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»He!« protestierte Ben. »Wieso läßt du mich los?« Mike griff hastig wieder nach seiner Hand, und sie gingen weiter, aber er konnte nun sehen, wie sich auch in Bens Pelzjacke immer mehr winzige schimmernde Wassertröpfchen bildeten. Und noch etwas: Als Ben sich gerade zu ihm herumgedreht hatte, da hatte er zum ersten Mal seit Stunden jemanden reden sehen, ohne daß sein Atem als grauer Dampf im Rhythmus der Worte vor seinem Gesicht erschien. »Es wird wärmer«, rief Trautman in diesem Moment vom Anfang der Gruppe her. »Merkt ihr es auch?« Der Nebel ließ seine Worte noch immer sonderbar dumpf und falsch klingen, aber er verschluckte sie nun nicht mehr vollkommen. Und je weiter sie gingen, desto mehr lichtete er sich. Bald konnten sie wieder zehn oder fünfzehn Meter weit sehen, so daß sie es nacheinander wagten, sich gegenseitig loszulassen, trotzdem aber dicht beieinander blieben.
Ganz allmählich begann sich das, was sie von ihrer Umgebung erkennen konnten, zu verändern. Unter ihren Stiefeln knirschte noch immer Eis, aber dazwischen schimmerte jetzt immer öfter der blanke Fels hindurch, und hier und da glaubte Mike sogar einen Tupfen Grün oder Braun zu erkennen. Und schließlich tauchten die ersten Bäume vor ihnen auf. Eigentlich waren es nur die Skelette von Bäumen. Blattlos und vielleicht schon vor Jahrtausenden zu Stein erstarrt, reckten sie sich wie vielfingrige schwarze Hände dem Himmel entgegen, der noch immer hinter einer grauen, undurchdringlichen Decke verborgen lag, und trotzdem atmete Mike bei ihrem Anblick hörbar auf, denn es waren die ersten Zeugen von Leben, auf die sie auf dieser eisigen Insel am Rand der Welt trafen. Und es blieben nicht die einzigen. Die Anzahl der Bäume nahm zu, so daß sie sich bald durch einen regelrechten Wald bewegten, und auch wenn er tot und vielleicht schon vor Urzeiten zu Stein erstarrt war, es gab Leben in ihm -ein paar Flecken kärgliches Moos hier, einige Grasbüschel da, erbärmlich wenig, aber auch genug, um zu zeigen wie hartnäckig das Leben selbst unter den ungünstigsten Umständen immer wieder Fuß zu fassen vermochte.
Sonderbarerweise schien der Anblick dieses Waldes Trautman eher zu beunruhigen. Sie waren immer langsamer gegangen, seit sie in den versteinerten Wald eingedrungen waren, und schließlich blieb Trautman stehen und sah sich aus eng zusammengekniffenen Augen um.
»Irgend etwas stimmt hier nicht«, murmelte er zum wiederholten Male. »Diesen Wald dürfte es gar nicht geben. Nicht so weit im Norden. Es ist viel zu kalt dafür. «
Genaugenommen war es das schon lange nicht mehr. Es war beständig wärmer geworden, und Mike fiel erst jetzt wirklich auf, daß er eigentlich schon seit einer geraumen Weile gar nicht mehr fror. Trotzdem sagte er: »Dieser Wald scheint sehr alt zu sein. Vielleicht Hunderte von Jahren oder sogar Tausende. « »Hier war es auch vor Tausenden von Jahren nicht wärmer«, behauptete Trautman. »Im Gegenteil. « »Seht mal, dort vorne!« rief Chris plötzlich. »Es wird heller. Der Nebel scheint sich zu verziehen. « Aller Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die Richtung, in die Chris' ausgestreckter Arm wies, und tatsächlich -vor ihnen schimmerte es heller durch die Baumstämme. Es war noch kein wirkliches Tageslicht, aber der Nebel war dort nicht mehr so dicht wie hier. Wortlos und weitaus rascher als bisher marschierten sie weiter. Die Bäume wurden immer dichter, und manchmal mußten sie jetzt mitten durch die Skelette ebenfalls versteinerter Büsche hindurch, die wie Glas unter ihren Schritten zerbrachen, aber nach weiteren dreißig oder vierzig Schritten hörte der Wald plötzlich wie abgeschnitten auf, und als sie zwischen den letzten Bäumen hervortraten, da hatten sie auch den Rand des Nebels erreicht, und vor ihnen lag... Mike rieb sich verblüfft mit den behandschuhten Fingern über die Augen, nahm die Hände herunter, blinzelte, blinzelte noch einmal und schloß schließlich die Augen, um in Gedanken ganz langsam bis drei zu zählen, ehe er die Lider wieder hob. Der Anblick hatte sich nicht verändert.
