und er ließ die Luft aus seiner Lunge entweichen, bis nichts mehr da war, was entweichen konnte. Dann atmete er tief durch. Er wußte, daß es zu spät war.

Um fünf gaben sie endlich auf. Fluchtartig packten sie ihre Gerätschaften zusammen und stiefelten mit wütenden Gesichtern zum Wagen zurück. Einer von Freddys Begleitern ließ den Motor an, und ohne ein Wort fuhren sie hinauf zum Tor, wo Max ausstieg. Als er Freddy nach dem Geld fragte, warf dieser ihm einen giftigen drohenden Blick zu und zischte: »Ohne Skelett keine Kohle, das ist doch wohl logisch, oder? Mach, daß du nach Hause kommst, und halt ja die Klappe, sonst gibt’s Ärger, kapiert?«

Er schlug Max die Wagentür vor der Nase zu. Der Transporter setzte sich in Bewegung und ließ Max allein am Tor zurück. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Mit einem Lächeln auf den Lippen machte er sich auf den Heimweg.

Zu Hause begann dann der Katzenjammer. Den nächsten Tag brachte er mehr oder weniger im Bett zu und dachte daran, was jetzt wohl in der Grube los sein mochte. Natürlich würden sie versuchen, Messi zu bergen, so schnell wie möglich, das war klar. Und es würde verdächtig wirken, daß er nicht da war. Aber er war so froh darüber, wie glimpflich alles abgelaufen war, daß er sich darüber zunächst keine Sorgen machte. Das kam erst später und wurde von Stunde zu Stunde unerträglicher, als er sich schließlich zu der Bergungsmannschaft gesellte und abends in die glücklichen und abgekämpften Gesichter blickte. Während der Feier oben in der Station hätte er sich am liebsten unsichtbar gemacht, irgendwo verkrochen, unter der Kellertreppe oder hinter den Schieferplatten mit den Fossilien.

Es war in diesen Minuten, in denen sich die allgemeine Anspannung in fröhliche Ausgelassenheit entlud, daß er überlegte, zu Axt zu gehen und ihm alles zu erzählen. Als dann der müde aussehende Hackebeil mit ihm als letztem zurückblieb, beschloß Max, die Sache am besten gleich jetzt hinter sich zu bringen.

»Könnt ich Sie mal ‘n Moment sprechen?«

»Ja. Was gibt’s denn, Max?« antwortete Hackebeil und schaute ihn dabei so an, als wisse er schon alles.

Die nächsten Stunden vergingen wie in Trance. Micha konnte sich später kaum noch an Einzelheiten erinnern, aber irgendwie mußten sie wohl zum Lagerplatz zurückgefunden haben. Claudia durchlebte bei ihrer Rückkehr ein Wechselbad der Gefühle, denn ihrer ersten Erleichterung, beide wiederzusehen, folgte unmittelbar die Erkenntnis, daß irgend etwas Furchtbares passiert war.

Schon auf dem Rückweg zum Lager schien Tobias Höllenqualen auszustehen und drohte mehrmals zusammenzubrechen. Als sie dann später versuchten, seinen linken Arm zu schienen, fiel er endgültig in Ohnmacht. Er hatte überall Blut, besonders am Kopf, aber auch an den Armen, an seinen Sachen, und es war Micha anfangs unmöglich gewesen einzuschätzen, wie schwer er wirklich verletzt war. Immerhin konnte er sich aus Tobias’ bruchstückhaft hervorgestoßenen Schilderungen langsam zusammenreimen, was passiert war. Bei dem Versuch, einen Felsen hochzuklettern, war Tobias ausgerutscht und abgestürzt.

So einfach war das, geradezu erschreckend banal. Ein Mißgeschick, ein schlichter Fehltritt, kein Kampf mit den Giganten, keine Großwildjagd, keinerlei dramatisches Drumherum, selbst im nachhinein kaum als spannendes Reiseabenteuer verwertbar. Er war geklettert, gefallen und hatte sich den Arm gebrochen, so, wie wahrscheinlich Hunderte von erholungshungrigen Urlaubern jedes Jahr überall in der Welt. Normalerweise ein unglücklicher, zweifellos unangenehmer, jedoch keineswegs dramatischer Zwischenfall. Aber hier .?

Tobias’ medizinische Versorgung, wenn man das, was sie beide in der Lage waren zu tun, überhaupt so nennen konnte, war für jemanden wie Micha, der bisher schlimmstenfalls mit blutenden Schnittwunden und aufgeschürften Knien konfrontiert worden war, ein schrecklicher Alptraum. Tobias, der bei jeder unvorsichtigen Berührung schrie, mit vereinten Kräften das Hemd auszuziehen, den verdreckten Stoff vorsichtig Millimeter für Millimeter über seinen verletzten Arm zu ziehen war eine Tortur für alle Beteiligten. Schweißgebadet und schwer atmend ließ Tobias sich danach auf eine der Matten sinken, die sie mit ihren Schlafsäcken weich gepolstert hatten. Auch Micha war leichenblaß und mußte sich danach erst einmal eine Beruhigungszigarette gönnen.

Dieser Arm, er sah so schrecklich kaputt aus, man konnte es nicht anders beschreiben. Tobias hielt ihn vom Körper weg wie ein nutzloses, fremd gewordenes Anhängsel, zu dem er keine Beziehung mehr hatte. Es war ein offener Bruch, soviel war klar. Fassungslos starrten sie alle drei das entstellte Körperteil an, den unnatürlichen Knick, diese blutige, tiefblaurot unterlaufene Beule, die, etwa zehn Zentimeter vom Ellenbogen entfernt, seinen Unterarm in zwei ungleiche Hälften teilte und aus der wie ein totes Stück Holz weißlicher, zersplitterter Knochen ragte. Nach erregten Debatten entschlossen sie sich schließlich, den Arm mit Hilfe einer der Zeltstangen notdürftig zu fixieren. Was sollten sie auch anderes tun?

Es dauerte nur wenige Minuten - Claudia hatte gerade erst begonnen, mit zusammengepreßten Lippen den Verband um Zeltstange und Arm zu wickeln -, da verabschiedete sich Tobias zunächst einmal. Ohne Vorwarnung sackte er fast lautlos in sich zusammen und fiel auf die Seite. Es hätte nicht viel gefehlt, und Micha hätte sich dazu gelegt.

Jetzt konnten sie ihm wenigstens einigermaßen problemlos den Arm verbinden und nachschauen, ob er noch weitere Verletzungen aufwies. Sie untersuchten ihn vorsichtig und stellten fest, daß er sich außer einigen Schürfwunden und Prellungen nur eine stark blutende Wunde am Kopf zugezogen hatte, von der wohl all das Blut stammte. Das Schlimmste war also der Arm, vielleicht kam noch eine Gehirnerschütterung dazu.

