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Fußspuren
»Ich glaub es einfach nicht! Das ist doch nicht möglich«, rief Axt unwillkürlich aus und setzte schnell den schweren Rucksack ab. Schon die letzten Kilometer, die er am Flußufer entlanggelaufen war, waren ihm wie ein wunderbarer Garten Eden erschienen, aber für das hier fehlten ihm einfach die Worte. Mit heruntergeklapptem Unterkiefer kauerte er sich hinter einen Felsen und spähte zum anderen Flußufer hinüber.
Diese Tiere hier anzutreffen, verblüffte ihn ungemein. Es widersprach allem, was man über sie wußte. Die beiden massigen Platybelodons, eine spezielle Art der Schaufelzähner, schienen ihn nicht bemerkt zu haben, jedenfalls machten sie ihrem Namen alle Ehre und schaufelten seelenruhig weiter Unmengen von Wasserpflanzen in sich hinein. Und er kannte diese Pflanzen.
Er müßte sich schon sehr täuschen, wenn die Seerosen, die da drüben in dichten Teppichen auf dem Wasser schwammen, keine Barclaya waren, dieselben Seerosengewächse also, deren fossile Überreste sie im Ölschiefer von Messel gefunden hatten.
Erst jetzt wurde ihm bewußt, wo er sich befand, was mit ihm geschehen war, nachdem er Sonnenbergs Höhle durchquert hatte. Die letzten Tage waren wie im Rausch an ihm vorübergeglitten. Immer nur den einen Gedanken im Kopf, daß er sich beeilen mußte, wenn er die Katastrophe verhindern wollte, daß er keine Zeit verlieren durfte, daß es auf jede Minute ankam, hatte er sich kaum eine Pause gegönnt. Seit Tagen waren seine Augen ausschließlich starr nach vorne gerichtet. Daß es schon zu spät sein könnte, daß das Unheil vielleicht schon lange seinen Lauf genommen hatte, versuchte er zu verdrängen. Mit seinem Faltboot und dem kleinen Außenbordmotor, dessen lautes Geknatter ihn die letzten Tage begleitet hatte, war er über die Meeresbucht und den Fluß mit seinem braunen Wasser gerast.
Aber erst auf der anderen Seite des Bergzuges, in den letzten Stunden im Schatten dieses herrlichen Galeriewaldes mit seinem bunten Leben und angesichts dieser urzeitlichen Riesen in der flachen Bucht gegenüber, explodierte die ungeheuerliche Erkenntnis seines Hierseins mit der Wucht einer Granate. Fast verzweifelt suchte er nach einem Weg, das alles irgendwie zu verarbeiten. Am liebsten hätte er »Moment mal!« gerufen, eine Auszeit genommen, den Film für ein paar Minuten angehalten, wäre hinaus in die Küche oder auf die Terrasse gegangen, um sich eine kurze Atempause zu verschaffen. Aber das hier war kein Film.
Die Euphorie, die ihn überkam, ließ seine Haut prickeln, als bade er in sprudelndem Mineralwasser, und sein Gesicht glühte wie nach zwei doppelten Whiskys.
All das hier lebte. Es lebte!
Und als wollte ihm diese Welt noch einen weiteren Beweis ihrer Existenz liefern, hörte er ein lautes, durchdringendes Trompeten, und wenig später erschien hinter einer Baumgruppe eine kleine Herde gewaltiger Dinotherien, eine weitere Elefantenart, die hier und jetzt, ginge es nach den Erkenntnissen der Wissenschaft, eigentlich nichts zu suchen hatte. Es war überwältigend, mit welcher Eleganz und Leichtigkeit die riesigen Tiere sich fortbewegten. Mit weichen, federnden Schritten liefen sie auf das Ufer zu.
Alles, was er bisher gesehen hatte, die Meeresbucht, der träge dahinströmende Fluß, die karge Wüstenlandschaft und die Berge, durch die er hier heraufgestiegen war, selbst die rauchenden Vulkankegel in der Ferne, all das hätte genausogut ein Teil seiner Welt sein können, jener Welt, die er offenbar auf rätselhafte und unbegreifliche Weise hinter sich gelassen hatte. In den letzten Tagen hatte er sich allerdings auch kaum Zeit gelassen, die neue Umgebung näher zu untersuchen, hatte immer nur verbissen nach vorn geschaut, unermüdlich angetrieben von seiner inneren Unruhe, der vagen Hoffnung, noch etwas ausrichten zu können. Er hatte ein paar Vögel gesehen, aber selbst ihm als Fachmann wäre es unmöglich gewesen, sie aus dieser Entfernung als Bewohner des mittleren Tertiärs zu identifizieren. Und wenn überhaupt etwas, dann hätte er ja nur das gekannt, was nach Jahrmillionen noch von ihnen übriggeblieben war, ihre Skelette oder sogar nur Fragmente davon, eingebettet in hartes Gestein oder weichen Ölschiefer. Ihm fiel Sonnenbergs seltsame Frage wieder ein: Wie viele Vogelarten blieben wohl übrig, wenn man nur ihre Skelette kennen würde?
Auch die paar Pflänzchen am Flußufer boten bei oberflächlicher ruheloser Betrachtung nichts Besonderes. Sie unterschieden sich in nichts von den Unkräutern, die er an ruhigen Sonntagnachmittagen aus den Blumenbeeten seines Vorgartens zupfte. Nein, das alles hatte ihn bisher wenig beeindruckt, aber jetzt .
So dumm sich das für einen gestandenen Wissenschaftler wie ihn auch anhörte, aber er hatte bisher nicht die geringste Vorstellung davon gehabt, wie lebendig das alles einmal gewesen war. Außer während seiner seltsamen Anfälle in der Grube, und obwohl er es eigentlich hätte besser wissen müssen, hatte er bisher in seinen Fossilien nur tote Studienobjekte gesehen.
Mit einem Schlag wurde ihm klar, wie wenig sie eigentlich wußten über diese versunkenen Welten, welch elendes Stückwerk sie zu betreiben gezwungen waren mit ihren lächerlichen paar Knochen, über denen sie wochenlang brüteten und an denen sie alles maßen, was sich nur messen ließ, um sich mit dem dafür erforderlichen großen Aufwand über die kümmerlichen Resultate hinwegzutrösten. Es war erschreckend, auf wie wenig Material sich etwa die gesamte Paläoanthropologie stützte. All diese Vor- und Früh- und Urmenschenknochen zusammengenommcn füllten wahrscheinlich kaum den Wohnzimmerschrank einer deutschen Durchschnittsfamilie, die wissenschaftlichen und populären Abhandlungen darüber allerdings eine umfangreiche Bibliothek.
Der Schmerz über diese Erkenntnis blieb aus. Die Großartigkeit der Natur, die ihn jetzt umgab, überwältigte ihn und er vergaß, warum er hier war, hockte den halben Tag hinter seinem Felsen und staunte und schaute, ohne irgend etwas anderes zu empfinden als Glück und Zufriedenheit. Vieles warf in nur wenigen Minuten alles über den Haufen, was er und seine Kollegen aus aller Welt in mühevoller Kleinarbeit zusammengetragen hatten. Platybelodon, dieser Schaufelzähner, der keine hundert Meter von ihm entfernt an seinen Wasserpflanzen kaute, war bisher nur aus dem Miozän, also dem späten Tertiär bekannt, rund zwanzig Millionen Jahre nach der Messelzeit des Eozän. Dasselbe galt für das Dinotherium, diesen merkwürdigen Elefanten mit den nach unten gebogenen Stoßzähnen. Auch dieses Tier war somit viel älter, als sie bisher vermutet hatten. Brontotherien, die sich in großer Zahl an der Tränke einfanden, waren nur aus Nordamerika und Ostasien bekannt und dürften eigentlich noch lange nicht das Licht der Welt erblickt haben, und diese grotesken Burschen mit den drei Hornpaaren am Kopf, vermutlich eine zur Familie der Uintatherien gehörende Art namens Eobasileus, hatte man nur in Wyoming nachgewiesen.
Was, um Gottes willen, hatte er da eigentlich sein halbes Leben lang getrieben, nur Unsinn fabriziert, seitenweise Irrtümer und Halbwahrheiten verbreitet?
Daß sie keine Fossilbelege dafür hatten, bedeutete natürlich nicht, daß diese Wesen nicht doch schon früher existiert haben könnten, das hatte er immer schon gewußt, nicht erst, seit Sonnenberg ihn darauf aufmerksam machte. Damit ein Kadaver derart lange Zeiträume überdauern konnte, bedurfte es zahlreicher glücklicher Umstände, die nur in den seltensten Fällen gegeben waren. Genau wie in der Neuzeit hatten damals Millionen von Tierarten die Welt bevölkert, durch handfeste Beweise belegt waren vielleicht einige tausend. Auch was den Zeitpunkt des Auftretens und Aussterbens anging, gab es natürlich beträchtliche Unsicherheiten, die auch kein ernst zu nehmender Kollege in Abrede stellen würde. Wie oft hatte man etwa die Entstehung des Menschen auf Grund neuer Funde zurückdatieren müssen. Aber daß sie selbst in relativ jungen und gut überlieferten Epochen der Erdgeschichte wie dem Tertiär so katastrophal danebenlagen, hätte er bisher nicht für möglich gehalten.
Erst spät am Nachmittag, als die tiefstehende Sonne die ganze Landschaft in goldenes Licht tauchte, riß er sich los und suchte nach einem geschützten Uferabschnitt, wo er sein Lager aufschlagen konnte.
Am Fuße der Stromschnellen, kurz bevor der Aufstieg in die Berge begann, hatte er ein relativ großes Kunststoffruderboot entdeckt. Es lag hinter einem Felsen versteckt ganz in der Nähe des Flußufers, mit dem es eine deutliche Schleifspur verband. Unter den Sitzbänken fand er noch einige zurückgelassene Ausrüstungsgegenstände, einen Gummihammer, einen halbvollen Petroleumkanister, auch einige leere Konservendosen, die noch keine Spuren von Rost aufwiesen.
Die letzte Nacht hatte er neben einer alten Feuerstelle verbracht, die ihm, auch wenn er kein besonders versierter Fährtenleser war, nur wenige Tage oder Wochen alt gewesen zu sein schien. Die Tatsache, daß er auf ihr Boot gestoßen war, und die Vorstellung, daß dies ein Ort gewesen sein könnte, ja mußte, wo Tobias und sein Freund übernachtet hatten, verlieh ihm Flügel. Es waren die ersten sichtbaren Hinweise auf die Gegenwart von Menschen, die er entdeckt hatte. Und wer, wenn nicht diese beiden, hätten hier wohl ein Feuer anfachen sollen? Er mußte sich bremsen, um nach der Entdeckung der Feuerstelle nicht sofort weiterzumarschieren, den beiden Studenten, wie schon in den Tagen zuvor, hinterherzuhetzen, damit er nicht zu spät kam. Aber dann siegte die Müdigkeit, die ihm von dem anstrengenden Marsch in sengender Hitze in den Knochen steckte. Wenigstens überzeugte ihn diese Entdeckung endlich davon, daß er auf dem richtigen Wege war. Sie ließ die letzten nagenden Zweifel verstummen, die ihn bis dahin immer wieder bedrängt hatten.
Als er vor ein paar Tagen mit seinem Wagen von Berlin aus erst nach Süden, dann in Richtung Osten raste und schließlich stundenlang in einer endlosen stinkenden Autoschlange an der tschechischen Grenze warten mußte, hatte er immer wieder an Sonnenberg denken müssen. Er hatte sich gefragt, ob der alte Gauner ihn nicht womöglich auf eine völlig falsche Fährte geschickt hatte. Aber letztlich beruhigte er sich wieder, dachte an die echte Verzweiflung auf dem Gesicht des kleinen Mannes, als er begriff, was das Röntgenbild mit dem Schädel zu bedeuten hatte. Axt hatte sich die Sache viel schwieriger vorgestellt. Viel mehr als ein kurzer Blick auf das mitgebrachte Foto und ein paar eindringliche Fragen seinerseits waren nicht nötig gewesen, um Sonnenberg zum Reden zu bringen. Als er ihn anhand des Röntgenbildes mit Tobias’ Tod, oder richtiger, seinem möglichen Tod konfrontiert hatte, sprudelte es nur so aus ihm heraus.
Außerdem waren da die Fotografien gewesen, besonders die von der Höhle, und die verblichene Markierung auf der alten Landkarte. Er glaubte nicht daran, daß Sonnenberg sich die Mühe gemacht und lauter falsche Indizien konstruiert hatte, nicht bei dem heimlichen Vergnügen, das der Alte offenbar dabei empfand, wenn er seinen tertiären Prachtkäfer überall herumzeigen konnte. Trotzdem nagten noch tagelang Zweifel an seiner Entschlossenheit, bis jetzt, bis er zuerst das Boot und dann die Feuerstelle entdeckt hatte.
Axt mußte sich immer wieder daran erinnern, daß Tobias nicht notwendigerweise schon tot war, obwohl er seine Leiche, sein fossiles Skelett, ja mit eigenen Augen gesehen hatte. Der Gedanke widersprach dem gesunden Menschenverstand, erzeugte verwickelte Knoten im Gehirn und war doch ganz logisch. Es gab noch eine Chance, eine winzige Möglichkeit, es zu verhindern, sonst hätte all dies hier keinen Sinn. Axt war fest davon überzeugt, daß er es schaffen konnte. Tobias hatte noch vor wenigen Wochen gelebt. Erst auf dieser Reise würde er irgendwo den Tod finden. Um sich anzustacheln, um in seinen Bemühungen nicht nachzulassen, versuchte Axt sich immer wieder klarzumachen, daß dieser Moment noch nicht eingetreten sein mußte. Tobias hatte ihm ja quicklebendig gegenübergestanden, während gleichzeitig die große Schieferplatte mit seinen Überresten im Keller der Messeler Station herumlag. Außerdem blieb selbst im ungünstigsten Falle noch offen, was aus dem anderen Zeitreisenden, diesem Michael, geworden war. Daß er sein Skelett nicht gefunden hatte, hieß ja nicht, daß er nicht vielleicht auch verletzt oder gar tot sein könnte. Vielleicht irrte er hier irgendwo in der Gegend herum. In jedem Fall mußte er sich beeilen, durfte sich von Zweifeln und Bedenken nicht aufhalten lassen.