Unter ihnen breitete sich ein weites, von wucherndem Grün erfülltes Tal aus. Es mußte mehrere Meilen breit und so lang sein, daß sein jenseitiges Ende in grüngrauem Dunst verschwand. Ein gewundener Fluß schlängelte sich silbern glitzernd zwischen den Bäumen hindurch, die auf dem Talboden wuchsen, und ein warmer, feuchter Windhauch schlug ihnen ins Gesicht, begleitet von den unterschiedlichsten Geräuschen, die zum Teil vertraut, zum Teil fremd waren. »Das ist nicht möglich«, murmelte Ben. »Ich... ich träume wohl! Ich muß am Seil abgerutscht und furchtbar auf den Kopf gefallen sein!«
»Das vermuten wir alle schon seit einer geraumen Weile«, sagte Juan. Aber seine Stimme zitterte, und der gepreßte Ton, in dem er sprach, nahm den Worten jeglichen scherzhaften Klang.
»Unglaublich!« flüsterte Trautman. »Das ist... ein Wunder. «
»Da unten!« rief Chris. »Das ist Singh. Singh!« Das letzte Wort hatte er geschrien, und die Gestalt, die gerade in diesem Moment zwischen den Bäumen unter ihnen aufgetaucht war, hatte es offensichtlich gehört, denn sie änderte abrupt ihre Richtung und rannte mit weiten Sprüngen auf sie zu. Es war tatsächlich Singh. Mike hatte ihn im ersten Moment kaum erkannt, denn der Inder hatte die dicke Pelzjacke ausgezogen, und auch der weiße Turban, den er unter der Kapuze getragen hatte und ohne den er normalerweise nie anzutreffen war, fehlte.
Wie auf ein unhörbares Kommando hin setzten sie sich alle gemeinsam in Bewegung und liefen dem Sikh entgegen. Singh riß im Laufen die Arme in die Höhe und winkte ihnen zu. Er rief irgend etwas, was Mike nicht verstand, und er wirkte wie ein Mensch, der vor irgend etwas davonrannte.
Und dann teilten sich die Bäume hinter dem Inder, und das Ungeheuer brach heraus.
Der Anblick war so bizarr, daß Mike noch ein paar Schritte weiterrannte, ehe er überhaupt begriff, daß das, was er dort sah, wirklich war, und ungeschickt stolpernd stehenblieb. Wenn dieser Wald und das fruchtbare Tal schon unmöglich gewesen waren, dann war das, was sie jetzt erblickten, geradezu absurd.
Das Geschöpf mußte an die drei Meter groß sein, und seine Länge schätzte Mike auf gut das drei- bis vierfache. Es lief auf zwei gewaltigen Hinterbeinen, hatte einen schlanken, trotzdem aber sehr muskulösen Körper und zwei geradezu lächerlich kleine Vorderläufe, die beinahe an menschliche Arme erinnerten, nur daß sie nicht in Händen, sondern in furchteinflößenden, dreifingrigen Klauen endeten, die es gierig nach seinem Opfer ausgestreckt hatte. Ein langer, sehr kräftiger Schwanz, den es im Laufen fast waagrecht ausgestreckt hatte, hielt das schreckliche Geschöpf im Gleichgewicht. Der Kopf war ein wahrer Alptraum. Er schien viel zu groß für den Rest des Körpers, und in dem weit aufgerissenen Maul, in dem Dutzende von gebogenen, sicherlich fingerlangen Zähnen blitzten, konnte ein sitzender Mensch bequem Platz finden. Das Geschöpf mußte mindestens drei oder vier Tonnen wiegen, denn Mike konnte trotz der noch großen Entfernung spüren, wie der Boden unter seinen Schritten erbebte, aber es bewegte sich trotzdem mit unglaublicher Geschwindigkeit. Seine ungeheure Größe ließ es weitaus plumper erscheinen, als es war.