Als Tobias eine halbe Stunde später aufwachte, flößten sie ihm zwei Schmerz- und eine Beruhigungstabletten ein, und zu ihrer großen Erleichterung schlief er bald völlig entkräftet wieder ein.

Über ihren stümperhaften medizinischen Versuchen war die Dämmerung hereingebrochen. Unter einem sternenklaren Himmel saßen Claudia, Pencil und Micha schließlich fröstelnd um ihre Petroleumlampe, kauten trockenen Zwieback, zuckten bei jeder Bewegung, jedem Stöhnen, jedem Röcheln von Tobias zusammen und versuchten zu begreifen, was passiert war.

Es war etwas geschehen, was eigentlich undenkbar war, ein Tabu, über das zu reden, sich vorher niemand getraut hatte, etwas, was unter keinen Umständen hätte geschehen dürfen: Jemand von ihnen hatte sich ernsthaft verletzt. Mit einer Erkältung, mit Durchfall, mit Verstauchungen und ähnlichen Bagatellen wären sie zu Rande gekommen. Darauf waren sie vorbereitet. Aber mochte Tobias’ Verletzung auch nur halb so schlimm sein, wie sie ihnen zunächst erschien, in ihrer jetzigen Situation war sie allemal gefährlich genug, nicht nur für ihn, sondern für sie alle. Sie waren hier buchstäblich mutterseelenallein, an einem unwirtlichen Ort, in einer fernen, unwirtlichen Zeit. Sie waren völlig auf sich allein gestellt, durch eine wochenlange strapaziöse Reise von jeder Aussicht auf Hilfe meilenweit und Millionen Jahre entfernt.

Sie redeten nicht viel und wenn, dann nur belangloses Zeug. Einerseits waren sie todmüde, andererseits war an Schlaf nicht zu denken. Tobias wachte im Laufe der Nacht immer wieder auf, stöhnte, jammerte, fluchte, und wenn er schlief, waren Claudia und Micha ohne Ablenkung ihren Ängsten ausgeliefert.

Micha ärgerte sich über Tobias, weil er sie in diese Situation gebracht hatte. Dann wieder quälte er sich mit Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen herum, weil ihm überhaupt solche Gedanken kamen. Ihm fiel ein Film ein, den er irgendwann einmal gesehen hatte und der in den einsamen Wäldern Kanadas spielte. Eine stumme, zierliche Frau mußte darin ihrem Mann, gespielt vom bulligen Oliver Reed, mit der Axt ein Bein amputieren, nachdem er im tiefsten Winter in eine Bärenfalle getreten war und die furchtbare Wunde sich entzündet hatte.

Amputation! Die Panik, die diesem Gedanken folgte, drückte Micha schier zu Boden. Dazu wäre er nie und nimmer in der Lage, ausgeschlossen.

Aber sie hatte es einfach abgehackt. Ganz auf sich allein gestellt, war ihr nichts weiter übriggeblieben. Entweder sie tat es, oder er würde sterben.

Zack! Immer wieder sah Micha die Axt herabsausen. Einmal in seinem Kopf ließ ihn dieser Gedanke nicht mehr los. Er sah die Zähne, die sich in einen Lederfetzen verbissen, als die Klinge ihn traf, die weit aufgerissenen Augen, das schweißbedeckte Gesicht.

»Wir müssen zurück!« sagte Claudia. Sie war überraschend gefaßt, aber ihr Gesicht wirkte hart, wie versteinert. Hin und wieder rieb sie sich über die Augen. Micha konnte es im Schummerlicht der Petroleumlampe kaum erkennen, aber es sah so aus, als wischte sie sich die eine oder andere stille Träne aus den Augenwinkeln.

»Ja!« Natürlich hatte sie recht. Sie waren nicht in der Lage, Tobias’ Verletzung angemessen zu versorgen. Um diese Erkenntnis konnten sie sich nicht herummogeln. »Aber in diesem Zustand können wir ihn unmöglich transportieren.«

»Dann müssen wir eben warten, bis es ihm etwas besser geht.«

»Und was ist, wenn es nicht besser wird? Wenn sich der Arm entzündet? Wahrscheinlich hat er sich schon infiziert. Er hat schließlich Fieber.« Blutvergiftung, Wundstarrkrampf, Amputation. Alle diese schrecklichen Begriffe gingen ihm durch den Kopf. »Außerdem wächst der Arm schief zusammen. Wir können ihn nicht richten. Wir ...«

»Hör auf!« fuhr sie ihn an. »Das weiß ich selbst. Genau deshalb müssen wir ja zurück.«

»Entschuldige, ich .« Er zitterte vor Angst und Kälte.

Tobias meldete sich mit einem gequälten Stöhnen, als protestiere er gegen ihre Pläne. Sein Kopf rollte ein paarmal hin und her.

Später in der Nacht versuchten sie abwechselnd, wenigstens ein bißchen zu schlafen, aber zumeist blieb es bei dem quälenden Versuch. Erst kurz vor Sonnenaufgang schliefen sie beide ein, um wenig später von den ersten Sonnenstrahlen wieder geweckt zu werden.

Tobias ging es keineswegs besser, im Gegenteil. Weder sein Arm noch die Wunde am Kopf sahen besonders ermutigend aus. Seine Stirn war glühend heiß, und noch im Laufe des Vormittags begann er zu phantasieren. Manchmal schrie er unvermittelt auf, wälzte sich unruhig hin und her, murmelte unverständliches Zeug oder Namen, die sie nicht kannten. Ein paarmal rief er nach Sonnenberg, einmal glaubte Micha den Namen Pillen zu verstehen. Dann schlief er wieder wie ein Toter. Seine Haare waren von Schweiß und Blut pitschnaß und verklebt.

Als es im Laufe des Vormittags immer heißer wurde, bauten sie mit Hilfe der übriggebliebenen Zeltstange und einer Decke einen primitiven Sonnenschutz, damit Tobias nicht der intensiven Strahlung ausgesetzt war. Schatten bot ihr Lagerplatz erst am Nachmittag. Micha bekam nach der durchwachten Nacht und von der nun unerbittlich auf sie niederbrennenden Sonne bohrende Kopfschmerzen.