Er hatte den völlig verunsicherten und niedergeschlagenen Sonnenberg in seinem Institut zurückgelassen und war sofort in einen Laden für Expeditionsbedarf gehetzt. Diese Läden gab es in Berlin in überraschend großer Zahl, so als ob die halbe Stadt aus Extrembergsteigern, Dschungelwanderern, Antarktisdurch-querern und anderen Überlebenskünstlern bestünde. Dort hatte er sich mit allem eingedeckt, was er zu benötigen glaubte. In einem anderen Laden hatte er das Boot gekauft und kurz entschlossen auch den Außenbordmotor, damit er schneller vorankam. Noch am selben Abend war er dann in Richtung tschechische Grenze aufgebrochen.
Das Schlimmste hatte er sich bis zum Schluß aufgehoben.
Er stieg in einem kleinen Hotel in der Nähe der Grenze ab und rief dann spät abends von einer Telefonzelle aus zu Hause bei Marlis an. Sie hatte sich natürlich schon große Sorgen um ihn gemacht, und er mußte ihr nun sagen, daß er für ein paar Tage, vielleicht Wochen wegfahren müsse und daß sie in dieser Zeit nichts von ihm hören würde. Es hatte ihm Höllenqualen bereitet, dieses Telefongespräch mit seiner weinenden Frau. Er sah ihr entsetztes Gesicht vor sich, sah, wie ihr die Tränen herunterliefen, fühlte die Angst, die sie um ihn hatte.
Gegen das Glas gelehnt, die Hände auf das Gesicht gepreßt, stand er danach noch minutenlang in der Telefonzelle, dem einzigen Lichtfleck weit und breit auf der verlassenen Dorfstraße. Dann ging er in sein Hotel zurück und versuchte noch ein paar Stunden zu schlafen.
Ein paar Tage nach seiner Begegnung mit den Schaufelzähnern wanderte er noch immer am Flußufer entlang, die Augen auf den Boden gerichtet. Er war schon hin und wieder auf Fußspuren gestoßen, auf geriffelte Abdrücke im Staub, die sich an besonders windgeschützten Stellen gehalten hatten.
Was ihn verwirrte, war, daß er dort mehr als zwei unterschiedliche Abdrücke zu erkennen glaubte. Einer trug Turnschuhe mit einem groben Muster aus Querrillen. Dann gab es riesige Abdrücke ohne Struktur, einfach nur plattgedrückter Sand in Fußform, vielleicht von abgelaufenen Sandalen. Aber da war noch ein dritter Fuß, deutlich kleiner als die beiden anderen. Er hinterließ regelmäßige Kringel, die wie ein zusammengesetztes Puzzlespiel aussahen. Und zwischendurch ab und an die Abdrücke eines Tieres. Wahrscheinlich war es später hier entlanggelaufen.
Seitdem schaute er immer wieder auf den Boden, um vielleicht eine Stelle zu finden, an der er noch mehr erkennen konnte. Die beiden größeren Abdrücke stammten wahrscheinlich von Tobias und Michael. Aber wer machte die kleineren? Von einer dritten Person war bisher nie die Rede gewesen, weder bei Sonnenberg noch im Gespräch mit Rothmanns Doktorandin. Er war verunsichert.
Plötzlich hörte er im Gebüsch neben sich ein Geräusch, ein tiefes Brummen, dann ein Krachen und Brechen von Ästen, ein lautes Schnauben.
Zuerst dachte er an ein großes Raubtier, einen Säbelzahntiger vielleicht. Der Zahn, den Sonnenberg ihm gezeigt hatte, war sehr, sehr eindrucksvoll gewesen, mindestens zwanzig Zentimeter lang. Er mußte immer wieder daran denken. Moderne Katzen schlagen ihre Beute, indem sie gezielte Tötungsbisse ansetzen. Sie drücken ihren Opfern die Kehle zu oder brechen ihnen das Genick. Die tertiären Säbelzahnkatzen aber gingen ganz anders vor. Sie rissen ihren Beutetieren mit Hilfe der riesigen Zähne tiefe, stark blutende Wunden und rannten dann so lange geduldig hinter ihren Opfern her, bis diese durch den enormen Blutverlust vor Erschöpfung und Entkräftung zusammenbrachen. Kein schöner Tod.
Er hatte schon mehrmals große Tierkadaver in der Savanne liegen sehen, abgenagte und ausgeblichene Knochen, hohle Lederhäute, ausgehöhlte Brustkörbe, die wie große Käfige aussahen. Seltsam, dachte er noch, wie selbstverständlich er plötzlich mit dem Auftauchen von Tieren rechnete, von denen er noch wenige Tage zuvor geschworen hätte, sie seien bereits seit Jahrmillionen ausgestorben. In seinem Kopf geriet da etwas in Unordnung.
Er rannte schnell zum Fluß hinunter. Zur Not würde er sich einfach ins Wasser werfen, auch auf die Gefahr hin, daß er vom Regen in die Traufe gelangte. Vielleicht waren Säbelzahnkatzen ja wie ihre Nachfahren wasserscheu. Er setzte den Rucksack ab und zückte das Messer, das er am Gürtel trug, eine angesichts der Dimensionen tertiärer Säugetiere eher lächerliche Geste, mit der er trotz allem eine Spur von Sicherheit gewann. Er wartete.
Lange Zeit tat sich nichts, und seine Anspannung begann nachzulassen. Als er wieder weiterlaufen wollte, nahm er eine Bewegung war. Etwas Graubraunes, Rundliches, das die Büsche überragte und das er bisher nicht wahrgenommen oder einfach für einen Felsen gehalten hatte, schwankte leicht hin und her, und im nächsten Moment brach ein Monstrum durch das Gesträuch, ein Berg aus muskelbepackten Knochen. Merkwürdig, dachte er einen Moment lang, und es schien, als ob die Zeit stillstand, selbst in Situationen wie dieser konnte er in Tieren kaum etwas anderes als mit Muskeln und Sehnen bepackte, nach biomechanischen Gesetzen arbeitende Knochengerüste sehen. Das war wohl berufsbedingt. Der Riese wirkte ebenfalls irritiert. Er blinzelte ihn aus winzigen, kurzsichtigen, nicht gerade herausragende Sensibilität verratenden Augen an und schnaubte wie eine Dampflokomotive.
Dann ging alles sehr schnell. Axt hatte etwas Kleineres, Flinkes, Geschmeidiges erwartet und der unvermittelte Auftritt dieses Giganten, eines Brontotheriums mit knapp drei Metern Schulterhöhe, brachte ihn so aus dem Gleichgewicht, daß er nach hinten kippte, laut klatschend im Fluß landete und sofort von einer kräftigen Strömung mitgerissen wurde. Der Wasserstand des Stromes war in den letzten Tagen deutlich gestiegen. Er konnte gerade noch sehen, wie das Untier mit blinder Wut seinen Rucksack traktierte, da fand er sich schon zwanzig, dreißig Meter flußabwärts wieder. Irgend etwas zerrte an seinen Beinen, drohte, ihn unter Wasser zu ziehen, im nächsten Moment schoß er wie ein Korken mit dem Oberkörper über die Wasseroberfläche. Er strampelte, kämpfte mit aller Kraft gegen die Strömung an, bis er nach einem über das Ufer hinausragenden Ast greifen und sich daran Stück für Stück aus dem Wasser ziehen konnte. Als er triefend vor Nässe am Ufer wieder zurückschlich, war das Brontotherium spurlos verschwunden, und sein Gepäck sah aus, als ob es unter eine Dampfwalze geraten wäre.
Er hängte sich rasch den arg gebeutelten Rucksack über die Schulter und lief so schnell er konnte weiter, bis er in offenes Gelände gelangte, wo er ausruhen und sich seine nassen Sachen ausziehen konnte. Er war so fertig, daß er beschloß, an Ort und Stelle die Nacht zu verbringen. Ihm tat alles weh und er hatte das Gefühl, keinen Meter mehr gehen zu können.
Bei den ersten Anzeichen der Dämmerung streifte er müde durch das Gelände, um nach Feuerholz zu suchen. Er stand noch ganz unter dem Eindruck seiner nachmittäglichen Begegnung, ärgerte sich über seine Unaufmerksamkeit und nahm sich vor, in Zukunft respektvollen Abstand zu dichten Gebüschen zu halten, bei denen man hier nie wissen konnte, was sich dahinter verbarg. Er war leichtsinnig geworden. Außerdem war es vielleicht auch nicht besonders klug, andauernd auf den Boden zu starren. Die Lebewesen hier scherten sich einen Teufel darum, was für ein schönes hochentwickeltes und intelligentes Säugetier er war. Er war kein wildniserfahrener Trapper, sondern ein steifer, zu Fettansatz neigender Schreibtischhengst und sollte sich, verdammt noch mal, vorsehen, wenn er dieses Abenteuer unversehrt überstehen wollte.
Seine Suche führte ihn hinunter zum Fluß, wo immer viel Treibholz herumlag. Kaum hatte er die Uferböschung erreicht, sah er plötzlich ein ganzes Stück weiter flußaufwärts ein Licht aufflackern. Er hielt den Atem an und kauerte sich in das hohe Gras. Das war eindeutig ein Feuer. Aber dort brannte nicht die Savanne, sondern ein munter züngelndes Lagerfeuer.
Ihm lief es heiß und kalt den Rücken herunter. Er hatte es geschafft. Das mußten sie sein! Er wollte schon fast losrennen, laut rufend und winkend das Flußufer entlangstürmen, aber dann stutzte er.
Jetzt, wo er seinem Ziel so nahe war, kamen ihm plötzlich Bedenken. Wie würden sie reagieren, wenn er so unvermittelt auftauchte? Darüber hatte er bisher nicht nachgedacht. In jedem Fall sollte er wohl besser bis morgen warten und nicht einfach im Halbdunkel aus dem Dickicht treten, sonst waren die beiden oder die drei - wer war bloß der oder die dritte? -womöglich fähig, ohne Vorwarnung über ihn herzufallen. Man rechnete hier nicht unbedingt mit einem Überraschungsbesuch.
Andererseits, wenn er jetzt seinerseits ein Feuer entfachte, würden die anderen es vielleicht sehen und vielleicht kamen sie dann auf den Gedanken nachzuschauen, was denn da los war. Vielleicht stürzten sie sich auf ihn, wenn er in seinem Schlafsack lag und schlief, schlugen ihm einen Knüppel über den Kopf, bevor er überhaupt den Mund aufmachen und sagen konnte: »Seht her, ich bin der liebe Helmut Axt, und ich bin gekommen, um euch zu retten.«
Unsinn! Das waren zivilisierte Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts, genau wie er. Die paar Wochen, die sie hier im Eozän verbracht hatten, würden sie nicht in blutgierige Wilde verwandelt haben, bei denen man auf alles gefaßt sein mußte.
Nein, er war seinem Ziel jetzt zum Greifen nahe und würde mit diesem Wissen sowieso kein Auge zu tun können. Außerdem hatte er keine Sekunde zu verlieren. Was hätte die ganze Hetzerei für einen Sinn gehabt, wenn er sich jetzt seelenruhig den Bauch vollschlug und in seinen Schlafsack verkroch, während dieser Tobias nur ein paar Meter entfernt weiterhin in Lebensgefahr schwebte.
Er rannte zu seinem Lagerplatz und stopfte hastig alles in seinen staubigen Rucksack zurück. Dann marschierte er los, direkt am Flußufer entlang, die Augen in der zunehmenden Dunkelheit immer auf diesen einen flackernden Lichtpunkt gerichtet, der ihm den Weg wies. Er hatte es geschafft. Er hatte sie eingeholt und ... sie lebten. Er lief immer schneller.
Dann hörte er ein Geräusch, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ, kein tiefes Grollen, wie es für umherstreifende hungrige Großkatzen typisch ist, kein drohendes Brüllen irgendeines angriffsbereiten Ungetüms. Es war ein alltägliches, sehr vertrautes Geräusch, eines, das er hier zu allerletzt erwartet hatte und das seinen Verstand kurzzeitig in heillose Verwirrung stürzte.
Er hörte das laute Kläffen eines Hundes.
Er blieb kurz stehen, verwundert, verunsichert, ängstlich, aber dann riß er sich zusammen und lief weiter. Als er vielleicht noch hundert Meter entfernt war - das Hundegebell wollte kein Ende nehmen und er konnte im aufflackernden Licht des Feuers schon schemenhafte Umrisse von Menschen erkennen -, begann er zu rufen.
»Hallo!« schrie er, so laut er konnte. Sein Herz schlug in rasendem Tempo. »Hallo, ist da jemand? Hallo!«
Die Gestalten sprangen auf, liefen aufgeregt umher. Es waren mehr als zwei.
Er schrie weiter: »Hallo, keine Angst! Sie kennen mich! Mein Name ist Helmut Axt.«
Er fing an zu rennen. Im Rhythmus seiner Schritte schlug ihm der schwere Rucksack ins Kreuz.
