121922.fb2 Das Olschieferskelett. Eine Zeitreise - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 8

Das Olschieferskelett. Eine Zeitreise - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 8

7

Angriff

Obwohl er in der Nacht kaum ein Auge zugemacht hatte, war Axt am nächsten Morgen einer der ersten in der Station. Er verspürte keinerlei Müdigkeit, im Gegenteil, er brannte darauf, endlich aktiv werden zu können.

Marlis hatte er nur kurz beim Frühstück gesehen und ihr in knappen hastigen Sätzen erzählt, was passiert war. Von seiner nächtlichen Entdeckung sagte er nichts. Wie hätte er ihr das auf die Schnelle erklären sollen? Stefan ging es deutlich besser. Axt war noch in der Nacht hinauf in sein Zimmer gegangen, wäre im Dunkeln fast über das hundegroße Triceratops gestolpert, das mitten im Raum stand, und hatte eine Weile am Bett des Jungen gesessen. Stefans Stirn war kühl und seine Atemzüge ruhig und gleichmäßig. Er hatte sich wohl wirklich nur irgendein harmloses Virus eingefangen, wie das bei Kindern oft vorkam. Axt war erleichtert. Das, was er jetzt tun mußte, fiel ihm auch so schon schwer genug.

Er kochte sich in seinem Arbeitszimmer einen Kaffee und rief dann in Berlin bei Prof. Schubert an, dem Evolutionsbiologen, der ihn damals zu seinem Vortrag eingeladen hatte.

»Ah, Dr. Axt, natürlich erinnere ich mich. Wie geht es Ihnen?«

»Bestens, danke«, sagte Axt, und zum ersten Mal seit langer Zeit gab er diese Antwort ehrlich und ohne zu zögern.

»Was kann ich für Sie tun? Was machen die Fossilien? Ich habe gehört, bei Ihnen gehen seltsame Dinge vor.«

Nanu, woher wußte denn Schubert davon? Vielleicht hatte es in der Zeitung gestanden. Aber dieser rätselhafte Fossilienschwund war nicht das, was Axt im Moment beschäftigte, jedenfalls nicht in erster Linie.

»Ja, Sie haben recht«, sagte er trocken. »Aber mein Anruf hat einen anderen Grund.«

»Nämlich?« Schubert war anzumerken, daß er liebend gern mehr über die Vorgänge in Messel erfahren hätte.

»Ich wollte Sie fragen, wer sich bei Ihnen in Berlin mit Käfern beschäftigt?«

»Mit Käfern ... Sie meinen, hier am Institut?« fragte Schubert zurück, seine Enttäuschung nur mühsam verbergend. »Nun ja, wir haben hier ziemlich viele Entomologen im Haus, wissen Sie, kommt mir manchmal wie eine Art Epidemie vor. Aber Käfer, sagen Sie ... ja, ich denke, da sollten Sie sich mit Rothmann in Verbindung setzen. Bei ihm müßten Sie genau an der richtigen Adresse sein. Worum geht es denn eigentlich, wenn ich fragen darf?«

Er durfte nicht. Axt ignorierte die Frage. »Könnten Sie mich mit ihm verbinden?«

»Ja, natürlich, das geht schon, aber da muß ich sie zuerst an die Telefonzentrale weiterreichen. Dauert einen Moment. War nett mit Ihnen zu plaudern.«

»Ja, fand ich auch. Danke für Ihre Hilfe.«

Es klickte mehrmals im Hörer, dann hörte er eine mechanische Frauenstimme, die in regelmäßigen Abständen »Bitte warten Sie!« sagte.

Er war so in Gedanken versunken, daß er die Veränderung am anderen Ende der Leitung zunächst gar nicht bemerkte. Eine Frau aus Fleisch und Blut erkundigte sich, was er wolle.

»Oh, ja, entschuldigen Sie, ich hätte gerne Prof. Rothmann gesprochen, Zoologisches Institut. Ja, ich warte.«

Der Zufall mochte ja an vielen Stellen seine Finger im Spiel haben, aber in diesem Fall mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht.

Sicherheit, noch vor wenigen Tagen wäre ihm nie in den Sinn gekommen, daß er dieses Wort im Zusammenhang mit den mysteriösen Vorgängen in Messel einmal in den Mund nehmen könnte. Das war doch eindeutig ein Fortschritt. Er wartete.

»Rothmann?«

»Ja, hier Helmut Axt, Senckenberg-Außenstelle Messel. Herr Rothmann, ich weiß nicht, ob Sie sich noch an mich erinnern. Ich .«

»Natürlich erinnere ich mich. Sie waren - lassen Sie mich überlegen - im November oder Dezember letzten Jahres hier, stimmt’s? Zu diesem denkwürdigen Colloquium.«

»Denkwürdig?«

»Ja, wissen Sie, wir hatten noch einige bemerkenswerte Vorträge in dieser Reihe, und ich habe unseren altehrwürdigen Vorlesungssaal mein Lebtag noch nicht so voll erlebt. Im Sommersemester werde ich das Colloquium organisieren, und ich wette, es werden sich keine zehn Figuren dahin verirren. Na ja, man muß mit dem zufrieden sein, was man hat, nicht wahr? Evolution ist halt immer noch das große Rätsel, möcht ich sagen. Es läßt uns alle wieder zu neugierigen Kindern werden. Das wird wohl auch so bleiben.«

»Wahrscheinlich, es sei denn, wir könnten dabei sein, im Tertiär zum Beispiel«, sagte Axt und mußte im stillen schmunzeln über seine Dreistigkeit. Jetzt riß er schon hintergründige Witzchen über die Angelegenheit. Davon abgesehen war seine Bemerkung natürlich Unsinn. Dabei war man in diesem Spiel namens Evolution immer, egal ob in ferner Vergangenheit oder in der Gegenwart. Ein Aussteigen war unmöglich.

Rothmann lachte trotzdem. »Haha, da haben Sie recht. Das würden wir doch alle gerne. Na ja, aber ich nehme nicht an, daß Sie mit mir über unsere Jugendträume plaudern wollten. Was verschafft mir denn die Ehre? Ich sage Ihnen gleich, von Fossilien habe ich keine Ahnung.«

»Nein, nein, deswegen rufe ich auch nicht an. Wissen Sie, ich suche jemanden, und ich habe gehofft, daß Sie mir vielleicht helfen können.«

»So? Wer ist es denn?«

»Nach meinem damaligen Vortrag bei Ihnen kam ein junger Mann zu mir und erkundigte sich nach unseren Käfern. Er schien mir außerordentlich interessiert zu sein, ja . und da dachte ich, daß er irgendwie näher mit diesen Tieren zu tun haben müßte. So bin ich auf Sie gekommen.«

»Hm«, sagte Rothmann. »Wie sah er denn aus, dieser junge Mann?«

»Er war sehr groß, mindestens eins neunzig, würde ich sagen, vielleicht größer. Jungenhaftes Gesicht, schlaksig, mittellange dunkelblonde Haare, eher schüchtern.«

»Hm, nach Ihrer Beschreibung könnte das ungefähr ein Viertel der männlichen Studentenschaft gewesen sein. Aber ... vielleicht war es unser Michael Hofmeister. Zumindest weiß ich definitiv, daß er auch bei Ihrem Vortrag anwesend war. Er will bei mir seine Diplomarbeit schreiben, oder vielleicht sollte ich besser sagen: er wollte.«

»Wieso?«

»Na, wir haben schließlich schon Ende März, und er hat sich schon seit Wochen nicht mehr blicken lassen. Wissen Sie, unsere Käfer da draußen im Wald warten nicht darauf, bis die Damen und Herren Studenten ihr ziemlich ausgeprägtes Erholungsbedürfnis befriedigt haben. Die rennen einfach los, wenn’s warm genug wird, und dann müssen wir zur Stelle sein, sonst gehen uns wichtige Daten verloren.«

»Sie meinen, er ist verschwunden?« Axt wurde hellhörig. Irgendein Gefühl sagte ihm, daß er auf dem richtigen Wege war. »Wie war noch mal der Name?«

»Michael Hofmeister. Na ja, verschwunden würde ich das nicht nennen, eher verschollen. Er war halt schon lange nicht mehr hier. Er wollte in Urlaub fahren, soviel ich weiß, aber es ist mittlerweile eine ziemlich lange Reise geworden. Vielleicht hat er sich auch anders entschieden und geht jetzt zu den Genetikern. Ökologie ist out, wissen Sie, zu deprimierend für unsere jungen Leute. Statt dessen rennen sie jetzt scharenweise zu den Gentechnologen. Na ja, ich kann es ihnen kaum verdenken. Damit läßt sich ja wohl auch als Biologe endlich einmal richtig Geld verdienen.«

»Wissen Sie, wo er hingefahren ist?«

»Warten Sie, da muß ich überlegen. Richtig, in die Slowakei wollte er, genau, jetzt fällt’s mir ein. Ich weiß noch, daß ich mich darüber gewundert habe, was ein Mensch um diese Jahreszeit in der Slowakei verloren hat. Ich meine, zum Skifahren oder so gibt’s doch sicher aufregendere Reiseziele.«

»Bestimmt! Und wann ist er losgefahren?«

»Sie wollen es aber genau wissen.«

»Ja, entschuldigen Sie, ich bin aufdringlich, ich weiß. Aber ich müßte ihn wirklich sehr dringend sprechen. Es wäre sehr wichtig für mich.«

»Ja, aber wissen Sie, so genau interessiere ich mich eigentlich nicht für das Privatleben meiner Studenten. Ich bin da wirklich überfragt.« Rothmann klang jetzt etwas ungehalten. »Vielleicht sollten Sie es mal bei ihm zu Hause versuchen. Soviel ich weiß, lebt er in einer Wohngemeinschaft irgendwo in Charlottenburg. Falls Sie mit ihm sprechen, erinnern Sie ihn doch bitte daran, daß er sich mal bei uns melden soll. Mit der Telefonnummer kann ich allerdings nicht dienen.«

»Macht nichts! Ich danke Ihnen vielmals«, sagte Axt.

Kaum hatte er aufgelegt, wählte er schon die Nummer der Auskunft. Michael Hofmeister war zwar nicht gerade ein besonders ausgefallener Name, aber vielleicht hatte er ja Glück.

Besuch

Kaum hatte der Mann das Ende des Pfades erreicht, der eng an den Felsen geschmiegt bis hinauf zu seiner Höhle führte, hockte er sich auf einen flachen Stein und stellte den leeren Eimer neben sich auf dem Boden ab. Wie oft er hier schon rauf- und runtergegangen war. Er hatte den Pfad selbst angelegt und im Laufe der Jahre Schritt für Schritt ausgetreten. Er zog seine Pfeife aus der Tasche und begann sie zu stopfen. Er mußte dringend einmal ein paar Minuten in Ruhe darüber nachdenken, was er hier eigentlich tat. Oben in seiner Behausung lungerten jetzt diese drei jungen Leute und der Dackel herum, und eine mitunter recht laute Stimme in seinem Kopf fragte ihn, ob er denn eigentlich noch ganz bei Trost sei.

Was, wenn sie jetzt alles auf den Kopf stellten, während er weg war, sich mit seinen Vorräten oder anderen für ihn lebenswichtigen Utensilien aus dem Staube machten?

Er gönnte sich zur Beruhigung einen Schluck von seinem Kräuter- und Beerenschnaps, den er in mühevoller Arbeit selbst herstellte. Er hielt die braune Flasche gegen das Licht. Fast leer! Und alles nur, um den Kerl mit dem Armbruch betrunken zu machen und die Wunde zu desinfizieren. Welche Verschwendung! Er würde wieder tagelang Kräuter sammeln müssen, wenn er nicht bald ganz auf dem trockenen sitzen wollte. Er verzichtete hier wirklich auf allerhand, aber ein gutes Schnäpschen hin und wieder, das mußte einfach sein. Er fluchte mißmutig in sich hinein.

Aber was hätte er tun sollen, sie einfach verrecken lassen? Nachdem er sie einmal gesehen hatte, war es dafür zu spät. Er konnte sie nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Und der gebrochene Arm sah ziemlich schlimm aus. Jede orthopädische Spezialklinik hätte mit einem solchen Bruch ihre liebe Mühe gehabt. Oder hatte sich die Medizin in den vielen Jahren seiner Abwesenheit vielleicht schon so weit entwickelt, daß selbst eine Verletzung wie diese zur Bagatelle geworden war? Manchmal reizte es ihn, mehr über das zu erfahren, was drüben vor sich ging, auf der anderen Seite, wie er es nannte, im Holozän.

Er lehnte sich an den Felsen, paffte ein paar dicke Rauchwolken in die Luft und ließ seinen Blick über die urzeitliche Savanne schweifen, die er so liebte. Nein, nein! Er hatte nicht vor, seine Position hier zu räumen oder gar mit anderen zu teilen. Niemals! Schon gar nicht mit solchen Grünschnäbeln.

Aber er hätte nicht länger mitansehen können, wie der Junge sich quälte. Seit Tagen schon hatte er sie beobachtet, lange, bevor es zu dem Unfall gekommen war. Wie jeden Abend nach dem Essen hatte er in der Dämmerung vor seiner Höhle gesessen und plötzlich ein Feuer gesehen, weit weg, aber doch deutlich zu erkennen. Es brannte wahrscheinlich in der Nähe des Flusses, ein winziger flackernder Lichtpunkt in der endlosen Ebene, ein seltsamer und ungewohnter Anblick, der in zutiefst verwirrte. So etwas hatte es in all den Jahren, die er hier lebte, noch nicht gegeben.

Anfangs glaubte er natürlich, das müsse dieser Unbekannte sein, dem er schon seit längerem auf der Spur war, der Fallensteller, den er im Verdacht hatte, auch für den Erdrutsch verantwortlich zu sein. Dieser Jemand da unten kam jedenfalls den Fluß entlang, den Fluß, der über die Berge in die Wüste und letztlich auch zur Höhle führte, denselben Weg, der auch ihn einmal hierhergeführt hatte. Wer sollte es sonst sein? Alle die Jahre hatte es hier nur einen Menschen gegeben, ihn.

So reagierte ein Teil von ihm mit Haß und Widerwillen auf den vermeintlichen Eindringling, und wenn das Feuer nicht so weit entfernt gewesen wäre, hätte er womöglich alles stehen und liegengelassen und wäre augenblicklich dorthin gestürzt, um den Kerl wieder dorthin zurückzujagen, wo er hergekommen war.

Aber da war auch ein anderes Gefühl, ein starkes, mächtiges Gefühl, das seine Knie schwach werden und ihn, ohne daß er es wollte, fast sehnsuchtsvoll in Richtung Flußufer blicken ließ.

Ein Lagerfeuer. Dort waren Menschen!

Am nächsten Morgen, nach einer Nacht, in der er vor Aufregung kaum ein Auge zugetan hatte, war er in aller Frühe aufgebrochen. Er mußte herausfinden, wer dort in der eozänen Savanne ein Lagerfeuer angezündet hatte. In der nächsten Nacht sah er das Feuer wieder. Die Entfernung war deutlich zusammengeschrumpft. Er lief dem anderen entgegen - waren es überhaupt einer oder viele?

Aber es dauerte noch drei Tage, bis er sie endlich entdeckt hatte, und mit jeder Nacht, die er das Feuer wieder flackern sah, schwand seine Zuversicht, daß es sich tatsächlich um den Fallensteller handelte. Bisher war er so vorsichtig gewesen, nahezu unsichtbar. Wer weiß, wie lange sich ihre Wege hier schon gekreuzt hatten. Wußte der andere von ihm? Warum sollte er sich plötzlich so auffällig verhalten?

Sie wanderten sorglos am Flußufer entlang, drei junge Leute und - zunächst glaubte er seinen Augen nicht zu trauen - ein Dackel. Er folgte ihnen, hielt sich aber stets in sicherer Entfernung. Am gefährlichsten war der Hund. Mehr als einmal dachte er schon, das kleine Biest hätte ihn entdeckt. Aber glücklicherweise hatte die tertiäre Savanne genug andere Ablenkungen zu bieten. Sie merkten nichts von seiner Anwesenheit. Dann geschah der Unfall.

Er war schon vorher zu dem Ergebnis gelangt, daß dies unmöglich die Leute sein konnten, nach denen er gesucht hatte. Wie auch immer sie hierhergefunden haben mochten, nichts, aber auch gar nichts deutete daraufhin, daß sie etwas mit den Fallen und den anderen Dingen zu tun haben könnten. Das waren ganz normale Studenten oder so etwas. Weiß der Teufel, was die hier zu suchen hatten.

Es war schon ein merkwürdiger Zufall, jahrelang hatte er hier in völliger Abgeschiedenheit gelebt, nicht die geringste Spur menschlicher Gegenwart, nur er, die Tiere, die Natur, und dann, plötzlich, ging es zu wie in einem Taubenschlag. Was war hier los? Hatte Sonnenberg etwas damit zu tun? Womöglich war das nur eine erste Vorhut, und in wenigen Tagen näherte sich eine breite Phalanx aus hupenden Geländewagen, scheppernden Hubschraubern und dröhnenden Flugzeugen, um das Gelände zu sondieren.

Ein schmerzhaftes Gefühl hatte von ihm Besitz ergriffen, und es drohte ihn nicht mehr in Ruhe zu lassen, ein Gefühl des Verlustes. Es schnürte ihm die Kehle zu. Er wurde den Gedanken nicht los, daß etwas Wichtiges geschehen war, irgend etwas, das die Situation entscheidend verändert hatte und das ihn sehr direkt betraf. Er mußte herausfinden, was die drei hier zu suchen hatten. Deshalb hatte er ihnen geholfen. Er hätte nichts anderes tun können.

Er klopfte die Pfeife aus, griff nach dem Blecheimer und lief hinaus in die Savanne.