Irgendwann am Nachmittag brach dann Claudia zusammen. Sie heulte, war völlig verzweifelt und begann, ihm bittere Vorwürfe zu machen, wie sie überhaupt auf die Idee kommen konnten, ein solches Schwachsinnsunternehmen in Angriff zu nehmen. Sie hatte Angst, panische Angst und ließ sich nicht beruhigen. Wenn er versuchte, sie anzufassen, schlug sie seine Hand weg und schaute ihn nur böse an. Dabei wußte sie ja selbst, daß sie sie nicht gerade gezwungen hatten mitzukommen. Ihre Vorwürfe entbehrten jeder Grundlage.

Es war ein seltsames Hin und Her, das sich da zwischen ihnen abspielte. Kaum rastete einer von ihnen beiden aus - er in der Nacht vorher und jetzt sie -, wurde der andere ganz ruhig und überlegt, so als ob sie beide instinktiv spürten, daß wenigstens einer von ihnen einen halbwegs klaren Kopf behalten mußte.

Nur, wenn sie Tobias versorgen mußten, ihm Wasser einflößten, ihn löffelweise mit einer Tütensuppe oder aufgeweichtem Zwieback fütterten und die schweißnassen Haare aus seiner Stirn wischten, herrschte ein trügerischer Frieden.

Trotz ihrer Bemühungen schien sich Tobias’ Zustand eher zu verschlechtern. Er war kaum noch ansprechbar, und in den wenigen Momenten, in denen er einigermaßen bei Verstand schien, stierte er sie mit unnatürlich geweiteten, trüben Pupillen an, als seien sie blutrünstige Kannibalen, die sich anschickten, ihm jedes Glied einzeln auszureißen.

Sie waren am Ende ihrer Kräfte. Wenn sie wenigstens noch in der Nähe des Bootes gewesen wären. Aber zwischen ihnen und der rettenden Titanic lag eine kräfteraubende Bergwanderung. Tobias würde das niemals durchstehen. Ihre Lage war katastrophal.

Am Abend beschlossen sie, daß sich abwechselnd jeweils einer von ihnen etwas abseits vom Lager hinlegen sollte, um zu schlafen. Sie fütterten Tobias mit einer Champignoncremesuppe, von der er aber kaum etwas herunterbekam. Wenigstens gelang es ihnen, ihm zwei Schlaftabletten und Antibiotika gegen eine mögliche Entzündung einzuflößen. Das war alles, was sie für ihn tun konnten. Ihre Hilflosigkeit angesichts seines Zustandes war eklatant.

Obwohl Micha als erster die Wache übernehmen und Claudia später wecken sollte, mußte er irgendwann eingenickt sein. Im Morgengrauen weckte ihn Claudia, aber es war kein Vorwurf in ihrem Blick, im Gegenteil. Sie legte sich zu ihm, umarmte ihn fest, preßte sich an ihn.

Sie schauten nach Tobias, der noch fest schlief, aber es sah nicht so aus, als ob sich Wesentliches an seinem Zustand geändert hätte. Das Haar klebte ihm an der Stirn. Das Fieber schien nachgelassen zu haben, aber er hatte noch immer erhöhte Temperatur. Seine Lippen waren aufgesprungen, fast so, wie Micha es von früher in Erinnerung hatte. Eine Woge zärtlicher Zuneigung überfiel ihn bei diesem Gedanken und trieb ihm Tränen in die Augen. Claudia sah ihn fragend an, aber er konnte nicht sprechen, streckte nur hilfesuchend die Arme aus. Sie umarmten sich noch einmal, und er ließ seinen Tränen freien Lauf. An einem leichten Beben ihres Körpers spürte er, daß sie ebenfalls weinte. Er nahm ihren Kopf zwischen beide Hände und küßte sie mit einer verzweifelten Leidenschaft auf den Mund und ins Gesicht, die er so noch nie an sich erlebt hatte. Sie schien erst überrascht, gab dann aber ihren Widerstand auf, und bald küßten sie sich gegenseitig die Tränen aus dem Gesicht.

Einige Zeit später saßen sie schweigend nebeneinander und schlürften am bleiern dahinfließenden Fluß ihren Morgenkaffee. Pencil lag neben Tobias, der noch immer schlief. Sie wußten beide, daß heute eine Entscheidung fallen mußte. Entweder es ging Tobias etwas besser, dann konnten sie vielleicht noch ein, zwei Tage abwarten, bevor sie mit einem etwas erholten Patienten die Rückreise antraten, oder sein Zustand war gleichbleibend schlecht, was bedeuten würde, daß sie im Grunde keine Minute mehr zu verlieren hatten. Wie sie es unter diesen Umständen nach Hause schaffen sollten, war ihnen allerdings ein Rätsel.

Irgendwann wachte Tobias auf, und im ersten Moment schien es tatsächlich, als ginge es ihm besser. Er schaute sie mit müden, farblosen Augen an und sagte: »Mir geht’s absolut dreckig, Leute. Ich fühl mich zum Kotzen.«

»Ich weiß«, sagte Micha und legte ihm seine Hand auf die Stirn. »Was macht dein Arm?«

»Tut höllisch weh.« Er schloß die Augen. Sein Kehlkopf hüpfte auf und nieder. »Ich hab Durst.«

»Klar! Moment!« Claudia holte eine Wasserflasche und hielt sie an seinen Mund. Mühsam hob er den Kopf. Während er mit dem gesunden Arm die Flasche hielt und gierig trank, stützte sie seinen Nacken. Dann sank er mit einem Stöhnen zurück. Nein, besonders ermutigend sah das alles noch nicht aus. Wahrscheinlich hatte er wirklich eine Gehirnerschütterung oder eine schlimme Infektion.

»Vielleicht sollten wir mal nachschauen, wie dein Arm aussieht«, sagte Claudia.

»Wofür soll das gut sein? Wir können doch sowieso nichts machen«, antwortete Micha. Er hatte panische Angst davor, diesem Arm auch nur nahe zu kommen.

»Tobias, was meinst du?« fragte sie. Er schien jedoch gar nichts mitbekommen zu haben, zeigte keine Reaktion, lag nur mit geschlossenen Augen und offenem Mund im Schatten des wackligen Sonnenschutzes und atmete.

Claudia streckte die Hand nach dem notdürftigem Verband aus, aber kaum berührte sie den verletzten Arm, riß Tobias die Augen auf und stieß einen gellenden Schrei aus.

»Nein!«

Ihre Hand zuckte zurück, als hätte sie an glühendes Metall gefaßt.

»Bist du verrückt?« Er krümmte sich, wandte sich ab und wimmerte nur noch. »Nicht anfassen, nicht anfassen!«

»Du siehst doch, daß es keinen Sinn hat«, schrie Micha sie an. Ihm war, als spüre er den Schmerz am eigenen Leib, ein mörderisches Brennen, das alle anderen Empfindungen abtötete.