Dann schaute er in ihre von Angst, Verwirrung und ungläubigem Erstaunen gezeichneten Gesichter. Sie standen jetzt bewegungslos im Halbkreis um das Feuer herum, auf dem Boden zwischen ihnen erkannte er seltsame Zeichen im Sand, und sie waren nicht zu dritt, sondern zu viert. Ein hysterischer Dackel stemmte sich vor ihm mit den Hinterbeinen in den Sand und veranstaltete ein ohrenbetäubendes Getöse.
Vom Laufen noch außer Atem ließ Axt seinen Rucksack auf den Boden fallen.
»‘n Abend«, sagte er schnaufend und grinste die verdatterte Gesellschaft an.
Die Kambrische Explosion
Nach ihrem ziemlich katastrophal verlaufenen Dschungelabenteuer hatten sie ein paar Tage Erholung in Herzogs Reich bitter nötig gehabt. Nur zwei Tage hatten sie sich in dem Irrgarten der Dschungelwasserläufe aufgehalten, zwei Tage und eine Nacht voller Mücken, Nässe und Angst. Das hatte gereicht.
Micha kam es vor wie eine Wiedergeburt. Er war satt und nach einem Bad im Fluß erfrischt und sauber. Er fühlte sich an eine Visitenkarte erinnert, die zu Hause an ihrer WG-Pinnwand hing:
Kein Name, keine Adresse, kein Beruf, kein Telefon, kein Geld ..., nur müde! stand darauf. Das traf ziemlich genau seine augenblickliche Gemütsverfassung. Schlafen und essen war das einzige, wonach er sich sehnte. Davon konnte er allerdings kaum genug bekommen. Ansonsten war er ziemlich bedürfnislos. Stundenlang konnte er nach unten in die von großen Tierherden bevölkerte Savanne gucken und sich an dem relativen Luxus erfreuen, den das Leben in Herzogs Behausung mit sich brachte.
Nach ein paar Tagen Erholung stand für Micha fest, daß er möglichst bald zurückfahren wollte, definitiv. Er hatte vorgehabt, sich auf keinerlei Diskussionen darüber einzulassen, aber es kam wieder zu einem hitzigen Streit zwischen ihm und Tobias, der ohne Zweifel in eine Schlägerei ausgeartet wäre, wenn Herzog sich nicht eingeschaltet hätte. Sie waren jetzt gut vier Wochen unterwegs, die Anreise nicht mitgerechnet. Es war höchste Zeit, sich wieder auf den Heimweg zu machen. Herzogs medizinische Versorgung von Tobias’ Verletzung mochte ja noch so fachmännisch gewesen sein, mit der Behandlung in einem modernen Krankenhaus konnte sie sich sicher nicht messen. Für Micha stand außer Frage, daß Tobias sich so schnell wie möglich in ärztliche Behandlung begeben mußte, wenn er seinen Arm hundertprozentig wiederherstellen wollte. Dem stand nun nichts mehr im Wege. Er war sich sicher, daß Claudia seine Meinung teilte.
Außerdem war es so abgemacht zwischen ihm und Tobias. Maximal acht Wochen hatten sie eingeplant. Das war für ihn das Äußerste gewesen. In Anbetracht der Tatsache, daß sie durch Tobias’ Verletzung stark gehandicapt waren und den gesamten Rückweg noch vor sich hatten, war diese Zeitspanne wohl schon jetzt voll ausgeschöpft. Seine Eltern würden sowieso Todesängste um ihn ausstehen. Sie waren es zwar gewohnt, daß er im Urlaub schreibfaul war und sich meistens nur eine magere Postkarte abringen konnte, aber zwei Monate ohne ein einziges Lebenszeichen, soweit war er bisher noch nie gegangen.
Die Heimkehr bereitete ihm schon seit langem Kopfzerbrechen, da er gezwungen sein würde, allen ein einziges riesiges Lügengebäude aufzutischen, ein Gedanke, der ihn mit Widerwillen erfüllte. Er hatte seinen Eltern erzählt, er würde wieder nach Griechenland fahren, und sie waren schon froh gewesen, als sie hörten, daß er nicht alleine fuhr. Tobias’ Eltern waren ja tot, da gab es niemanden, auf den er hätte Rücksicht nehmen müssen. Was Claudia zu Hause erzählt hatte, wußte er nicht.
Als er dann beim Abendessen sein Anliegen vorbrachte, stieß er jedoch auf erbitterten Widerstand. Tobias fiel fast sein Knochen aus der Hand.
»Wie bitte? Du spinnst wohl!« sagte er mit vollem Mund. »Jetzt umkehren? Das kann doch nicht dein Ernst sein, Micha.«
»Nicht umkehren, zurückfahren.« Er dachte, vielleicht störte Tobias sich nur an dem Wort umkehren. Es mochte in seinen Ohren wie eine Niederlage klingen. Aber weit gefehlt.
»Das läuft ja wohl auf dasselbe hinaus, oder? Wie kommst du nur auf so was? Wo wir es doch schon so weit geschafft haben.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, im Gegenteil, ich finde, wir könnten eigentlich bald weiterfahren.«
»Ich hör wohl nicht richtig?« Micha fehlten wirklich die Worte. »Du willst noch mal in diesen Dschungel? Dir hat das letzte Mal nicht gereicht, nein?«
»Und was ist mit deinem Arm?« schaltete sich Claudia ein.
»Was soll damit sein? Alles klar!« Tobias fuchtelte mit seinem Verband in der Luft herum. Der viele Regen hatte dem Lehm arg zu schaffen gemacht, und Herzog hatte den Verband nach ihrer Rückkehr sofort erneuern müssen.
»Das glaubst du doch selber nicht«, sagte sie.
Herzog saß schweigend dabei, rauchte seine mit merkwürdig riechenden tertiären Kräutern gestopfte Pfeife und machte ein teilnahmsloses Gesicht. Offensichtlich wollte er sich in diese Diskussion nicht einmischen.
»He, was ist los mit euch?« Tobias blickte zwischen Claudia und Micha hin und her und bekam große Augen. »Ihr habt euch abgesprochen, was? Ist wohl für euch schon beschlossene Sache. Ihr habt die Hosen voll oder Heimweh oder so was. Nee nee, nicht mit mir.«
»Quatsch, wir haben uns keineswegs abgesprochen«, widersprach Micha vehement. »Aber ich dachte .«
»Nein, kommt überhaupt nicht in Frage«, sagte Tobias kategorisch. »Wir fahren weiter und damit basta.«
»Hör mal, Freundchen, so geht das aber nicht, klar?« rief Micha entrüstet. »Wir entscheiden immer noch gemeinsam, was wir tun. Wenn es dir egal ist, was aus deinem Arm wird, dann ist das deine Sache. Ich hoffe wirklich, er wächst dir genauso schief zusammen wie dein Gebiß. Dann hätte das Ganze wenigstens irgendwie Sinn und Verstand, verdammt noch mal. Aber ich darf dich daran erinnern, daß wir einmal eine Abmachung hatten. Wir sind jetzt fünf Wochen unterwegs, und wir haben damals beschlossen, ungefähr .«
»Na und? Erst mal sind es gerade gut vier Wochen, und jetzt dauert es eben etwas länger. Was macht das schon? Sei doch nicht so schrecklich unflexibel. Kommst mir manchmal vor wie ‘n alter Opa.«
»Tobias!« Micha wurde sauer.
»Tobias, Tobias«, äffte Tobias ihn nach. »Nee, so läuft das nicht, Leute. Wenn ihr glaubt, ihr könnt mich hier vor vollendete Tatsachen stellen, dann täuscht ihr euch aber gewaltig. Hier gibt’s noch so viel zu entdecken. Begreifst du denn überhaupt nicht, wo wir hier sind? Wir sind doch nicht die ganze Strecke bis hierher gefahren, um jetzt gleich wieder umkehren. Ich versteh das einfach nicht.«
»Ich hab’s dir doch erklärt. Im Gegensatz zu dir führe ich noch ein Leben außerhalb des Eozäns.«
Claudia versuchte es mit einer anderen Taktik. »Warum willst du denn noch mal in den Dschungel?«
»Na, ich will wissen, wie’s dahinter weitergeht«, sagte Tobias. »Da hat sich offensichtlich noch keiner hingetraut.«
»Du hast doch gehört, was Ernst gesagt hat. Der Wald ist riesig. Dahinter gibt’s nichts mehr.«
»So ein Blödsinn! Von wegen, dahinter gibt’s nichts. Glaubt ihr immer noch daran, daß die Erde eine Scheibe ist, oder wie? Ich sag’s ja, ihr habt nur die Hosen voll. Der große Biologe und die Berliner Kugelstoßmeisterin wollen nach Hause zu Muttern.«
Trotz seiner lautstarken Attacken merkte man ihm an, daß er seine Felle davonschwimmen sah. Seine Augen nahmen einen gehetzten Ausdruck an.
»Feiglinge!« stieß er verächtlich aus. »Wahrscheinlich wollt ihr euch zu Hause nur in euer trautes Liebesnest stürzen, und ich bin euch hier im Wege.«
Was Micha anging, hatte er damit gar nicht so unrecht, aber Claudia reagierte ziemlich ungehalten. »Mein Gott, Tobias! Was soll denn das jetzt? Du bist ein unerträglicher Angeber. Vor ein paar Tagen hast du dich noch zitternd und phantasierend auf dem Boden gewälzt und keine Sonne gesehen. Und jetzt markierst du hier den starken Mann. Du machst dich ja lächerlich.«
Schweigen. Tobias hatte sich abgewendet. Seine Kiefermuskulatur arbeitete.
»Es ist mein Boot.«
»Wie bitte?« Micha hatte ihn nur zu gut verstanden.
»Die Titanic gehört mir«, preßte er hervor. Seine Lippen zitterten vor Wut.
»Ach!« Micha blieb fast die Spucke weg. »So läuft der Hase jetzt. Dann gehört der Proviant mir und die Medikamente auch.«
»Behalt doch deinen Scheißproviant. Aber ohne das Boot seid ihr aufgeschmissen.«
»Und womit willst du weiterfahren? Die Titanic liegt unten an den Stromschnellen. Willst du sie hier raufschleppen? Ach so, klar, das würdest du mit deinem Arm auch noch fertigbringen, was? Hast ja noch die andere Hand, oder? Mann, du bist ein solches Arschloch.«
Tobias wirkte verunsichert. Die Sache mit dem Boot hatte ihm offensichtlich zu denken gegeben. Er schaute zu Herzog hinüber, aber der nahm die Pfeife aus dem Mund und schüttelte den Kopf.
»Das Floß bekommst du nicht. Das schlag dir mal gleich aus dem Kopf, mein Junge. Aber ... bevor ihr euch hier gegenseitig an die Gurgel springt ...« Er räusperte sich, schaute jeden einzelnen nacheinander ernst an, und Micha sah wieder diesen Vorwurf in seinen Augen, wie damals, als sie ihn zum ersten Mal trafen: Das hier ist nichts für euch, seht das doch endlich ein. »Es ist normalerweise wirklich nicht meine Art, mich in die Angelegenheiten anderer Leute einzumischen, schon gar nicht, wenn die meinen, unbedingt hierherkommen zu müssen, aber in eurem Fall ...« Sein Gesichtsausdruck hatte immer etwas Grüblerisches, aber jetzt sah er noch nachdenklicher aus als sonst. »... in eurem Fall ist das etwas anderes. Ich weiß selbst nicht so genau, warum. Vielleicht wegen meiner alten Freundschaft zu Sonnenberg. Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich mache ich einen großen Fehler, aber aus irgendeinem Grunde kann ich es nicht mitansehen, wie ihr in euer Verderben lauft, so oder so. Vielleicht kann ich euch einen Kompromiß für euer Problem anbieten.«
Verlegen ruckelte er auf seinem wackligen Hocker hin und her. Man sah ihm an, daß er sich nicht ganz wohl fühlte in seiner Haut.
»Wenn ihr versucht, allein den Wald zu durchqueren, werdet ihr mit größter Wahrscheinlichkeit scheitern. Im günstigsten Falle werdet ihr viel Zeit verlieren, und das in einer ziemlich ungemütlichen Gegend. Das ist auf Dauer kein Ort für Menschen. Eigentlich dachte ich, ihr hättet das endlich begriffen. Im ungünstigsten Fall werdet ihr nie zurückkehren, werdet irgendwo jämmerlich verrecken. Es sei denn .«
»Ja?« fragte Tobias gespannt.
»Es sei denn, ich komme mit.«
»Hey, das wäre Spitze, Mann!« In Tobias’ Gesicht kehrte wieder die Farbe zurück.
»Das würdest du tun?« fragte Claudia.
»Sonst würde ich es nicht sagen. Allerdings ...« Er zog an seiner Pfeife. »Ich sag’s ganz ehrlich. Ich will, daß ihr von hier verschwindet, je eher, desto besser. Außerdem hat Michael ganz recht. Tobias’ Arm muß in einem vernünftigen Krankenhaus behandelt werden. Wenn ihr auf eigene Faust weitermachen wollt, bitte, aber in diesem Fall könnt ihr nicht auf meine Hilfe zählen. Ich meine es ernst. Ich werde keinen Finger rühren, wenn ihr da drinnen verfault, ist das klar?« Wieder diese Blicke. Ihr habt keine Chance. »Mein Angebot ist folgendes: Ihr zeigt mir den Baum mit den Stoffhauben, den ihr gesehen habt, und ich führe euch in den Dschungel, in ein wunderschönes Gebiet, das ihr alleine nie finden würdet. Danach will ich euch hier nicht mehr sehen, dann müßt ihr zurück.«
Tobias stieß verächtlich die Luft aus und blickte demonstrativ zur Seite.