Klartext

»Mit einem oder zwei f?« hatte die Frau in der Auskunft gefragt.

Natürlich gab es in dieser Riesenstadt nicht nur einen, sondern gleich fünf Michael Hofmeister, dazu noch einen mit zwei f und zwei M. Hofmeister, die Mathias oder Martina oder eben auch Michael heißen konnten. Wie hatte er nur so naiv sein können. Typisch Kleinstädter. Er ließ sich alle Nummern geben und machte sich an die Arbeit.

Der halbe Tag verging mit vergeblichen Versuchen. Einige der Hofmeisters waren nicht zu erreichen, andere kamen nicht in Frage. Bald reduzierte sich seine Liste auf zwei Hofmeisters, die nicht zu Hause waren. Immer wieder versuchte er sein Glück. Irgendwann gegen Mittag riß ihm der Geduldsfaden, und er rief noch einmal im Zoologischen Institut der Freien Universität an. Er hatte in dieser Sache wirklich genug Geduld bewiesen. Jetzt war Schluß damit. Er war fest entschlossen, nicht locker zu lassen. Deshalb reagierte er auch relativ gelassen auf Rothmanns wenig begeisterte Begrüßung.

»Sie schon wieder?«

»Ja, tut mir leid, daß ich Ihnen noch einmal auf den Wecker fallen muß, aber ich sagte ja, es ist sehr wichtig für mich.« Er erzählte Rothmann von seinem Mißerfolg. »Ich dachte, wenn nicht Sie, dann weiß vielleicht irgend jemand anders bei Ihnen .«

»Warten Sie«, unterbrach ihn Rothmann, »da kommt gerade eine Doktorandin von mir herein. Vielleicht kann sie Ihnen weiterhelfen. Moment!«

Axt hörte, wie Rothmann nach einer Karin rief. Kurz darauf hatte er sie am Apparat und hörte gleichzeitig, wie Rothmann sich im Hintergrund über ihn beschwerte.

Er stellte sich vor und fragte noch einmal nach der Reise.

»Er ist Anfang Februar losgefahren, kurz vor Semesterschluß«, sagte Karin.

»Also vor gut sechs Wochen.«

»Ja, wenn Sie das sagen. Nachgerechnet habe ich noch nicht.«

»Ah, ja.« Ganz schön schnippisch, dachte Axt, aber er ließ sich nicht beeindrucken. »Und . äh, sagen Sie, kennen Sie vielleicht auch einen jungen Mann, sehr dünn, kantiges Gesicht, mit irgendeinem Kristall, vielleicht einem Diamanten im rechten Schneidezahn?«

Es war ihm ganz plötzlich eingefallen. Er hatte diese mysteriöse Gestalt in seinem Vortrag gesehen. Sie hatte unmittelbar hinter Hofmeister gestanden, wenn er sich recht erinnerte. Vielleicht bestand da eine Verbindung. Er versuchte es einfach und hatte Glück.

»Ach, ein Diamant soll das sein«, antwortete Karin. »Ich hab mich schon immer gefragt, was er da für ein scheußliches Ding an seinem Zahn hat.«

»Sie kennen ihn also?«

»Tobias? Natürlich kenn ich den. Schrecklicher Typ. Micha war immer ganz genervt, wenn der hier aufkreuzte. Deswegen habe ich mich ja so gewundert, als er ausgerechnet mit diesem Kerl wegfahren wollte.«

Axt saß plötzlich kerzengerade. »Wie bitte? Die beiden sind zusammen weg?«

»Sag ich doch! Erst verdreht er jedesmal die Augen, wenn er ihn sieht, und dann fährt er zusammen mit ihm in Urlaub. Ist doch irgendwie merkwürdig, oder?«

»Allerdings! Tobias hieß der, sagten Sie?«

»Ja.«

»Den Nachnahmen wissen sie nicht zufällig?«

»Nein, keine Ahnung.«

»Schade! Aber Sie haben mir trotzdem sehr geholfen. Vielen Dank, ich danke Ihnen wirklich vielmals. Schönen Gruß noch an Herrn Rothmann!«

Axt legte auf und rieb sich nervös die Stirn.

Das Puzzle setzte sich langsam zusammen. Die beiden kannten sich. Und er hatte ihnen gegenübergestanden, in ihre Augen geschaut, mit ihnen gesprochen. Kaum zu fassen!

Er war sich seiner Sache immer noch sicher, auch wenn dieses intensive, kribbelnde Gefühl des gestrigen Abends etwas nachgelassen hatte. Sicherlich gab es noch mehr Menschen, die sich Diamanten oder ähnliches in die Schneidezähne einsetzen ließen, aber dieser hier stand schließlich in irgendeinem Zusammenhang mit Sonnenberg. Was hatte der Alte über ihn gesagt, als er während ihres Treffens überraschend im Paläon-tologischen Institut auftauchte? Ein Student, einer meiner besten. Und von Sonnenberg stammte auch der Käfer, mit dem er gerade herumspielte. Was hatte der Spitzbart sich nur gedacht, als er ausgerechnet ihm das Tier schenkte? Das waren jedenfalls zu viele Zufälle auf einmal, um nicht mißtrauisch zu werden.

Er überlegte kurz, dann rief er noch einmal in Berlin an. Das Ganze hatte schon viel zu lange gedauert. Warum sollte er also noch länger warten? Nein, er war jetzt genau in der richtigen Stimmung und würde versuchen, die Sache noch heute zum Abschluß zu bringen.

Sonnenberg wirkte seltsam zerstreut und konnte die von Axt an den Tag gelegte Eile nicht nachvollziehen, zumal sich der Anrufer weigerte, ihm am Telefon zu sagen, worum es überhaupt ging. Aber Axt ließ nicht locker, und auf sein Drängen hin willigte Sonnenberg ein, ihn noch heute nachmittag zu treffen. Sie verabredeten sich für fünf Uhr.

Axt zögerte keine Sekunde. Wenn er sich beeilte und nicht im Stau steckenblieb, konnte er es bis dahin gut schaffen. Er packte seine Sachen zusammen und sagte Sabine, daß er für ein paar Tage dringend nach Berlin müsse.

»Was denn, so plötzlich?« fragte sie verblüfft.

»Ja . aber von plötzlich kann eigentlich keine Rede sein«, antwortete er und drückte ihr spontan einen Kuß auf die Stirn. »Und sag bitte Schmäler Bescheid!« Er wollte schon weiterlaufen, hielt dann aber mitten in der Bewegung inne. »Oder besser nicht, laß es bleiben! Ist mir eigentlich egal.«

Eine halbe Stunde später brauste er auf der Autobahn in Richtung Berlin.

»Guten Tag, Dr. Axt! Hatten Sie ein gute Fahrt?« In Sonnenbergs Stimme klang ein leichter Vorwurf mit. Er stützte sich auf seinen Schreibtisch, stemmte sich hoch und griff nach seinem Stock, um dem Gast entgegenzukommen.

»Sparen Sie sich die Mühe!« sagte Axt beim Hineingehen. »Bleiben Sie ruhig sitzen! Glauben Sie mir, es ist besser so.«

»Was gibt es denn so Dringendes? Sie klangen ja am Telefon, als ginge es um Leben und Tod.«

»So könnte man sagen«, murmelte Axt und schloß die Tür hinter sich. Draußen war ihm Sonnenbergs Assistentin über den Weg gelaufen und hatte ihn neugierig gemustert, als er im Eiltempo auf das Büro ihres Chefs zusteuerte. Er wollte nicht, daß sie mitbekam, was er mit Sonnenberg zu besprechen hatte.

»Sie machen mich neugierig.« Die Augen des kleinen Mannes flackerten sonderbar und wichen Axt aus, als er sich wieder auf seinen Stuhl fallen ließ. Mit einer mechanischen Bewegung fingerte er sich eher nervös als nachdenklich an seinem Spitzbart herum.

»So, mein lieber Professor!« Axt zog seinen Mantel aus und warf ihn achtlos über eine Stuhllehne. Ihm war beim Hereinkommen sofort aufgefallen, daß auf einem der Papierstapel auf Sonnenbergs Tisch ein neues Exemplar des angeblich mittelamerikanischen Prachtkäfers lag. Dieser Anblick ließ ihn die Anstrengungen der langen Autofahrt sofort vergessen, und er setzte sich mit einer halben Pobacke direkt neben den zurückweichenden Sonnenberg auf die Schreibtischplatte. Der Professor schnappte nach Luft.

»Was ...?«

»Nun wollen wir mal Klartext reden«, sagte Axt, zog das Röntgenbild mit dem vergrößerten Schädel des Messeler Homo sapiens aus seiner Jackentasche und legte es direkt vor den immer kleiner werdenden Paläontologen auf den Tisch.

»Wissen Sie, was das ist?« fragte er und tippte mehrmals mit dem Zeigefinger auf Tobias’ Zahndiamanten.

Neugier

Zuerst hatte sie sich nur darüber gewundert, wie dieser Mensch aus Messel, den sie sofort wiedererkannt hatte, hier hereinfegte, schnurstracks in Sonnenbergs Arbeitszimmer lief und hinter sich die Tür schloß, als wäre er hier zu Hause, aber dann hatte sie laute Stimmen in dem Zimmer gehört und sich aus irgendeinem Grunde beunruhigt vor das Schlüsselloch gehockt, wie ein kleines Kind, das herausfinden wollte, warum sich seine Eltern so laut stritten. Sie kam sich völlig blöd dabei vor, aber irgend etwas war hier im Busch. Dieser Typ brüllte jetzt herum wie ein Löwe, zwischendurch konnte sie undeutlich Sonnenbergs wimmernde Stimme hören, und bald gewann sie den Eindruck, daß es da drinnen um sehr wichtige Dinge ging, die sie auf keinen Fall verpassen sollte. Es dauerte nicht lange, da lief es ihr eiskalt den Rücken herunter. Sie verstand zwar nicht alles, was die beiden sagten, aber das, was durch die geschlossene Tür an ihr Ohr drang, reichte aus, um sie in höchste Alarmbereitschaft zu versetzen.

»Er ist tot!« brüllte Sonnenbergs Besucher jetzt - richtig, Axt hieß er, jetzt erinnerte sie sich wieder, Helmut Axt. Dann wenig später: »Er wird sterben!«, und danach ein Heulen von Sonnenberg.

Was denn nun, dachte sie verwirrt. Und von wem war überhaupt die Rede?

Sie konnte durch das Schlüsselloch nichts erkennen, da von innen der Schlüssel steckte, sie war allein auf diese bruchstückhaft nach außen dringenden Satzfetzen angewiesen. Aber bald wurde ihr klar, daß es nur um Tobias gehen konnte, um ihn und noch jemanden, der Michael oder so hieß. Sie hatte Tobias schon seit Wochen nicht mehr gesehen, aber ihr war ein Verdacht gekommen, wo er vielleicht stecken könnte, und was sie jetzt hören mußte, zeigte ihr, daß sie damit goldrichtig gelegen hatte. Er war offenbar durch die Höhle gefahren, zusammen mit dem anderen, diesem Michael, und als sie dann ein paar Minuten später das charakteristische Quietschen von Sonnenbergs Schranktür hörte, hinter der er alle seine Unterlagen aufbewahrte - der alte Trottel hielt es nicht einmal für nötig, sie abzuschließen, so sicher war er sich, daß ihm niemand auf die Schliche kam -, da dämmerte ihr, daß der Alte im Begriff war, seinen Besucher in alles einzuweihen und ihm den Weg zur Höhle zu verraten.

Ihr fuhr ein eisiger Schrecken durch die Glieder. Fieberhaft überlegte sie, was sie tun sollte. Wenn Tobias mit diesem anderen Burschen durch die Höhle gefahren war und Axt ihnen womöglich noch hinterherfuhr - irgendeine innere Stimme sagte ihr, daß es darauf hinauslaufen würde -, dann war sie in Gefahr, dann ging es ihr an den Kragen, ausgerechnet jetzt, wo ihre Anstrengungen endlich zu ersten greifbaren Resultaten geführt hatten.

Sie rieb sich nervös über das Gesicht und verlagerte ihr Gewicht, da ihr in der unbequemen Hockhaltung der Fuß einzuschlafen drohte.

»Eine Höhle?« hörte sie Axt jetzt rufen. Dann näherten sich Schritte und das dumpfe Bumsen von Sonnenbergs Stock. Sie erschrak, sprang auf und rannte auf Zehenspitzen in ihr Arbeitszimmer hinüber. Aber die Tür öffnete sich nicht. Sie waren wohl nur zu der Europakarte gegangen, die in Sonnenbergs Zimmer gleich links neben der Tür hing.

Sie schlich sich wieder zurück, und, richtig, die beiden standen vor der Karte, nur einen ausgestreckten Arm weit von ihr entfernt, und sie konnte jedes ihrer Worte verstehen.

Er tat es wirklich! Sonnenberg schilderte Axt mit zittriger Stimme und in allen Einzelheiten, wie man zu der Höhle gelangte. Dann entfernten sich die Stimmen wieder, und sie wußte, daß er jetzt die Fotos zeigte, diese lächerlichen verblaßten Aufnahmen, die er in einer Schatulle in seinem Schrank aufbewahrte.

Sie hörte einen überraschten Aufschrei von Axt. Vielleicht hatte er das Bild von dem Brontotherium gesehen, ein miserabler Schnappschuß, aus großer Entfernung ohne Teleobjektiv aufgenommen, wie die Elefantenfotos ihrer Eltern, die sie von ihrer Fotosafari nach Kenia mitgebracht hatten, unförmige braune Flecken in brauner, verdorrter Landschaft.

Ellen ging zurück in ihr Zimmer, schloß die Tür und atmete mit dem Rücken gegen das Holz gelehnt tief durch. Sie hatte genug gehört, und sie wußte, daß sie etwas unternehmen mußte. Wegen der verschütteten Sumpffläche drohte ihr keine Gefahr, das hätte auch ein normaler Erdrutsch sein können, wie sie immer wieder vorkamen. Aber da waren die Bäume, deren Blüten sie damals, als sie noch einfache Untersuchungen durchführte, mit kleinen Beuteln aus feiner Gaze verhüllt hatte, um die Bestäubung durch Insekten oder andere Tiere zu verhindern, da waren die Fallen, die sie überall aufgestellt hatte, um Tiermaterial zu sammeln, und schließlich auch all die anderen mehr oder weniger mißglückten Versuche, die sie später unternommen hatte. Wenn Axt oder die anderen diese Spuren ihres Handelns entdeckten und zurückkamen, war es wohl vorbei mit ihren Ausflügen in die Vergangenheit, vorbei mit ihren immer drastischer werdenden Versuchen, Schicksal zu spielen. Sie würden wissen, daß sie es war. Wer sonst hätte so einfach an Sonnenbergs Unterlagen herankommen können?

Und wenn sie gar ihren Unterschlupf fänden, die kleine trok-kene Höhle hoch über den Kronen der Urwaldriesen, in der sie sich aufhielt, wenn es zu stark regnete, um draußen zu arbeiten, in der sie schlief und ihre kleine Kochnische eingerichtet hatte, dann könnten ihnen sogar ihre Aufzeichnungen in die Hände fallen, die Papiere, in denen sie ihre gesamten Aktivitäten genauestens protokollierte. Sie verfluchte jetzt ihre Ängstlichkeit, aber es erschien ihr immer viel zu gefährlich, diese Unterlagen hier im Institut oder in ihrer Wohnung aufzubewahren, obwohl sich dort außer ihr so gut wie nie jemand aufhielt.

Es lag sicherlich nicht im Interesse ihrer Gegner, daß die Höhle bekannt wurde. Sie würden sie kaum verklagen oder der Polizei ausliefern können, wenn sie sie erwischten. Was sollten sie ihr auch vorwerfen? Für das, was sie getan hatte, gab es mit Sicherheit keine Gesetze. Aber sie könnten auf andere Weise versuchen, ihr Schwierigkeiten zu machen.

Sie spürte, wie Panik in ihr aufstieg wie ätzende Magensäfte. Sie schluckte, verbarg das Gesicht in ihren feuchten Handflächen und kämpfte dagegen an. Sie mußte ruhig bleiben, durfte jetzt nicht durchdrehen. Es gab vorerst keinen Anlaß zur Beunruhigung.

Nach einer Weile hatte sie sich wieder einigermaßen unter Kontrolle, preßte die Zähne aufeinander, bis ihr die Kiefermuskeln weh taten und starrte haßerfüllt auf die Zimmertür, hinter der, auf der anderen Seite des mit Fossilienbildern vollgehängten Flures, Sonnenbergs Büro lag, und wo Axt und ihr vertrottelter Chef gerade im Begriff waren, alles zu gefährden, was sie bisher erreicht hatte. Sonnenberg, dieser dämliche alte Knak-ker, der mit lüsternem Blick auf ihren Hintern starrte, wenn sie sich bückte, der ihr mit geifernden Mund unter den Rock blickte, wenn sie in der Bibliothek auf der Leiter stand, der beiläufig an ihr vorbeistrich, nur um ihren Arm oder ihre Schultern zu berühren, und bei alldem noch glaubte, sie bemerke es nicht. Vielleicht war ihm ja selber gar nicht klar, wie kindisch er sich mitunter benahm, verkalkt und verknöchert wie er war.

Nein, sie war nicht besonders gut auf ihn zu sprechen. Im Grunde war ja wirklich Sonnenberg an allem Schuld. Ohne diese grenzenlose Naivität, mit der er die Beweise für sein unglaubliches Geheimnis überall offen herumliegen ließ, wäre sie nie dahintergekommen, wäre die brave, fleißige Studentin geblieben, die sie einmal war, schriebe jetzt an ihrer Doktorarbeit und hätte vielleicht gute Aussicht, einmal eine Stelle in einem Museum oder Forschungsinstitut zu bekommen. Aber so, mit all dem Wissen, das sie sich drüben im Tertiär angeeignet hatte, war dies undenkbar für sie geworden.