»Und?« schrie sie zurück, erschreckt und verletzt. »Weißt du vielleicht was Besseres?«

Das war ihr letzter Versuch, noch etwas für Tobias’ Arm zu tun. Sie gingen sich danach eine Weile aus dem Weg. Claudia stand beleidigt auf und kümmerte sich um Pencil, der etwas zu kurz gekommen war in den letzten zwei Tagen. Micha blieb neben Tobias sitzen. Der von Felsen eingerahmte Lagerplatz kam ihm jetzt wie ein Gefängnis vor. Tobias hatte die Augen wieder geschlossenen, sah etwas entspannter aus. Micha wußte nicht, ob er eingeschlafen war oder einfach nur so dalag.

Während er eine Zigarette rauchte, beobachtete er Claudia, die in der Nähe des Ufers mit ihrem Hund spielte. Es wurde langsam heiß, und ihre Geschäftigkeit kam ihm etwas übertrieben vor.

Was sollten sie tun? Noch abwarten oder ohne Verzug aufbrechen? Und wenn sie sich nun entschlossen, noch heute umzukehren, was war, wenn Tobias nicht mitspielte, aus Angst vor den zu erwartenden Schmerzen und Strapazen? Oder wenn ihm einfach die Kraft fehlte? Der Marsch über die Berge hinunter in die Wüste, wo ihr Boot lag, würde schon im gesunden Zustand kein Vergnügen sein.

Plötzlich erstarrte Claudia und stieß einen seltsamen erstickten Laut aus. Sie stand unbeweglich da und starrte mit einem Gesicht, das grenzenlose Verwirrung ausdrückte, auf eine Stelle hinter ihm.

Er wagte nicht, sich umzublicken. Zuerst dachte er, irgendein Untier pirsche sich in seinem Rücken heran, zum Beispiel der schon lang erwartete Säbelzahntiger, und dieser Gedanke trieb ihm augenblicklich dicke Schweißperlen auf die Stirn. Wie sollten sie Tobias, der bei jeder Berührung schrie wie am Spieß, einen der Felsen hochschaffen, um ihn und sich selbst in Sicherheit zu bringen? Außerdem, wenn der Angriff von dahinten kam, war ihnen der Fluchtweg abgeschnitten. Es blieb dann nur noch der Fluß.

Aber nein, Claudia hätte anders reagiert, wenn dort irgendein gefährliches Tier aufgetaucht wäre. Was war da? Ihm kroch eine Gänsehaut eiskalt den Rücken hinunter. Dann faßte er sich ein Herz, nahm allen Mut zusammen und drehte sich ruckartig um.

Pencil fing an zu bellen. Selbst der Hund hatte ziemlich lange gebraucht, um zu reagieren. Zwischen zwei Felsen, die einen schmalen Durchgang frei ließen, stand eine Gestalt. Micha wurde durch die Sonne geblendet, aber es bestand kein Zweifel: Dort stand ein Mensch.

Tobias schlug die Augen auf. Er sah Micha an und merkte wohl, daß irgend etwas nicht stimmte.

»Was is’n los?« nuschelte er müde.

»Da ist jemand«, sagte Micha leise.

Ihm fiel ihre Entdeckung am Flußufer ein, die Cola-Dose und die alte Feuerstelle. Plötzlich sah er sie vor sich, verlotterte, heruntergekommene, halb verhungerte Gestalten, die ihre Chance erkannt hatten, jetzt da sie durch Tobias’ Verletzung geschwächt und ein leichtes Opfer geworden waren. Er dachte daran, daß sie außer ihren Taschenmessern keinerlei Waffen besaßen.

»Was soll das heißen: jemand?«

»Ein Mensch!«

»Ein Mensch?«

Wenn er »ein Tyrannosaurus« gesagt hätte, Tobias’ Reaktion hätte wohl kaum heftiger ausfallen können. Er wurde kreidebleich, richtete sich in überraschender Geschwindigkeit auf und schaute, auf den gesunden Arm gestützt, ebenfalls zu der Gestalt hinüber, die noch immer unbeweglich zwischen den Felsen stand. Dann kippte er zur Seite weg und fiel auf seinen verletzten Arm. Er schrie auf vor Schmerz und wälzte sich stöhnend im Sand. »Scheiße, Scheiße, Scheiße«, fluchte er. Sein Gesicht war eine Maske aus Schmerz und hilfloser Wut.

Micha war einen Moment durch Tobias abgelenkt, als Pen-cils Bellen lauter wurde und Claudia rief: »Er kommt her, Micha!« Jetzt spürte er die Angst in ihrer Stimme. »Micha, er geht auf euch zu!«

Tatsächlich! Die Gestalt kam langsam näher, wachsam, lauernd, wie ihm schien. Gehetzt blickte Micha sich um, weil er sie plötzlich überall vermutete. Die Gegend hätte genügend Deckung für eine ganze Kompanie geboten. Wenn sie sich dort irgendwo versteckt hatten, einen koordinierten und geplanten Angriff durchführten, dann waren sie verloren. Was ihnen als geschützter Lagerplatz erschienen war, entpuppte sich nun als Falle.

Aber da war nur diese eine Gestalt. Es war ein Mann, das konnte er jetzt deutlich erkennen, ein älterer schlanker Mann mit einem wirren Vollbart, kurzen Hosen und einem Schlapphut. Er hatte seine Position zwischen den Felsen verlassen und kam langsam auf sie zu. Er war bewaffnet, trug ein Gewehr. An seinem Hals baumelte ein Fernglas.

Micha sprang auf. Der Fremde ging noch ein paar Schritte weiter, blieb dann aber stehen, legte das Gewehr auf den Boden und hob die Hände. Beide Arme in die Luft gestreckt, kam er näher.

»Was soll das heißen?« Claudias atemlos gesprochene Worte hörte Micha jetzt direkt neben sich. Er hatte vor lauter Aufregung gar nicht bemerkt, daß sie zu ihnen herübergelaufen war. Pencil baute sich zwischen ihnen und dem rätselhaften Mann auf und kläffte sich die Seele aus dem Leib, aber die schlanke Gestalt kam unbeirrt näher, die Hände noch immer in die Luft gestreckt.

»Das könnte eine Falle sein«, flüsterte Micha.

»Pencil, sei still! Komm her!« Claudias Stimme klang ungewohnt bestimmt, und tatsächlich gehorchte der Dackel, trottete auf sie zu und legte sich knurrend neben den wie hypnotisiert wirkenden Tobias in den Sand.