»Okay, ich bin einverstanden«, sagte Micha schweren Herzens. Ihm wäre eine direkte Heimreise ohne weitere Dschungelausflüge lieber gewesen. Aber wenn es denn nicht anders ging .
»Ich auch«, sagte Claudia.
Tobias sprang auf und verschwand in der Dunkelheit. Es dauerte eine halbe Stunde, bis er wieder auftauchte und zähneknirschend zustimmte.
Nicht auszudenken, was aus ihnen geworden wäre, wenn sie diesen Mann nicht getroffen hätten. Zuerst der Unfall von Tobias und jetzt diese Streiterei. Wer weiß, vielleicht wären sie wirklich irgendwann über einander hergefallen. Micha war jedenfalls sicher, daß er Tobias’ Anblick nicht mehr lange ertragen konnte.
Zwei Tage später packten sie ihre Sachen, stiegen zu Fuß in die Ebene hinunter und liefen dann in einem schrägen Winkel auf den Fluß zu, an dessen Ufer sie ein erstes Lager aufschlugen.
Tobias war den ganzen Tag über mufflig und schlecht gelaunt gewesen, schien sich aber mit seiner Niederlage abgefunden zu haben. Am Abend, als sie in der Dämmerung um das Feuer herumsaßen, entspann sich eine Diskussion über die Kambrische Explosion.
»Die was?« fragte Claudia.
»Kambrische Explosion, so nennt man das plötzliche Auftreten zahlreicher neuer Tiergruppen etwa 570 Millionen Jahre vor eurer Zeit«, erläuterte Herzog. »Sie hatten erstmals Hartteile, aus Kalk oder Chitin, die sich als Fossilien überliefern konnten.« Micha fand es befremdlich, daß er von »eurer Zeit« sprach, so als rechnete er sich nicht mehr dazu. Er tat das nicht zum erstenmal.
»Schlagartig erschienen fast alle Tierstämme auf der Bildfläche, die später auch die moderne Fauna bilden sollten. Seitdem ist wohl nichts wesentlich Neues mehr hinzugekommen, nur eine Unzahl von Variationen über diese alten Themen. Über die Übergänge, und woher diese neuen Baupläne damals plötzlich kamen, wissen wir so gut wie nichts. Alles scheint ziemlich schnell gegangen zu sein, eine Art Urknall des Lebens. Leider gibt es ausgerechnet aus den Phasen der Erdgeschichte, in denen es wirklich spannend war, fast keine Fossilien.«
Er schaute Tobias an. Ihm fehlten ja zehn Jahre der aktuellen wissenschaftlichen Entwicklung in ihrer Zeit. Herzog lächelte und fragte. »Einverstanden, Herr Kollege?«
Tobias nickte. »Da gibt es aber diese berühmten Fossilien aus Kanada, vom Burgess Shale.«
»Na, das ist doch ein alter Hut. Die sind doch schon seit Anfang des Jahrhunderts bekannt.« Herzog wollte ihn provozieren. Die beiden trugen in letzter Zeit oft kleinere Rangeleien aus, auf rein fachlicher Ebene versteht sich.
»Ja, das stimmt schon«, sagte Tobias mit einem triumphierenden Grinsen, »aber man interpretiert sie heute ganz anders als zu deiner Zeit.« Er liebte es, wenn er Herzog mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen verblüffen konnte. Herzog nahm ihm das anscheinend nicht übel. Es machte ihm im Gegenteil Spaß, sich mit Tobias zu streiten oder ihm einfach nur zuzuhören.
»Es gibt unter den Funden vom Burgess Shale einige Tiere, die sich ganz klar den modernen Formen zuordnen lassen, Seeigel, Korallen und Krebse zum Beispiel. Aber es gibt eben auch zahlreiche sehr merkwürdige Kreaturen, für die später keinerlei Entsprechungen mehr existieren. Kurz nach ihrem Entstehen war für sie gleich wieder Endstation. Ein Wissenschaftler hat sie mal >irre Wundertiere< genannt.«
»Irre Wundertiere«, wiederholte Claudia.
»Klingt nicht besonders wissenschaftlich«, warf Micha ein.
»War ein Amerikaner. Die stellen sich damit nicht so an wie die Deutschen. Bei denen hat auch so etwas Platz in der Wissenschaft. Ich glaube, der war einfach total begeistert von diesen neuen Entdeckungen und das wollte er auch weitervermitteln.«
»Und was sind das nun für irre Wundertiere?« fragte Herzog schmunzelnd.
»Die haben auch so tolle Namen, mir fällt jetzt nur noch Wiwaxia und Hallucigenia ein. Er behauptet jedenfalls, daß die Vielfalt an unterschiedlichen tierischen Bauplänen in dieser sehr frühen Phase der Entwicklung wesentlich größer war als zu jedem anderen späteren Zeitpunkt.«
»Na, das ist ja abenteuerlich.« Herzog verzog zweifelnd das Gesicht.
»Wieso? Es war schon im Kambrium alles da. Später hat es sich nur immer weiter spezialisiert und verfeinert, das hast du doch selbst gesagt. Aber es gab eben gleichzeitig noch viel mehr, was nicht überlebt hat, Tiere mit einem Körperbau, wie es ihn später, nach ihrem Verschwinden, nie wieder gegeben hat.«
»Weil die anderen einfach besser waren.«
»Nein, eben nicht.«
»Sondern?«
»Ich kann es dir jetzt nicht mehr im einzelnen erklären, aber ... die überlebenden Arten hatten einfach Glück.«
»Aha! Glück.«
»Ja, der große Meteor fiel nicht ihnen, sondern den anderen auf den Kopf.«
Herzog schmunzelte. »Wirklich sehr überzeugend. Endlich haben wir die Erklärung.«
Tobias sah Micha verzweifelt an. »Sag du doch auch mal was. Wir haben doch schon oft darüber diskutiert.«
»Aber es ging immer nur darum, ob man in einer bestimmten Zeit voraussagen kann, wer aussterben wird und wer nicht. Diese Fossilien kenn ich nicht.« Micha sah ihn eigentlich ganz gerne so zappeln, ganz egal, ob er nun recht hatte oder nicht.
Tobias warf ihm einen bösen Blick zu. »Na, jedenfalls ist nach Meinung dieses amerikanischen Experten die übliche Darstellung der Evolution als Baum, der unten schmal ist und sich nach oben hin immer weiter verzweigt, falsch.«
»Und was schlägt er statt dessen vor?« Herzog amüsierte sich offenbar köstlich. Er hatte in der Zwischenzeit seine Pfeife gestopft und paffte genüßlich den übelriechenden Rauch in die klare Abendluft.
»Umgekehrt, eher eine Art Pyramide, unten mit einer breiten Basis, die sich nach oben hin verschmälert, wobei die überlebenden Äste sich immer weiter und feiner verzweigen. Warte mal!« Tobias blickte umher und suchte den Boden ab. »Gibt’s denn hier nichts .«
Er griff nach einem Stöckchen und kratzte in etwa die folgende, annähernd dreieckige Figur in den Sand des Lagerplatzes.
»So ist die herkömmliche Vorstellung des Stammbaums, wie man sie in fast allen Büchern findet: ein gemeinsamer Ursprung und davon ausgehend mit Fortschreiten der Zeitachse immer größere Vielfalt, immer mehr Verzweigungen, immer höhere Komplexität.«
»Logisch«, sagte Claudia. »Wie soll es denn sonst gewesen sein?«
Herzog hielt den Kopf schief, um die Figur besser betrachten zu können. »Er will das Ganze sozusagen auf den Kopf stellen.«
»Nicht ganz«, sagte Tobias. Neben der ersten entstand eine zweite, etwas kompliziertere Figur. Sie ähnelte entfernt einem Kamm, dem etliche Zähne fehlten.
»Natürlich wieder der gemeinsame Ursprung, dafür sind die Beweise einfach zu überwältigend. Fast alle Lebewesen haben denselben genetischen Code, ähnlichen Zellaufbau, ähnliche Biochemie und so weiter. Aber dann kam es relativ bald und in erstaunlich kurzer Zeit zu einer Aufspaltung in zahlreiche verschiedene Typen von Tieren mit jeweils unterschiedlichen Bauplänen, von denen später viele, wenn nicht die meisten, wieder ausstarben. Das nennt man Kambrische Explosion. Nur wenige dieser ursprünglichen Ideen entwickelten sich weiter und brachten eine große Artenfülle hervor. Vielleicht wiederholte sich dieses große Muster sogar in den einzelnen übriggebliebenen Ästen. Man nennt das auch Raketenschema. Die Säugetiergruppen sind ja auch alle in relativ kurzer Zeit entstanden.«
»Die Blütenpflanzen genauso«, fügte Claudia hinzu. »Daran beißen sich viele Evolutionsforscher noch heute die Zähne aus.«
»Dann wäre die Tierwelt in unserer Zeit ja im Grunde nur noch ein kümmerlicher Rest einstiger Vielfalt«, sagte Micha erstaunt. »Das, was sich irgendwie durchgemogelt hat.«
»Kümmerlich ist vielleicht etwas übertrieben, aber so ähnlich sieht es wohl aus, ja. Und wir können wirklich von Glück reden, daß unter den Überlebenden irgend etwas war, aus dem sich die Wirbeltiere entwickeln konnten. Sonst gab’s uns nämlich nicht, und das wär doch echt schade.«
»Na ja ...«, sagte Herzog.
Pencil knurrte, verließ seinen Platz an Claudias Seite und lief zum Ufer hinunter.
»Wie auch immer«, sagte Claudia, während sie Pencil hinterherblickte. »Es ist jedenfalls erstaunlich, daß nur Anpassung und Selektion zu dieser Artenvielfalt geführt haben sollen.«
Herzog nahm seine Pfeife aus dem Mund und schüttelte den Kopf. »Selektion ja, Adaptation mitnichten.«
»Jetzt erzähl mir bloß nicht, daß Organismen sich nicht so gut es geht, ihrer Umwelt anpassen.« Tobias stützte seinen gesunden Arm auf den Oberschenkel und starrte Herzog entrüstet an.
»Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber ich glaube wirklich nicht daran, daß jede noch so unbedeutende Struktur, jeder Farbfleck, jede abstruse Verhaltensweise ihren Besitzern einen Selektionsvorteil verschafft. Das ist doch ein Totschlagargument. Ein phantasievoller Beobachter kann sich für alles eine Erklärung ausdenken, irgendeinen angeblichen Anpassungswert, aber ob das stimmt, ist eine ganz andere Frage.«
»Wuff«, machte Pencil.
»Du brauchst gar nicht so zu gucken«, sagte Herzog zu Tobias. »Ich geb dir ein Beispiel. Faultiere koten nur etwa einmal in der Woche, was für einen Pflanzenfresser eine echte Spitzenleistung ist. Obwohl das extrem gefährlich für sie ist, klettern sie dazu von ihrem Baum herunter, scheißen neben den Stamm und vergraben dann ihre Exkremente. Ein ziemlich idiotisches Verhalten für ein Tier, daß auf dem Erdboden völlig hilflos ist. Worin, glaubst du, besteht also der Anpassungswert?«
»Es will durch seinen Kot keine Raubtiere auf sich aufmerksam machen«, schlug Claudia vor. »Pencil, komm her!« Der Dackel lief aufgeregt herum und bellte.
»Nicht schlecht, aber die gefährlichsten Feinde für Faultiere kommen nicht von unten, sondern von oben: Schlangen und Raubvögel.«
»Vielleicht düngen sie auf diese Weise ihren Wohnbaum, damit sie mehr zu fressen haben, ohne sich großartig von der Stelle bewegen zu müssen. Sind ja schließlich Faultiere«, sagte Micha und lachte.
»Genau.«
»Wie?«
»Du hast völlig recht«, sagte Herzog. »Das ist jedenfalls das, was den Experten dazu eingefallen ist. Angeblich soll das Faultier durch die erhöhte Vitalität des Baumes schließlich mehr Nachkommen erzeugen als ohne die Düngung. Absurd, nicht wahr? Dazu müßte es sich nicht extra nach unten bemühen. Außerdem wäre es unter diesen Umständen doch vernünftiger, viel häufiger als nur einmal in der Woche zu koten. Was ich sagen will, ist: Vielleicht gibt es gar keine vernünftige Erklärung für dieses selbstmörderische Verhalten. Natur hat nicht viel mit Vernunft zu tun. Warum haben alle Insekten sechs Beine, obwohl es sich mit vier oder acht oder hundert Beinen genausogut laufen läßt. Hat dieses Merkmal also einen adaptiven Wert?«
Herzog zog ein paarmal an seiner Pfeife. »Und um auf deine Stammbäume da zurückzukommen . « Er zeigte auf die Zeichnungen im Sand. »Ich glaube nicht, daß dein Amerikaner recht hat.«
Tobias sah ihn herausfordernd an. »So. Und warum nicht?«
»Intuition, Gefühl.«
»Schsch«, machte Claudia. »Sei endlich ruhig, Pencil!«
»Gefühl?« Tobias legte ein mitleidiges Lächeln auf. »Das sagst ausgerechnet du? Klingt für mich nicht sehr überzeugend.«
»Vielleicht, aber Glück ist in diesem Zusammenhang auch kein besonders überwältigendes Argument.«
Micha glaubte nicht, daß Herzog wirklich meinte, was er sagte. Es war ein Spiel und Tobias ein dankbares Opfer für Scherze dieser Art.
»Hm«, knurrte Tobias verständnislos, stand auf und wischte einmal mit dem rechten Turnschuh quer über seine Zeichnungen. »Nur weil es uns nicht paßt, muß es ja nicht falsch sein. Was hat denn die dumme Töle?«
Pencil hatte unten am Flußufer Stellung bezogen und kläffte die Nacht an.