Warum schloß er sein Arbeitszimmer nicht ab, wenn er aus dem Haus ging, oder wenigstens den Schrank, in dem die Fotos lagen und die anderen Stücke, die er von seiner Reise mitgebracht hatte, der dicke Stapel mit den gepreßten Pflanzen?

Sie war nun einmal neugierig. Das war schon immer so. Lag es daran, daß sie sich immer irgendwie hintergangen oder ausgeschlossen fühlte, stets Angst hatte, die Leute würden ihr irgend etwas vorenthalten? Schränke, Schubladen, Brieftaschen anderer Leute übten jedenfalls eine magische Anziehungskraft auf sie aus. Auf diese Weise war sie als Kind auf die Pornohefte in der Nachttischschublade ihrer Eltern gestoßen, auf die heimlichen Seitensprünge im Tagebuch eines früheren Liebhabers. Sie konnte nichts dagegen machen. Diese Neugierde war ein Teil von ihr. Wenn Sonnenberg etwas geheimhalten wollte, dann sollte er gefälligst auch dafür sorgen, daß es geheim blieb, und es jemandem wie ihr nicht so leicht machen.

Als Sonnenberg einmal nicht im Hause war, fand sie den Stapel mit den Herbarbögen. Sie war Botanikerin. Sie hatte nicht lange gebraucht, um herauszubekommen, was es mit diesen gepreßten Pflanzen auf sich hatte. Was glaubte der alte Bock eigentlich, wieviel Dreistigkeit er seiner Umgebung zumuten konnte, ohne daß seine grausigen Scherze einmal nach hinten losgingen?

Dann hatte sie die Schatulle mit den Fotos gefunden, das von der Höhle und die anderen, das Y-förmige Stirngeweih eines kleines tertiären Hirsches, den Eckzahn einer Säbelzahnkatze, daneben, eingewickelt in ein schmutziges Tuch, eine alte Pistole. Auch der Käfer auf seinem Schreibtisch schien ihr mit einem Male suspekt. Sie brachte Wochen damit zu, sich in diese verdammten Prachtkäfer einzuarbeiten, die sie normalerweise einen Dreck interessiert hätten. Schließlich wurde ihr klar, daß auch dieses Tier nicht von dieser Welt war, jedenfalls nicht von der heutigen. Der Mann hatte sich hier in seinem Institut eingeigelt, umgeben von den Trophäen seiner abenteuerlichen Vergangenheit, und schien keinen Gedanken daran zu verschwenden, was er damit vielleicht anrichten konnte. Womöglich amüsierte es ihn noch, die Leute an der Nase herumzuführen. Sie hatte er jedenfalls nicht täuschen können. Aber was war mit Axt? Wie hatte er überhaupt davon erfahren? Gab es noch jemanden, der von der Höhle wußte? Es wurden jedenfalls immer mehr.

Sie hatte weitergesucht, war schließlich wie besessen von diesem ungeheuerlichen Verdacht, der sich in ihrem Kopf herausgebildet hatte, versuchte Beweisstück an Beweisstück zu reihen. Und eines Nachmittags, als Sonnenberg zu irgendeiner Gremiensitzung außer Haus war, stieß sie in seiner Schreibtischschublade, die er natürlich nicht abschloß, auf eine alte, rissige und fleckige Karte der ehemaligen Tschechoslowakei. Ihr Blick irrte ziellos auf dem Plan herum, bis sie plötzlich mit klopfendem Herzen auf ein verblaßtes rotes Kreuz irgendwo in der Hohen Tatra starrte.

Was hätte sie denn tun sollen? Alles wieder vergessen? So tun, als ob nichts gewesen wäre? Das Ganze nur als bravourös gelöste Denksportaufgabe ansehen und ausgerechnet den letzten, den entscheidenden Schritt nicht tun ...

Natürlich fuhr sie hin, sogar mehrmals. Erst bei ihrem dritten Aufenthalt fand sie die Höhle, die sie sofort als die auf dem Foto in seinem Schrank wiedererkannte. Sie besorgte sich ein Ruderboot und fuhr hinein.

Sobald sie die Höhle passiert hatte, war es aus mit ihrem alten Leben, und es gab kein Zurück mehr. Damals hatte sie davon natürlich nichts geahnt, tappte einfach nur hinein in diese fürchterliche Halle. Jetzt, im nachhinein, wußte sie es natürlich besser. Manchmal, in seltenen Momenten des Zweifels, fragte sie sich, ob sie nicht auf dem besten Wege war, auszuflippen, irre zu werden an dieser neuen uralten Welt, die sie entdeckt hatte, ob sie nicht Gefahr lief, einfach unter der unerträglichen Last dieses Wissens zusammenzubrechen? Sie hatte es sich nicht ausgesucht und konnte es mit niemandem teilen. Aber diese Momente vergingen wieder, und sie machte weiter.

Wenn man Sonnenberg eines nicht nachsagen konnte, dann, daß er sich intensiv um die Arbeit seiner Assistentin und seiner Studenten kümmerte, die freilich immer rarer wurden und in den letzten fahren fast ganz ausblieben. Er schien es gar nicht zur Kenntnis zu nehmen, wenn sie tagelang, mitunter wochenlang nicht im Institut war. Sie erzählte ihm, daß sie in der Universitätsbibliothek arbeiten, nach Frankfurt, München, sonstwohin fahren würde, um dort vorhandenes Fossilienmaterial zu studieren, und er nickte immer nur und sagte: »Machen Sie nur, Ellen, machen Sie nur!« Dabei schaute er sie mit diesem verzückten Lächeln an, das wohl väterlich wirken sollte, aber in Wirklichkeit nur dumm und hilflos war. Ihre seltenen außerdienstlichen Aktivitäten hatten sie eingestellt, ihre Kommunikation hatte sich auf »Guten Morgen!« und »Auf Wiedersehen!« reduziert, und Sonnenberg war anscheinend schon froh, wenn sie überhaupt einmal das Wort an ihn richtete. Nur so war es ihr möglich geworden, immer häufiger auf die andere Seite zu fahren. Nachdem sie den anderen, den zweiten Zugang entdeckt hatte, der viel näher lag, reichten ihr für ihre Vorhaben ja wenige Tage, und sie mußte nicht mehr bis zur Urlaubszeit warten, um die zeitraubende und anstrengende Anreise durch die Höhle und die Meeresbucht in Angriff nehmen zu können.

Zuerst hatte sie mit einfachen Untersuchungen begonnen, die tatsächlich in Zusammenhang mit dem Thema ihrer Doktorarbeit standen. Wenn sie jetzt daran zurückdachte, erschrak sie fast, mit welcher geradezu rührenden Unschuld sie am Anfang an die Sache herangegangen war. Sie hatte die Pflanzen, an denen sie arbeitete und die sie bisher nur als Fossilien kannte, schnell identifiziert und zunächst durch stundenlanges Beobachten, später mit einfachen Experimenten versucht herauszufinden, wie ihre Bestäubungsbiologie funktionierte. Sie verhüllte die noch unreifen Blüten mit feiner Gaze und erhielt auf diese Weise erste Hinweise darauf, daß tatsächlich größere Tiere die Bestäuber sein mußten, denen durch die Stoffhaube der Zugang zu den Blüten verwehrt war.

Dann beobachtete sie eines Abends im Dämmerlicht, wie fruchtfressende Fledermäuse bei dem Versuch, an die fleischigen Blütenböden heranzukommen, über und über mit Pollen eingepudert wurden und mit ihren nun gelbgefärbten Köpfen, geschminkt wie für eine Karnevalsparty, durch das Geäst zur nächsten Blüte hangelten. Es hatte keine drei Wochen gedauert, bis ihre Aufgabe gelöst war, eine Arbeit, die, nur auf die fossilen Überreste der Pflanzen gestützt, Jahre in Anspruch genommen oder sich womöglich am Ende gar als undurchführbar erwiesen hätte.

Die unerwartet rasche und umfassende Klärung ihres Problems ließ sie zunächst verwirrt innehalten. Sie fiel in ein tiefes Loch, überlegte lange, was sie in dieser für sie nun vollkommen neuen, veränderten Welt anfangen sollte. Es war ein unerträglicher Gedanke, zu Hause, in der fernen Zukunft, so tun zu müssen, als forsche sie weiter an ihren Fossilien herum.

Sie begann, nach dem Vorbild der großen klassischen Naturforscher, systematisch Pflanzen und Tiere zu sammeln, aber bald ödete sie diese Beschäftigung an. Es machte einfach keinen Sinn. Früher hatten Humboldt, Darwin und Bates und wie sie alle hießen - es waren natürlich ausschließlich Männer -, mit ihren Schätzen die Magazine und Vitrinen der heimischen Museen gefüllt. Ganze Schiffsladungen von toten Tieren und Pflanzen wurden nach Europa transportiert und sorgten dort für Gesprächsstoff in den wissenschaftlichen Gesellschaften. Aber was sollte sie mit ihrer immer umfangreicher werdenden Sammlung anfangen, deren Konservierung im feuchttropischen Klima des Eozäns noch dazu größte Probleme bereitete?

Was lag also näher, als sich den wirklich großen Fragen der Biologie zuzuwenden, den Fragen der Evolution, zu denen sie ja jetzt exklusiv und in völlig neuartiger, geradezu atemberaubender Weise Zugang gewonnen hatte.

Sie ging dazu über, kleinere, quasi chirurgische Eingriffe vorzunehmen, um sich den Mechanismen und verschlungenen Wegen des Organismenwandels zuzuwenden. Sie versuchte, bestimmte Pflanzenarten flächendeckend zu beseitigen, kleinere Bäume zu fällen, blühende Kräuter auszurupfen, gezielt bestimmte Farb- und Formvarianten von Blüten miteinander zu kreuzen, und dann, zurückgekehrt in ihre eigentliche Welt, durch intensives Studium herauszufinden, ob ihre Aktivitäten in der wissenschaftlichen Literatur der Neuzeit irgendwelche Spuren hinterlassen hatten. Aber sosehr sie sich auch bemühte, ihre kleinen Experimente und Manipulationen schienen völlig ohne Wirkung zu bleiben. Sie fand nichts, was auch nur im entferntesten mit ihren Versuchen im Tertiär in Verbindung zu bringen war, ihre Bedeutung als neuer Evolutionsfaktor war gleich Null.

Sie wurde ungeduldig. Die Eingriffe, die sie vornahm, wurden immer weitreichender, rigoroser, hektischer - es gab ja niemanden, der sie daran hätte hindern können. Aber nichts geschah, nichts schien sich in der Neuzeit zu verändern, alles ging seinen gewohnten Gang und eine ungeheure Wut begann sich in ihr auszubreiten. Wie ätzende Säure begann diese Wut sie zu zerstören. Bald haßte sie alles und jeden, einschließlich sich selbst, und, durch ihr wochenlanges Eremitendasein im tertiären Urwald entwöhnt, ging sie schließlich jedem unnötigen Kontakt zu anderen Menschen aus dem Wege, vereinsamte völlig.

Die Veränderungen an ihr selbst nahm sie in seltenen Momenten der Besinnung durchaus wahr, ja, sie zitterte manchmal vor Angst, wenn sie abends allein in ihrem Bett lag und daran dachte, welchen verhängnisvollen Weg sie eingeschlagen hatte. Aber daß irgend etwas an ihren Untersuchungsmethoden nicht in Ordnung sein könnte, daran dachte sie nie. Im Gegenteil, Eingriffe wie die ihren hatten seit jeher zum bewährten Methodeninventar der biologischen Wissenschaften gehört. Entwicklungsbiologen schnitten ihren Studienobjekten Extremitäten, Köpfe und ganze Körperhälften ab, um zu sehen, was daraus wurde, Genetiker bestrahlten ihre Versuchstiere so lange mit harter Strahlung, bis schwerwiegende Mißbildungen auftraten, die Rückschlüsse auf die Funktionsweise der geschädigten Gene ermöglichten, Neurobiologen kappten Augenstiele, Antennen und andere Sinnesorgane, um herauszufinden, was mit den durchtrennten Nervenenden und den zuständigen Hirnregionen geschah, ob sie sich irgendwie veränderten oder gänzlich zurückbildeten, Ökologen entfernten die Räuber aus natürlichen Lebensgemeinschaften und verfolgten, welchen Einfluß deren Fehlen auf Zusammensetzung und Häufigkeitsverteilungen der verbliebenen Artengemeinschaft hatte.

Was tat sie denn anderes, als einige unbedeutende Äste des unendlich fein verzweigten Lebensbaumes zu amputieren, um dann die erzielte Wirkung zu studieren? Nein, ihre Methoden waren alles andere als neu. Das war gute alte und seit vielen Jahrzehnten bewährte Forschungstradition. Nicht besonders geistreich, aber aller Anfang war eben schwer. Zuerst mußte man einflußreiche Parameter erst einmal als solche erkennen, bevor man sie genauer unter die Lupe nehmen konnte.

Auch das umgekehrte Vorgehen war gang und gäbe. Fremde Gene, Zellen, ja, ganze Körperteile wurden eingepflanzt und transplantiert, um zu verfolgen, wie die Empfänger damit umgingen, und auch sie hatte schon ernsthaft in Erwägung gezogen, lebende Organismen der Neuzeit mit in die Vergangenheit zu nehmen, räuberische Insektenarten zum Beispiel, die sie zu einem Gladiatorenkampf besonderer Art - neu gegen alt - auf besonderen Versuchsflächen freisetzen könnte, wenn sie nur gewußt hätte, wo sie entsprechende Mengen an Tiermaterial herbekam.

Solche Versuche hatten natürlich einen besonderen Reiz, konnten sie doch vielleicht die heißumstrittene Frage beantworten helfen, ob es tatsächlich so etwas wie eine kontinuierliche Höherentwicklung gegeben hatte, ob moderne Organismen wirklich so überlegen waren, wie viele Leute glaubten, und in direkter Auseinandersetzung mit ihren Vorgängern triumphierten, weil ihre Eigenschaften die besseren Antworten auf die Herausforderungen der Umwelt darstellten. Das waren faszinierende Fragen. Sie hatte sogar angefangen, die Samen einiger moderner Pflanzenarten auszusäen, aber sie hatten sich nur sehr langsam und in unzureichender Zahl entwickelt, und eines Morgens waren sie von irgendeinem tertiären Pflanzenliebhaber restlos abgefressen worden. Aber sie hatte vor, in dieser Richtung weiterzuarbeiten. Solche kleinen Fehlschläge konnten sie nicht entmutigen.

Nein, sie hatte nicht die geringsten Bedenken bei dem, was sie tat, sondern sah sich im Gegenteil in einer langen Tradition biologischer Experimentalforschung, in einer Reihe mit den berühmtesten Namen dieser Wissenschaft. Sie zweifelte im übrigen keine Sekunde, daß die meisten ihrer Kollegen genauso gehandelt hätten, wenn sie an ihrer Stelle gewesen wären. Sie hatte die Höhle ja nicht geschaffen. Sie war gewissermaßen darüber gestolpert und machte sich nun ihre Möglichkeiten zunutze, so wie es jeder andere Wissenschaftler auch getan hätte. Die Molekularbiologie hatte ihre Forschungen ja auch nicht eingestellt, nachdem bestimmte, heute nobelpreisgekrönte Entdeckungen gezielte Eingriffe in das Erbgut möglich gemacht hatten.

Dann war plötzlich Tobias aufgetaucht. Er schleimte sich bei Sonnenberg ein und gewann, wie sie mit wachsendem Entsetzen mitansehen mußte, Schritt für Schritt sein Vertrauen, wurde schließlich zu seinem Erwählten, dem er das Geheimnis offenbarte. Durch Axt und die lautstarke Auseinandersetzung in Sonnenbergs Zimmer war dieser Verdacht nun zur Gewißheit geworden.

Damals hatte sie die Gefahr nur kommen sehen wie ein fernes Unwetter, das sich langsam der Küste näherte und von dem sie nicht wußte, ob es sie nicht doch verschonen und vorüberziehen würde. Sie war sogar mit Tobias ins Bett gegangen, um herauszubekommen, was er wußte und was Sonnenberg mit ihm vorhatte. Es war ein Alptraum, wie er da in seinem knarrenden, engen Bett auf ihr lag und keuchte wie ein Herzkranker, wie seine knochigen Finger sie begrabschten, seine Zunge in ihren Mund drängte und sie seine maroden Vorderzähne an ihren Lippen spürte. Sie hatte nur dagelegen und gehofft, daß es bald vorbei sein würde. Aber diese klapperdürre häßliche Karikatur von einem Mann schien in ihr über sich hinauszuwachsen, wollte oder konnte einfach zu keinem Ende finden. Er mühte sich ab, bis ihr die Tränen kamen und er sich von ihr hinunterwälzte und sie wutentbrannt anschrie: »Mußt du jetzt auch noch rumflennen? Reicht es nicht, daß du nur daliegst wie eine Schaufensterpuppe?« Dabei war alles umsonst gewesen. Sie hatte während seiner hoffnungslosen Versuche, sie in Stimmung zu bringen, nur erfahren, daß er zu diesem Zeitpunkt noch keine Ahnung hatte. Das alles war schon viele Monate her, aber noch heute schüttelte sie sich vor Ekel, wenn sie daran dachte.

Eines Tages hatte sie vor dem Sumpf gestanden, mit der daneben aufragenden, leicht überhängenden Wand aus Sand und Geröll. Ihr kam die Idee zu einem weiteren, besonders vielversprechenden Experiment, das den Rahmen ihrer Möglichkeiten allerdings bei weitem zu überschreiten drohte. Sie brauchte Sprengstoff. Bei ihren früheren Untersuchungen der Fauna und Flora hatte sie herausgefunden, daß hier in diesem Gebiet einige Arten lebten, die sonst nirgendwo vorkamen. Der Sumpf lag isoliert, ein ehemaliger See, der im Begriff war, vollständig zu verlanden. Am Fuß des Überhangs befand sich eine Höhle, in der viele Fledermäuse den Tag verschliefen.