Der Mann war vielleicht noch fünfzehn Meter entfernt, als er den Mund öffnete: »Ich glaube, ihr könnt Hilfe brauchen.«

Er sprach deutsch. Dieser Mensch, den es eigentlich gar nicht geben durfte, sprach tatsächlich deutsch. Seine Stimme knarrte wie eine alte verklemmte Tür, die seit Jahrhunderten nicht mehr geöffnet worden war.

»Was wollen Sie von uns?« rief Micha ihm zu, versuchte so entschieden wie möglich zu klingen.

»Ich sagte doch, ich will euch helfen.« Wieder dieses Knarren.

»Er lügt!« zischte Tobias. Micha ignorierte ihn.

»Wie kommen Sie auf die Idee, daß wir Hilfe brauchen?«

»Das ist kaum zu überhören.« Er deutete auf Tobias und faßte sich an seinen linken Arm.

Der Kerl wußte genau Bescheid. Konnte es sein ... ? Er warf Claudia einen ratlosen Blick zu. Sie zuckte zuerst mit den Achseln, dann nickte sie schwach. In ihren Augen glomm ein schwacher Hoffnungsschimmer. Tobias sah sie entsetzt an.

»Seid ihr wahnsinnig?« keuchte er. »Ihr glaubt dem? Das kann doch nicht wahr sein. Was ist, wenn er die Titanic will? Vielleicht sind da noch mehr von der Sorte.«

»Sind Sie allein?« rief Claudia.

»Ja!«

»Also gut! Kommen Sie näher, aber langsam.«

»Ihr seid ja verrückt!« schrie Tobias. Seine Stimme klang hysterisch, überschlug sich fast, aber er rührte sich nicht von der Stelle.

»Vielleicht kann er uns wirklich helfen«, sagte Micha, aber Tobias starrte ihn mit fiebrigen Augen nur haßerfüllt an.

Besonders gefährlich sah der Eozän - so hieß er bei ihnen, so lange bis sie seinen Namen erfuhren - wirklich nicht aus. Er war eher klein, schlank, ja, dürr, drahtig, und er lächelte, ja, er lächelte aus seinem wilden Vollbart heraus, und auf seinem braungebrannten Gesicht spiegelte sich so etwas wie Mitgefühl und Besorgnis, jedenfalls bildete er sich das ein. Der Mann hatte so, wie er dastand, irgendwie etwas Väterliches. Micha schätzte ihn auf Ende Fünfzig, er konnte aber leicht auch zehn Jahre älter oder jünger sein.

War das nur ein Trick, ein besonders fieser Plan, mit dem er sie in die Falle locken wollte? War ihr Wunsch nach Hilfe so stark, waren sie schon so verzweifelt, daß sie sich blenden ließen und alle Vorsicht vergaßen?

Dann tat Claudia etwas Unerwartetes. Sie stand auf und ging auf den Mann zu, der jetzt in etwa zehn Metern Entfernung dastand, ohne sich zu rühren. Die beiden sprachen miteinander, so leise, daß Micha nichts verstehen konnte.

Tobias beobachtete die beiden mit starrem Blick, kniff aber ab und zu die Augen zusammen, so als sei er müde und habe Mühe, die Lider aufzuhalten.

Gespannt warteten sie auf das Ergebnis des Palavers. Claudia deutete auf ihren Arm, wohl um die Stelle zu zeigen, an der Tobias’ Arm gebrochen war, und der Mann nickte. In seiner hellbraunen Lederweste, dem flachen Schlapphut und den seltsamen Sandalen, deren Bänder mehrfach um seine sehnigen Unterschenkel gewickelt waren, sah er aus wie ein Großwildjäger, ein Entdecker aus dem letzten Jahrhundert.

Dann schien die Aussprache beendet zu sein. Claudia kam zurück, aber der Eozän blieb, wo er war.

»Ich hab ihm erklärt, was passiert ist, aber er wußte schon alles«, sagte sie. Ihr Gesicht war gerötet vor Aufregung. Sie sprach hastig und schnell.

»Und?«

»Er hat uns schon seit Tagen beobachtet.«

»Seit Tagen schon?«

Sie nickte. »Er sagt ...«, sie beugte sich etwas näher zu ihm, damit Tobias sie nicht verstehen konnte, »er sagt, er kann uns helfen.«

Ja, sie hatte neue Hoffnung geschöpft. Er sah es in ihren Augen. Sie vertraute diesem mysteriösen Fremden.

Es schien fast zu schön, um wahr zu sein. Sie saßen in der Patsche, und schon tauchte wie Phönix aus der Asche ein Mann auf, der behauptete, ihnen helfen zu können, obwohl sie doch eigentlich die einzigen menschlichen Wesen hier sein sollten. Aber dieser Mann war kein Engel und hoffentlich auch kein Teufel. Er war aus Fleisch und Blut, oder, wenn man ihn so ansah, eher aus Haut und Knochen, jedenfalls ein lebendes Wesen wie sie, und Michas Widerstreben, ihm zu vertrauen, schmolz dahin wie Butter in der Pfanne. Sie hatten eh nichts zu verlieren.

Aber Tobias, was war mit Tobias? Ohne seine Mitwirkung würde ihnen selbst das Rote Kreuz nichts nützen.

»Tobias, hast du gehört?« Er faßte ihn vorsichtig an der Schulter, und der Verletzte zuckte sofort zusammen.

»Laßt mich in Ruhe!« Es klang gequält. Seine Augen waren geschlossen, zusammengepreßt. Er hatte sich abgewandt.

Wieder war es Claudia, welche die Initiative ergriff. Mit glasklaren Worten erklärte sie ihm die Situation. Sie fragte ihn, ob er lieber sterben wolle, als sich helfen zu lassen, wie lange er wohl glaube, noch durchhalten zu können, ob er sie alle lieber ins Verderben schicken wolle. Sie sei mit ihrem Latein jedenfalls am Ende. Er habe es in der Hand, was aus ihnen werden solle.

Irgendwann ergab er sich in sein Schicksal, ließ allen Widerstand fallen. Was sollte er auch tun? Sie hatten keine Wahl. Er hatte keine Wahl. Tobias wurde schlaff, schrumpfte, sackte in sich zusammen. Die Anstrengungen der letzten Minuten hatten ihm das Letzte abverlangt. Aus seinen Augenwinkeln rannen einzelne Tränen herab. Er war wütend über seine Hilflosigkeit, darüber, daß sie die Kontrolle so aus der Hand gegeben hatten, und er hatte Angst, Angst vor Schmerzen, vor all dem, was jetzt auf ihn zukommen könnte. Mit einer Vollnarkose oder wenigstens einer örtlichen Betäubung war hier wohl nicht zu rechnen. Was nun kommen mußte, würde alles andere als angenehm sein.