Und trotzdem war es nicht seine Größe oder der Anblick des furchterregenden, aufgerissenen Maules, die Mike sekundenlang wie gelähmt dastehen und dem heranrasenden Koloß entgegenstarren ließ. Es war der Umstand, daß er wußte, was das für ein Geschöpf war. Er hatte ein Wesen wie dieses noch niemals lebend gesehen kein Mensch auf der Welt hatte das, aber natürlich kannte er Bilder, und er hatte mehr als einmal mit offenem Mund vor dem Skelett einer solchen Kreatur gestanden.
Das Wesen, das Singh verfolgte, war nichts anderes als ein leibhaftiger Dinosaurier!
Und erst als er dieses Wort ganz bewußt dachte, wurde ihm klar, in welcher Gefahr sie sich alle befanden. Mit einem gellenden Schrei wirbelte er herum und rannte den Hang wieder hinauf, so schnell er nur konnte, und im gleichen Moment erwachten auch die anderen endlich wieder aus ihrer Erstarrung und ergriffen die Flucht. Sie hatten sich noch nicht allzuweit vom Waldrand entfernt, und das Entsetzen über den Anblick des urzeitlichen Tieres gab ihnen zusätzliche Kräfte.
Trotzdem hätten sie es beinahe nicht geschafft. Der Saurier mußte wohl Mikes Schrei gehört haben, denn als Mike im Rennen einen Blick über die Schulter zurückwarf, da bemerkte er entsetzt, daß das Ungeheuer langsamer geworden war -und aus seinen kleinen, bösartig funkelnden Augen direkt zu ihnen heraufsah. Und dann änderte es jäh seinen Kurs und rannte genau auf ihn zu!
Mike schrie erneut auf, raffte all seine verbliebenen Kräfte zusammen und rannte so schnell wie niemals zuvor im Leben. Der Waldrand kam rasch näher, aber ein weiterer Blick zurück zeigte ihm, daß auch der Saurier aufholte, und das mit entsetzlicher Schnelligkeit. Als das Ungeheuer aus dem Wald aufgetaucht war, hatten zwischen ihm und Mike vielleicht hundert Meter gelegen. Jetzt betrug die Distanz allerhöchstens noch zehn, dann fünf - und dann hatte Mike den schützenden Nebel erreicht und war mit einem Satz zwischen den Bäumen. Das versteinerte Unterholz zersplitterte unter seinen Schritten, als er rücksichtslos hindurchbrach, aber er wurde nicht langsamer. Hinter ihm begann sich ein ungeheurer Schatten im Nebel abzuzeichnen, und er konnte deutlich spüren, wie der Boden unter den stampfenden Schritten des Giganten erzitterte. Hinter ihm erklang ein unvorstellbar lautes, unvorstellbar zorniges Brüllen, ein Laut, wie Mike ihn niemals zuvor im Leben gehört hatte und den er niemals wieder vergessen sollte, und er konnte hören, wie die versteinerten Bäume unter dem Ansturm des Kolosses zersplitterten wie Zahnstocher unter den Tritten eines Riesen. Ein Schatten tauchte vor Mike auf, lautlos und schnell wie ein Gespenst, schien mit hundert dürren Händen zugleich nach ihm zu greifen und zerrte an seiner Jacke. Mike wich dem Baum im letzten Moment aus, duckte sich unter einem tiefhängenden Ast hindurch, an dem er sich beinahe selbst aufgespießt hätte, und sah wieder zu dem Ungeheuer zurück.
Es war im Nebel nur als riesiger, verzerrter Schatten zu erkennen, aber es kam noch immer näher. Die Bäume behinderten sein Vorwärtskommen nicht im mindesten. Es rannte sie einfach nieder.
Das konnte Mike nicht. Er prallte wuchtig gegen einen Baum, stolperte einen Schritt zurück und fiel halb bewußtlos auf den Rücken. Für eine Sekunde wurde es dunkel rings um ihn herum. Er konnte nichts mehr sehen, und alles, was er hörte, war das Rauschen seines eigenen Blutes in den Ohren.