Wieder daheim suchte sie viele Abende lang irgendwelche entsetzlichen Kneipen auf, die in der Nähe von Kasernen lagen, und tatsächlich gelang es ihr, einen Soldaten abzuschleppen, einen großen, kräftigen, gutmütigen Typen namens Dennis, der Zugang zu den Waffenkammern seines Bataillons hatte und dem bei ihrem Anblick fast die Augen herausfielen. Wenn sie sich in irgendwelchen schäbigen Hotelzimmern trafen, versuchte sie alles zu tun, von dem sie glaubte, daß es einem Mann wie ihm gefallen könnte, und nach ein paar Wochen hatte sie ihn soweit. Eines Tages erschien er mit einem schmucklosen Holzkästchen, in dem säuberlich aufgereiht wie seltsam geformte exotische Früchte zehn Handgranaten lagen.

»Ich hab zwar keine Ahnung, was du damit vorhast, Baby«, sagte er und schaute sie mit seinen braunen Augen irgendwie ängstlich an, »aber ich hoffe, daß es keine Schweinerei ist und du mich dabei aus dem Spiel läßt. Wenn jemals herauskommen sollte, daß ich dir die Dinger besorgt habe, kommen wir beide in Teufels Küche.«

»Natürlich, mein Bär«, hauchte sie ihm ins Ohr, knabberte an seinem Ohrläppchen. »Ich weiß! Du kannst dich auf mich verlassen. Ich würde nie etwas tun, was dir schaden könnte.« Und das stimmte sogar. Heute kam es ihr manchmal so vor, als ob dieser große dumme Junge der letzte Mensch gewesen war, dessen Gegenwart sie noch ertragen konnte, ohne daß sich ihr sofort Fluchtgedanken aufdrängten, ohne daß sie etwas anderes als Ekel und Abscheu empfinden konnte. Sie hatte ihn nie wieder gesehen.

Wenige Tage später stand sie am Rand des Sumpfes und schleuderte mit zusammengebissenen Zähnen eine Handgranate nach der anderen in die Höhle, bis sich daraus eine Wolke von desorientierten Fledermäusen ergoß, die mit schrillen Pfiffen und voller Panik hin und her fliegend den Himmel verdunkelten. Es müssen Tausende gewesen sein, die, von der Helligkeit des Tages geblendet, wild durcheinanderflatterten, und sie streckte die Hände in die Luft und schrie ihre ganze Verzweiflung hinaus in den urzeitlichen Tropenhimmel. Dann, nach der siebenten Granate, löste sich der ganze Hang, rutschte mit dunklem Rumpeln wie eine Lawine aus schwerem nassem Schnee in den Sumpf, dessen Wassermassen träge über die schlammigen Ufer schwappten und ihre Hose und Schuhe durchnäßten. Eine Weile hörte sie noch ein Glucksen und Platschen. Hier und da zappelte ein Fisch, den es an Land verschlagen hatte. Dann herrschte Stille, Todesstille. Die letzten drei Handgranaten legte sie mit zitternden Händen wieder in den Holzkasten zurück und verstaute ihn ganz hinten in ihrem Unterschlupf.

Diesmal schien sie Erfolg gehabt zu haben. Sie hatte sich vorher immer wieder gefragt, worin sich die Auswirkungen des Erdrutsches in der Zukunft zeigen könnten, aber darauf wäre sie nie gekommen. Im Brüsseler Museum für Naturgeschichte, las sie in einer Zeitung, waren auf rätselhafte Weise zwei Fledermausskelette verschwunden, wohlgemerkt nicht gestohlen, sondern einfach verschwunden. Das war zwar nicht viel, aber sie zögerte keine Sekunde, dies als erstes Ergebnis ihrer Experimente zu werten.

Offensichtlich waren die der Evolution unterworfenen Organismenarten viel trägere, stabilere Einheiten, als sie sich vorgestellt hatte. Man mußte wirklich mit brachialen Methoden zu Werke gehen, um überhaupt einen Effekt zu erzielen. Vielleicht stimmte es, was einige Forscher, insbesondere aus den Reihen der Paläontologen, neuerdings behaupteten: Die klassische Darwinsche Evolution, der ungerichtete, von Generation zu Generation in winzigen Schritten erfolgende Wandel der Arten und das Wirken der natürlichen Selektion hatten eher stabilisierenden als verändernden Charakter. Tier- und Pflanzenarten waren in der Regel so gut an ihren Lebensraum angepaßt, daß jede Veränderung eher schädlich als nützlich war und durch die Selektion wieder ausgemerzt wurde. Neue Arten entstanden auf andere Weise, aber wie genau, das hatte noch niemand beobachten können.

Es war eine fast schon paradoxe Situation. Da gab es nun seit Darwin eine inzwischen, trotz aller Kritik im Detail, allgemein akzeptierte Theorie der Evolution, und seit mehr als hundert Jahren untersuchte eine wachsende Zahl von Forschern mit immer neuen, immer moderneren Methoden, welche Faktoren den Artenwandel steuerten, aber den eigentlichen Elementarprozeß, um den es ging, die Geburt einer neuen Art, einer von anderen isolierten Fortpflanzungsgemeinschaft ähnlicher Lebewesen, hatte auch ein Jahrhundert nach Charles Darwin noch niemand zu Gesicht bekommen.

Und was hatte man nicht alles versucht. Seit den zwanziger Jahren sind ungezählte Generationen von Fruchtfliegen, der berühmten Drosophila Melanogaster, in ebenfalls ungezählten Labors unter unterschiedlichsten Bedingungen herangezüchtet worden. Milliarden der winzigen Tiere wurden mit hohen Dosen von Alpha-, Beta- und Gamma-Strahlung bombardiert und den verschiedensten Chemikalien ausgesetzt. Es wurden zahllose Mutanten erzeugt, Tiere mit roten oder weißen oder gar keinen Augen, Fliegen mit geraden, mit gebogenen oder gar keinen Flügeln, Tiere mit den unterschiedlichsten Farb-und Behaarungsmustern, jede nur denkbare Variation wurde sorgsam registriert, aussortiert und weiter gezüchtet, aber eines ist bei alldem nie herausgekommen: eine neue Drosophila-Art. Was man auch anstellte, welche Methoden man auch anwendete, ob brachial oder raffiniert, am Ende standen die Forscher mit leeren Händen da, stießen gegen unüberwindbare Grenzen, landeten dort, wo sie aufgebrochen waren: bei Drosophila melanogaster. Überließ man die mutierten Stämme sich selbst, geschah etwas Erstaunliches: Die Tiere kehrten zu ihrer ursprünglichen Gestalt zurück, blinde Fliegen wurden wieder sehend, DDT-resistente Stämme wurden wieder genauso anfällig wie die Ausgangsrasse. Der Mensch hatte das Gummiband bis zum Reißen gespannt, aber kaum ließ er es los, schnurrte es wieder auf seine Ausgangslänge zurück, als wäre nichts gewesen.

Wenn all das nicht ausreichte, um aus einer alten eine neue Art entstehen zu lassen, was mußte dann geschehen? Es konnte doch nicht so schwierig sein. In Hawaii waren als Folge einer einzigen, zehn Millionen Jahre zurückliegenden Besiedlung über 800 sehr unterschiedliche Fruchtfliegenarten entstanden.

Der Mensch hatte trotz jahrzehntelanger Versuche nicht eine einzige zustande gebracht. Ellen hatte sich in den Kopf gesetzt, diese Fragen endlich zu beantworten, und sie war überzeugt davon, nun auch über die dazu notwendigen Mittel zu verfügen.

Ein anderes, sehr aufschlußreiches Beispiel war der Hund, stellvertretend für die ganze Gruppe der menschlichen Hausund Nutztiere. Anders als bei der Katze, die sich noch heute anatomisch kaum von ihren wilden Vorfahren unterscheidet, hat sich der Hund als sehr variabel erwiesen. 5000 Jahre Domestikationsgeschichte haben aus den wölfischen Vorfahren eine unübersehbare Vielfalt an Hunderassen hervorgebracht. Aber trotz einer Unzahl unterschiedlichster Gestalten und Eigenschaften, einer Variationsbreite, die weit über jede natürlich vorkommende Variabilität hinausgeht, ist der Hund bis heute ein domestizierter Wolf geblieben. Prinzipiell sind alle Rassen, einschließlich des Stammvaters, untereinander kreuzbar. Und wie im Falle der Fruchtfliege verschwinden all die mühselig angezüchteten Merkmale wieder wie von Geisterhand, wenn man die Tiere sich selbst überläßt. Überall auf der Welt werden wildlebende Hunde über kurz oder lang zu derselben mittelgroßen, braun- oder schwarzgefärbten Promenadenmischung.

Tausende von Jahren und strengste Selektion in Form des züchterischen Eingriffs durch den Menschen haben nicht vermocht, auch nur eine einzige neue Tierart zu erschaffen. Der Übergang von einer Art zur anderen ließ sich offenbar nicht erzwingen. Die Natur stellte dabei unüberwindliche Hindernisse in den Weg. Worin bestand diese Grenze, über die man nicht hinwegkam? Ellen war dazu auserkoren, es endlich herauszufinden.

Ein erster wichtiger Schritt war getan. Sie hatte jetzt den Beweis, daß es möglich war, überhaupt etwas zu bewirken. Es wäre auch denkbar gewesen, daß die beiden Welten, zwischen denen sie seit Monaten hin- und herpendelte, parallel nebeneinander existierten. Aber das, was sie in der Zeitung gelesen hatte, zeigte eindeutig, daß Sonnenbergs Höhle nicht in etwas führte, das der irdischen Vergangenheit einfach nur ähnlich sah. Es war die Vergangenheit. Wahrscheinlich handelte es sich bei den verschwundenen Fledermäusen um Tiere, die ohne ihren Eingriff irgendwann in einen See gestürzt wären, um dort über lange Zeitspannen hinweg fossilisiert zu werden. Sie hatte sich vorgenommen, in der Universitätsbücherei nachzusehen, ob sie nicht noch mehr finden konnte. Außerdem wollte sie in Ruhe darüber nachdenken, welche weiteren Versuche sie nun in Angriff nehmen könnte. Sie mußte viel gezielter vorgehen. Wahllose Rundumschläge wie der künstlich ausgelöste Erdrutsch mußten die Ausnahme bleiben. Aber nachdem sie nun wußte, daß prinzipiell eine Einflußnahme möglich war, konnte sie doch nicht aufhören. Sie stand erst ganz am Anfang. Sie hatte es in der Hand, eines der größten Rätsel zu entschlüsseln

Sie schreckte auf, als eine Tür knallte und wenig später eine zweite. Sie schaute aus dem Fenster und sah, wie Sonnenbergs Besucher eilig die Auffahrt entlanglief und in seinen Wagen stieg.

Er wird hinterherfahren, dachte sie. Die Verlockung ist einfach zu groß. Man kann ihr nicht widerstehen.

Was hatte Axt geschrien?

Er ist tot?

Er wird sterben?

War Tobias gemeint oder dieser andere, mit dem er unterwegs war? Was war passiert? Und woher wollte er das wissen?

Hoffentlich war es Tobias! Es gab kaum jemanden, den sie so haßte wie ihn. Und das wollte bei ihr etwas heißen. Darauf konnte er sich direkt etwas einbilden. Wenn er es nach dieser entsetzlichen Nacht damals noch einmal gewagt hätte, sie anzurühren, sie wäre zu allem fähig gewesen, hätte ihm mit Vergnügen die Augen ausgekratzt, diesem Miststück mit seinem lächerlichen Diamanten im Zahn.

Sie hatte es nicht eilig. Sonnenberg wußte nichts von dem zweiten Zugang, und Axt würde den Weg durch die andere Höhle nehmen. Er mußte über die Meeresbucht und den Fluß anreisen und würde zehn bis zwölf Tage brauchen, um dahin zu gelangen, wo sie in weniger als zwölf Stunden sein würde. Sie hatte genügend Zeit, um sich alles genau zu überlegen.

Als führte jemand mit unsichtbarer Hand Regie, lag der zweite Zugang tief in demselben Berg, in dem sie sich ihren Unterschlupf eingerichtet hatte. Natürlich hatte sie nicht die geringste Ahnung davon gehabt. Erst viel später, als sie sich an einem regnerischen Tage einmal mit ihrer Taschenlampe tiefer in das ausgedehnte Höhlensystem vorgewagt hatte, verspürte sie plötzlich diese charakteristischen Kopfschmerzen und war einfach immer weiter in die Richtung gegangen, in der die Schmerzen stärker wurden und sich die Übelkeit in ihrem Magen steigerte. Sie konnte Schmerzen gut ertragen.

Plötzlich stand sie vor einem engen Felsspalt, durch den Sonnenstrahlen in die Höhle fielen und der so hinter dichtem Gestrüpp verborgen lag, daß man ihn von außen kaum wahrnehmen konnte. Natürlich hatte sie an den Pflanzen sofort erkannt, daß sie sich wieder in der Neuzeit befand und war eine Weile in der Gegend vor dem Felsspalt herumgelaufen. Mit einem Mal stand sie an einer schmalen geteerten Landstraße, auf der einige Autos mit deutschem Kennzeichen entlangfuhren. Wenn sie diesen Eingang nicht entdeckt hätte, wäre alles ganz anders gelaufen, dachte sie jetzt. Alles eine Kette von Zufällen. Was war das nun: Verhängnis oder Verheißung?

Sie packte ein paar Sachen zusammen und verließ ohne Eile das Haus. Sie würde es schon schaffen, alles einfach irgendwo verstecken und erst dann weitermachen, wenn sich die Aufregung gelegt hatte. Plötzlich fühlte sie einen Stich in der Herzgegend und dachte einen winzigen Moment lang daran, daß dies vielleicht ihre letzte Chance war, aufzuhören. Sie wies diesen Gedanken schnell von sich, setzte sich in ihren Wagen und fuhr in die Stadt, um sich mit Proviant zu versorgen.

Von dem scharfen Knall, der wenig später aus Sonnenbergs Zimmer drang, hörte sie nichts mehr.

Sintflut

Am nächsten Morgen wachte Micha auf, weil er Pencils feuchte Schnauze in seinem Gesicht spürte. Claudia war schon wach, stand am Rand des Höhlenvorplatzes, einer Art natürlicher Terrasse, und blickte mit dem Fernglas in die Ebene hinunter. Aus dem Inneren der Höhle hörte man leise Geräusche. Auch ihr Wohltäter war offensichtlich schon aktiv.

Er war wirklich ein Wohltäter für sie. Nachdem er Tobias verarztet hatte, bewirtete er sie mit einem Abendessen, dessen köstlicher Geschmack Micha jetzt noch auf der Zunge lag. Kartoffeln, Zwiebeln, Karotten, alles frische Lebensmittel, und dazu ein köstliches Braten, nach dessen Herkunft sie sich allerdings nicht zu erkundigen wagten. Er hatte ihnen versichert, daß sie das Fleisch bedenkenlos essen könnten. Danach hatten Claudia und Micha draußen vor der Höhle ihre Matten ausgebreitet und waren sofort fest eingeschlafen. Ihr Gastgeber zog sich in seine Höhle zurück, wo sich Tobias schon seit Stunden von den Strapazen der langen Wanderung erholte und seinen heftigen Rausch ausschlief, den er, wie sie nach dem Essen erfuhren, einem von ihrem Gastgeber selbst gebrannten, ziemlich herben Beerenschnaps zu verdanken hatte.

Er hieß übrigens Herzog, Ernst Herzog, und stammte aus Frankfurt. Viel mehr hatten sie nicht aus ihm herausbekommen. Er war früher Arzt gewesen, was seine medizinischen Kenntnisse und Fähigkeiten erklärte, aber warum er hier lebte und nicht wie seine Kollegen in Frankfurt praktizierte und ein Vermögen verdiente, darüber erfuhren sie nichts. Und woher kam das frische Gemüse, die Bücher, das Holz, aus dem das Höhlenportal gebaut war?

Er war nicht besonders redselig. Auf ihre Fragen kamen nur widerwillig oder gar keine Antworten. Sein Verhalten schwankte unvermittelt zwischen schroffer Abfuhr und freundschaftlicher Unterstützung. Möglicherweise hätte er sich ihnen nie gezeigt, wenn sie nicht in diese Notlage geraten wären. Daß sie aus Zufall auf ihn getroffen wären, war wohl so gut wie ausgeschlossen. Sie wären durch die Landschaft gelaufen, ohne auch nur im geringsten zu ahnen, daß dort ein Mensch lebte. Ihre erstaunlichen Funde hätten sie zwar warnen müssen - eine solche Begegnung hätte ja leicht auch einen ganz anderen Verlauf nehmen können -, aber sie hatten die Möglichkeit, tatsächlich jemandem zu begegnen, offensichtlich sehr schnell und erfolgreich wieder verdrängt und nie wirklich damit gerechnet.

Micha stieg der köstliche Geruch von Bratkartoffeln in die Nase. Die Höhle hatte einen natürlichen Abzug, einen etwa zwanzig Zentimeter breiten Luftschacht, unter dem Herzog seine Feuerstelle eingerichtet hatte. Während Tobias drinnen noch schlief, verschlangen sie mit Heißhunger ihr Frühstück, und Herzog verriet ihnen auf ihre erstaunten Fragen hin, daß er einen Gemüsegarten angelegt habe, wo er die meisten seiner Nahrungsmittel heranzog und der, wie er mehrfach betonte, sehr viel Arbeit machte. Er versprach, sie bei Gelegenheit einmal dorthin zu führen. Als sie ihre Vorräte anboten, verzog er nur angewidert das Gesicht. Er habe sich nicht aus der Zivilisation zurückgezogen, um sich bei der ersten sich bietenden Gelegenheit auf Büchsenfleisch und Tütensuppen zu stürzen, sagte er.