Auf einen Wink von Claudia hin trat der Fremde näher. Er nickte Micha ernst zu, kniete sich neben Tobias auf den Boden und knurrte: »Zeig mal her den Arm, mein Junge!«

Tobias zeigte keine Reaktion. Völlig unbeweglich lag er da und machte den Eindruck, als habe sich sein Bewußtsein tief nach innen verkrochen, irgendwohin, wo niemand und nichts an ihn herankommen konnte. Selbst als der Eozän mit dünnen knochigen Fingern langsam und vorsichtig den Verband abzuwickeln begann, verzog er nur einmal kurz das Gesicht. Was schließlich zum Vorschein kam, war wirklich kein schöner Anblick. Der halbe Unterarm hatte sich verfärbt und war erheblich angeschwollen. Claudia und Micha warfen sich einen entsetzten Blick zu, und der Mann brummte und schüttelte ein paarmal seinen markanten Schädel. Sein Gesicht, sein ganzer Körper schien kein Gramm Fett zu enthalten, nur Knochen, Muskeln und Sehnen. Die über Wangenknochen und Nase straff gespannte Haut verlieh ihm etwas Arabisches, aber nach den wenigen Sätzen, die er bisher von sich gegeben hatte, stand außer Zweifel, daß dieser Mann Deutscher war, Hesse um genau zu sein, sofern solche Kategorien hier und jetzt überhaupt noch eine Bedeutung hatten.

Der Eozän öffnete seinen Mund und gab eine Reihe stiftförmiger Zähne frei. »Das sieht schlimmer aus, als ich dachte. Wir müssen ihn zu mir bringen. Hier kann ich nichts für ihn tun.«

»Und wo ist das?« fragte Claudia. Ihr Blick klebte an Tobias’ entstelltem Arm.

Er wies mit der Linken auf das Gewirr der Felsen hinter uns. »Etwa zwei Stunden von hier.« Seine Stimme klang jetzt etwas weicher, aber immer noch so, daß Micha unwillkürlich meinte, sich räuspern zu müssen.

»Hm, und wie sollen wir ihn dahin transportieren?« fragte er. »Er kann ja kaum stehen.«

Der Eozän zuckte nur mit den Achseln. »Tja, wir werden wohl laufen müssen. Krankenwagen oder so etwas gibt es hier nicht.«

Die grauen Augen schienen Micha durchbohren zu wollen.

Was wollt ihr hier? Was habt ihr hier verloren? schien der Blick zu sagen. Das ist kein Spiel. Ihr habt hier nichts zu suchen, ihr seht ja, was passieren kann. Micha senkte den Blick und kam sich vor wie ein kleines Kind.

»Habt ihr ihm Antibiotika gegeben?« Mit gerunzelter Stirn betrachtete er die Wunde noch einmal von allen Seiten.

»Ja, eine ziemliche Dosis.«

»Gut! Die wird er auch brauchen.« Er wickelte den Verband wieder vorsichtig herum, fragte nach weiterem Verbandsmaterial und fixierte damit den verletzten Arm fest an Tobias’ Oberkörper. Seine Handgriffe wirkten ruhig und gekonnt, und je länger er ihm zuschaute, desto größer wurde Michas Vertrauen in seine Fähigkeiten. Der Mann schien wirklich zu wissen, was er tat.

Tobias gab nur hin und wieder ein Stöhnen von sich, ließ aber alles mit zusammengebissenen Zähnen widerstandslos über sich ergehen. Micha hätte um nichts in der Welt mit ihm tauschen wollen.

In Wirklichkeit benötigten sie für den beschwerlichen Weg mehr als vier Stunden. Tobias hatten sie zwei Schmerztabletten gegeben und dann während des gesamten Weges immer abwechselnd gestützt. Er hielt sich prächtig, auch wenn er das eine um das andere Mal vor Schwäche strauchelte und sie häufig anhalten mußten, um ihn nicht zu überfordern.

Nach einer Weile änderten sie die Marschrichtung und verließen den Fluß, bogen im rechten Winkel von ihrer bisherigen Route ab und liefen auf ein paar felsige Hügel zu. Mit jedem Schritt entfernten sie sich nun von dem Fluß, der sie bis hierher gebracht hatte, ein Gedanke, den Micha anfangs äußerst unbehaglich fand. Auch Claudia, die Pencil an der Leine führte, blickte sich immer wieder beunruhigt um, suchte mit ihren Blicken den Fluß, an dessen Ufer in einigen Tagesreisen Entfernung auch ihr Boot lag. Micha kam es vor, als durchtrennten sie die Nabelschnur, das einzige, was sie noch mit der Heimat verband.

Links erhoben sich bald einige schroffe Felsformationen, hinter denen ab und zu die Sonne verschwand, so daß sie im Schatten marschieren konnten.

Sie liefen jetzt einen richtigen ausgetretenen Pfad, der auf den Gipfel eines der Hügel zu führen schien, das erste Zeichen von Zivilisation seit ihrer Durchquerung der Höhle. Eine halbe Stunde später hatten sie ihr Ziel erreicht. Kein Zweifel, hier lebte dieser geheimnisvolle Mann, und er hatte sein Versteck ausgezeichnet gewählt. Zum Berg hin von hohen Felsen überragt, war es nur durch einen schmalen Durchgang zu erreichen und bot gleichzeitig einen phantastischen Blick über die darunter liegende Savanne. In der Ferne erkannte Micha King und Kong, die Vulkane, die Herden, den Fluß und auf der anderen Seite etwas, das wie eine grüne Mauer aussah.

Er wunderte sich keine Sekunde darüber, daß dieser Mann in einer Höhle hauste. Vor dem eigentlichen Höhleneingang hatte er eine Art hölzernen Vorbau errichtet, der kühlen Schatten spendete. Dort ließ sich Tobias vollkommen erschöpft fallen und umklammerte mit der Linken schützend seinen verletzten Arm. Er hatte tiefe Ringe unter den Augen und war schweißgebadet. Ihr Gastgeber verschwand kurz in der Höhle, kam aber gleich darauf wieder und wies auf zwei primitive selbstgezimmerte Hocker, die unter dem Holzdach standen.

»Am besten ihr beiden laßt euch hier nieder und ruht euch erst einmal aus. Wenn ich euch brauche, rufe ich.« Das sollte wohl heißen, daß er von ihnen nicht gestört werden wollte.