Als er die Augen wieder öffnete, ragte ein gigantischer, krallenbewehrter Fuß direkt vor ihm in die Höhe. Der Anblick war einfach zu entsetzlich, um Angst in ihm aufkommen zu lassen. Langsam drehte er den Kopf und ließ seinen Blick an dem Fuß und dem dazugehörigen, unvorstellbar großen Bein emporwandern, weiter den mit kleinen, grün und braun glänzenden Schuppen besetzten Leib empor und schließlich bis zu dem aufgerissenen Maul und den faustgroßen funkelnden Augen. Das Ungeheuer stand breitbeinig über ihm, wie ein Jäger, der sich über das Wild beugt und sich noch einen Moment an seinem Anblick erfreut, ehe er es endgültig erlegt, seine Krallen gierig ausgestreckt. Von den Zähnen, die wie kleine, gebogene Dolche in seinem Maul blitzten, troff Geifer. Der Saurier breitete die Vorderläufe aus, beugte sich vor und riß brüllend das Maul auf, und im gleichen Moment flog ein schwarzer Schatten aus dem Wald heraus, landet auf seiner Schnauze und begann fauchend und geifernd und mit allen Krallen gleichzeitig auf ihn einzuschlagen. Brüllend richtete sich der Koloß wieder auf und schüttelte den Kopf, und obwohl die Bewegung eher beiläufig wirkte, war sie doch von solcher Kraft, daß Astaroth einfach davongeschleudert wurde und meterweit durch die Luft flog, ehe ein Busch seinen Sturz beendete. Sofort war er wieder auf den Füßen, raste zurück und sprang auf Mikes Brust. Seine Fänge waren gebleckt. Ein tiefes, drohendes Knurren drang aus seiner Brust. Der Saurier senkte erneut den Schädel, riß ein zweites Mal das Maul auf - und zögerte.
Astaroth schlug mit den Klauen nach ihm. Seine Krallen vermochten die gepanzerte Haut des Giganten nicht einmal anzukratzen, und vermutlich spürte er die Berührung nicht einmal. Trotzdem packten die riesigen Fänge nicht zu. Der Saurier stand einfach da und starrte Mike und den Kater an. Das Maul war noch immer geöffnet, die furchtbaren Klauen zum Zupacken bereit ausgestreckt -aber er griff nicht an. Seine riesigen Augen fixierten das fauchende Fellbündel auf Mikes Brust, und dann konnte Mike regelrecht sehen, wie etwas Neues im Blick dieser gigantischen Reptilienaugen erschien, ein Ausdruck von... Verwirrung? Unsicherheit?
Und das Wunder geschah. Ganz langsam, zögernd und fast widerwillig, hob der Saurier wieder den Kopf. Das gewaltige Maul schloß sich, ohne Mike und Astaroth verschlungen zu haben, und die fürchterlichen Klauen zogen sich wieder zurück. Einige Sekunden lang stand der Koloß noch da und starrte auf Mike herab, dann richtete er sich vollends auf, drehte sich herum und begann in die Richtung zurückzustapfen, aus der er gekommen war. Sein gewaltiger Schwanz peitschte so dicht über Mike hinweg, daß er den Luftzug spüren konnte und Astaroth sich erschrocken duckte, und nur einen Augenblick später war das Ungeheuer verschwunden.
Mike blieb noch ein paar Sekunden mit angehaltenem Atem und vollkommen reglos auf dem Rücken liegen, ehe er auch nur wagte, wieder Luft zu holen und sich auf die Ellbogen hochzustemmen. Astaroth sprang mit einem Satz von seiner Brust herunter, und Mike bemerkte erst jetzt, daß die Krallen des Katers sich durch seine Jacke gebohrt und eine Anzahl brennender Kratzer auf seiner Haut hinterlassen hatten. »Wie... wie hast du das gemacht?« murmelte er. Ich habe ihm erzählt, daß ich Vater von vier Kindern bin und er sich um sie und meine Witwe kümmern muß, wenn er mich frißt, antwortete Astaroth. »Astaroth, bitte!« sagte Mike müde. »Ich bin nicht in der Stimmung für deine Witze. « Ich auch nicht, gestand Astaroth. Er kauerte sich neben Mike zusammen, und Mike sah, daß er am ganzen Leib zitterte. Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Er ist... kein Tier, weißt du? »Kein Tier?«
Nicht so, wie ihr glaubt. Er... er denkt. Aber anders als ihr oder ich. Ich wollte mit ihm reden, aber das geht nicht. Aber ich glaube, ich... ich habe ihm Angst gemacht... irgendwie. »Irgendwie?«
Genauer kann ich es nicht sagen, murrte Astaroth. »Na gut«, sagte Mike. »Es spielt auch keine Rolle. Du hast ihn vertrieben. Das allein zählt. « Vielleicht, antwortete Astaroth kleinlaut. Aber ich bin nicht sicher, daß ich es noch einmal könnte. Er schüttelte sich. Es war furchtbar. Er denkt, aber er ist so... so anders. Tust du mir einen Gefallen? »Jeden«, antwortete Mike impulsiv. Verrate den anderen nicht, was hier passiert ist. Wenigstens noch nicht.