Bei Michas Verdauungszigarette bekam er allerdings große Augen und griff bereitwillig zu, als dieser ihm eine anbot. Auch von ihrem reichlich bemessenen Tee- und Kaffeevorrat machte er gerne Gebrauch. Die Zigarette rauchte er schweigend und voller Konzentration und Genuß, ein faszinierender Anblick für einen Raucher wie Micha, der täglich gedankenlos eine ganze Packung verbrauchte.

Kurz nach dem Frühstück trat Tobias aus der Höhle und kniff gegen die blendende Helligkeit die Augen zusammen. »Hm, hier riecht’s aber gut«, sagte er.

»He, Tobias«, rief Micha erfreut. »Wieder unter den Lebenden?«

Er sah schon viel besser aus. Statt eines Verbandes trug er nun einen großen graubraunen Klumpen um seinen Arm. Herzog hatte ihm als Gipsersatz einen dicken Stützverband aus feuchtem Lehm angefertigt. Das Material dazu hatte er gestern nachmittag mit dem Eimer von unten hochgeholt. Der so verpackte Unterarm ruhte in einer Schlinge, die Tobias um den Hals trug.

»Wie geht’s dir denn?« fragte Claudia. Pencil lief schwanzwedelnd auf ihn zu und beschnüffelte seine nackten Füße.

»Bis auf die Kopfschmerzen eigentlich ganz gut. Außerdem ...«, mit Hilfe seines gesunden Armes hob er den Lehmverband hoch, aus dem seine braungebrannte Hand ragte wie ein aufgepfropfter Fremdkörper, »‘n bißchen klobig, das Ding hier.« Er grinste, diesmal nüchtern.

»Geniale Konstruktion«, sagte Micha anerkennend.

»Es ist ein Prototyp«, brummte Herzog und kratzte seinen wilden Bart.

»Vielen Dank übrigens.« Tobias warf Herzog einen scheuen Blick zu. »Sind Sie eigentlich der Ernst Herzog? Ich meine, ich habe gehört, wie Sie ihren Namen genannt haben, und dann habe ich drinnen das Buch gesehen.« Er wies auf das schwarze Loch im Fels, Herzogs Höhle. »Ich kenne das Buch. Ich habe es auch zu Hause. Es ist gerade neu aufgelegt worden, mit vielen Abbildungen und so.«

»Tatsächlich?«

Alle Augenpaare richteten sich auf ihren Gastgeber, der ein schwaches Lächeln zeigte. Das schien überhaupt das einzige Zeichen von Heiterkeit zu sein, zu dem dieser Mann fähig war, jedenfalls bisher. Schließlich nickte er.

Tobias war beeindruckt. »Er ist ein bekannter DinosaurierExperte«, sagte er. Das schien für ihn die Situation von Grund auf zu verändern.

»Wirklich?« fragte Claudia, und Micha sagte: »Ach so!«, wobei ihm eigentlich selbst nicht ganz klar wahr, was diese Tatsache denn nun erklären sollte.

Herzog winkte bescheiden ab. »Das zählt jetzt nicht mehr.«

»Und ob das zählt.« Tobias schien es deutlich besser zu gehen. Es war wie ein Wunder.

»Jetzt erzählt mir lieber einmal, was euch auf die Wahnsinnsidee gebracht hat, hierherzufahren?« Sein Lächeln war verschwunden, und er sah sie mit seinem Raubvogelgesicht eindringlich an.

»Vermutlich das gleiche wie Sie«, antwortete Tobias.

Sie erzählten ihm von Sonnenberg und Tobias’ Plan eine zweite, gemeinsame Expedition durchzuführen.

»Sonnenberg«, murmelte Herzog. Er lächelte geheimnisvoll und schüttelte den Kopf. »Den gibt’s also immer noch.«

»Sie kennen ihn?« fragte Tobias verblüfft.

Er nickte. »Allerdings, ich kenne ihn gut. Trotzdem! Ihr hättet nie hierherkommen dürfen!«

Er hatte offenbar nicht vor, ihnen zu erklären, woher er Sonnenberg kannte, denn er stand auf, ging in die Höhle und kam kurze Zeit später mit einem ledernen Umhängebeutel und seinem Gewehr wieder heraus. Aus einer Felsennische neben dem Höhleneingang holte er einen selbstgefertigten Bogen und eine Handvoll Pfeile hervor. Das Gewehr benutze er nur in äußersten Notfällen, sagte er später. Sein Patronenvorrat sei sehr begrenzt. Aber es gäbe hier doch so einige Savannenbewohner, gegen die er mit seinem Bogen nicht viel ausrichten könne.

»Ich habe jetzt einiges zu erledigen. Am besten ihr bleibt erst einmal hier, bevor sich noch jemand etwas bricht. Die Gegend ist für Neulinge nicht ganz ungefährlich.« Ohne eine Antwort abzuwarten, marschierte er los und verschwand in dem schmalen Felsdurchlaß.

»Jawohl, Papa!« sagte Tobias leise, als Herzog verschwunden war.

Sie verbrachten den Rest des Tages in und vor der Höhle und beobachteten mit dem Fernglas das Leben in der Savanne, die sich unter ihnen ausbreitete. Irgendwie hatte das, was Tobias passiert war, einen Knacks bei Micha hinterlassen. Der Schock, die Verstörung saß tief, und er war außerstande, den außergewöhnlichen Rundblick, den Herzogs Unterschlupf bot, zu genießen. Claudia ging es ähnlich, das sah er an ihrem unsicheren Blick, an der Tatsache, wie oft sie Pencil streichelte und auf den Arm nahm, und an ihrem Desinteresse gegenüber dem Tierleben der Savanne. Und ausgerechnet Tobias, der ja eigentlich der Hauptleidtragende der ganzen Angelegenheit war, konnte sich vor Freude über die schöne Aussicht kaum beruhigen. Es war, als seien Claudia und Micha die Verletzten und er im Vollbesitz seiner Kräfte. Mit dem Glas, das er sich mit der gesunden Hand vor die Augen hielt, suchte er die ganze Gegend ab und jubelte jedesmal, wenn er eine neue Entdeckung gemacht hatte.

Später widmeten sie sich der Wohnhöhle. Das erstaunlichste in dieser archaischen Umgebung war die Bibliothek, die neben einigen Romanen und Lyrikbänden, dicken Wälzern über Paläontologie, Evolution und Fossilien des Tertiärs insbesondere auch das von Tobias erwähnte Werk ihres Gastgebers enthielt: Ernst Herzog, Dinosaurier in Mitteleuropa.

Tobias meinte, daß Herzogs Werk zu den wenigen maßgeblichen Dinosaurierbüchern in deutscher Sprache zähle, obwohl es schon vor über zwanzig Jahren geschrieben wurde. Der Rest der Bücher stelle sozusagen die Basisbibliothek jedes ernst zu nehmenden Paläontologen dar.

Auf einem primitiven selbstgezimmerten Tisch, der vor dem in den Fels geschlagenen Bücherregal stand, lag vor einem großen Tintenglas ein dickes, ziemlich abgegriffenes Buch. Es enthielt seitenlange handschriftliche Eintragungen und Zeichnungen, und als Micha das bemerkte, klappte er es hastig wieder zu, weil er sich plötzlich wie ein Eindringling vorkam. Auch die Fachbücher, einschließlich Herzogs eigenem, waren mit zahllosen Kommentaren und Randbemerkungen versehen worden. Es war ganz offensichtlich, daß Herzog hier Studien trieb, die er sorgfältig protokollierte. Viel Zeit würde ihm nicht dazu bleiben, denn schließlich mußte er zuallererst sein Überleben sichern, mit allem, was dazu gehörte.

Neben dem Tisch, den Büchern und dem mit aufgewühlten Decken bedeckten Felsenbett enthielt der in schummriges Licht getauchte Höhlenraum nur wenige primitive Einrichtungsgegenstände: ein schiefes Holzregal, in dem sich seine Küchenutensilien befanden, einige Holzschalen und zerbeulte Töpfe, eine alte durchsichtige Plastiktüte voller grober, mit Sand verunreinigter Salzklumpen, die vielleicht hier irgendwo aus der Gegend stammten, etliche Einweckgläser, in denen sich getrocknete Kräuter und andere zum Teil rätselhafte Dinge befanden, zwei große Eimer, die mit Wasser gefüllt waren, und im hinteren Ende der Höhle eine aus Latten zusammengezimmerte Tür, hinter der allerhand Werkzeug lagerte. Das war alles. Neben dem Bett stand ein kleiner Holzrahmen mit einer Schwarzweißfotografie. Sie zeigte ein junges Paar, sie in weißem Kleid mit Rüschen an Ärmeln und Kragen, eine zierliche Person mit schulterlangen lockigen Haaren, er ein schlanker, schüchtern dreinblickender Mann mit Schnurrbart im dunklen Anzug. Ein Hochzeitsfoto. Neben dem Buch, das er geschrieben hatte, der einzige erkennbare Anhaltspunkt, daß dieser Mann auch einmal ein anderes Leben geführt hatte, ohne wassergefüllte Blecheimer, ohne Felsenbetten, ohne klapprige Holzregale. Das Bild wanderte von Hand zu Hand.

»Na, habt ihr etwas Interessantes entdeckt?«

Herzogs Silhouette zeichnete sich im Höhleneingang ab.

Claudia, die gerade das Foto in der Hand hielt, deponierte es erschreckt wieder an Ort und Stelle. »Wir dachten, Sie hätten nichts dagegen, wenn wir uns etwas umsehen«, sagte sie kleinlaut.

»Hier gibt es sowieso nichts Besonderes, für jemanden wie euch, der aus der Zivilisation kommt, meine ich.« Er trat hinein und legte Gewehr und Lederbeutel neben der Tür ab.

»Sie und Ihre Frau?« Claudia deutete auf das Foto.

»Ja.«

»Hat Sie mit Ihnen hier gelebt?« fragte Tobias.

»Um Gottes Willen, nein.« Er lachte trocken. Es klang, als schüttele man eine Rassel. »Das hätte sie nie gewollt, nein, bestimmt nicht. Sie ist schon lange tot.«

»Das tut mir leid«, sagte Claudia leise, noch immer auf das Foto blickend.

Tobias pulte gelangweilt an dem trockenen Lehmverband herum.

»Tut dir denn der Arm gar nicht mehr weh?« fragte Claudia ungläubig.

»Doch, sicher, hin und wieder schon.«

»Er lügt«, sagte Herzog schmunzelnd. »Er hat noch große Schmerzen, und das wird auch noch eine Weile so bleiben. In den nächsten Tagen müssen wir den Arm noch einmal anschauen und den Lehmverband erneuern. Er hält nicht so lange wie Gips.«

Tobias sagte nichts, verzog nur das Gesicht.

»Übrigens, für heute und morgen überlasse ich dir noch einmal mein Bett. Aber danach mußt du auf dem Boden schlafen wie deine Freunde.«

»Alles klar. Kein Problem. Ich kann heute nacht schon auf dem Boden schlafen. Wirklich! Ich will Sie doch nicht aus ihrem Bett vertreiben.«

»Heute und morgen noch«, sagte Herzog nur und lächelte in seinen Bart hinein. »Ihr könnt mich ruhig Ernst nennen.«

Die Sonne war schon untergegangen, und es wurde kühl. Licht gab es hier natürlich keines, und so beeilten sie sich, ihre Schlafgelegenheiten herzurichten, solange es hell war. Später zeigte ihnen Herzog seine kleine Öllampe, die er aber nur benutzte, um abends an seinem Schreibtisch arbeiten zu können. Das Öl, das er aus den Früchten einer Palme gewann, die unten in der Savanne wuchs, war einfach zu kostbar. Auch mit dem Holz für seine Kochstelle war er sehr sparsam, da er jedes einzelne Holzscheit hierherauf zur Höhle schleppen mußte.

Das gleiche galt in noch viel strengerem Maße für das Wasser. Da verstand Herzog keinen Spaß. Immer wieder schärfte er ihnen ein, sparsam mit Wasser umzugehen, und als sie später einmal den gut anderthalbstündigen Marsch zum Fluß hinunter übernommen und die wassergefüllten, schweren Eimer dann wieder zurückgeschleppt hatten, wußten sie, warum.

Die nächsten Tage verliefen ereignislos, wenn man einmal davon absah, daß sie durch ihre Gespräche immer mehr über Herzog erfuhren und Tobias von Stunde zu Stunde schlechter gelaunt wurde, weil er sich eingesperrt fühlte. Tagsüber, wenn Herzog weg war - meistens arbeitete er in seinem Garten oder ging auf die Jagd und kehrte dann am späten Nachmittag mit seiner Beute und dem frischem Gemüse heim, das er geerntet hatte -, machten Micha und Claudia mit Pencil kurze Streifzüge in die nähere Umgebung der Höhle und versuchten ansonsten, Tobias bei Laune zu halten, der, wenn er nicht schlief, die meiste Zeit über vor der Höhle saß und mit dem Fernglas nach Großtieren Ausschau hielt. Micha schrieb jeden Tag ein paar Seiten in sein Tagebuch und begann sogar, die eine oder andere Seite in einem von Herzogs Büchern zu lesen. Das Ganze nahm mehr oder weniger den Charakter einer Urlaubsreise mit Vollpension an.

Claudia und Micha benutzten die Gelegenheit, um unten am Fluß ihre dreckige Wäsche zu waschen. Es hatte sie große Überredungskunst gekostet, Tobias davon zu überzeugen, daß er besser oben an der Höhle bleiben sollte, wozu er natürlich gar keine Lust hatte. Letzten Endes war es wohl Herzogs Bemerkung, daß es da unten, wo er sie hinführen würde, keine Tiere gäbe, die ihn dann doch zum Bleiben veranlaßte. Es gab tatsächlich keine größeren Tiere an diesem kargen, sandigen Uferabschnitt, den Herzog ihnen zeigte, aber selbst, wenn es welche gegeben hätte, wären sie den beiden wahrscheinlich nicht aufgefallen. Sie waren einfach zu sehr mit sich selbst beschäftigt.

Herzog erzählte ihnen in diesen Tagen, daß er schon fast zehn Jahre hier lebte. Zehn Jahre, eine unvorstellbar lange Zeit. Anfangs sei er ein paarmal hin- und hergefahren, um seine Ausrüstung hierherzuschaffen. Meistens habe er seine Einkäufe in Gegenden getätigt, wo man ihn nicht kannte. Jetzt sei er schon lange nicht mehr drüben gewesen. Er habe alles, was er brauche. Zu Hause galt er wohl als vermißt, aber es schien ihm ziemlich egal zu sein, was man dort über ihn dachte.

Nach dem frühen Tod seiner Frau, über dessen nähere Umstände nichts aus ihm herauszulocken war, hatte er den Entschluß gefaßt, der Zivilisation den Rücken zu kehren, endgültig, wie er sagte. Der ganze Wahnsinn ginge ihn jetzt nichts mehr an. Die Apokalypse werde auch ohne ihn stattfinden, und er würde den anderen nur ihren Spaß dabei verderben. Er wollte sich hier ausschließlich seinen Studien widmen. Etwas anderes interessierte ihn nicht mehr. Im Grunde sei er natürlich Dinosaurierforscher, wie sie ja wüßten, aber das Tertiär sei schließlich auch nicht schlecht. Er habe keinen Grund, sich zu beklagen. Sollte er natürlich irgendwann einmal über ein Schlupfloch ins Erdmittelalter stolpern, werde er sofort umziehen, sagte er und lachte dabei aus vollem Hals, das erste Mal, solange sie ihn kannten.

Das alles klang so einfach und konnte doch nur die halbe Wahrheit sein. Von der Höhle hatte er wie sie durch Sonnenberg erfahren, den er damals schon seit vielen Jahren gut gekannt hatte - die beiden waren Studienkollegen -, der aber wohl nichts davon ahnte, welche Verwendung Herzog von seinem Geheimnis gemacht hatte. Herzog bat sie eindringlich, es dabei zu belassen und ihm auch nach ihrer Rückkehr nichts davon zu erzählen.

Ihm sei hier im Laufe der Jahre übrigens niemand begegnet, erzählte Herzog weiter. Er sei darüber nicht besonders traurig, denn die meisten würden sicher nur irgendwelche sensationellen Abenteuer suchen. Er ließ an möglichen Besuchern kaum ein gutes Haar, so daß Micha sich fragte, warum er zu ihnen so freundlich war.

Im Gegenzug erzählten sie ihm von der Cola-Dose und der Feuerstelle, die sie am Fluß gefunden hatten, und er zeigte sich außerordentlich interessiert.

»Tja, eigentlich wollte ich es euch ja schon lange erzählen.« Er zupfte nachdenklich an seinen Barthaaren herum. »Es gibt hier nämlich noch jemanden«, sagte er fast im Flüsterton und erzählte ihnen von den Fallen, die er gefunden hatte.

Ich komme mir vor wie Darwin nach seinem Ausflug auf die Galapa-gosinseln oder dem Fund eines fossilen Riesenfaultiers, wenn ich das hier niederschreibe. Was hatte ich nur für unsinnige, verquere Vorstellungen im Kopf. Gestern habe ich mich lange mit Claudia und Tobias darüber unterhalten. Sie hatten sich schon ähnliche Gedanken gemacht. Anscheinend drängen sich solche Ideen hier geradezu auf. Auch mit Herzog haben wir darüber geredet, und dabei ist er spürbar aufgetaut.