Während sie sich kaum noch rühren konnten, gönnte er sich keine Ruhepause, sondern ging sofort zur Sache, Er wandte sich Tobias zu, der auf dem Boden saß, mit dem Rücken an den Felsen gelehnt. »So, dann wollen wir die Sache mal hinter uns bringen.«

Er griff unter die Achsel des gesunden Armes, zog Tobias ohne große Mühe auf die Beine und führte den vor Angst und Schwäche zitternden Patienten in die Höhle, die von draußen wie ein pechschwarzes Loch aussah. Tobias warf ihnen noch einen letzten Blick zu, einen Blick, den Micha nie vergessen würde, voller Angst, voller Schmerz, ein einziger stummer Vorwurf. Um Gottes willen, was hätten sie denn anderes tun sollen?

Eine Weile hörte man gar nichts. Sie stärkten sich mit einem tiefen Schluck aus ihren Wasserflaschen. Claudia ließ Pencil aus der hohlen Hand trinken. Dann verzog sich der Dackel unter einen Felsvorsprung, rollte sich zusammen und schlief. Je länger Micha dort auf dem Hocker saß, desto deutlicher merkte er, wie erledigt und müde er war, und, anstatt die Aussicht zu genießen, schloß er die Augen, lehnte sich gegen den Felsen und begann vor sich hin zu dösen, bis ihn ein entsetzlicher hohler Schrei aus dem Inneren der Höhle aufschrecken ließ. Anschließend hörte man ein Wimmern und tiefes Brummen. Auch Claudia war eingenickt, das erkannte er an dem verschlafenen Blick, mit dem sie ihn jetzt ansah. Sie schüttelte ein paarmal verzweifelt den Kopf. Wie lange hatten sie geschlafen?

Wenig später kam der Eozän mit einem rostigen Blecheimer in der Hand heraus und winkte Micha zu.

»He, du! Ich muß etwas holen. In spätestens einer Stunde bin ich wieder zurück. Paß auf, daß er den Arm nicht bewegt«, sagte er und verschwand mit dem Eimer in dem schmalen Durchgang, durch den sie gekommen waren.

Micha versuchte sich ächzend zu erheben, streckte sich und trat dann mit einem beklemmenden Gefühl, den Nachhall des Schreies noch in den Ohren, durch den Höhleneingang in die Finsternis. Als seine Augen sich langsam an die Dunkelheit gewöhnt hatten, fiel sein Blick zuerst auf eine Reihe von dicken abgegriffenen Büchern, die auf einem Felsabsatz in der Nähe des Einganges standen. Dann entdeckte er Tobias. Er lag weiter hinten auf einem mit alten Decken gepolsterten Felsenbett.

Irgend etwas irritierte Micha an seinem Gesicht. Zuerst glaubte er, Tobias würde phantasieren, aber als er näher trat, sah er, daß er tatsächlich grinste. Alles hatte er erwartet, alles, nur nicht dieses Grinsen. Es kam für ihn so unerwartet, daß er augenblicklich eine Gänsehaut bekam und hellwach war. Als er sich dann über ihn beugte, um seinen Arm zu betrachten, fiel ihm zweierlei auf: Die Beule nahe dem Ellenbogengelenk war fast verschwunden, der schreckliche Knochenstumpf nicht mehr zu sehen, und außerdem schlug ihm ein betäubender Alkoholgeruch in die Nase. Tobias war stockbetrunken.

Ein letzter Versuch

Als Max gegangen war und er allein zurückblieb, empfand Axt ein seltsames Gefühl der Rührung. Er würde sich in Ruhe überlegen, was er mit Max anfangen sollte, aber er konnte sich im Augenblick kaum vorstellen, daß er ihn einfach auf die Straße setzen würde, nicht, nachdem alles so glücklich verlauten war.

Es war schon spät. Eine Weile saß er noch allein neben den beiden in Plastikfolie und Zeitungspapier verpackten Schieferplatten und verspürte eine tiefe Befriedigung, ländlich mal wieder ein greifbarer Erfolg. Er überlegte, ob er Schmäler anrufen und ihm von der erfolgreichen Bergung des Riesenkrokodils berichten sollte. Aber dann entschied er sich dagegen. Schmäler schien das alles ja nicht mehr zu interessieren. Er würde es auch so noch früh genug erfahren.

Ohne so recht zu wissen wie, stand er dann plötzlich vor der Kellertür. Er fühlte, wie sich etwas in ihm verkrampfte. Dort unten ruhte das andere, das menschliche Skelett. Wie in einer Familiengruft, dachte er. Er schloß die Tür auf, knipste das Licht an und ging hinunter. Da lag es inmitten der anderen Fossilien, genauso verpackt und gesichert wie die beiden Schieferplatten, die sie heute geborgen hatten. Eigentlich deutete nichts daraufhin, daß dieser Fund etwas ganz Besonderes war, etwas, das ihn in die bisher schwerste Krise seines Lebens gestürzt hatte.

Da der Schieferblock so ungewöhnlich groß war, hatten sie ihn nicht wie die anderen in die deckenhohen Regale gelegt -wie hätten sie ihn auch da hinüberwuchten sollen -, sondern auf einem Rolltisch in der Mitte des Raumes stehenlassen. Deswegen war es ihm ja überhaupt nur möglich gewesen, den Tisch nach draußen zu rollen, ihn mit dem Lastenfahrstuhl nach oben zu transportieren und unter das Röntgengerät zu schieben, wenn er es sich noch einmal anschauen wollte.

Wieviel Zeit hatte er wohl in den einsamen Abendstunden der letzten Monate vor dem Schirm verbracht und über diese Ansammlung von Knochen meditiert, die sich auch nach stundenlangem Anstarren zu nichts anderem als einem Homo sapiens-Skelett gruppieren wollte, einem Wesen, das erst vor lächerlichen 100 000 Jahren das Licht der Welt erblickt hatte und doch in einem 50 Millionen Jahre alten Ölschieferblock steckte.

Spontan beschloß er, es trotz seiner Müdigkeit noch einmal zu versuchen. Zehn Minuten später leuchtete der Röntgenschirm auf, und Axt setzte sich in den knarrenden Stuhl, in der Hand ein Glas Sekt, das er sich aus den Resten in den überall im Präparationsraum herumstehenden Flaschen zusammengekippt hatte. Natürlich sah es unverändert aus, und doch hatte er das Gefühl, als könne er es nach den Überlegungen der letzten Nacht mit anderen Augen betrachten. Seine Gedanken hatten eine neue Schärfe gewonnen, wagten sich in Gebiete vor, die ihnen bisher verschlossen waren.

