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PROLOG

Sonntag, 12. Juli 1972

Sie waren zu dritt unterwegs: Scott Bowman saß am Steuer, Brian Horner auf dem Beifahrersitz und Jake Laking hinten. Es war noch früh am Morgen: 5 Uhr 35. Im Osten tauchte jetzt der feuerrote Bogen der aufgehenden Sonne auf, der mit jeder Minute mehr vom Himmel einnahm. Es sah so aus, als öffne sich ein schläfriges Auge. Scott hatte das Fenster an der Fahrerseite ganz heruntergekurbelt und hielt sein müdes Gesicht immer wieder in den kühlen Fahrtwind. Er hatte zunehmend Schwierigkeiten, sich auf die vom nächtlichen Nieselregen glitschige Straße zu konzentrieren.

»Komm schon, Jake«, sagte er, nach hinten gewandt, »ich bin völlig fertig. Und so angetrunken, wie ich bin, sollte ich, bei Gott, nicht weiterfahren. Also, sag schon: Wo sind wir hier überhaupt?«

Vom Rücksitz des VW-Käfers war ein besoffenes Kichern zu hören. Gleich darauf schaltete Jake die Innenbeleuchtung ein und faltete so geräuschvoll wie umständlich die Straßenkarte vom Südosten Neuenglands auseinander.

»Hab nicht den blassesten Schimmer«, erwiderte er nach einer halben Ewigkeit. Jake war auf ihrer Tour theoretisch für die Navigation verantwortlich. Wie gesagt, theoretisch. In der Hoffnung, irgendwo einen Campingplatz oder ein billiges Motel zu finden, waren sie schon vor fast einer Stunde kurz hinter Boston von der Interstate 90 nach Norden abgebogen.

Wieder das Kichern von hinten: »Tja, sieht so aus, als hätten wir uns verfahren.«

»Na, super!« Scott hämmerte mit der Faust auf das Lenkrad. Neben ihm hing Brian benebelt auf dem Beifahrersitz und döste vor sich hin. »Wirklich super.«

Jakes gute Laune war wie weggeblasen: »Jetzt bleib mal locker! Ist doch scheißegal, wo wir sind. Wir machen doch einen drauf, schon vergessen?« Er kramte in der Vordertasche seiner ausgewaschenen Levis herum und fischte schließlich einen kleinen Plastikbeutel heraus. »Außerdem hab ich hier was Nettes, das uns alle wieder gut drauf bringt!« Er wedelte mit dem Beutel herum, wobei er fast Scotts rechtes Ohr erwischt hätte.

»Was ist das?« Scott versuchte, im Rückspiegel zu erkennen, was Jake da hervorgeholt hatte. Gerade noch rechtzeitig, um den Wagen in eine scharfe, nicht markierte Kurve zu manövrieren, wandte er den Blick wieder der schmalen Landstraße zu.

»Ich hab die kleinen Spaßmacher in dieser Bar in Boston besorgt«, berichtete Jake unbeirrt. »Ein paar Züge von diesem vorzüglichen Kraut, und dir wird's völlig schnuppe sein, wo du gerade bist.«

»Dope?«, fragte Scott entnervt. »Das ist ja wohl das Letzte, Mann! Ich dachte, das hättest du spätestens in der High-School aufgegeben. Weißt du eigentlich, wie tief wir in der Scheiße sitzen, wenn wir mit dem Zeugs hier im Auto erwischt werden? Wir sind jetzt in den Staaten, du Vollidiot. Das hier ist nicht Kanada. Wir verlieren unsere Medizin-Studienplätze - und das ist noch nicht mal das Schlimmste, was uns erwarten könnte.«

Scott schüttelte den Kopf - zum Teil, um seinen Arger auszudrücken, aber vor allem, um wieder klare Sicht zu bekommen. Er hatte mehr getrunken, als er gewohnt war, und nun ließ seine Konzentrationsfähigkeit gefährlich nach. Die Autobahn war ja noch eine leichte Übung gewesen -schnurgerade und so breit, dass man meistens ganz mechanisch hatte fahren können. Aber wo immer sie jetzt gelandet sein mochten: Hier brauchte er jedes bisschen Konzentration, das er aufbringen konnte. Die Straße war nicht beleuchtet und kurvig, streckenweise geradezu tückisch.