Mike nickte zögernd. Er verstand den Grund für Astaroths Bitte nicht ganz, aber er akzeptierte sie, und er war Astaroth diesen Gefallen auch schuldig - schließlich hatte der Kater ihm gerade das Leben gerettet. Er kam auch nicht mehr dazu, eine weitere Frage zu stellen, denn in diesem Moment wurden bereits Schritte hinter ihnen laut, und kaum eine Sekunde später stürmten Trautman und Serena aus dem Nebel heraus, gefolgt von Chris, Ben und Juan und als letztem Singh. »Mike!« Trautman blieb wie angewurzelt stehen, als er Mike auf dem Boden liegen sah. »Bist du -?« »Es ist alles in Ordnung«, unterbrach ihn Mike hastig. »Mir ist nichts passiert, keine Angst. « Er stand auf und bewegte demonstrativ die Arme, um seine Behauptung zu beweisen. »Ich bin okay, wirklich. « »Ich dachte schon, es wäre um dich geschehen«, sagte Trautman. Die Erleichterung, Mike lebend und sogar unversehrt vorzufinden, stand ihm deutlich im Gesicht geschrieben. »Wir sahen, wie er dir folgte, und dann hörten wir dich schreien und dann diese furchtbaren Geräusche... und dir ist wirklich nichts passiert?« »Wirklich nicht«, versicherte ihm Mike. »Obwohl ich dachte, mein letztes Stündlein hätte geschlagen. Es war so knapp. « Er hielt die Hand in die Höhe und deutete mit Daumen und Zeigefinger einen winzigen Abstand an. »Ich habe einfach Glück gehabt, schätze ich. Ich bin an einen Baum gerannt und hingefallen. Wahrscheinlich hat er mich dabei aus den Augen verloren. « Er schüttelte sich übertrieben. »Wenn ich nicht gestürzt wäre... «
»Wahrscheinlich hat dir das das Leben gerettet«, sagte Chris. »Das war ein Allosaurier. Manche Wissenschaftler glauben, daß sie nicht besonders gut sehen konnten und nur auf Bewegung reagierten. Wahrscheinlich hätte er dich gefressen, wenn du weitergerannt wärst. « Er schüttelte ein paarmal den Kopf und sah Mike bewundernd an. »Weißt du eigentlich, was du für ein Glück gehabt hast? Das ist wahrscheinlich eines der gefährlichsten Raubtiere, die jemals auf dieser Welt gelebt haben. « »Wieso haben?« fragte Ben. »Mir kam er ziemlich lebendig vor. «
»Diese Gattung ist vor über hundertzwanzig Millionen Jahren ausgestorben«, sagte Chris gewichtig. Ben zog eine Grimasse. »Das scheint sich noch nicht überall herumgesprochen zu haben, Schlaukopf«, sagte er. »Oder der alte Knabe war gut in Form. Für einen Greis von hundertzwanzig Millionen Jahren Alter läuft er jedenfalls ganz schön schnell. « Chris starrte ihn eine Sekunde lang verblüfft an, aber dann begann Ben zu lachen, und nach einem Moment stimmten auch Chris und schließlich alle anderen darin ein. Bens Witz war nicht besonders komisch, und vor allem Mike war nicht nach Lachen zumute. Er hätte sich viel lieber in eine Ecke gekauert und ein bißchen vor Angst gezittert. Aber es war trotzdem ein befreiendes Lachen, das seine Anspannung ein wenig milderte. Der einzige, der nicht darin einfiel, war Trautman. Er stand reglos da und blickte auf den Abdruck hinab, den Mikes Körper deutlich sichtbar im weichen Waldboden hinterlassen hatte. Und auf die beiden gewaltigen Fußabdrücke des Sauriers, die rechts und links davon zu erkennen waren.