»Ich weiß auch nicht«, sagte Claudia und zuckte mit den Achseln. »Wahrscheinlich irgendein Tier.«
»Vielleicht ist er das Vagabundenleben nicht mehr gewöhnt«, schlug Micha vor.
»Quatsch!«
»Hallo!«
Herzogs Kopf fuhr herum. »Habt ihr das gehört?«
»Was?«
»Da hat jemand >hallo< gerufen.«
»Hier? Du spinnst!« sagte Tobias noch immer verärgert.
»Hallo! Ist da jemand? Hallo!«
Sie sprangen auf, als hätten sie in einem Ameisennest gesessen.
»Wer, zum Teufel, kann das sein?« fragte Claudia und ergriff Michas Arm.
»Keine Ahnung«, sagte er nicht besonders beunruhigt. Immerhin waren sie zu viert, und außerdem kündigte sich dieser Jemand ja laut genug an. Wenn das ein Überfall sein sollte, dann war er ziemlich dilettantisch vorbereitet.
»Hallo! Keine Angst!« Jetzt hörte man Schritte im Ufersand. »Sie kennen mich. Mein Name ist Helmut Axt.«
»Helmut Axt?« fragten Claudia und Herzog wie aus einem Mund.
»Das war doch dieser Typ aus Messel, der von dem Vortrag, erinnerst du dich, Micha? So hieß der doch. Was . « Aber bevor Tobias ausreden konnte, sah man eine keuchende Gestalt aus dem Dunkel stolpern. Pencil kläffte sich die Seele aus dem Leib.
Der Mann trat noch ein paar Schritte näher - Herzog, hatte inzwischen die Hand an seinem imposanten Buschmesser -, dann wuchtete er seinen Rucksack vom Rücken, stand einfach nur da und grinste, während sich seine Brust hob und senkte.
»‘n Abend«, sagte er.
Micha erkannte den nächtlichen Besucher, obwohl der jetzt einen Bart trug. Es war der Paläontologe aus Messel, den er damals nach dem Käfer gefragt hatte. Seltsam, dachte er, daß auf dieser Reise andauernd aus dem Nichts Leute auftauchen, mit denen niemand gerechnet hat. Erst Claudia, dann Herzog und jetzt dieser Axt. Was hatte das zu bedeuten?
Eine Weile sagte niemand etwas, selbst Pencil hielt die Klappe. Dann steuerte Axt zielstrebig auf Tobias zu und streckte ihm die Hand hin.
»Sie müssen Tobias sein. Sie glauben gar nicht, wie froh ich bin, Sie zu sehen.«
Tobias sah ihn an, wie man einen Geist ansehen würde, wenn er auf einen zukäme, um einem die Hand zu schütteln. Als er nicht reagierte, zeigte Axt auf Tobias’ Lehmverband. »Was ist mit Ihrem Arm passiert? Gebrochen?«
Tobias starrte ihn finster an und zeigte weiterhin keinerlei Reaktion. Axt drehte sich um und wandte sich Micha zu.
»Und Sie sind Michael. An mich erinnern Sie sich ja vielleicht noch.«
»Hm«, sagte Micha. »Ja, ich erinnere mich.«
Axt nickte freundlich. »Und Sie beide sind eine echte Überraschung für mich, das muß ich sagen.« Er schaute Claudia an, die immer noch neben Micha stand und seinen Arm festhielt.
»Das ist Claudia, meine Freundin«, sagte Micha und ihm fiel gar nicht auf, daß er dieses Wort in Zusammenhang mit ihr zum ersten Mal in den Mund nahm. Er spürte, wie ihre Hände an seinem Arm fester zudrückten.
»Vielleicht können Sie uns mal erklären, was Sie hier zu suchen haben?« fragte Tobias mit scharfer Stimme.
Er und Herzog, der sich immer noch an seiner Machete festhielt, standen jetzt dicht nebeneinander. Passen eigentlich gar nicht schlecht zusammen die beiden, dachte Micha, wie Vater und Sohn. Er konnte sich zuerst nicht recht erklären, warum sie so feindselig auf Axt reagierten, der nun wirklich keine Bedrohung für sie darstellte. Aber dann verstand er, was in ihren Köpfen vorging. Sie brachten ihn mit den Fallen in Verbindung, mit den von Gazehauben verhüllten Baumblüten, die sie im Dschungel entdeckt hatten, mit den Explosionen, die laut Herzog zu dem Erdrutsch geführt und einen ganzen Moorsee verschüttet hatten. Sie dachten, er sei womöglich der große Unbekannte, der hier sein Unwesen trieb.
Natürlich wunderte sich auch Micha darüber, daß dieser Mann plötzlich auftauchte wie eine Geistererscheinung. Er glaubte nicht, daß Axt etwas mit den mysteriösen Vorgängen zu tun hatte, aber genau konnte man so etwas natürlich nie wissen. Wie sah jemand aus, der versuchte vergangenes Leben zu manipulieren? Wie Boris Karloff als Frankensteins Monster? Er schien im übrigen gewußt zu haben, daß sie hier waren, hatte sie mit Namen begrüßt. Wie konnte er das wissen? Vorsicht war sicher angebracht.
Pencil war nach seiner Hysterie und dem darauffolgenden Erschöpfungszustand in die Phase ängstlicher Neugier hinübergewechselt. Vorsichtig beschnüffelte er Stiefel und Rucksack ihres Besuchers, immer auf der Hut, um beim geringsten Anzeichen von Gefahr sofort den Rückzug anzutreten und wieder loszubellen. Der kleine Kerl war ein Phänomen. Micha konnte mittlerweile nachvollziehen, warum Claudia so an ihm hing.
»Ja, also . « Axt wirkte jetzt verlegen und blickte immer wieder verstohlen zu Herzog hinüber, der keine Anstalten machte, sich vorzustellen. »Ich will Ihnen gerne erklären, warum ich hier bin und wie es dazu gekommen ist. Aber wollen wir uns nicht vielleicht setzen?« Verunsichert blickte er von einem zum anderen. »Es ist eine längere Geschichte, wissen Sie. Ich meine, ich kann’s ja selbst kaum glauben.« Er machte eine hilflose Geste, die ihre Gruppe, ihn selbst, den Fluß, die Bäume, überhaupt alles einschließen sollte.
Einen endlos erscheinenden Moment lang geschah nichts. Sie standen bewegungslos um das Feuer, das gespenstische Figuren in die Finsternis malte. Irgendwo rief ein Vogel. Axt wurde immer nervöser. Als er sich von der Stelle rührte, fing Pencil an zu knurren, und obwohl der kleine Dackel nicht besonders bedrohlich wirkte, zuckte ihr Besucher sofort zusammen.
»Bitte, hören Sie mich doch an. Bei uns gehen seltsame Dinge vor.« Seine Stimme hatte einen flehenden Tonfall angenommen, und er sah jetzt erschöpft und müde aus. »Ich bitte Sie«, sagte er noch einmal. Sein gehetzter Blick zeigte, daß ihm ganz und gar nicht wohl war in seiner Haut. »Geben Sie mir doch eine Chance!«
Claudia war die erste, die reagierte. Sie ließ Michas Arm los, hockte sich auf einen der Baumstämme, die neben dem Feuer lagen. Dann folgten Micha und schließlich Herzog.
»Danke«, sagte Axt, und seine Erleichterung klang aufrichtig. Er hockte sich im Schneidersitz auf den Boden, schaute sie reihum an. »Sie haben wirklich nichts von mir zu befürchten, glauben Sie mir!«
»Also, wir hören«, sagte Tobias.
»Tja, wo soll ich anfangen?« Axt rieb sich mit der Hand über das Gesicht. »Es ist eine ziemlich verwirrende Geschichte, wissen Sie.«
Natürlich erzählte er ihnen nichts von dem Skelett, Tobias’ Skelett. Er konnte ihm ja wohl kaum ins Gesicht sagen, daß er ihn gefunden hatte, als fünfzig Millionen Jahre altes Fossil, in Ölschiefer konserviert, daß er in äußerster Lebensgefahr war, solange er sich hier aufhielt. Nein, das war völlig ausgeschlossen. Sie hätten ihm kein Wort geglaubt. Er mußte sich etwas anderes überlegen.
Sein erstes Ziel hatte er jedenfalls erreicht. Noch lebte Tobias. Das war schon mehr, viel mehr, als er bei ehrlicher Einschätzung der Lage erwarten durfte. Immer wieder sah er das Röntgenbild vor sich, das er so oft angestarrt hatte. Welches unbeschreibliche Gefühl, ihm gegenüberzustehen, einem Menschen aus Fleisch und Blut, auch wenn er sich zunächst so abweisend verhielt und seine ausgestreckte Hand ignorierte! Ihm war diese dürre Gestalt nicht gerade sympathisch, aber darum ging es nicht. Der Zahndiamant blinkte hin und wieder im Schein des Lagerfeuers auf. Ohne diesen seltsamen Stein hätte er ihn nie erkannt. Und jetzt stand er tatsächlich vor ihm, von Angesicht zu Angesicht, und er mußte nur noch aufpassen, daß ihm nichts passierte. Vielleicht konnte er sie ja irgendwie überreden, wieder zurückzufahren.
Wer war dieser ältere Mann mit dem krausen Bart? Er verunsicherte Axt. Sein Miene war undurchdringlich, alles andere als freundlich. Er starrte ihn finster an und legte seine Hand immer wieder drohend auf diese furchteinflößende Machete, die er an seinem Gürtel trug. Bisher hatte er noch kein Wort gesagt. Wo kam er her? Wie hatten sie ihn getroffen?
Während dieser schrecklichen Minuten, als niemand etwas sagte, als das Feuer und seine müden Augen die Gesichter der vier für kurze Zeit in diabolische Fratzen verwandelten, als sie ihn schweigend anstarrten wie ein Trupp ausgehungerter Kannibalen, hatte er fieberhaft überlegt, was er sagen sollte, wenn sie ihn denn überhaupt zu Wort kommen ließen, und schließlich war ihm die Geschichte mit Sabines Fledermaus eingefallen. Wie sich bald herausstellte, hatte er damit genau ins Schwarze getroffen. Je mehr er davon erzählte, von den Skeletten in aller Welt, die einfach verschwanden, von dem Käfer, den Sonnenberg ihm geschenkt hatte, die ganze lange Geschichte, die ihm jetzt, wo er sie im Zusammenhang darstellen mußte, erneut eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken jagte, desto mehr erwachte ihr Interesse, desto aufmerksamer wurden ihre zunächst so abweisenden Gesichter, desto freundlicher und besorgter wurde der Ton ihrer Zwischenfragen.
Irgendwann streckte ihm der ältere Mann eine von harter Arbeit gezeichnete Hand entgegen und sagte: »Ich bin übrigens Ernst Herzog.« Dann brummte er: »Tut mir leid, daß ich so unfreundlich war, aber man kommt hier langsam aus der Übung, was menschliche Umgangsformen angeht.«
Axt stutzte. »Moment mal! Ernst Herzog? Sind Sie etwa der Ernst Herzog, der ...«
Als Herzog nickte, machte Axt ein derart verblüfftes Gesicht, daß Claudia lachen mußte, und kurze Zeit später lachten alle -bis auf Tobias.
»Also wissen Sie, bei dieser Geschichte ist mir ja schon so einiges untergekommen, aber das ist unfaßbar. Ich ... ich weiß gar nicht . ich bin einfach sprachlos«, stotterte Axt, und sein Gesicht glühte vor Freude. »Wissen Sie, woran mich das erinnert? An diesen Henry Morton Stanley damals in Afrika.«
»Dr. Livingstone, I presume?«, sagte Micha mit verstellter Stimme, und die ganze Gesellschaft brach erneut in schallendes Gelächter aus.
»Sie können sich sicher denken, wie viele Fragen mir durch den Kopf gehen«, sagte Axt und wischte sich einige Tränen aus den Augenwinkeln. Da hatte er nach zwei Berliner Studenten gesucht, und wen traf er? Er hätte es nicht für möglich gehalten, daß es nach all den Ereignissen der letzten Wochen und Monate noch eine Steigerung geben konnte. Ernst Herzog, der seit langem vermißte große deutsche Paläontologe war hier? Die ganze Geschichte wurde immer verrückter, und er konnte nur hoffen, daß diese unerwartete Entwicklung für das, was er noch zu tun hatte, ein gutes Omen war.
»Ja«, sagte Herzog und war jetzt wieder sehr ernst, »das kann ich mir vorstellen, aber wir müssen das auf ein andermal verschieben. Mich interessieren jetzt die verschwundenen Fossilien.«
Herzog stellte einige detaillierte Fragen, die Axt beantwortete, soweit ihm das möglich war. Er mußte sich dabei sehr zusammenreißen, daß ihm in all der Aufregung nicht eine verräterische Bemerkung über das Homo sapiens-Skelett herausrutschte.
Herzog fragte, welche Art von Fossilien genau verschwunden seien, wie alt sie waren und ob ihm noch mehr seltsame oder irgendwie unerklärliche Phänomene bekannt seien. Dann erzählte er von dem Grund ihres Ausfluges, von den Fallen, den Gazehauben, dem Erdrutsch, und daß er ernsthaft beunruhigt sei. Er befürchte, daß hier jemand Schindluder mit dem Geheimnis der Höhle trieb. Er habe zwar keine Beweise, aber eine innere Stimme sage ihm, daß Gefahr im Verzug sei.