Eines ist klar. Diese untergegangene Welt des Eozäns ist keinen Deut weniger kompliziert, weniger entwickelt, weniger schön oder weniger häßlich und auf keinen Fall weniger überlebensfähig gewesen als die Erde unserer Neuheit. Die in ihr lebenden Organismen sind keineswegs weniger spezialisiert oder schlechter an ihre Umgebung angepaßt, die Ökosysteme von keiner geringeren Komplexität. Nein, diese vergangenen Welten waren nicht von vornherein zum Untergang verdammt, wie wir insgeheim wohl glauben, vielleicht zu unserer eigenen Beruhigung, um uns davon abzulenken, daß uns ein ähnliches Schicksal bevorsteht.

Nehmen wir zum Beispiel die Dickhäuter. Wir kennen die modernen Elefanten und neigen dazu, in ihren ausgestorbenen Verwandten noch unfertige und verbesserungsbedürftige Entwürfe zu sehen, die irgendwann in die Gestalt der modernen, der richtigen Elefanten münden mußten, so, als sei ihr heutiges Aussehen vom Moment ihrer Entstehung an eine Art Zielvorgabe oder Bestimmung gewesen. Wir haben den Araberhengst als Maßstab im Kopf und können nicht anders, als in den kleinen Urpferdchen, die hier herumtraben, nur groteske Vorformen zu sehen, die unmöglich so Bestand haben und die Zeiten überdauern konnten.

Diese Sicht der Dinge ist völlig und von Grund auf falsch und nur ein weiterer Ausdruck jenes grenzenlosen Anthropozentrismus, der diese Welt so nahe an den Abgrund manövriert hat. Genauso wie wir über Affen lachen, weil wir in ihnen unvollkommene Menschen sehen, schmunzeln wir über die Wesen der Urzeit. Nur die Dinosaurier, und auch unter diesen nur die wirklichen Riesen, jagen uns wegen ihrer Größe einen Schauer über den Rücken, vielleicht weil uns ihre Dimensionen einen Hauch von Zweifel an unserer vermeintlichen Allmacht aufdrängen. Aber über den Rest lächeln wir nachsichtig wie über unbeholfene Darstellungen aus Kinderhand und vergessen dabei, daß wir in der Rückschau eines möglichen Nachfolgers selbst einmal als primitive Übergangsstadien dastehen werden.

Angesichts der Tiere, die wir hier und jetzt in ihrer natürlichen Umgebung beobachten können, ist es absolut unmöglich vorherzusagen, welche davon überleben werden und welche nicht. Niemand könnte sagen, du da, Uintatherium, mit den komischen, nutzlosen, offensichtlich überflüssigen und geradezu hinderlichen Höckern auf dem Kopf, du wirst aussterben, weil du eine glatte Fehlkonstruktion bist, und du da mit dem verlängerten Hals, die du aussiehst wie eine beginnende Giraffe, du wirst überleben und dich zu einer ziemlich grotesken Gestalt weiterentwickeln. Du wirst noch an hochhängenden dornigen Akazienblättern knabbern können, dafür aber nur unter umständlichen und ziemlich lächerlich wirkenden Verrenkungen in der Lage sein zu trinken. Alles hat eben seinen Preis.

Nur weil wir wissen, was überdauert hat, glaubten wir hier anfangs überlebensfähige von zum Scheitern verurteilten Gestalten unterscheiden zu können.

Im Laufe der Erdgeschichte kam es immer wieder zu Artensterben gigantischen Ausmaßes, die innerhalb relativ kurzer Zeit einen Großteil der damals auf der Erde lebenden Tierarten gnadenlos ausradierten. In einem von Herzogs Büchern habe ich gerade gelesen, daß am Ende des Erdaltertums, zwischen Perm und Trias, schätzungsweise 95 % aller Meereslebewesen ausstarben. Das war der bisher dramatischste Einschnitt in der Geschichte des Lebens. Es waren diese Phasen des massiven Artensterbens, nach denen die letztlich willkürlichen Grenzen der Erdzeitalter festgesetzt wurden. Natürlich kommt es auch in den verhältnismäßig ruhigen Zwischenphasen zum Ableben einzelner Arten. Sie können sich in einer länger währenden Auseinandersetzung mit Konkurrenten und Feinden nicht mehr durchsetzen und sterben aus. Die Evolutionsforscher nennen das Hintergrundaussterben, die vielen kleinen Tragödien, die jederzeit ablaufen und kaum Spuren hinterlassen. Aber die große Masse der Arten verschwindet offenbar durch Katastrophen globalen Ausmaßes, seien dies nun Phasen hoher vulkanischer Aktivität, das Einschlagen ganzer Meteoritenschwärme oder Zeiten starker globaler Abkühlung. Da sind sich die Fachleute noch nicht einig.

Von wegen »survival of the fittest«! Den Leuten im 19. Jahrhundert paßte diese Idee Darwins natürlich gut ins Konzept. Sie waren ja gerade im Begriff, die menschliche Gesellschaft des beginnenden Industriezeitalters nach denselben erbarmungslosen Gesetzen zu strukturieren. Wenn die Natur so funktionierte, warum sollten es dann die Menschen anders machen?

Aber nicht die tüchtigsten, die am besten angepaßten oder die Organismen mit den höchsten Nachkommenzahlen haben diese gigantischen Katastrophen überlebt, sondern die glücklichsten, möglicherweise gerade die Generalisten, die es überall irgendwie schaffen. Die Spezialisten, also gerade die besonders hoch entwickelten, an bestimmte Nischen am besten angepaßten Arten, sind am schlechtesten mit solchen radikalen Veränderungen der Umwelt fertiggeworden. Kein Lebewesen kann sich an globale Umwälzungen anpassen, die nur einmal alle 26 Millionen Jahre eintreffen, wie das eine Theorie postuliert.

Der Zufall führt eine gnadenlose Regie, von zielgerichteter Höherentwicklung keine Spur. Diese kurzen Zeiten weltumfassender, dramatischer Veränderungen erfordern doch gänzlich andere Eigenschaften und Anpassungen als die relativ störungsfreien Zeiten vor und nach einer solchen globalen Katastrophe. Kein Organismus kann auf so etwas vorbereitet sein. Und daß am Ende die Säuger und damit auch wir Menschen übrigblieben, war nichts weiter als ein glücklicher Zufall.

Wenn unvermittelt ein ganzes Hochhaus brennt, wer wird wohl überleben? Die Besten, die Intelligentesten, die Schönsten oder die Gründlichsten? oder die, die zufällig in den unteren Stockwerken wohnen und von dort schnell ins Freie fliehen, die, die zufällig gerade Brötchen oder Zigaretten holen, oder die, die just in diesem Moment im Keller nach alten Erinnerungsstücken suchen?

Irgendwie schockiert mich diese Einsicht, aber je mehr ich sehe und darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir, daß es nicht »survival of the fittest«, sondern auf lange Sicht wirklich »survival of the luckiest« heißen muß.

Die Vorstellung, alles, was vor der Neuzeit existierte, hätte in unserer Zeit seine endgültige Gestalt angenommen, suggeriert, dieser seit Anbeginn des Lebens währende Prozeß des Kommens und Gehens und der stetigen Veränderung sei nun mit unserer Zeit zum Abschluß gekommen, das Ziel erreicht, der Gipfel erklommen.

Was für ein himmelschreiender arroganter Blödsinn! Nichts, aber auch gar nichts spricht dafür. Solange es Leben gibt, wird es auch Evolution und damit Veränderung geben. Das Signal für das nächste, in seiner Geschwindigkeit wahrscheinlich beispiellose Artensterben hat allerdings der Mensch gegeben. Diese wirkliche Spitzenstellung kann uns keiner mehr streitig machen. Danach wird wieder etwas Neues beginnen. Ob mit oder ohne uns.

Ich stelle mir die Geschichte unseres Planeten im Zeitraffer vor, vielleicht ein Jahr pro Sekunde, ein paar Jahrtausende in der Stunde. Oh, ich habe das gerade überschlagen, ein solcher Film wäre immer noch ziemlich lang. Er würde ungefähr hundert Jahre dauern. Ich lasse also besser gleich hundert Jahre in einer einzigen Sekunde ablaufen.

Ich sehe, wie der Atomofen im Inneren der Erde ihre dünne, gerade erst erkaltete Kruste wieder zerreißen läßt, wie die einzelnen Platten, angetrieben durch die aufsteigende Hitze, scheinbar ziellos umhertrudeln, mal hier, mal dort gegeneinanderstoßen, dabei als Knautschzonen riesige Gebirge auftürmen und dann wieder auseinandertreiben. Je nach Lage der Kontinente ändern die riesigen Strömungen der Ozeane ihren Verlauf, schaffen neue klimatische Bedingungen. Das Land hebt und senkt sich wie die langsam atmende Brust eines Riesen, und das Wasser folgt den Bewegungen, überflutet große Festlandbereiche, schafft riesige Binnenmeere, die bald verdunsten und kilometerdicke Salzschichten zurücklassen, in die die Menschen später ihren Atommüll einlagern werden. Die gerade erst aufgefalteten Gebirge verfallen schon vom Moment ihrer Entstehung an. Sie zerspringen, zerbröseln und zerfallen zu immer kleineren Bruchstücken, schließlich zu Sand und Ton und sinken als über Tausende von Kilometern transportierte Sedimente auf den Boden von Meeresbuchten und Seen. Druck und Zeit verbacken sie dort erneut zu Gestein, das beim nächsten Zusammenprall der Kontinente zu neuen Berggestalten verformt und emporgehoben wird. Ein gigantischer Kreislauf.

Und das Leben? Welche Rolle spielt aus dieser Perspektive das Leben? Es ist kaum zu erkennen, nur eine rätselhafte Unscharfe dicht über dem Boden. Als Spielball der kosmischen und irdischen Kräfte versucht es, sich immer wieder aufs neue auf die veränderten Bedingungen einzustellen. Ein irgendwie rührender, aber auch aussichtsloser Wettlauf. Wie eine Art Schimmelpilz überzieht es die Festlandmassen mit einer dünnen und verletzbaren Schicht, in die jede Veränderung tiefe Wunden reißt. Nein, Herrscher dieses Planeten waren weder die Saurier im Erdmittelalter noch Mensch oder Ameise. Das Sagen hat auf lange Sicht eindeutig das Gestein, diese gigantischen, sich im Planeteninneren träge drehenden Walzen aus glühendem Magma, die die Kontinente vor sich herspülen wie Meereswellen herrenloses Treibgut. Dem Leben bleibt nichts anderes übrig, als die Zwischenzeiten zu nutzen, so gut es geht.

Das ist doch irgendwie deprimierend!

Und da ist auch noch der Mond, ohne den es, wie ich mich kürzlich durch Tobias belehren lassen mußte, auf der eh schon arggebeutelten Erde erst recht drunter und drüber ginge. Nach den neuesten Erkenntnissen der Mondforscher ist unser Trabant das Ergebnis eines Zusammenstoßes. Die Erde kollidierte mit einem anderen, etwa marsgroßen Himmelskörper unseres Sonnensystems. Durch die ungeheure Energie wurden beide Planetenmassen nahezu verflüssigt und das Gesteinsmaterial des Zukünftigen Mondes ins Weltall geschleudert. Im Grunde eine neuartige Form der alten Abspaltungstheorie, die ursprünglich von George Darwin stammt, Charles ’ zweitem Sohn. Die Erde drehte sich damals viel langsamer als heute. Erst durch den Zusammenprall wurde ihre Umdrehungsgeschwindigkeit drastisch erhöht. Er wirkte wie eine klatschende kosmische Ohrfeige, die den damals noch jungen Planeten mit ungeheurer Wucht um sich selber wirbelte. Andernfalls hätten wir auf der Erde Verhältnisse wie auf der Venus: Ein Tag dauerte dann fast ein Erdenjahr, mit allen Konsequenzen, die das für eine mögliche Entstehung des Lebens gehabt hätte. Einmal im All stabilisierte die Mondmasse die ziemlich labile Achse der Erde. Wie Betrunkene trudeln dagegen Mars und Venus um die Sonne, weil ihnen ein vergleichbarer Aufpasser fehlt. Beim Mars schwankt die Achse um bis zu 60 Grad. Die Achse der Venus war so instabil, daß irgendwann der ganze Planet kippte und heute praktisch auf dem Kopf stehend um die Sonne rast. Nur die Erde wird durch die Kraft des Mondes halbwegs in Position gehalten, was eine einigermaßen gleichmäßige Verteilung der einfallenden Sonnenenergie garantiert. Die verbleibenden Schwankungen sind dramatisch genug. Nach Ansicht vieler Experten reichen sie aus, um der Erde regelmäßige Eiszeiten zu bescheren. Nur eine Winzigkeit mehr davon, und Leben, jedenfalls in seiner höher entwickelten Spielart, wäre unmöglich gewesen.

Es wird einem ganz schwindlig angesichts all dieser haarsträubenden Zufälle und Unwägbarkeiten. Und das Ganze läßt sich ja noch viel weitertreiben, wenn man etwa an die physikalischen Konstanten denkt, ohne deren Existenz in exakt der Größe, die sie haben, kein Stein, sprich, kein Atom auf dem anderen bliebe.

Alles hängt an einem seidenen Faden. Und wir baumeln irgendwo ganz unten, immer noch hoch genug, um uns beim Fallen alle Knochen zu brechen.

So, nachdem ich meine Rolle im Universum nun erneut durchdacht und als absolut null und nichtig erkannt habe, ist Zeit für etwas Erbauliches. Schließlich müssen wir irgendwie versuchen, aus unserer Bedeutungslosigkeit das Beste zu machen. Ich könnte zum Beispiel mit meiner süßen Claudia mal wieder runter zum Fluß gehen. Sie sitzt da drüben und blinzelt mir zu. Wenn ich früher nur mal genauer hingeschaut hätte. Vielleicht wäre mir Trottel dann eher aufgefallen, was für wunderschöne smaragdgrüne Augen sie hat. Und wie sie jetzt guckt!

Der Heilungsprozeß von Tobias’ Arm machte gute Fortschritte. Die Schwellung war zurückgegangen und, was noch wichtiger war, die gefährliche Entzündung deutlich abgeklungen. Die Antibiotika hatten ganze Arbeit geleistet. Wahrscheinlich waren die hiesigen Bakterien auf so etwas nicht vorbereitet. Wie sollten sie auch. Irgendwie unfair, mit der geballten medizinischen Macht des zwanzigsten nachchristlichen Jahrhunderts gegen diese unschuldigen Urzeitmikroben vorzugehen, die einfach nur das Pech gehabt hatten, zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen zu sein.

Jetzt steckte der Arm in einem frischen, von der Feuchtigkeit noch dunkelgefärbten Lehmverband. Trotzdem war es wahrscheinlich noch viel zu früh für Tobias, sich auf ein solches Abenteuer einzulassen, wie er es da plötzlich vorschlug. Er wollte unbedingt möglichst bald in diesen Dschungel fahren, dessen erste Ausläufer laut Herzog einige Tagesreisen flußaufwärts liegen sollten.

Aber Tobias gab keine Ruhe, und Micha hatte das Gefühl, daß Herzog ihn mochte. Warum hätte er ihnen sonst sein Floß angeboten, das irgendwo in der Nähe des Waldes am Flußufer liegen sollte? Vielleicht erkannte er in ihm eine jüngere Ausgabe seiner selbst, denselben Fanatismus, dieselbe Faszination, die von diesen urzeitlichen Kreaturen ausging und der er sich wie Tobias nicht zu entziehen vermochte. Wer in relativ jungen Jahren eine derart radikale Entscheidung traf wie Herzog, der mußte schon ein absoluter Fanatiker sein. So jemanden, der neben seinem Beruf als Arzt noch intensiven paläontologischen Studien nachging und mit kaum dreißig Jahren als Laie eines der Standardwerke zu diesem Thema verfaßte, nannte man heutzutage einen Workaholic, und das waren nicht gerade die liebenswertesten Zeitgenossen. Vielleicht war Herzog ein ganz und gar unausstehlicher Mensch gewesen, der nur für sein Hobby und seine Arbeit gelebt hatte.

Als sie dann einige Tage später tatsächlich in den Dschungel fuhren, gewann Micha recht bald den Eindruck, daß es ein Fehler gewesen war, Tobias’ Drängen so rasch nachgegeben zu haben. Es war nicht sein erster. Was als ein einziger breiter Flußlauf aus dem Dschungel herausführte und in verschlungenen Windungen durch die Savanne floß, schien sich im Wald in eine Unzahl kleiner Wasserläufe zu verzweigen. Überall mündeten große und kleine Bäche, und immer wieder mußten sie sich entscheiden, welcher Wasserstraße sie folgen wollten, weil sie auf neue Gabelungen des Flußes trafen. Das Ganze schien eine riesige, netzartig verbundene Flußlandschaft zu sein. Die Strömung war nur schwach und das Wasser nicht sehr tief, so daß wenigstens das ungewohnte Staken nicht allzu mühselig war. Trotzdem schwitzten sie wie in einer Sauna. Das Klima war mörderisch. Alles war feucht, und die Kleidung klebte ihnen am Körper.

Als sie tiefer in den Wald eindrangen, fielen plötzlich eine ungeahnte Vielzahl von Stimmen über ihre entwöhnten Ohren her, so, als ob jemand einen versteckten Lautstärkeregler betätigt hätte. Alles, was es auch war, schien durcheinanderzuschreien, zu zwitschern und zu rufen. Außer einem überwältigenden, hoch aufragenden und allgegenwärtigen Grün konnte Micha zunächst überhaupt keine Einzelheiten erkennen. Die Rufe, die man hörte, schienen aus dem Nichts zu kommen.