Sie waren diesmal sehr viel vorsichtiger, ehe sie den Wald und den schützenden Nebel verließen, und keiner von ihnen erhob irgendwelche Einwände, als Astaroth vorschlug, als Späher vorauszugehen und das Gelände zu sondieren -falls der Saurier tatsächlich noch in der Nähe war, würde er an einer so kleinen Beute wie dem Kater wahrscheinlich gar kein Interesse haben. Wenigstens war es das, was Mike behauptete, und seine Worte klangen wohl überzeugend genug, auch wenn Astaroth und er wußten, daß das nicht die Wahrheit war. Und zumindest Trautman ahnte, daß die beiden ihm etwas verschwiegen.
Obwohl der Nebel und der versteinerte Wald nichts von ihrer Unheimlichkeit verloren hatten, traten sie nur gerade weit genug aus dem wogenden Grau heraus, um einen freien Blick über das Tal zu haben, und setzten sich in das erste, hier oben noch spärliche Gras. Eine Zeitlang bestimmte noch Mikes Abenteuer das Gespräch, aber schließlich wandte sich Trautman mit einer Frage an Singh, die ihnen allen insgeheim auf der Seele brannte.
»Wo bist du die ganze Zeit gewesen?« Mike erlebte etwas, was bei Singh ziemlich ungewöhnlich war der Inder senkte verlegen den Blick und suchte einen Moment nach Worten, ehe er antwortete. »Ich fürchte, ich habe einen Fehler gemacht«, sagte er. »Es tut mir leid. Ich war oben auf der Klippe und wollte mich nur ein wenig umsehen, aber dann... dann war da plötzlich dieser Nebel. Ich hatte gar nicht vor, ihn zu erforschen, aber ich muß mich wohl verirrt haben. Und schließlich bin ich hier angekommen genau wie ihr. « Er blinzelte und sah Trautman, Ben und dann Serena und Chris nacheinander an, als erkenne er sie überhaupt erst jetzt.
»Wieso seid ihr alle hier? Und wer ist jetzt auf der NAUTILUS?«
Trautman warf Mike einen bösen Blick zu. »Das ist eine lange Geschichte«, sagte er. »Ich verstehe es selbst noch nicht ganz, aber ich glaube, es hat irgend etwas mit diesem Nebel zu tun. Und dieser Insel. « Er schüttelte ein paarmal den Kopf und ließ seinen Blick über das grüne Tal unter ihnen schweifen. »Unglaublich! Das alles dürfte gar nicht existieren! Seht euch nur diese Bäume an!« »Das sind gar keine richtigen Bäume«, sagte Ben. »So etwas habe ich noch nie gesehen. Es sieht eher aus wie ... wie Farn. «
»Ist es auch«, sagte Chris. »Aber es gibt auch Bäume. Seht ihr dort drüben die Koniferen? Das einzige, was nicht paßt, ist das da. « Er riß ein Büschel Gras aus und hielt es in die Höhe. »Das dürfte nicht hier sein. « Niemand sagte etwas, aber Chris wurde mit einem Mal nervös, als sich die Blicke von sechs Augenpaaren auf ihn konzentrierten. »Wirklich«, sagte er. »Gras hat es damals noch gar nicht gegeben, das könnt ihr mir glauben!«
»Das glauben wir dir auch«, antwortete Trautman. »Aber wieso verstehst du so viel davon?« »Weil die Urzeit mein Hobby ist«, antwortete Chris stolz. »Ich habe mich immer schon dafür interessiert. « »Wußtest du deshalb so genau, was für eine Art von Saurier das war?« fragte Ben. »Wie hast du ihn genannt? Allsaurier?« »Allosaurier«, korrigierte ihn Chris und nickte heftig.