Axt war entsetzt und bot sofort seine Hilfe an. So erschrek-kend sich Herzogs Verdacht auch anhörte, für Axt war es eine gute Nachricht. Wenn die Fledermausskelette verschwinden konnten, weil anscheinend irgend etwas verhindert hatte, daß die Tiere in den Messeler See oder seinen Zufluß fielen, dann konnte theoretisch auch Tobias’ Skelett wieder verschwinden. Und das hieß, ja, war der Beweis dafür, daß er eine reelle Chance hatte. Sein Vorhaben konnte gelingen, er mußte nur aufpassen, Augen und Ohren aufsperren und Tobias nicht von der Seite weichen. Allzulange würde es nicht mehr dauern. Sie waren ja im Grunde schon auf dem Rückweg. Das war eine weitere gute Nachricht.
Der See
Jetzt waren sie zu fünft. Im Gänsemarsch folgten sie dem Flußlauf, Herzog, der es nun noch eiliger hatte und ein enormes Tempo vorlegte, vorneweg. Micha, der mit Claudia und Pencil den Schluß der Gruppe bildete, verlor den Anschluß und fiel immer weiter zurück. Erst als Herzog zu einer kurzen Mittagsrast anhielt, holte er die anderen wieder ein.
Axt, Herzog und Tobias sprachen schon wieder über den Unbekannten. Seit dem Abend schien es kein anderes Thema mehr zu geben. Schon beim Frühstück hatten sie aufgeregt darüber debattiert, und auch in den Tagen danach sollte es bei jeder sich bietenden Gelegenheit um diesen Fallensteller und die möglichen Konsequenzen seiner Aktivitäten gehen. Selbst spät abends, wenn Micha und Claudia, die jetzt immer zusammen im Zelt schliefen, in ihren Schlafsäcken lagen, kamen sie nicht davon los.
Die ganze Aufregung erschien Micha anfangs übertrieben. Erst nach und nach wurde ihm klar, was Herzog und Axt so beunruhigte. Nachdem er durch Axt von den Vorgängen in Messel erfahren hatte, wirkte der Eozän alarmiert, wie aufgezogen. Er war kaum wiederzuerkennen in seiner rastlosen Unruhe und drängte jeden Morgen auf einen zeitigen Aufbruch, damit sie möglichst schnell den Dschungel erreichten.
Jemand spielte hier mit einer höchst sensiblen Materie herum, der Geschichte des Lebens. Das Tor in die Vergangenheit, durch das sie geschlüpft waren, eröffnete die Möglichkeit der Manipulation. Darüber hatte er vorher naiverweise nie nachgedacht. Man konnte von Glück sagen, daß die Höhle nur in das Tertiär führte und nicht in einen viel länger zurückliegenden Abschnitt der Erdgeschichte. Anders als in späteren Erdzeitaltern, wo eine schon seit Millionen Jahren eingespielte Ökologie mit einer Vielzahl von spezialisierten und voneinander abhängigen Lebensformen ein kompliziertes und relativ stabiles Netz gewoben hatte, waren die Anfänge, die ersten zaghaften Versuche in eine neue Richtung leicht verwundbar und von geringer Widerstandskraft. Mitten in dieses sensible, gerade erwachende Leben wären sie mit ihrem naiven touristischen Entdeckergeist hineingeplatzt und hätten womöglich aus purer Unachtsamkeit eine Katastrophe angerichtet.
Neue Tier- und Pflanzenarten entstanden nicht nur in den Pionierphasen, die auf die globalen Massensterben folgten und die dadurch gerissenen Lücken wieder auffüllten. Auch in den scheinbar ruhigen Zwischenzeiten, auch jetzt hier um sie herum, auch in der fernen Zukunft, in der ihr Zuhause lag, überall und zu jedem Zeitpunkt entstanden in einem langsamen und daher unsichtbaren Prozeß neue Lebewesen, vielleicht sogar die zunächst unscheinbaren Urahnen einer erst viele Millionen Jahre später erfolgreichen und blühenden Organismengruppe.
Das erste Wirbeltier oder sein Vorläufer hatte bestimmt nicht sehr eindrucksvoll ausgesehen, und wenn es von irgendeinem primitiven Urraubtier gedankenlos verspeist, in einem plötzlichen Regenguß ertrunken, von einem Erdrutsch verschüttet oder von einer Mausefalle erschlagen worden wäre, wer weiß, ob die Natur oder die Evolution dieselbe Idee noch ein zweites Mal hervorgebracht hätte. Um so hochentwickelte, imposante Gestalten wie die Dinosaurier vom Planeten zu fegen, hatte es schon einer Katastrophe globalen Ausmaßes bedurft, bei weniger robusten Kreaturen genügte vielleicht schon ein Tritt, und das Antlitz des Planeten wäre ein anderes gewesen.
In letzter Konsequenz war jedes einzelne Individuum, ob Pflanze oder Tier, in seiner Art einzigartig, eine vom Zufall ausgewürfelte Kombination von Eigenschaften, die in genau dieser Zusammenstellung möglicherweise nie wieder auftreten würden, und wer konnte schon sagen, ob in der gerade vernichteten Pflanze oder dem achtlos zertretenen Wurm nicht der Keim für die künftigen Herrscher der Erde gelegen hatte. Man konnte die Vorsicht der indischen Jainas, die vor jedem Schritt den Weg vor sich fegen, um ja nichts zu zertreten, für ziemlich übertrieben halten, angesichts dieser Gedanken jedoch erschien ihr Verhalten plötzlich in einem ganz anderen Licht.
Vielleicht gab es ja immer nur genau einen Ort, einen Zeitpunkt, an dem sich eine neue Idee in der Natur durchsetzen konnte. Wurde dieser Moment verpaßt oder geschah etwas Unvorhergesehenes, war die Chance vertan, und die Welt würde nie erleben, welche verborgenen Möglichkeiten in genau dieser Idee gesteckt hatten.
Natürlich gibt es so etwas wie physikalische Gesetze und optimale Lösungen für bestimmte Probleme. Wenn etwas im Wasser schnell schwimmen wollte, war die Spindelgestalt aus strömungstechnischer Sicht am günstigsten, und ganz egal, wer sich auf diesen Weg begibt, ob Fisch, Säugetier, Vogel oder Weichtier, nach den Gesetzen der Evolution würde stets etwas Spindelförmiges dabei herauskommen. Wer in weichem Substrat oder als Parasit in den Körpern großer Wirtstiere lebte, war dagegen mit der Wurmgestalt am besten bedient. Für beides liefert die Natur zahllose Beispiele. Ein unabänderliches Diktat der Physik.
Sicherlich hatte es auch Zeiten gegeben, in denen bestimmte Entwicklungen gewissermaßen in der Luft lagen und eine große Zahl von Lebewesen nur eine Winzigkeit vom entscheidenden, revolutionären Schritt entfernt waren. Die Wahrscheinlichkeit, daß mehr als nur ein Organismus diesen Schritt tatsächlich irgendwann tat, war dann sehr groß. Wurde der richtige Zeitpunkt aber verpaßt, war der Platz, der für das allererste dieser Wesen frei gewesen wäre, vielleicht aus einer ganz anderen Richtung schon besetzt.
Vielleicht hätten ja auch seltsame rote schleimige Algenkissen die Gunst der Stunde nutzen und das Land als erste in Besitz nehmen können, so daß sich etwaige Nachfolger, zum Beispiel die grünen Pflanzen, mit einem Stehplatz begnügen müßten. Zu einer Randexistenz verurteilt und auf Grund des großen Entwicklungsvorsprungs ihrer Konkurrenten hoffnungslos zurückgefallen, wären sie anstatt zu Bäumen, Gräsern und Blumen vielleicht zu form- und bedeutungslosen grünen Klumpen geworden. Und wer weiß, vielleicht hätte die Flora und Fauna der Erde ein gänzlich andersartiges Aussehen angenommen, wenn nicht Individuum A, sondern B den entscheidenden Schritt an Land gewagt hätte, weil B sich in vielen kleinen Details von A unterschied.
Die Möglichkeiten und Konsequenzen dieser Gedanken waren so schwindelerregend, daß Micha kaum wagte, sich von der Stelle zu bewegen, aus Angst, mit einer unachtsamen Bewegung, einem unvorsichtigen Schritt, ja, einem einfachen Atemzug die Fauna und Flora ferner Erdzeitalter zu vernichten.
Aber er mußte bald einsehen, wie unsinnig diese Angst war. Der freigewordene Platz würde ja von jemand anderem eingenommen werden. Nur das Verschwinden der einen ermöglichte das Aufblühen der anderen Gruppe. Ohne das Aussterben der Trilobiten hätten viele andere Meereslebewesen vielleicht nie eine Chance zur Entfaltung bekommen, und ohne die Vernichtung der Dinosaurier wären die Säugetiere möglicherweise die kleinen, nachtaktiven, scheuen Wesen geblieben, die sie im Erdmittelalter waren, mit großer Sicherheit aber wäre der Mensch so nie entstanden.
In der großen Lotterie des Lebens, im permanenten Auf und Ab des Werdens und Vergehens wurden die Hauptgewinne immer wieder neu verteilt. Wer heute eine Niete zog, in einer verborgenen und geschützten Nische aber am Leben blieb, erwischte morgen vielleicht das große Los.
Daß ihre eh schon arg gebeutelte Welt in der jetzt so fernen Neuzeit auf diese hinterhältige Weise, durch die Ignoranz abenteuersuchender Urzeittouristen oder den Größenwahn irgendwelcher Möchtegerngötter gefährdet werden könnte, hätte Micha sich selbst im Traum nie vorzustellen gewagt.
Hätte er um diese Gefahr gewußt, er wäre nie soweit gefahren.
Aber mit Sicherheit war ihr Besuch harmlos im Vergleich zu dem, was passierte, wenn die Wissenschaft von der Höhle Wind bekam. Genau das war ja Herzogs große Befürchtung. Vielleicht hatten sie es hier mit jemandem zu tun, der sich die Möglichkeiten der Höhle ganz bewußt zunutze machte. Was, wenn hier tatsächlich jemand mit der Geschichte des Lebens herumexperimentierte? Werkzeuge, die den Wissenschaftlern durch Zufall in die Hände fielen und neue Wege der Forschung eröffneten, waren in der langen Geschichte der Naturwissenschaften selten ungenutzt geblieben. Wer gentechnologische Forschung betrieb und die Welt, trotz aller Risiken, mit transgenen Mischgeschöpfen bevölkern wollte, würde vor direkten Experimenten mit der Evolution nicht zurückschrecken.
Axt zitierte in diesem Zusammenhang den Ausspruch irgendeines schlauen Menschen. »Wer nur einen Hammer hat, dem erscheint die ganze Welt als Nagel«, hatte er gesagt.
»Ja«, brummte Herzog daraufhin, »und er wird sich damit verdammt leicht und sehr schmerzhaft auf die Finger hauen.«
Trotz der unheimlichen Möglichkeiten, die sich da als drohende Unwetterwolken abzuzeichnen begannen, kam Micha die Eile, die Herzog und Axt an den Tag legten, reichlich übertrieben vor. Die Chance, daß sie dem Unbekannten begegnen würden, war angesichts der riesigen Ausdehnung des Dschungels, die Herzog früher bei jeder Gelegenheit betont hatte, gleich Null. Zudem hatten sie ja mit eigenen Augen gesehen, wie unübersichtlich und unzugänglich das Gelände war. Es stellte ein so unüberschaubares Gewirr von Wasserläufen, Sumpfflächen, dichten Urwäldern und tückischen Schlammlöchern dar, daß die Chance, diesem Saboteur des Lebens, diesem Evolutionsterroristen, das Handwerk legen zu können, außerordentlich gering war. Daran festzuhalten grenzte fatal an Augenwischerei und eine tragische Verkennung der Realitäten. Andererseits, irgend etwas mußte geschehen. Wenn Herzogs Befürchtungen auch nur ansatzweise zutrafen, dann könnten sich in Zukunft statt fossiler Fledermausskelette noch ganz andere Sachen in Luft auflösen.
Ein weiterer Abend am Lagerfeuer und wieder ein Gespräch über die großen Tragödien in der Geschichte des Lebens, die Massenaussterben. Seltsam, daß es für ein solches Wort überhaupt einen Plural gibt.
»Und was wird aus all dem hier?« fragte Claudia. Die Frage war an alle gerichtet und eher rhetorisch gemeint. Sie wußte ja, daß in den Zoos der Zukunft keine Dinotherien, sondern Elefanten herumstanden. Aber sie schaute zu Axt hinüber, der neben Herzog am Feuer saß.
»Humus, was denn sonst«, antwortete Tobias. »Und Fossilien.«
Axt schmunzelte. »Ich würde sagen, eigentlich nichts Besonderes. Fast alle Phasen des Massenaussterbens gingen mit einer deutlichen globalen Abkühlung einher, und in etwa zehn Millionen Jahren wird es mal wieder soweit sein. Eine Generation von Säugetieren wird abtreten und einer neuen Platz machen. Das seit dem Zeitalter der Dinosaurier herrschende Treibhaus- wird relativ schnell in ein Kühlhausklima umschlagen. Was dann aus dieser tropischen Welt hier werden wird, kann man sich ja vorstellen. Alles, was lebt, wird versuchen nach Süden auszuweichen, Richtung Äquator. Die Lebensräume werden drastisch zusammenschrumpfen. Wenn sie Glück haben, schaffen sie es .«
»Siehst du, Ernst!« rief Tobias dazwischen. »Er spricht auch von Glück.«
Axt schaute irritiert. »Na ja, und wenn nicht ...«
Schweigen.
Typisch Wissenschaftler, dachte Micha. Wahrscheinlich hatte Claudia die Frage anders gemeint, irgendwie poetischer.
