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»Können Sie es herausbekommen?«
Der Laborant kratzte sich am bärtigen Kinn. »Das kann ich jetzt noch nicht sagen, Dr. Bowman. Die Probe ist schrecklich klein.«
Nachdem Scott Batemans Büro verlassen hatte, war er direkt ins Labor der Hämatologie gegangen, das sich im Kellergeschoss der Klinik befand. Batemans Hypothese, es könne sich bei dem Farbstoff um Blut handeln, hatte bei Scott eine Gänsehaut ausgelöst Er wollte diese Sache geklärt wissen. Schließlich war es ja durchaus möglich, dass der Alte zu krankhaften Selbstverstümmelungen neigte, auch wenn die körperlichen Anzeichen dafür fehlten.
»Können Sie das nicht in irgendeiner Flüssigkeit oder so was auflösen? Die Sache ist wichtig!«
»Kann's versuchen.« Der Labortechniker kratzte den Farbstoff ab und trug ihn auf einer flachen, kleinen Platte auf. »Aber das wird ein bisschen dauern. Wo kann ich Sie erreichen?«
»Am besten, Sie piepsen mich über Funk an. Heute Nachmittag bin ich die meiste Zeit in der Klinik unterwegs.«
Anschließend ging Scott in sein Büro, teilte seiner Sekretärin im Vorzimmer mit, er sei jetzt für niemanden zu sprechen, und sperrte die Tür hinter sich ab. Während er die Beine auf einen Stuhl legte, ging er die Zeichnungen gründlich durch.
Als er die Skizzen im Zimmer des Alten zum ersten Mal gesehen hatte, war es ihm so vorgekommen, als müsse er die ganze Katastrophe noch einmal durchleben. Bei geschlossenen Augen hatte er tatsächlich spüren können, wie die Algen sich um seine Haut wanden und das Wasser ihm die Kehle zuschnürte. Mehrere Sekunden hatte er unter Schock gestanden, bis sich in seinem Kopf schließlich die einzige Schlussfolgerung durchsetzte, die wenigstens ansatzweise plausibel war. Zum selben Schluss war er auch am Morgen des Zwischenfalls unter dem Landesteg gekommen. Dies alles konnte nur an irgendeinem absonderlichen und höchst komplexen Zusammentreffen verschiedenster Umstände liegen. Es war bloßer Zufall.
Selbstverständlich hatte sein Verstand nach dieser Krücke gegriffen. Diese Erklärung erschien ihm immer noch recht verlockend, allein schon deswegen, weil sie so vernünftig klang.
Aber welcher enorme und völlig unwahrscheinliche Zufall sollte das gewesen sein?! Abgesehen von dem Seeungeheuer, lag der einzige Unterschied zwischen Zeichnungen und Wirklichkeit darin, dass die Hand auf dem Cartoon das rettende Tau nicht erreicht hatte.
Hatte sich der Alte in diesem Punkt geirrt? Inzwischen glaubte Scott seinen Prophezeiungen, obwohl ihm nichts lieber gewesen wäre, als die ganze Angelegenheit als völlig verrückt abzutun. Oder hatte er selbst es irgendwie geschafft, dem ihm vorherbestimmten Tod ein Schnippchen zu schlagen?
Er schüttelte den Kopf. Er watete hier durch einen ganzen Sumpf von Fragen, die jeder Vernunft spotteten.
Gleich darauf ließ er die Zeichnungen los, so dass sie ungehindert auf die Schreibtischplatte segelten. Wie so oft, wenn er im Büro eine ruhige Minute fand, wandte er sich dem gerahmten Familienfoto auf dem Regal hinter sich zu. Aber das Foto stand nicht am gewohnten Platz.
Scott sprang so hastig auf, dass er die verletzte Hüfte strapazierte. Nachdem er einen Augenblick lautlos vor sich hin geflucht hatte, durchsuchte er das ganze Büro nach dem Bild.
Schließlich meldete er sich über die Gegensprechanlage bei seiner Sekretärin.
»Ja, Dr. Bowman?«, war Claires Stimme zu hören.
»Aus meinem Büro ist ein Foto verschwunden, Claire, das Foto von meiner Familie. Vermissen Sie auch irgendetwas?«
»Nicht dass ich wüsste, Doktor, aber ich werd mal genauer nachsehen.«
»Ja bitte, wenn's nicht zu große Mühe macht. Noch etwas, Claire: Erkundigen Sie sich, wer hier sauber gemacht hat Kann ja sein, dass das Foto beim Putzen heruntergefallen und der Rahmen zerbrochen ist Und dann haben die aus Angst nichts gesagt. Aber an diesem Foto hab ich besonders gehangen, und ich kann es nicht wieder abziehen lassen, weil ich kein Negativ besitze.«
»Wird erledigt.« Claire schaltete die Sprechanlage aus.
Etwas durcheinander nahm Scott wieder Platz und fuhr sich mit den Händen unbewusst an die Hüfte. In letzter Zeit hatte es in der Klinik einige Probleme mit kleineren Diebstählen gegeben: Aus unbeaufsichtigten Handtaschen war Geld verschwunden, aus offenen Garderoben Kleidung entwendet worden. Das Klauen hatte so lange angehalten, bis man schließlich zwei Leute vom Putzpersonal dingfest gemacht hatte. Einige der vermissten Dinge waren in ihren Spinden wieder aufgetaucht. Allerdings begriff Scott nicht ganz, was irgendjemand mit einem Foto anfangen sollte - bis ihm wieder einfiel, dass der Messingrahmen eine Antiquität und kostbar war. Aber warum fehlte dann nichts anderes?
Mit einem letzten skeptischen Blick auf die Zeichnungen verstaute er sie in einer der oberen Schreibtischschubladen. Danach rief er bei Steve Franklin an.