»Ich kenne sie alle!« behauptete er. »Ich habe sämtliche Bücher darüber gelesen, die es gibt, und ich war in London im Cristal Palace und habe mir die Modelle angesehen, die sie dort haben. Ihr etwa nicht?« Ein allgemeines Kopfschütteln war die Antwort, und Chris fuhr in nunmehr hörbar stolzem Ton fort. »Da habt ihr was verpaßt. Sie haben sie dort alle aufgebaut. Das Iguanodon, den Brontosaurus, das Triceratops, den Plesiosaurus -« »Und den Allosaurier, ich weiß«, unterbrach ihn Trautman. Wahrscheinlich, dachte Mike, befürchtet er, daß Chris die nächste halbe Stunde damit verbringt, die verschiedenen Saurierarten aufzuzählen, die im Cristal Palace in London zu besichtigen waren. Mike selbst war noch nie dort gewesen, aber er hatte natürlich von dem großangelegten Park im Herzen Londons gehört, in dem Wissenschaftler und Schausteller gemeinsam eines der ehrgeizigsten Projekte des letzten Jahrzehnts verwirklicht hatten, eine Ausstellung lebensgroßer, naturgetreuer Dinosauriermodelle. »Trotzdem«, fuhr Trautman fort, »erklärt das nicht, wie dieses Tier hierher kommt. Du hast
doch gerade selbst gesagt, daß sie vor über hundert
Millionen Jahren ausgestorben sind. «
»Ausgestorben«, sagte Chris betont, »sind sie vor ungefähr fünfundsechzig Millionen Jahren. Diese bestimmte Gattung hat vor hundertzwanzig Millionen Jahren gelebt. Mike kann von Glück sagen, daß es kein Tyrannosaurus war. Die waren mehr als doppelt so groß und bestimmt doppelt so schnell. « »Was für ein Trost«, sagte Mike säuerlich. »Sechzig oder hundertzwanzig Millionen Jahre, das macht doch keinen Unterschied!« sagte Ben. »Es dürfte sie trotzdem nicht geben. Das ist doch völlig unmöglich. « »Es gibt sie aber!« antwortete Chris. Er klang fast beleidigt. »Vielleicht haben sie auf dieser Insel irgendwie überlebt. «
»Nachdem sie auf der ganzen übrigen Welt ausgestorben sind?« fragte Ben zweifelnd. »Das glaubst du doch selbst nicht!«
»Na, wenn es so unmöglich ist, dann geh doch hinunter in den Wald und sieh dich um!« sagte Chris patzig. »Dir kann ja gar nichts passieren, oder?« »Hört auf, euch zu streiten«, sagte Trautman müde. »Ich fürchte, ihr habt beide recht. Aber diese Ungeheuer sind nur zu lebendig. Hast du noch mehr davon im Wald gesehen, Singh?«
»Keines von dieser Größe«, antwortete der Inder. »Aber ein paar seltsame Tiere waren schon da. Und Spuren... sehr eigenartige Spuren. «
Er schauderte, und Trautman verzichtete darauf, weiter auf dieses Thema einzugehen. »Was ist mit den Schiffbrüchigen?« fragte er. »Ich war in der Yacht unten am Strand. Sie sieht nicht so aus, als wäre sie schon lange verlassen. «
»Sie waren hier«, bestätigte Singh. »Ganz in der Nähe. Ich habe ihr Lager gefunden. Sie haben ein Feuer angezündet. Die Asche war noch warm. Aber bevor ich mich genauer umsehen konnte, tauchte dieses Ungeheuer auf, und ich mußte fliehen. « »Vielleicht sind sie schon tot«, murmelte Juan. »Wenn diese Bestie sie angefallen hat... « »Das glaube ich nicht«, antwortete Singh. »Das Lager war verlassen, aber es sah nicht nach einer Flucht aus. «
»Und die Schüsse, die wir gehört haben? Und die Schreie?«
Diesmal zuckte Singh zur Antwort nur die Achseln. Ein weiteres Rätsel in einer schier endlosen Kette von Fragen, auf die sie vielleicht nie eine Antwort finden würden.
Trautman seufzte. »Das ist unglaublich«, sagte er zum wiederholten Mal. »Eine ganze Insel voller Pflanzen und Tiere, die vor Millionen von Jahren ausgestorben sein müßten. Und niemand auf der ganzen Welt hat bisher etwas von ihrer Existenz gewußt. « »Nicht ganz«, sagte Mike ruhig. »Ich glaube, einer wußte es schon. «
Trautman und alle anderen -mit einer Ausnahme starrten ihn verblüfft an, und Mike fügte nach einer Pause sehr betont hinzu: »Genauer gesagt: eine. « Er blickte Serena nicht an, aber er sah aus den Augenwinkeln, daß die Atlanterin wie unter einem elektrischen Schlag zusammenfuhr. »Was soll das bedeuten?« fragte Trautman. Serena reagierte nicht, sondern zog die Knie an den Körper, stützte das Kinn darauf und starrte schweigend zu Boden. Trautman blickte sie durchdringend an, dann wandte er sich mit einem strengen Stirnrunzeln wieder an Mike.