Seit ihm bewußt war, daß ihr Handeln hier die Zukunft und damit die Bedingungen ihrer eigenen Existenz mitbestimmte, bewegte er sich ganz anders, viel bewußter, vorsichtiger. Durch die Zeitreise war ihre eigene Gegenwart, das Holozän, zur fernen Zukunft geworden, und sie konnten nun zu Opfern ihrer eigenen Fehler werden.
Je näher sie dem Urwald kamen, desto seltsamer wurde das Verhalten von Helmut Axt. Micha war schon in den Tagen zuvor aufgefallen, daß der Paläontologe aus irgendeinem nicht recht nachvollziehbaren Grund die Nähe von Tobias suchte. Anfangs war er sich nicht sicher, aber jetzt war es nicht mehr zu übersehen. Er fand das verwunderlich, da Tobias Axt sehr kühl und distanziert behandelte, während er bei den anderen schon lange als gleichberechtigtes Gruppenmitglied akzeptiert war. Tobias hingegen würdigte ihn weiterhin kaum eines Blickes, widersprach ihm, wo er nur konnte, und zeigte alle Symptome einer ausgeprägten Antipathie. Trotzdem blieb Axt immer in seiner Nähe, behielt ihn stets im Auge. Wenn Tobias einmal außer Reichweite war, wurde er nervös, unterbrach eine Unterhaltung mitten im Satz und entfernte sich unter fadenscheinigen Begründungen vom Lager, um ihn zu suchen.
Als dann in einiger Entfernung die grüne Wand des Dschungels vor ihnen auftauchte, hing er an Tobias wie eine Klette und rückte ihm so auf die Pelle, daß Tobias einmal wutschnaubend herumfuhr und ihn anbrüllte, er solle ihm gefälligst nicht andauernd in die Hacken treten und dieses ewige Herum-geschwänzel gehe ihm total auf die Nerven. Er brauche keinen Aufpasser und einen Liebhaber schon gar nicht. Axt zuckte wie unter Schmerzen zusammen, schaute betreten zu Micha und den anderen hinüber und hielt fortan etwas mehr Abstand zu Tobias, ohne in seiner merkwürdigen Wachsamkeit nachzulassen.
Als sie den Dschungel erreicht hatten - sein dunkles Grün sah wunderbar aus -, hielt Herzog an und wartete, bis alle aufgeschlossen hatten. Sie befanden sich jetzt in der Nähe der Stelle, wo das Floß lagerte.
»Wir sind bald da«, sagte Herzog, der sich in das dichte Gras am Flußufer gesetzt hatte.
»Wo denn?« fragte Micha neugierig.
»Na, ich wollte euch doch noch etwas zeigen. Mein bescheidenes Abschiedsgeschenk sozusagen. Wir müssen noch etwa zwei Stunden zu Fuß gehen. Am besten wir ruhen uns etwas aus und lassen alles hier. Es ist nicht mehr weit, gleich dahinten.« Er zeigte auf den Urwald und lächelte vielsagend. Manchmal schien es Micha so, als habe Herzog trotz all der mit ihrem Erscheinen verbundenen Unruhe durch sie erst wieder lächeln gelernt.
Sie aßen noch eine Kleinigkeit und machten sich dann ohne Gepäck wieder auf den Weg. Niemand fragte, wo es hinging und was es dort zu sehen gab, und Herzog machte auch keine Anstalten, ihr Marschziel näher zu beschreiben. Es war kaum vorstellbar, daß es da nach allem, was sie erlebt hatten, noch irgend etwas geben sollte, das sie in Erstaunen versetzen könnte. Sie ließen sich einfach überraschen.
Sie entfernten sich wieder vom Fluß und liefen in einer Reihe schräg auf den Urwald zu. Herzog marschierte mit Tobias vorne weg, dahinter gingen Axt und Claudia, von Pencil gezogen, den sie an die Leine genommen hatte. Micha bildete wie immer die Nachhut.
In der Ferne, in der flachen Savanne vor den rauchenden Vulkanen weideten große Herden. Es waren sicher Uintatheri-en oder die Donnertiere, die sie damals am Flußufer beobachtet hatten. Es war ein grandioses Ausblick und erinnerte an die berühmten Safaribilder vor dem schneebedeckten Gipfel des Kilimandscharo.
Je näher sie dem Dschungel kamen, desto lauter und vielfältiger wurden die Geräusche, desto höher ragte der Wald auf, fast übergangslos, nur durch einen schmalen Buschstreifen von dem Grasland mit seinen vereinzelten Bauminseln getrennt. Einige der alten, ehrfurchtgebietenden Urwaldriesen mochten fünfzig, sechzig Meter hoch sein. Ihre weit ausladenden Äste trugen schwer an vielerlei Aufwuchs, bildeten in schwindelerregender Höhe eigene kleine unerreichbare Miniaturwälder.
Herzog zückte sein Buschmesser, lief eine Weile suchend hin und her und begann dann einen kleinen Pfad, wahrscheinlich einen Wildwechsel, freizuschlagen und zu verbreitern. Die anderen folgten ihm. Langsam bahnten sie sich ihren Weg, stiegen über abenteuerlich verwachsene und verschlungene Brettwurzeln, duckten sich unter dichtem, dornigem Buschwerk und baumelnden Lianen hindurch, schwiegen, schwitzten und schauten. Je tiefer sie eindrangen, desto schwerer wurde die Luft, beladen mit Feuchtigkeit und den Düften der Pflanzen und der modrigen Erde. Michas Augen schwelgten in Braun und Grün, dem Braun abgestorbener Blattriesen, des Bodens und der Baumrinden und dem Grün dieser Vegetationsflut, so dicht und unentwirrbar, daß es oft unmöglich schien zu sagen, welche Blätter zu welcher Pflanze gehörten, wo das eine Gewächs aufhörte und das andere begann. Hier und da leuchtete, von einem verirrten Sonnenstrahl getroffen, ein Blatt oder ein Farnwedel auf und malte einen scharfen Schatten.
Fast unmerklich führte der Pfad bergab, und plötzlich hob sich der grüne Vorhang und gab den Blick auf eine stille schwarze Wasserfläche frei.
»Wir sind da«, sagte Herzog und breitete die Arme aus.
Es war ein Ort so schön wie das Paradies, friedvoll und doch überquellend von Leben. Der See war fast kreisrund, aber seine Ufer waren nur schwer auszumachen. Rechts wuchs dichtes Pflanzengestrüpp im flachen Wasser. Einzelne Äste weit ausladender Baumriesen ragten auf die dunkle Wasserfläche hinaus, die stellenweise von einem blühenden Teppich jener weißen Seerosenart bedeckt war. Links war das Ufer steiler. Etwa zweihundert Meter weiter mündete ein Dschungelfluß in den See.
Auf den Messeler Paläontologen schien die Szenerie den größten Eindruck zu machen. Axt stand wie angewurzelt, stützte sich schließlich mit der Rechten an einem Baumstamm ab und starrte mit offenem Mund auf die Wasserfläche hinaus. Seine Lippen bewegten sich in stummer Verblüffung. Für einen Moment schien er vollkommen abwesend zu sein.
Als Tobias einen Schritt vorwärts machen wollte, hielt Herzog ihn am Arm fest. »Vorsicht, die Ufer sind tückisch. Schwimmrasen, verstehst du, und dicker, zäher Morast. Außerdem steigen giftige Gase auf. Es ist sehr gefährlich. Haltet lieber Abstand.« Tobias nickte, zwängte sich aber laut raschelnd durch die dichte Vegetation, als Herzog seinen Arm losließ. Axt, der aus seiner Starre wieder erwacht war, wirkte nun noch nervöser als sonst und folgte ihm wenige Sekunden später.
Sie verteilten sich. Jeder streifte auf eigene Faust durch das Dickicht. Herzog hockte sich auf eine Brettwurzel, begann seine Pfeife zu stopfen und verfolgte ihre Begeisterung mit gütigem Lächeln, wie ein Vater, der amüsiert und stolz den ersten Gehversuchen seiner Kinder zuschaut.
Es dauerte nicht lange, bis Micha die anderen aus den Augen verloren hatte, abgelenkt von der spektakulären Natur und den vielen Entdeckungen, die er machte. Einiges davon hatte er schon damals auf dem Floß gesehen, als die Insekten in Massen ihre Lampe anflogen, aber er entdeckte auch viele Arten, die ihm unbekannt waren. Trotzdem fehlte ihm die normalerweise angesichts einer derartigen tropischen Idylle gebotene Begeisterung. Er war mit seinen Gedanken nicht recht bei der Sache. Ein wehmütiges Gefühl ließ ihn irgendwann stehenbleiben und gedankenverloren mit den Blättern eines rotblühenden Strauches herumspielen.
Morgen oder übermorgen würden sie umkehren und nach Hause fahren. Ausgerechnet an diesem herrlichen Ort überkam ihn aus heiterem Himmel die Vorstellung, wie es sein würde, bald wieder in einer Stadt zu leben, umgeben von Häuserschluchten, hupenden Autos, von Tausenden und Abertausenden von Menschen, die keine Ahnung davon hatten und auch nie haben durften, was sie hier erlebt hatten. Der Gedanke schmerzte ihn so sehr, daß ihm schwindlig wurde. Wie sollte das gehen, wie sollte er das aushalten? Würde er vor lauter Lügen nicht bald vergessen, was er gesehen hatte? Was hatte diese Reise aus ihm gemacht? Aber da war Tobias, und vor allem Claudia. Das war mehr als ein Hoffnungsschimmer. Sie würden sich helfen.
Micha wußte nicht mehr, wie lange er schon durch den Wald gestreift war, als er Herzog laut rufen hörte. Sie hatten verabredet, noch heute zurück zum Fluß zu laufen, um dort die Nacht zu verbringen. Morgen früh wollten sie dann versuchen, mit Hilfe des Floßes zu dem seltsamen Baum mit den Gazehauben zu gelangen. Es müßte eigentlich problemlos möglich sein, ihn wiederzufinden, denn er befand sich in unmittelbarer Nähe des Ufers. Danach würden sie nach Hause aufbrechen.
Einer nach dem anderen trudelte wieder ein, zuerst Claudia und Pencil. Als Tobias durch die dichte Vegetation trat, verdrehte er die Augen und deutete mit einer kurzen Kopfbewegung nach hinten an, was ihn so genervt hatte. Keine zwei Meter hinter ihm folgte Helmut Axt.
Der Paläontologe sah schrecklich aus. Er war schweißüber-strömt, kreidebleich und zitterte wie Espenlaub. Micha vermutete, daß ihn dieser See mitten im Urwald so beeindruckte. Wahrscheinlich hatte er in ihm das lebende Pendant zu seiner toten Grube Messel gefunden, zweifellos eine eindrucksvolle Erfahrung, die er erst einmal verdauen mußte.
Axt beruhigte sich etwas, als sie alle schweigend beisammen saßen und den Urwaldgeräuschen lauschten. Die Stimmung war etwas bedrückt.
Plötzlich sprang Herzog auf und starrte zum Seeufer hinunter.
»Was ist?« fragte Tobias.
»Ich dachte, ich hätte etwas gesehen.«
»Ein Tier?« fragte Micha.
Sie starrten angestrengt in das Blätterwirrwarr, aber je länger sie dort hineinsahen, desto weniger war zu erkennen, so dicht war das Grün, so verwirrend waren die ineinander und miteinander verwachsenen Äste der Bäume und Sträucher.
»Da unten, da ist jemand«, schrie Tobias plötzlich.
»Wo?«
»Da!« Er zeigte aufgeregt irgendwohin in das Grün des Dschungels. »Den kauf ich mir«, zischte er und im nächsten Moment war er im Dickicht verschwunden.
»TOBIAS!«
Axt stand wie versteinert da. Sein Gesicht zeigte einen derart entsetzten Ausdruck, daß Micha das Blut in den Adern gefror. Aus diesem Schrei, bei dem sich Axts sonst so ruhige Stimme fast überschlagen hatte, sprach so viel Angst, ein solches Maß an Bestürzung, daß Micha keinen Moment zögerte und sofort losrannte.
So schnell er konnte, lief er durch das dichte Gestrüpp. Ohne darauf zu achten, wohin er trat, stürzte er durch den Wald, hastete durch die dichte Vegetation, in seinen Ohren noch das Echo dieses Schreies, das ihn vorantrieb. Er spürte kaum, wie ihm die Äste ins Gesicht schlugen, wie er sich an scharfen Dornen die nackten Arme und Beine aufriß. Fast blind hetzte er dorthin, wo er das Seeufer vermutete.
»Tobias!«
Das war wieder Axt. Er mußte irgendwo rechts von ihm sein. Es war ein Kreischen, fast unmenschlich, voller Qual.
Micha kämpfte sich weiter voran. Irgendwo bellte Pencil. Von unten hörte man Stimmen, einen heftigen Wortwechsel. Er blieb stehen und lauschte, versuchte zu orten, von wo genau die Stimmen kamen. Er erkannte Tobias, aber wer war der andere? Dann plötzlich ein seltsames Stöhnen und Ächzen. Kampfgeräusche. Ein heftiges Blätterrascheln, das Brechen von Ästen, dumpfe Laute, als ob jemand auf den Boden gestürzt war, der spitze Schrei einer Frau. Wer war das? War Claudia schon da unten? Wie hatte sie dorthin gefunden? War ihr etwas passiert? Plötzlich ein lautes Klatschen, wilde tierhafte, gequälte Laute. Sie mußten ins Wasser gefallen sein, schlugen dort wild um sich, kämpften. Immer wieder dieses Stöhnen.