Eine merkwürdige Stille machte sich im Auto breit. Nur Brian wälzte sich - mit seinem für einen Linebacker (Anm. d. Ü.: Mittelfeld-Verteidiger im American Football) typischen massigen Körper - im zerschlissenen Sitz hin und her und schien nichts von der niederdrückenden Stimmung zu bemerken.

Jake konnte an einer kleinen Aufmunterung nichts Schlimmes finden. Sie wollten doch nur Spaß haben und ihre Zulassungen zur Medizinischen Hochschule feiern. Das war der Hauptzweck ihrer kleinen Reise. Nebenbei wollten sie natürlich auch die jeweiligen Universitäten ansehen, an denen sie Studienplätze ergattert hatten.

Aber es war Scotts Auto. Und Scott war >der Vernünftige< von ihnen.

Sie fuhren weiter. Scott kam die Landstraße mit den Zickzackkurven endlos lang vor. Seit fast einer Stunde gab es kaum noch Anzeichen von Zivilisation. Seitdem hatte er nur ein Hinweisschild gesehen, und das war vor lauter Schießpulverspuren unleserlich gewesen. Er war an einem Punkt angelangt, an dem er einfach nur an einem ruhigen Plätzchen anhalten und sich ausschlafen wollte.

Hinten loderte Jakes Feuerzeug auf. Scott hörte ihn tief inhalieren und kurz darauf ein Husten unterdrücken. Einen Moment später war im Rückspiegel eine glühende Zigarettenspitze zu sehen, und kurz darauf hatte Scott den Joint unter der Nase.

Scott stieß ihn weg: »Ich versuch zu fahren.« Prompt verschwand der Joint wieder hinter ihm. Das Kraut machte Scott nervös. Er wollte das, was er endlich durch lange und harte Arbeit erreicht hatte, nicht wegen etwas so Pubertärem wie einem Beutel Haschisch verlieren. Während er den Wagen in die nächste Kurve lenkte, musste er sich wieder einmal über das paradoxe Phänomen Jake Laking wundern. Trotz Stimmungsschwankungen war sein Freund in Leistungen und Auftreten brillanter als jeder andere, den Scott kannte. Aber es konnte auch passieren, dass sich Jake ohne jede Vorwarnung in die Art Hinterwäldler und lautstarken Proleten verwandelte, wie man sie nachts in Striplokalen und tagsüber in den Warteschlangen vor dem Sozialamt antreffen kann.

Auf dem Rücksitz stimmte Jake den Refrain eines alten High-School-Liedes an: »Gelb und blau, gelb und blau. Wir sind die Champions und machen euch zur Sau.«

Die Straße wand sich scharf nach links. Während Scott in die Kurve bog, strichen die Scheinwerfer an einem windschiefen Straßenschild vorbei.

»Old Burwash Road«, las Scott laut vor. »Schau mal, ob du das auf der Karte finden kannst.«

Der fröhliche Barde auf dem Rücksitz zeigte keine Reaktion. Brian tauchte kurz aus seiner Benommenheit auf und grunzte irgendetwas. »Schalla-la-Schalla-la. Bumm-bumm-ba.« Scott blickte in den Rückspiegel. Er war jetzt echt sauer und drauf und dran, Jake zur Schnecke zu machen. Da schrie Brian: »Pass auf!«, griff ins Steuer und drehte es panisch nach rechts.

Scott sah gerade noch, wie ein Kätzchen pfeilschnell aus dem hohen Gras am Straßenrand auf den Asphalt schoss. Der Schwanz war steil nach oben gerichtet, die Augen funkelten im Scheinwerferlicht in unheimlichem Rot. Der gelbbraune Körper erstarrte mitten auf der Fahrbahn und wartete auf den tödlichen Zusammen prall.

Scott schob Brians Hand zur Seite, drehte das Steuer weiter nach rechts und lenkte die Vorderräder vorsichtig auf den losen Sand des Seitenstreifens, nur knapp an dem vor Angst gelähmten Tier vorbei. Der nasse Sand setzte sich an den Rädern fest und verlangsamte die Fahrt, als halte eine Riesenhand den Wagen zurück.