Erst langsam, Detail für Detail, setzte sein Gehirn zusammen, was Augen, Ohren und Nase in einer wahren Flutwelle von Sinneseindrücken anlieferten, so, als ob sein Verstand nach den vielen Tagen in der weitläufigen Savannenlandschaft eine beträchtliche Trägheit zu überwinden hätte und anfangs vor der ungewohnten Enge der Dschungelkanäle und der auf ihn einstürmenden Masse von Empfindungen kapitulierte. Rings herum grünte und blühte eine derartige Vegetationsvielfalt, daß man meinen konnte, keine einzige Pflanze sei zweimal vorhanden. Claudia murmelte fortwährend irgendwelche lateinischen Pflanzennamen vor sich hin. Dieser Artenreichtum auf der einen und die geringe Dichte, in der viele Arten vorkamen, auf der anderen Seite waren ja auch noch in ferner Zukunft typisch für tropische Urwälder. Aber dieser hier, durch den sie gerade fuhren, hatte, so tropisch er auch anmuten mochte, einmal mitten im Herzen von Europa gelegen.

Kraniche mit ihren langen Stelzbeinen und prachtvollem Gefieder flogen unter ohrenbetäubendem Gekreische auf, wenn sie sich ihnen näherten. Am Ufer unter dem Blätterdach oder im Gewirr dicker Pfahlwurzeln dösten Krokodile und Schildkröten, die kaum Notiz von ihnen nahmen. Auf einem Ast, der weit über das Wasser ragte, sonnte sich eine große Schlange. Aber hin und wieder sahen sie im Geäst der Bäume auch Wesen, die ihnen völlig unbekannt waren, groteske Mischungen aus Faultieren, Ameisenbären, Schuppentieren und Halbaffen. Micha hätte sich nicht getraut, sie auch nur in die Nähe einer ihm bekannten Tiergruppe zu stellen. Was das Geräuschwirrwarr verursachte, das sie umgab, wagte er sich nicht einmal vorzustellen. Die Stimmen waren jedenfalls sehr viel zahlreicher als die möglichen Verursacher, die sie zu sehen bekamen.

Plötzlich schrie Claudia: »Guckt mal da!« und zeigte auf einen großen, dunklen, länglichen Schatten, der wie eine Eskorte neben ihnen durch das bräunliche Wasser glitt. Im nächsten Moment war er verschwunden. »Was war das denn?« Hastig zog sie ihre Stange aus dem Wasser.

»Keine Ahnung.« Auch Micha hatte seine Stange herausgezogen und starrte angestrengt in das schwärzliche Gewässer. Tobias stand hinten im Heck des Floßes, hatte sich die Ruderpinne unter den geschienten Arm geklemmt und blickte sich ebenfalls um.

»Was es auch war, es war jedenfalls ziemlich groß«, sagte Claudia und schluckte.

Sie mußten sich wohl damit abfinden, hier so gut wie nichts zu kennen. Ihre einzigen Bezugspunkte waren die Lebewesen, die sie aus ihrer Zeit kannten, wie etwa die Krokodile und Schildkröten. Das meiste, was hier lebte, war jedoch seit vielen Millionen Jahren ausgestorben, jedenfalls hatte kaum etwas, auch nicht das scheinbar Vertraute, unverändert die Zeiten überdauert. Alles hatte sich weiterentwickelt, verändert oder war für immer von der Bildfläche verschwunden. Meinten sie ein Tier oder eine Pflanze erkannt zu haben, zeigte eine nähere Betrachtung meist allerlei Details, die irritierten.

In einem Punkt allerdings bestand nicht der geringste Zweifel. Das, was da in dichten Wolken zwischen den Bäumen schwebte und nun mit widerlichem Gesumm um ihre Köpfe tanzte, waren Stechmücken, die ihren neuzeitlichen Verwandten in jedem Punkte mindestens ebenbürtig waren. Als hätten sie die letzten Millionen Jahre nur auf jemanden wie sie gewartet, stürzten sie sich auf jeden freien Flecken Menschenhaut und bohrten mit ihren Säugrüsseln hastig nach Blut. Sie waren eindeutig in der Überzahl und kannten kein Pardon. Es dauerte nur wenige Minuten, bis sie an allen für die Parasiten erreichbaren Körperteilen von Stichen übersät waren. Es gab kein Entkommen. Erst als sie sich bis zu den Haarwurzeln mit dicken Schichten von Insektenschutzmittel einrieben, hatte der Spuk ein Ende. Das mochten die Biester nicht. Nach dem Siegeszug der Antibiotika ein erneuter Triumph moderner Wissenschaft über diese primitiven urtümlichen Lebensformen. Es tat gut, sich wenigstens in solchen Teilbereichen überlegen zu fühlen.

Micha mußte immer häufiger an die kommende Nacht denken. »Wo wollen wir hier nur unser Lager aufschlagen?« fragte er mit einem skeptischen Blick auf das undurchdringliche Dickicht, das sie umgab. »In diesen Dschungel kriegen mich jedenfalls keine zehn Pferde.«

»Auf dem Floß«, antwortete Tobias. »Wir müssen hier auf dem Floß schlafen, anders geht es wohl nicht.«

Schlafen! Als ob das so einfach wäre. Micha konnte sich bisher nicht vorstellen, wie er inmitten dieses Zoos, dieser Wolken von blutgierigen Mücken schlafen sollte. Kein Auge würde er zutun. Skeptisch betrachtete er Herzogs Floß, das sich als ein grob aus knorrigen und schiefen Stämmen zusammengezimmertes Gefährt entpuppt hatte und jede Art von Bequemlichkeit vermissen ließ. Sie mußten ständig aufpassen, daß sie auf den glatten Baumstämmen nicht ausrutschten oder in die Zwischenräume traten und stolperten. Zwischen den Stämmen gähnten immer wieder größere Löcher, durch die das Wasser nach oben schwappte.

Langsam stakten sie immer tiefer in den Wald. Während sie außerhalb des Dschungels kilometerweit sehen konnten, waren es jetzt mitunter nur wenige Meter. Überall nahmen ihnen Pflanzen die Sicht, und der Fluß mäanderte in irrsinnigen Schleifen und Windungen zwischen den Bäumen hindurch. Immer wieder verengte sich der Flußlauf bis auf wenige Meter, so daß sich die Baumkronen beider Ufer über ihnen schlossen, wie die Hälften einer haushohen Zugbrücke. Es wurde dunkel und stickig, und durch einen lebenden Baldachin glitten sie dann dahin, duckten sich unter tiefhängende schenkeldicke Äste oder zwängten sich durch einen dichten Lianenvorhang. Mitunter half nur die Axt, wenn sie in dem Irrgarten steckenzubleiben drohten.

Irgendwann streikte Claudia: »Ich kann nicht mehr«, sagte sie nur und zog demonstrativ ihre Holzstange aus dem Wasser. Sie hatte einen leidenden Ausdruck im Gesicht. Es war durch die vielen Mückenstiche unförmig angeschwollen.

Das extreme Klima machte ihnen schwer zu schaffen. Micha verspürte keine große Lust, alleine weiterzustaken, und auch Tobias wirkte müde und ausgebrannt und wollte bald rasten. Also suchten sie einen geeigneten Lagerplatz oder zumindest irgend etwas, wo sie gefahrlos und ohne allzu engen Kontakt zum umgebenden Dschungel festmachen konnten. Sie fuhren in einen kleinen Seitenarm dessen, was sie für den eigentlichen Fluß hielten, und fanden schließlich eine große Wurzel, die wie das Knie eines Riesen über die Wasseroberfläche ragte. Außer einer pfannengroßen Schildkröte, die ihren Kopf aus dem Wasser streckte und sie neugierig beobachtete, schien niemand sonst diesen Platz zu beanspruchen, und mit einem dicken Knoten banden sie das Floß an der Wurzel fest.

Ermutigt durch einige erfolgreiche Versuche in der Nähe von Herzogs Höhle, hatte Claudia darauf bestanden, die Angel mitzunehmen, und kaum war das Floß befestigt, holte sie Schwung und ließ den Haken mit dem Blinker zehn Meter weiter ins Wasser plumpsen. Pencil wurde unruhig und stolperte auf den rutschigen Holzstämmen aufgeregt zwischen ihren Füßen herum.

»Er muß mal«, sagte Claudia, während sie unermüdlich an der Kurbel der Angelrute drehte.

»Willst du ihn denn hier an Land lassen?« fragte Micha.

Tobias blickte ihn verständnislos an. »Was denn sonst? Oder ist dir lieber, er pißt aufs Floß?«

»Laß ihn raus!« sagte Claudia, obwohl ihr Gesichtsausdruck zeigte, daß ihr nicht ganz wohl war bei dem Gedanken. »Ich habe auch keine Lust, heute nacht in Hundepisse zu schlafen.«

»Wie du meinst.« Tobias griff nach einem Ast, nicht ohne sich vorher zu vergewissern, daß darauf nichts Lebendiges saß, und zog das Floß so nah ans Ufer, wie er konnte. Das eigentliche Ufer war gar nicht so leicht auszumachen. Es bestand aus einem ineinander verknotetem Gewirr von Wurzeln und anderen Pflanzenteilen.

Pencil schien das nicht zu stören. Kaum hatte ihn Tobias an »Land« gesetzt, verschwand er raschelnd im Blätterwald. Claudia machte ein besorgtes Gesicht, aber ihre Aufmerksamkeit wurde plötzlich voll in Anspruch genommen, weil etwas energisch an der Angel zerrte.

»Ich hab was!« rief sie und kurbelte wie wild. Die Angel bog sich beängstigend. »Boah, das muß ein riesiger Bursche sein.«

Es dauerte mindestens fünfzehn Minuten, bis sie Claudias Beute mit vereinten Kräften überwältigt hatten und das zappelnde Etwas knapp über der Wasserlinie neben dem Floß baumelte.

»Was ist das denn?« fragte sie mit einer Mischung aus Neugierde und Ekel. Das Ding war einen guten halben Meter lang und zweifellos eine Art Fisch, aber ...

»Ich glaube nicht, daß ich das esse«, sagte Micha, aber das Wesen faszinierte ihn. Im Querschnitt war Claudias Beute annähernd dreieckig. Sie hatte einen im Verhältnis zur Körpergröße riesigen Kopf und trug an dessen Unterseite zahllose fädige Anhänge.

»Sieht aus, wie ne Art Wels«, spekulierte Tobias. Er griff nach der Angelleine und zog das Vieh auf das Floß.

»Ihhh!« schrie Claudia, als der Fisch direkt vor ihr auf dem Boden herumsprang. Tobias griff nach der Machete, die Herzog ihnen mitgegeben hatte, und schlug mit der flachen Klinge zwei-, dreimal zu. Dann war Ruhe. Ratlos saßen sie um den blutbeschmierten Fisch herum, der immer noch das Maul bewegte, als schnappe er nach Luft.

»Ich finde, wir probieren’s einfach. Giftig wird er schon nicht sein«, sagte Tobias und griff nach seinem Messer.

Micha wandte sich angeekelt ab.

Eine halbe Stunde später hatte Tobias das Tier ausgenommen, und über dem Petroleumkocher, der an einer halbwegs ebenen Stelle des Floßbodens stand, brutzelten die in handliche Portionen zerteilten Filetstücke von Claudias Jagdbeute. Den Rest hatte er über Bord geworfen, und ein paar Minuten lang hatten sie staunend verfolgt, wie das Wasser um den auf der Oberfläche schwimmenden Kadaver plötzlich zu brodeln begann und buchstäblich nichts mehr davon übrigblieb.

»Auf mein morgendliches Bad werde ich hier wohl verzichten«, sagte Tobias nur und widmete sich wieder seinen Fischfilets. Jetzt war wohl klar, was Herzog damit gemeint hatte, als er sie ermahnte, ihre Knochen nur ja aus dem Wasser zu halten. Vielleicht trieben sich hier irgendwelche tertiären Piranhas herum.

Micha mußte an den Candiru denken, einen kleinen Fisch des neuzeitlichen Amazonas, der als Parasit in den Verdauungskanälen größerer Fische lebt und eine leidenschaftliche Vorliebe für frischen warmen Urin entwickelt hat. Macht ein Mann den Fehler, in der Nähe eines Candiru ohne Schutz ins Wasser zu pinkeln, fühlt sich der kleine Kerl geradezu magisch angezogen, der Quelle des warmen Stromes auf den Grund zu gehen. Er schlüpft in die Harnröhre, und weil es da so unvergleichlich gemütlich ist und er sich so über alle Maßen wohl fühlt, spreizt er voller Wonne die stachligen Kiemendeckel ab, um sich an diesem himmlischen Platz für eine Weile häuslich einzurichten. Angeblich soll in einem solchen Fall nur noch ein scharfes Skalpell helfen.

Micha schüttelte sich. Dann fiel ihm auf, daß der Dackel immer noch nicht zurückgekehrt war. »Wo bleibt eigentlich Pencil?«

Sie hatten ihn in der ganzen Aufregung um den Fisch völlig vergessen. Claudias Augen weiteten sich, sie bekam vor Schreck einen roten Kopf und stand abrupt auf.

»Pencil!« schrie sie in das undurchdringliche Grün des Dschungels. »Pencil!« Aber außer einigen, fast menschlich klingenden Rufen irgendeines Tieres tat sich gar nichts.

»O Gott, was ist mit ihm?«

»Du willst doch wohl nicht etwa hinter ihm her, oder?« fragte Micha, aber sie schüttelte zu seiner Erleichterung energisch den Kopf.

»Essen ist fertig!« rief Tobias und erntete einen haßerfüllten Blick.

»Wie kannst du jetzt nur an so was denken?« zischte Claudia entrüstet.

Tobias zuckte mit den Achseln und kostete von seiner Kreation. Es schien ihn nicht auf der Stelle zu töten, im Gegenteil.

»Wels a la Tertiär! Das müßt ihr unbedingt probieren. Spezialität des Hauses.« Es schien ihm wirklich zu schmecken.

»Er wird schon wiederkommen.« Micha legte seine Hand auf Claudias Schulter, aber sie schüttelte sie ab und blickte beunruhigt ins Dickicht.

»Pencil!«

»Ehrlich, Micha, schmeckt großartig.«

»Du bist widerlich!« schrie Claudia ihn an. Sie war den Tränen nah.

»Guck mal, da ist er doch«, sagte Tobias mit vollem Mund. Micha fand ihn auch abstoßend, wie er da dieses Fleisch in sich hineinstopfte, nur weil er sein Spiel bis zum bitteren Ende durchziehen mußte. Wahrscheinlich schmeckte es widerlich. Aber was Pencil anging, hatte er recht. Der Dackel hockte tatsächlich pitschnaß, aber ansonsten wohlbehalten am Ufer und kläffte zweimal.

»Da bist du ja!« Claudia schien ein Felsbrocken vom Herzen zu fallen. »Mann, hatte ich eine Angst.« Sie zog das Floß wieder ans Ufer und ließ den kleinen Dackel hinüberspringen. Die Erleichterung, Pencil wiederzuhaben, war so groß, daß sie einen Bissen von Tobias’ Essen zu sich nahm, offensichtlich völlig gedankenlos, denn als ihr klarwurde, was sie da kaute, wich alle Farbe aus ihrem Gesicht, und sie begann zu würgen. Aber sie behielt den Fisch bei sich, und nachdem sie ihren ersten Schock überwunden hatte, aß sie sogar noch mehr. »Schmeckt wirklich nicht schlecht, Micha. Probier doch auch mal!«

Er weigerte sich standhaft und begnügte sich statt dessen mit ein paar Scheiben Zwieback, der von der Feuchtigkeit ganz weich geworden war.

Es begann dunkel zu werden.

»Ihhh!« schrie Claudia unvermittelt. »Guckt mal, er hat hier was.«

Sie hielt das eine Schlappohr von Pencil in die Höhe und zeigte auf einen dunklen Punkt darin.

»Ein Blutegel würd ich sagen.« So ganz sicher war Tobias sich allerdings nicht. »Hm, na ja, jedenfalls so etwas Ähnliches.«

Sie drängten sich alle drei um den kleinen Dackel, der eher durch die ungewohnte Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde, beunruhigt schien als durch das Ding in seinem Ohr.

»Mach es weg!« sagte Claudia angewidert.

»Hoffentlich überträgt es keine Krankheiten«, sinnierte Micha laut vor sich hin und bereute es sofort, weil Claudia ihn entsetzt ansah.

Während sie den Hund an sich preßte, machte sich Tobias mit der kleinen Pinzette aus seinem Taschenmesser an Pencils Ohr zu schaffen, und im nächsten Moment hielt er, von einem kurzen Jaulen Pencils begleitet, das sich in der Umklammerung seiner Pinzette windende Etwas in die Luft, um es zu betrachten. Dann warf er es mit einem Schwung ins Wasser.

Mittlerweile war es ziemlich dunkel geworden, und sie zündeten die Petroleumlampe an, um etwas sehen zu können. Mit der Veränderung der Lichtverhältnisse schien auch ein Wechsel der geräuscherzeugenden Lebewesen einherzugehen, jedenfalls verstummten nach und nach die Stimmen des Tages und wurden von den nicht weniger rätselhaften Rufen der Nacht abgelöst.

Nach überstandener Operation verzog Pencil sich verstört in seinen Unterschlupf, einer an einer Seite offenen Holzkiste, die Herzog als eine Art kombiniertes Schrank- und Sitzmöbel auf den roh behauenen Stämmen befestigt hatte. Sie hockten schweigend auf ihren Matten, verscheuchten mit wedelnden Handbewegungen die sie noch immer umschwärmenden Mückenwolken und starrten auf die funzelige Petroleumlampe zwischen ihnen. In dem Maße, wie der Wald ringsum im Dunkel versank, schien diese mickrige kleine Flamme immer mehr zu ihrem einzigen Schutz zu werden. Sie rückten dichter zusammen. Sobald das Licht schwächer wurde oder zu flackern begann, langten augenblicklich drei helfende Hände nach der Lampe, um die kleine Flamme ja nicht erlöschen zu lassen. Sie starrten vor sich hin und lauschten wie gebannt auf jedes Geräusch.

Solange es die Lichtverhältnisse noch zuließen, versuchte Micha seine Empfindungen im Tagebuch festzuhalten.