Jetzt hörte er Tobias schreien. Angst, Todesangst klang aus seiner Stimme, und Micha rannte noch schneller, er stolperte und fiel: Nein, es reicht, nicht noch eine Katastrophe, das ertrage ich nicht, das ist zuviel. Er brach durch eine Blätterwand und stand plötzlich keuchend neben Herzog, der wie gebannt auf den See hinausstarrte.
Dann sah er, was passiert war. Tobias steckte bis zur Hüfte in zähem, schwerem Morast, der nur wenige Meter daneben aussah wie festgetretene Erde. Mit der Hand seines gesunden Armes klammerte er sich an einem federnden moosbewachsenen Ast fest.
Nein, nicht schon wieder, dachte Micha. War denn einmal nicht genug? Er spürte wie ihm das Blut in den Kopf schoß. Einen Moment lang stand er unbeweglich da, paralysiert von seiner Wut und dem dagegen ankämpfenden Schuldgefühl. Mit wachsendem Entsetzen verfolgte er, wie Tobias um sein Leben kämpfte. Sein Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt. Immer wieder versuchte er verzweifelt, unter ängstlichem Keuchen mit dem verletzten Arm den Ast zu greifen, fand aber keinen Halt, fiel zurück und rutschte jedesmal ein Stück tiefer in den Sumpf.
»Da ist noch jemand. Eine Frau!« Das war Claudias Stimme. Irgendwie hatte sie den Weg zu ihm und Herzog gefunden.
Jetzt sah er sie auch. Nur wenige Meter von Tobias entfernt steckte eine Frau im Morast und drohte wie er zu versinken.
Nur noch ihr Kopf schaute heraus. Eine bunte Kappe war halb von ihren Haaren gerutscht, und lange schwarze Strähnen hingen in den sumpfigen Matsch. Todesangst hatte das schöne Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Sie wurde unaufhaltsam in die Tiefe gezogen. Sie schrie.
»Mein Gott, das ist ja Ellen«, schrie Micha und war wie gelähmt.
»Du kennst sie?« fragte Claudia.
»Ja, ich meine, nein, nicht richtig.« Er war völlig verwirrt. Wie kam Ellen hier her? »Das ist Sonnenbergs Assistentin.«
Herzog war kreidebleich, seine Lippen zitterten. Als Micha ihn ansah, löste sich endlich seine Erstarrung.
»Wir können doch hier nicht tatenlos herumstehen. Wir müssen ihnen helfen«, schrie er Herzog an und stürzte wieder los.
Er wandte sich nach rechts, weil er geradeaus nicht weiterkam. Ein matschiger Abhang fiel dort steil zum Ufer ab. Aber kaum hatte er sich ein paar Schritte in das Dickicht entfernt, verlor er die Orientierung, wußte nicht mehr genau, wohin er sich wenden sollte. Überall versperrte dichtes Gestrüpp den Weg und den Blick auf den See. Immer wieder hörte er Tobias schreien, und weil der Weg, den ihm seine Stimme wies, durch ein meterbreites Geflecht armdicker Luftwurzeln blockiert war, trieb ihn seine Panik zu aussichtslosen und schmerzhaften Versuchen, mal hier, mal dort durch die verfilzte Vegetation zu brechen. Als er sich schließlich verzweifelt umdrehte, um es an einer anderen Stelle zu versuchen, blickte er wieder in Herzogs blasses und verschwitztes Gesicht. Er mußte ihm gefolgt sein. Claudia war nirgendwo zu sehen.
»Was ist los?« fragte Micha atemlos und blickte gehetzt um sich. »Irgendwie muß man doch dahin kommen.«
»Es hat keinen Sinn. Es ist zu spät!« Herzog schüttelte nur stumm den Kopf und ließ das Kinn sinken.
Plötzlich ärgerte Micha sich über Herzogs Untätigkeit. Sie machte ihn rasend. »Du kennst dich doch hier aus. Warum ziehst du ihn nicht heraus, he? Stehst hier wie angewachsen«, brüllte er, drängte ihn beiseite und schlug sich zu einer Stelle durch, von wo aus er auf den See gucken konnte.
»Tobias!«
Nichts! Er fand in dem unübersichtlichen Pflanzen- und Wurzelgewirr kaum den Ast wieder, an dem Tobias gehangen hatte. Aber wo vorher noch sein rotes T-Shirt geleuchtet hatte, war nichts mehr, nur eine unbewegliche schwärzliche Masse. Auch der andere Kopf war verschwunden.
»Tobias!« schrie er noch einmal, so laut er konnte. »Ellen!«
Im nächsten Moment brachen Pencil und Claudia durch das Unterholz. »Was ist denn ...«, sie verstummte, als sie sein Gesicht sah.
Er starrte auf die Stelle, wo er Tobias das letzte Mal gesehen hatte, und er glaubte kurz eine Hand zu erkennen, die hilfesuchend aus dem Schlamm ragte.
Wenig später knackte es in den Büschen links von ihm, und einen kurzen, wunderbaren Moment lang dachte er, das sei bestimmt Tobias, sein Freund, der sich mit letzter Kraft herausgezogen hatte und von oben bis unten mit stinkendem Morast besudelt und seinem charakteristischen Grinsen auf dem Gesicht aus dem Dschungel treten würde, mit Ellen an seinem Arm.
Aber es war nur Herzog, resigniert, den Kopf gesenkt, mit hängenden Schultern, gebeugtem Rücken. Als Claudia ihn so sah, begriff sie, daß etwas Furchtbares geschehen sein mußte. Kraftlos ließ Herzog sich fallen, plötzlich ein alter, gebrochener Mann, hilflos, machtlos. Er begann zu schluchzen. Sein Oberkörper zuckte.
Micha hockte sich neben ihn, wollte einen Arm um seine Schultern legen, wollte ihn beruhigen, sich entschuldigen, weil er ihn so angefahren hatte, aber seine Hände zitterten zu stark.
Tobias tot?
»Jetzt sagt mir doch endlich, was passiert ist«, sagte Claudia leise. Sie hockte sich vor Herzog und Micha auf den Boden und schaute sie in ängstlicher Erwartung an.
Er wollte den Mund aufmachen, wollte erzählen, was er gesehen hatte, das verzerrte Gesicht, die Hand, diese furchtbaren Laute, die nicht mehr menschlich klangen, aber statt dessen brach er in Tränen aus, die ihm brennend über sein zerkratztes Gesicht liefen.
Dann wurde er wütend, schrecklich wütend.
Er sprang auf, gestikulierte auf den See hinaus und schrie mit tränenerstickter Stimme: »Dieser Vollidiot!« Wahllos schlug er mit beiden Händen nach irgendwelchen Blättern. »Warum mußte er da runterklettern, he? Könnt ihr mir das mal verraten? Dieser verdammte Scheißkerl, hatte er denn immer noch nicht genug?«
»Ist er ...?«
»Er ist in diesen Scheißsumpf gefallen. Er ist tot!« schrie er sie an, daß sie zusammenzuckte. Aber wußte er es denn sicher? Wo war der Beweis? Wahrscheinlich lebte Tobias da unten noch, versuchte noch immer verzweifelt, Sauerstoff in die Lungen zu bekommen, riß den Mund auf, um zu schreien, um zu atmen, um endlich wieder Luft zu holen, sein ganzer Körper, jede einzelne Zelle schrie nach Sauerstoff, und schluckte statt dessen diese widerliche, zähe, vorsintflutliche Pampe. Wie lange dauerte es, bis jemand erstickte? Hoffte er noch, daß ihn jemand wieder herauszog? Diese Hand .
Irgendwann, Micha bemerkte es kaum, tauchte Axt auf. Er sah unheimlich aus, heulte und war über und über mit stinkendem Schlamm bedeckt. In ihrer Mitte fiel er einfach in sich zusammen, schlug mit einem dumpfen Geräusch auf den weichen Waldboden und blieb dort von Weinkrämpfen geschüttelt liegen.
In Micha schlug die Wut ein wie ein Blitzschlag. »Hören Sie doch endlich auf zu flennen! Was soll denn das«, fuhr er Axt an, der gequält aufheulte. »Sie kannten ihn doch gar nicht. Es widert mich an!«
Micha sah rot. Noch einmal schlug und trat er auf die Pflanzen ein, die sich in seiner Reichweite befanden, versuchte seine unbeschreibliche Wut loszuwerden. Wut auf wen? Er wußte es nicht. Auf Tobias? Herzog? Den jammernden Axt? Auf den Wald? Auf diese Reise, den ganzen Wahnsinn?
Schweigend, jeder in sich selbst gekehrt, hockten sie da. Hin und wieder war ein Schluchzen zu hören, jemand räusperte sich oder schneuzte sich die Nase. Pencil war verschwunden. Er hatte sich irgendwohin verkrochen.
Warum machte er sich nur solche Vorwürfe? Hätte er sie denn noch retten können? Wohl kaum, alles war viel zu schnell gegangen. Und Herzog? Was mochte in ihm vorgehen? Auch er gab sich die Schuld, das war offensichtlich. Er war am Boden zerstört, kaum noch als der starke, Respekt einflößende Eozän wiederzuerkennen, den sie vor Wochen getroffen hatten. Es schien schon eine Ewigkeit her zu sein. Und warum führte Axt ein solches Theater auf? Er wimmerte und hatte sich auf dem lehmigen Waldboden wie ein Embryo zusammengekrümmt. Und was war mit Ellen? War sie etwa die Person, die sie gesucht hatten? Ausgerechnet Ellen?
Nein, Tobias war selbst schuld gewesen. Sein eigener Übermut hatte ihn in den Tod getrieben. Es war nahezu ein Wunder, daß es ihn erst jetzt erwischt hatte. So ein Irrsinn, sich mit nur einem gesunden Arm auf eine solche Auseinandersetzung einzulassen. Oder hatte er sich die Kampfgeräusche nur eingebildet? Aber so war Tobias eben. Micha wußte es, wußte es genau, aber wieder und wieder liefen die Ereignisse vor ihm ab, und er suchte verzweifelt nach dem Fehler, seinem Fehler. War Tobias überhaupt sein Freund gewesen? Er hatte ihn noch vor wenigen Tagen zum Teufel gewünscht. War es überhaupt Trauer, was er empfand?
Claudia konnte noch nicht einmal weinen, so schockiert war sie. Das kam erst später. Sie saß nur stumm da und starrte den Boden an, streckte die Hand nach Pencil aus, als dieser angetrottet kam und sich neben sie auf den Boden legte.
Micha hatte genug. Er wollte niemanden mehr sehen, mit niemandem reden, und nur noch weg von diesem Ort, der ihm noch vor kurzem wie das Paradies vorgekommen war. In Wirklichkeit hatten sie hier ihre ganz persönliche Hölle gefunden. Wortlos stand er auf und schlug den Weg zum Fluß ein. Der Pfad, den Herzog in den Dschungel geschlagen hatte, war deutlich zu erkennen. Er blickte sich nicht um, ob jemand folgte, sondern lief einfach los, völlig in Gedanken versunken.
Keinen Blick verschwendete er mehr auf diesen See - Tobias’ und Ellens Grab -, auf den See nicht und auf nichts anderes, was längs des Weges lag. Seine schlammverschmutzten Schuhe waren das einzige, was er noch wahrnahm, als er mechanisch einen Fuß vor den anderen setzte, und Tobias’ Gesicht, die Hand, die aus dem Morast geragt hatte. Wäre er dagewesen, er hätte sie packen können. Oder war es gar nicht Tobias’, sondern Ellens Hand gewesen, die er gesehen hatte? Er war sich nicht mehr sicher. Die beiden waren nur wenige Meter auseinander gewesen. Was war nur in sie gefahren, daß sie sich wie die Verrückten aufführen mußten? Sie hatten sich gegenseitig umgebracht, waren einer des anderen Mörder. Er drehte noch durch, wenn er weiter darüber nachdachte.
Erst als er am Flußufer ankam, sah er sich um. Claudia ging mit gesenktem Kopf nur wenige Meter hinter ihm, Axt war nicht zu sehen, und Herzog folgte erst mit großem Abstand. Er schien sich nur noch dahinzuschleppen, ein einsamer alter Mann. Wie lange würde er hier noch überleben, allein, ohne jede Unterstützung? In diesem Moment war es Micha egal. Ihm war alles gleichgültig, wenn nur bald dieser Alptraum ein Ende fand.
Als Herzog endlich das Flußufer erreicht hatte, kam er auf Claudia und Micha zu, die sich ein paar Meter voneinander entfernt ans Wasser gesetzt hatten.
»Es tut mir so leid«, sagte er leise und machte eine hilflose Geste. »Ich ... ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich wollte euch doch nur .«
»Ich weiß«, schnitt Micha ihm das Wort ab, ohne ihn anzuschauen. Was nutzte es, was Herzog gewollt oder nicht gewollt hatte? Wen interessierte das jetzt noch? Und was nutzte es, was er, Michael Hofmeister, wollte? Was war überhaupt seine erbärmliche Rolle gewesen in dem ganzen Drama, fragte er sich jetzt voller Bitterkeit. Ein elendes Scheißspiel war das! Wenn Herzog nicht gewesen wäre, wäre er hier irgendwo jämmerlich krepiert, und wenn Tobias nicht ein zweites Mal in sein Leben getreten wäre, hätte er diese Reise niemals unternommen. War er nur ein Objekt, ein Spielball der anderen gewesen, ohne einen eigenen Willen?
Tobias war tot. Tot!
Die natürliche Auslese darf man sich als die dominierende Kraft hinsichtlich der Stabilität der Arten vorstellen, aber ihre Macht ist beschränkt. Bis zu einem gewissen Grad betreiben die Organismen ihre Evolution selbst, und zwar durch ihr Verhalten, die Auswahl, die sie treffen und die zu neuen Adaptionen führt.
Robert Wessen, Die unberechenbare Ordnung