Er betrachtete die gezackten Ränder der Schädelknochen, die Suturen, die durch den ungeheuren Druck, der auf ihnen gelastet hatte, auseinanderklafften. Er mußte plötzlich an diesen Amerikaner denken, einen Computerspezialisten, der mit Hilfe seines sicherlich imposanten Maschinenparks aus nackten Schädelknochen Gesichter und Köpfe rekonstruieren konnte. Anthropologen aus der ganzen Welt schickten ihm ihre Frühmenschenschädel, damit er sie in seinem Computer wieder mit Haut, Muskeln und Haaren versehen konnte. Viele der Abbildungen in den einschlägigen Veröffentlichungen stammten von diesem Mann. Wie hieß er doch gleich? Er soll sogar dabei geholfen haben, einige uralte Mordfälle aufzuklären, bei denen die Polizei lange im dunkeln getappt hatte. Seine Darstellungen waren bei den Museumsbesuchern und der sonstigen Öffentlichkeit sehr beliebt. Die Menschen wollten wissen, wie ihre Vorgänger denn nun genau ausgesehen hatten. Da reichten die blanken Schädelknochen nicht aus. Sie schienen die Phantasie der Menschen eher zu blockieren als anzuregen.

Dieses Skelett da auf dem Schirm war ja nicht einfach nur ein Homo sapiens. Dieser Mensch, ob Frau oder Mann, ob jung oder alt, hatte eine Armbanduhr getragen, deren Umrisse sich im Schiefer genausogut erhalten hatten, wie die Flughäute von Sabines Fledermäusen. Außerdem waren da die überkronten Backenzähne. Das hier war eindeutig ein Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts, und da er ja zweifellos tot war, mußte ihn logischerweise auch jemand vermissen.

Wenn dies - nur mal angenommen, er war keineswegs bereit, das so einfach als Tatsache hinzunehmen -, aber wenn dies wirklich eine Art Zeitreisender war, ein unglücklicher zweifellos, und wenn er dessen Schädel diesem amerikanischen Spezialisten zukommen ließ, dann müßte es doch möglich sein herauszubekommen, wen er da vor sich hatte, rein theoretisch, versteht sich, denn er konnte mit den Bildern des Amerikaners ja wohl kaum zur Polizei gehen oder überall in der Welt herumfragen, wer das sein könnte und ob ihn oder sie jemand vermißte.

Axt hätte es ja eigentlich nicht für möglich gehalten, aber wie der grellen Schlagzeile einer Tageszeitung neulich zu entnehmen war, verschwanden offensichtlich andauernd Menschen, Tausende allein in Deutschland. Vom sprichwörtlichen Ehemann, der nur mal Zigaretten holen geht und nie zurückkehrt, über Jugendliche, die sich zu irgendwelchen obskuren Sekten absetzten, von ungeklärten und unerkannten Mordfällen, Aussteigern, die sich einen schönen Lenz in der Südsee machten, bis hin, ja, möglicherweise bis hin zu Leuten, die sich irgendwo herumtrieben, wo sie absolut nichts zu suchen hatten: in vergangenen Erdzeitaltern.

Leider ließ sich diese brillante Idee schlecht in die Tat umsetzen, denn das brächte ihn doch in einen erheblichen Erklärungsnotstand. Menschliche Skelette lagen nicht einfach in der Gegend herum, und wenn man wider Erwarten doch einmal über eines stolpern sollte, konnte man damit noch lange nicht machen, was man wollte. Angefangen bei dem Computerspezialisten bis hin zur Polizei würden die Leute ihn fragen, wo er den Schädel, dessen Aussehen er rekonstruieren lassen wollte, denn herhätte, und damit wäre genau das passiert, was er unter allen Umständen vermeiden wollte. Nein, so phantastisch sich die Idee auch anhörte, sie war leider undurchführbar.

Er seufzte, trank einen Schluck Sekt und ließ seine Augen zum wiederholten Male über die Gesichtsknochen des unbekannten Toten streifen. Wie mag er oder sie wohl ausgesehen haben?

Plötzlich entdeckte er etwas, das ihm bisher noch nie aufgefallen war, ein winziges Detail, kaum zu erkennen, vielleicht nur eine Verunreinigung oder ein Fleck auf dem Schirm. Er stand auf und trat näher heran, um es besser erkennen zu können.

Tatsächlich, da war etwas, nur ein, zwei Millimeter groß, und es schien irgendwie regelmäßige Umrisse zu haben. Er hauchte den Schirm an und fuhr ein paarmal mit der Fingerkuppe über seine kühle glatte Oberfläche. Keine Veränderung. Dieses Ding befand sich eindeutig im Schieferblock.

Er machte eine Aufnahme und begab sich mit Fotoplatte und Sektglas in die Dunkelkammer. Zehn Minuten später materialisierte sich im Entwicklerbad der stark vergrößerte Schädel des Skeletts, und Axt fiel fast das Glas aus der Hand, als er den Fleck auf dem rechten Schneidezahn mit Hilfe einer Lupe genauer betrachtete. Er hatte eine regelmäßige achteckige Struktur, wie ein Kristall, wie ein geschliffener Stein, wie ...

Axt schnappte nach Luft und spürte, wie sein Herzschlag einen Moment lang aussetzte, dann nur stotternd wieder ansprang. Er mußte sich setzen, die Müdigkeit, der Alkohol setzte ihm zu. Ein Schwall von Erinnerungen strömte auf ihn ein. Er sah ein kantiges Gesicht vor sich, eingefallene Wangen, ein Grinsen und schlechte, schief stehende Vorderzähne, ein blitzendes Etwas im rechten Schneidezahn. Ihm wurde schwindlig. Er mußte sich fast übergeben, so überwältigend war die Erkenntnis. Sie sprengte ihm fast den Schädel.

Er kannte diesen Mann. Er hatte ihm gegenübergestanden, in seine Augen geschaut, ihm sogar die Hand geschüttelt und mit ihm geredet. Seitdem waren nur ein paar Monate vergangen, und damals hatte er zweifellos noch gelebt.

Aussterben beeinflußt den Verlauf der Evolution tiefgreifend. Je mehr Organismen aussterben, um so deutlicher unterscheiden sich die neuen von den verschwundenen, deren Plätze sie eingenommen haben. Evolution hängt so sehr vom Aussterben ab, daß es beinahe eine schöpferische Rolle in der Geschichte des Lebens spielt. Die Natur konnte ihre ganz großen Dramen auch recht gut ohne unsere Art, den Homo sapiens, ablaufen lassen. Aber zweifellos begann Homo sapiens mit seiner weiträumigen Veränderung der Lebensräume, die er vor allem für die Landwirtschaft vornahm, das zu imitieren, was in den vorhergehenden Äonen der geologischen Zeit vor allem die Domäne klimatischen Wandels und des gelegentlichen Einschlags eines extraterrestrischen Körpers war.

Niles Eldredge, Wendezeiten des Lebens