Es ist wirklich merkwürdig, wie sehr wir uns an vertraute Laute klammern. Dabei sind wir eigentlich optische Wesen. Ein plötzliches Knacken im nächtlichen Wald, ein unvermitteltes Plätschern, wo vorher noch eine spiegelglatte Wasserfläche nur, und aus ist es mit unserem Seelenfrieden. Ein einziges unbekanntes Geräusch kann unser Wohlbefinden ins Wanken bringen. Das Zirpen der Grillen finden wir romantisch, weil es uns an Urlaub und laue Sommerabende erinnert, auch das Singen der Vögel und das Quaken der Frösche ist uns nicht unsympathisch. Durch Erfahrung wissen wir, wer wann welche Töne erzeugt. Wir haben uns daran gewöhnt und fühlen uns wohl dabei. In uns weniger vertrauten Gegenden der Welt werden diese festen Zuordnungen aber in Frage gestellt, beginnt die Phantasie uns einen Streich zu spielen, und wir werden nervös. Plötzlich sind es die Frösche, die singen, und die Vögel, die quaken, und kleine unscheinbare nagetierähnliche Wesen schreien nächtens so nervenzerfetzend, daß nichts mehr so ist, wie es sein sollte ...

Micha fuhr zusammen. Auch das Schreiben half nichts. Jedes Glucksen, jedes Schwappen des Wassers, jedes Rascheln im Wald und um so mehr jeder Laut aus unbekannten Kehlen ließ literweise Adrenalin durch ihre Adern strömen. Vielleicht bemerkten sie deshalb erst so spät, daß irgend etwas Großes, Schweres gegen das Floß bumste.

Sie erstarrten.

Die Frage: »Was war denn das?« wagte keiner von ihnen zu stellen, denn man hätte sie in dieser Nacht tausendfach stellen können. Statt dessen nahm Tobias die Lampe und schaute nach.

»Verdammter Mist!« fluchte er und begann wie wild mit dem Licht hin und her zu schlenkern. »Verschwindet!«

»Was ist los?«

Claudia und Micha standen sofort auf. Das Floß schwankte, hob sich an einer Stelle etwas aus dem Wasser und fiel mit einem Klatschen wieder zurück.

Das Licht traf auf einen breiten Krokodilschädel, der unmittelbar neben dem Floß aus dem Wasser ragte. Einen Vorderfuß hatte die Bestie schon auf den Rand gesetzt. Da noch eines. Rings um ihr Floß schienen sich diese Viecher zu versammeln wie die Fliegen ums Licht oder die Mücken um ihre Köpfe. Das hektische Flackern der Lampe und ihre nun einsetzenden gemeinsamen Schreckensschreie, in die auch Pencil mit wildem Gebell einstimmte, schienen ihnen aber nicht zu gefallen. Zwei, drei der Echsen rissen die Mäuler auf, schlugen mit ihren gepanzerten Schwänzen um sich, fauchten und grunzten und ... wichen zurück.

»Ich halte das hier keine Minute länger aus«, sagte Claudia kategorisch, als es ihnen endlich gelungen war, den Krokodilen etwas Respekt einzuflößen.

»So, aha, und was hast du statt dessen vor, wenn ich fragen darf?« Tobias sah sie herausfordernd an.

Claudia wußte selber, daß sie keine Alternative hatten, als hier auszuharren, bis die Nacht überstanden war. Im Dunkeln weiterzufahren wäre Wahnsinn gewesen. Sie zuckte mit den Schultern und setzte sich wieder auf ihre Matte.

Jetzt sind die Krokodile verschwunden. Wir mußten noch zweimal zu unserer Lampe greifen, weil diese Mistviecher es immer wieder versuchten. Aber seitdem haben wir mit einem neuen Problem zu kämpfen, vielleicht dadurch ausgelöst, daß Tobias den Docht hochgedreht und unsere Lampe auf maximale Helligkeit gestellt hat, um die, Gott sei Dank, ziemlich schreckhaften Krokodile zu vertreiben. Ich stelle mir vor, ich als lichtliebendes Wesen schwebe hoch oben in der feuchtigkeitsgesättigten Luft über diesem dunklen Labyrinth aus Wasserläufen und Pflanzen, und irgendwo, mitten in diesem tiefschwarzen Wald und in mondloser dunkler, feuchter Nacht leuchtet zum ersten und einzigen Mal in Millionen von Jahren ein Licht auf, ein Licht, so hell, so lebendig, so unwiderstehlich, daß es mich magisch anzieht.

So oder so ähnlich ist es wohl gewesen. Das Resultat ist jedenfalls ein wahres Bombardement mit Insekten von zum Teil beträchtlicher Größe. Selbst wenn wir die Helligkeit reduzieren, ändert sich nur wenig. Handflächengroße Nachtschmetterlinge flattern uns im Gesicht herum, mit lautem Gebrumm landen fingerdicke Käfer. Vorhin fühlte ich einen kräftigen Stoß gegen meinen Kopf, und als ich danach greifen wollte, fühlte ich etwas Spitzes, Stachliges, das sich mit aller Kraft in meinen Haaren festkrallte, als ich zupackte. Es entpuppte sich als ein unfaßbar häßliches Heuschreckenungetüm, das gut und gerne seine zwanzig Zentimeter lang war. Unter anderem bin ich auf diese Weise auch jenem auffälligen Prachtkäfer wieder begegnet, mit dem die ganze Sache einmal angefangen hat. Jetzt weiß ich, wie Sonnenberg zu dem Tier gekommen ist.

Es ist ungemein faszinierend, was da unsere Lampe ansteuert. Auf jeden Fall ist es eine willkommene Abwechslung, die wenigstens für Minuten verhindert, daß ich ununterbrochen an meine entsetzlich juckenden Mückenstiche denken muß. Mein Gesicht glüht immer noch, und es kostet mich auch weiterhin ungeheure Überwindung, nicht zu kratzen. Gut, daß es hier keinen Spiegel gibt. Wahrscheinlich würde ich mich selbst nicht mehr erkennen. Tobias sieht jedenfalls aus, als sei er einem Horrorfilm entsprungen (was bei ihm allerdings nicht allzuviel zu bedeuten hat). Über Claudia schweige ich rücksichtsvoll. Einen schönen Menschen kann sowieso nichts entstellen.

Im Fachjargon nennt man das, was unsere Petroleumlampe für diese Tiere darstellt, eine Lichtfalle. Eimerweise könnte ich in dieser Nacht die spektakulärsten Käfer, Wanzen und wahnsinnigsten Nachtschmetterlinge einsammeln. Ich habe sogar damit angefangen, einzelne, besonders sensationelle Exemplare in eine leere Büchse zu stecken, wo sie laut an der Blechwand kratzend über- und umeinan-derherumkrabbeln. Ich habe mir schon ausgemalt, wie sie sich wohl in meinen Sammlungskästen machen werden und daß ich wohl anbauen müßte, um das alles unterzubringen. Aber dann ist mir die Sache über den Kopf gewachsen. Der Nachschub ist einfach unerschöpflich, und ich entdecke immer neue Arten, eine interessanter als die andere. Gleichzeitig muß ich daran denken, wem ich diese Kleinodien wohl einmal zeigen kann, sollte ich jemals wieder den Weg nach Hause und sie den Weg in meine Sammlung finden.

Scheiße! Niemandem werden wir später erzählen können, was wir hier erlebt haben. Es ist schrecklich. Was sollen wir eigentlich sagen, wenn uns später jemand fragt, wo wir gewesen sind?

Ich habe die Tiere eben freigelassen.

Ist es nicht seltsam, daß dieser von unterschiedlichsten Lebensformen überquellende Urwald indirekt zur Vernichtung seiner zukünftigen Entsprechungen beitragen wird? Wirklich ein verrückter Gedanke - die Idee stammt von Claudia: Eben dieser Wald hier wird im Laufe von Jahrmillionen unter Tonnen von Gestein zu der Braunkohle werden, die wir verfeuern und durch unsere extrahohen Schornsteine jagen. Die freiwerdenden Stick- und Schwefeloxide werden zum sauren Regen und zu dem mitteleuropäischen Waldsterben beitragen und unsere Lungen traktieren. Wenn das kein Treppenwitz der Erdgeschichte ist.

Spät in der Nacht begann es zu regnen. Aus einem pechschwarzen Himmel schüttete es wie aus Kübeln, und sie waren dieser himmlischen Sintflut vollkommen schutzlos ausgeliefert, da sie für einen solchen Fall keinerlei Vorkehrungen getroffen hatten. Nur Pencil in seiner löchrigen Holzkiste saß einigermaßen im Trockenen. Es regnete so stark, daß man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen konnte. Glücklicherweise ließ das Unwetter später nach, aber es nieselte noch stundenlang vor sich hin, und nasser als sie jetzt waren, konnten sie ohnehin nicht mehr werden.

Trotz aller Widrigkeiten mußten sie wohl doch irgendwann eingeschlafen sein, jedenfalls wachte Micha am nächsten Morgen völlig durchnäßt und mit schmerzenden Gliedern auf und starrte in die weit aufgerissenen Augen einer kleinen, sehr seltsamen Kreatur, die auf einem Ast über ihnen saß und glotzte. Sie hatte Ähnlichkeit mit kleinen Nachtaffen wie den Buschbabys, nur daß dieser hier eher wie ein Buschgreis aussah. Sein winziges Gesicht mit den fransigen Ohren, den riesigen Augen und vielen Runzeln und Falten wirkte, als sei es uralt, wie ein Kobold, ein winziger, weiser Wächter dieses geheimnisvollen Dschungels. Nach dieser Nacht konnte Micha nichts mehr erschüttern, und mit einem lässigen »Schsch!« verscheuchte er das Wesen, das sich langsam von Ast zu Ast hangelnd verzog. Tobias, dem er später von dem Tier erzählte, nannte es Nekrolemur. Ein ungemein passender Name! Tobias ärgerte sich darüber, daß er es nicht gesehen hatte, und machte Micha Vorwürfe, daß er ihn nicht geweckt hatte. Er wurde richtig böse und meinte, er sei hier nicht zum Schlafen hergefahren und er würde ihn in Zukunft auch nicht mehr darauf aufmerksam machen, wenn er etwas Interessantes entdeckte.

Bald war Leben auf dem Floß, und Pencil, der aussah wie ein begossener Pudel, weil ihm das durchnäßte Fell am schmalen Körper klebte, bestand in der ihm eigenen Art darauf, wieder an Land gesetzt zu werden. Seine Bitte wurde ihm verwehrt. Diesmal mußte er mit den Ritzen zwischen den Floßbaumstämmen vorliebnehmen. Sie zogen ihre durchnäßten Sachen aus.

Zum Frühstück aßen sie den nun noch pappiger gewordenen Zwieback. Auf den Kaffee mußten sie verzichten, weil der stinkenden schwarzen Brühe um sie herum nicht zu trauen war und weil sie kein Petroleum zum Abkochen verschwenden wollten. Sie hatten in der ganzen Aufregung des Vorabends vergessen, ihre Flaschen zu füllen und die Wasserreinigungstabletten zum Einsatz zu bringen. Das holten sie jetzt nach, aber sie mußten sich mit trockenen Kehlen gedulden, bis die Tabletten ihre keimtötende Wirkung getan hatten.

Sie setzten sich wieder in Bewegung, verließen vorsichtig stakend den Seitenarm und bewegten sich langsam weiter flußaufwärts, jedenfalls in die Richtung, die sie für flußaufwärts hielten. Das Wasser schien zu stehen. Eine Strömung war fast nicht auszumachen. Micha war sich ganz und gar nicht sicher, ob sie überhaupt in die richtige Richtung fuhren, aber er schwieg. Er konnte sich kaum noch daran erinnern, wie es hinter der nächsten Flußbiegung ausgesehen hatte und verließ sich darauf, daß wenigstens die anderen wußten, was sie taten.

Nachdem sie die Nacht zwar alles andere als komfortabel, aber doch heil und unversehrt überstanden hatten, verlor die sie umgebende Wildnis ein wenig von ihrem Schrecken. Der fehlende Schlaf und das drückende Treibhausklima machten ihnen natürlich noch arg zu schaffen. Sie saßen fast nackt im Boot, beschmierten sich mit dicken Schichten Sonnencreme und Antimückenmittel, schwitzten ununterbrochen und stanken bestialisch, aber es gab jetzt Momente, in denen sie die üppige, fremdartige Fülle dieser Natur einigermaßen angstfrei genießen konnten.

Jede Biegung des breiter werdenden Flußes barg neue Überraschungen. Immer wieder verstummten ihre Gespräche, weil sie atemlos vor Spannung darauf warteten, was ihnen nun wohl geboten würde. Zeitweise verbreiterte sich der Flußlauf zu kleinen Seen, in denen Hunderte von Seerosen blühten. Jetzt sahen sie, wie die Pflanze, die Sonnenberg gepreßt und getrocknet hatte, in lebendem Zustand aussah: weiß, schneeweiß.

»Ist sie das?« fragte Claudia, und Tobias nickte grinsend.

»Ich nehm’s an«, sagte er.

»Schön!«

»Ja, wunderschön«, stimmte Micha ihr zu.

Der Käfer und die Seerose, damit hatte alles angefangen.

Den seltsamen Baum sah zuerst keiner. Ohne daß sie es bemerkten, wäre das Floß fast daran vorbeigetrieben. Alle starrten gerade auf die andere Flußseite, weil sich dort im Blätterdach irgend etwas gerührt hatte. Claudia war die erste, die sich wieder umdrehte.

»Huch, guckt euch das mal an!«

Aus größerer Entfernung sah es so aus, als wüchsen an den ausladenden Ästen des Baumes große, wie weiße Wattebäusche aussehende Blütenstände. Aber aus der Nähe war eindeutig zu erkennen, daß dieses Weiße etwas war, das die eigentlichen Blüten verhüllte.

»Sieht aus wie der Gardinenstoff meiner Oma«, sagte Tobias und griff nach einem der rätselhaften Gebilde, als sie das Floß dorthin manövriert hatten. Ein kleines genähtes Säckchen aus feinem Gazestoff war über die Astspitze gestülpt worden. Darunter befand sich ein klebriger verfaulter Blütenstand.

»Kann mir mal einer erklären, was das hier darstellen soll?« fragte Tobias und hielt das verschmutzte Stoffsäckchen in die Höhe.

Claudia und Micha zuckten nur mit den Schultern. Pencil knurrte.

Kurz danach begann es wieder zu regnen. Sturzbäche ergossen sich aus schier unerschöpflichen Quellen, und die vorsichtige Begeisterung über den eozänen Dschungel ließ auf Seiten der drei Floßschiffer rasch wieder nach. Nach zwei Stunden, in denen es ununterbrochen geregnet hatte und sie sich nur unter größten Schwierigkeiten vorangetastet hatten, waren sie zur Umkehr entschlossen. In dem Unwetter sah die ganze Welt aus, als hätte sie eine Art schwerwiegende Bildstörung. Es war dunkel, der Wind kam in Böen, die ihnen die warmen schweren Tropfen ins Gesicht peitschten, und immer, wenn sie glaubten, der Regen könne nun nicht mehr stärker werden, öffneten sich irgendwo neue Schleusen, wurde das Prasseln lauter, bedrohlicher, nahm die Dichte der Tropfen ihnen fast die Luft zum Atmen.

Der Fluß schwoll an. Sie sahen nicht viel und konnten die beiden Ufer durch den dichten Regenvorhang nur noch schemenhaft wahrnehmen. Aber sie spürten deutlich, wie die Strömung, gegen die sie ankämpfen mußten, von Minute zu Minute stärker wurde. Sie kamen kaum noch voran.

Als er sich gerade mit aller Kraft dagegen stemmte, brach plötzlich Michas Stange. Er stürzte der Länge nach auf den Floßboden, riß auch Claudia um, die direkt neben ihm stand, und im nächsten Moment wurde ihr Gefährt schon von der Strömung mitgerissen. Tobias schrie auf und klammerte sich an die Ruderpinne. Es begann eine rasante, an Geschwindigkeit stetig zunehmende Fahrt durch die verschlungenen Wasserstraßen des Waldes. Sie waren nur noch ein Spielball des abfließenden Wassers, die Flutwelle schob sie vor sich her, zusammen mit einer immer größer werdenden Masse an Laub und Ästen und einigen verzweifelt rudernden Tieren. Sie stießen gegen Baumstämme und Felsen, wurden heftig durchgeschüttelt und hin und her geworfen, begannen sich langsam zu drehen. Es hatte keinen Zweck dagegen anzukämpfen. Alles, was sie tun konnten, war, sich mit aller Kraft an den Stricken festzuhalten, mit denen die Baumstämme aneinander befestigt waren, darauf zu vertrauen, daß sie das primitive Floß trotz allem noch zusammenhielten, und zu hoffen, daß sie irgendwie heil durchkamen. Tobias versuchte verzweifelt, die Stellung zu halten und ihrer rasenden Fahrt mit dem Ruderblatt so etwas wie eine Richtung zu geben.

Erst, als der Regen etwas nachließ und das Floß auf einer breiten Wasserfläche zur Ruhe kam, rappelten sie sich langsam wieder auf. Zuerst hatten sie Angst, völlig die Orientierung verloren zu haben. Aber dann folgte eine Überraschung. Es hatte den Anschein, als dulde dieser Wald sie nicht länger unter seinem Blätterdach, als wolle er sie so schnell wie möglich wieder loswerden. Wie einen widerlichen Fremdkörper hatte der Dschungel sie wieder ausgespuckt, aus seinen unergründlichen Tiefen hervorgewürgt wie unbekömmlichen Ballast.

Ein paar hundert Meter weiter öffnete sich der Wald und in der vom Regen dampfenden Luft konnten sie wieder die Weite der Savanne erahnen.