Der Kopf der Kleinen erschien als Erstes, schnellte wie bei einer winzigen Varietekünstlerin aus dem Grasvorhang hervor. Ihr Körper folgte, und dann stand sie da, nicht einmal vier Meter entfernt, starr vor Schreck, wie eine Sekunde zuvor die kleine Katze. Sie trug ein weißes Rüschenkleid, glänzende, weiße Schuhe und konnte kaum älter als zehn Jahre sein. Ihre Haare wirkten wie gesponnenes Silber und flatterten anmutig in der leichten Brise. Ihre runden, angsterfüllten Augen fixierten Scott mit dem Blick sicherer Todeserwartung, einem Blick, in dem das gleiche rote Feuer flammte wie in den Augen des Kätzchens, als es mitten auf der Straße erstarrt war. Im Licht der Scheinwerferkegel erschien sie blass, ja fast transparent, gespenstisch und unwirklich.

Doch das Geräusch, das zu hören war, als der vordere Teil des VWs sie erfasste, war nur allzu real. Es klang so, als prasselte Hagel auf Blech.

Es klang nach Tod.

Es dauerte nur Sekunden. Doch während dieses katastrophalen Zwischenfalls sollte Scott Bowman erfahren, wie relativ Zeit sein kann. Es kam ihm so vor, als ob sich endlose Folter im schlimmsten Fegefeuer in diese wenigen Sekunden presste. Die Zeit dehnte sich bis in alle Ewigkeit.

Die Folter ging weiter und weiter und weiter.

Die niedrige Stoßstange des Käfers erwischte die Kleine direkt über den Knien. Wie ein getroffener Kegel fiel sie um, direkt auf die schräg abfallende Motorhaube. Ihr Kopf prallte mit einem metallischen »Klonk« auf. Es war ein dumpfer, tödlicher Laut, der Scott noch aus unzähligen Albträumen wecken sollte.

Gleich darauf rollte sie hoch. Ihre schlanken Beine wirkten so, als hätten sie gar keine Knochen, und bogen sich nach rechts, während ihre Arme sich wie Windrädchen in kleinen, lächerlichen Kreisen drehten. Jetzt war ihr Gesicht direkt vor Scott, nur ein paar Zentimeter entfernt. Ihre Augen waren glasig, aber immer noch auf ihn gerichtet, obwohl sie fast sicher schon tot war.

Sie sieht mich an. Oh, lieber Gott, sie sieht mich direkt an ...

Dann knallte ihr Gesicht mit einem scharfen Geräusch so heftig gegen die Windschutzscheibe, dass sie zerbarst. Die glitzernden Scherben fielen nach innen und stachen wie wütende Hornissen. Der nächste Augenblick kam ihm so vor, als werde das Mädchen ewig dort hängen bleiben, während die leblosen Augen ihn anklagend anstarrten. Dann war es fort, zur Seite gerutscht, in die fahle schwindende Nacht.

Der Wagen schlingerte zweimal hin und her, das Heck rutschte zurück auf den Asphalt und kam schleudernd über dem verblassten Mittelstreifen zum Stehen. In der Windschutzscheibe war ein faustgroßes, gezacktes Loch. Daneben sickerte eine kleine, fast unbedeutend wirkende Blutspur wie ein Rinnsal zur linken Seite. Durch das Loch drang kühle Luft und strich über Scotts angstbleiches Gesicht. Es roch nach Blut - wie bei einer Schlachtung. Er schloss die Augen und versuchte, die Zeit zurückzudrehen. Alles, was er brauchte, waren ein paar Sekunden.

Er wollte zu dem Augenblick zurückkehren, in dem das Kätzchen aufgetaucht war. Diesmal würde er das dumme Ding einfach überrollen und weiterfahren, ohne einen einzigen Blick zurückzuwerfen. Satzfetzen schossen ihm durch den Kopf, verzweifelt gestammelte Gebete, die sich an irgendeinen Gott richteten, ob christlich, heidnisch oder was auch immer; Hauptsache, dieser Gott erhörte seine Bitten.

Oh lieber Gott lass sie leben bitte lass sie leben tu alles was du willst aber lass sie leben ich flehe dich an ...

Scott zitterte wie in Krämpfen, jede Faser seines Körpers brannte vor purem Entsetzen. Als er mit den Fingern sein Kinn betastete, stieß er auf Blut, sein eigenes Blut. Es rann aus einer erbsengroßen Wunde. Offenbar hatte ihn eine Salve herumfliegender Glasscherben erwischt. Ein Traum bitte lass es einen Traum sein ... Langsam öffnete er die Augen. Er sah seine Freunde nicht an, sondern blickte auf die Windschutzscheibe - in der verzweifelten Hoffnung, sie sei wieder heil, das faustgroße Loch samt dem Spinnennetz aus Rissen verschwunden, die Blutspur gelöscht. Aber das Loch war dort... Genau wie das Blut. Die Wirklichkeit hatte ihn wieder. Er hörte, wie eine Tür laut zugeschlagen wurde. Leise, bestürzte Stimmen, die durcheinander sprachen. Gleich darauf glitt Scott aus dem Wagen und folgte den Silhouetten seiner Freunde, die jetzt gebückt auf die kleine, zusammengesunkene Gestalt auf der Straße zuliefen. Während die anderen zurückwichen, fiel er neben dem Mädchen auf die Knie. Er war kein Arzt, noch nicht. Aber er wusste, dass die Kleine tot war. Genauso, wie er wusste, dass ein Teil von ihm zusammen mit ihr gestorben war. Als er seine Hand an ihren Hals legte, schlackerte ihm ihr Kopf entgegen. Ihre Augen waren immer noch geöffnet, starrten ihn immer noch mit leerem Blick an.

»Fass sie nicht an«, sagte Brian in die morgendliche Stille hinein. »Du könntest ihre Wirbelsäule verletzen.«

»Sie ist tot, du Arschloch«, bemerkte Jake kalt.

Beim Klang von Jakes Stimme sah Scott auf. Sein Herz tat einen Sprung.

Jakes Augen - normalerweise von einem sanften, blassen Grün - wirkten jetzt so, als erhellten sie mit ihrem bernsteinfarbenen Glanz die Straße, während er sie in beide Richtungen schweifen ließ und den Blick anschließend dem angrenzenden Wald zuwandte. Er stand mit vorgezogenen Schultern da, den Kopf grübelnd zur Seite geneigt. Einen Augenblick lang tauchte vor Scott das Bild einer angespannten Wildkatze auf, die Gefahr riecht und sich bereitmacht, ihrem Opfer den Bauch aufzuschlitzen.

In diesem Moment wurde Scott jeder einzelne Gedanke seines Freundes bewusst. Weil er die gleichen Gedanken hatte.

Brian Horners riesiger Körper zeichnete sich gegen den indigoblauen Himmel ab. Er schwankte hin und her, starrte wie benommen auf das Kind und begann gleich darauf zu wimmern. Erst jetzt wurde ihm nach und nach klar, was geschehen war.

Als Scott sich wieder der Kleinen zuwandte, merkte er, dass sie ein Albino war. Das erklärte die geisterhafte Blässe, das schneeweiße Haar ... und diese Augen! Ihnen fehlte jedes Pigment, deshalb hatten sie das Scheinwerferlicht rot reflektiert.

Rot war auch ihr Blut, das zähflüssig und warm an seiner Hand klebte. Inzwischen hatte sich eine Pfütze aus Blut gebildet, die ihren zerschmetterten Schädel wie ein gotteslästerlicher Heiligenschein umrahmte.

Die Welt stand Kopf. Die Dunkelheit, die schon auf dem Rückzug gewesen war, kehrte plötzlich wieder und breitete sich in Scotts Blickfeld wie pechschwarze Tinte aus. Er hörte eine barsche, vorwurfsvolle Stimme — Jakes Stimme. Dann gruben sich klauenartige Finger in seine Schulter. Aber die Stimme klang wie sehr weit weg und hohl, als dringe sie vom Grunde eines dunklen, leeren Brunnens zu ihm empor.

Und jetzt stürzte er in diesen Brunnen hinab ... tiefer und tiefer ... Immer schneller drehte sich die Spirale.

Auf dem Grund wartete das weiße Gesicht des Kindes auf ihn.

Und Augen, die wie Feuer brannten.