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15

Kath war eingenickt. Das wunderte Krista, denn normalerweise musste Kath ihre Puppe Jinnie im Arm haben, ehe sie auch nur daran dachte, die Augen zu schließen. Lächelnd betrachtete Krista das Profil ihrer schlafenden Tochter. Mittlerweile häuften sich die unverkennbaren Anzeichen dafür dass Kath in die Pubertät kam. Dass sie ihre Puppe zu Hause vergessen hatte, war noch das mindeste. Meine Güte, sie entwickelte ja sogar schon Brüste und klagte über Krämpfe im Unterleib, die Krista daran erinnerten, dass sie selbst auch zu den Frühreifen gezählt hatte. Wenigsten war sie schon zwölf Jahre alt gewesen, als das alles losging - aber mit zehn?!

Kristas Laune wurde endlich wieder besser, wie sie selbst merkte. Am Vorabend, bei ihrer Schwester, war sie trübsinnig und unterschwellig auch wütend gewesen. Und diese Stimmung war heute am frühen Nachmittag in heftige Wut umgeschlagen, als sie gemerkt hatte, dass sie irgendwo in den Waldwegen der White Mountains gelandet waren und sich im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Holzweg befanden. Sie hatte sich selbst versprochen, sich auf dieser Reise von Klara auf keinen Fall provozieren zu lassen, aber dieses Versprechen hatte sich als nutzlos erwiesen.

Wie ihre Mutter war Klara jemand, der über alles und jedes herzog. Mit dieser ablehnenden Haltung reagierte sie auf alles, was ihr begegnete. Und ein Lieblingsziel ihrer Angriffe war Scott, den sie bei jeder Gelegenheit nach Kräften schlecht machte. Krista war zwar klar, dass die Hasstiraden ihrer Schwester vor allem vom Alkohol beflügelt wurden, dennoch führten Klaras rohe und unbegründete Attacken unvermeidlich dazu, dass sie selbst in die Defensive geriet. Am Sonntagabend hatte Krista versucht, ihrer Schwester ausführlich davon zu erzählen, wie Scott beinahe ertrunken wäre. Hauptsächlich auch deshalb, um ein wenig von der Spannung abzubauen, die sich bei ihr selbst aufgrund dieses Erlebnisses angestaut hatte. Doch Klara war ihr schon nach wenigen Sekunden mit ätzenden Bemerkungen ins Wort gefallen.

»Willst du damit sagen, dass dieser Seelenklempner von Ehemann mit einem Kater tauchen gegangen ist? Mein Gott, was hast du doch für einen verantwortungslosen Mistkerl geheiratet. Und was erwartet er von dir und deinem Kind, während er auf dem Seegrund Entenmuscheln sammelt?« Wütend starrte sie Joe an. »Wenn mein Mann jemals Lust hätte, eine solche Nummer abzuziehen, würde ich ihn glatt umbringen.«

Krista, die angespannt und zornig war und gleichzeitig Mitleid mit ihrem Schlappschwanz von Schwager empfand, entschuldigte sich früh und ging zu Bett. Ruhelos warf sie sich die ganze Nacht hin und her und stand am Morgen schon eine Stunde vor dem Hahnenkrähen auf - ehe Klara Gelegenheit hatte, sie erneut in die Mangel zu nehmen. Flüsternd verabschiedete sie sich von Joe, ließ einen Zettel für ihre schnarchende Schwester da und scheuchte Kath hoch, noch ehe sie ihren Frühstückstoast aufgegessen hatte. Die Erleichterung darüber, dass ihre Flucht so glatt verlaufen war, und der viel versprechende blaue Himmel gaben ihr Hoffnung, dass ihre Reise trotz allem doch noch gut verlaufen würde.

Die Auseinandersetzung mit ihrer Schwester war schon schlimm genug gewesen, doch so zwangsläufig, als braue sich langsam ein Sturm zusammen, sollte es bald noch viel schlimmer kommen. Der Zollbeamte an der Grenze war offenbar mit dem falschen Bein zuerst aufgestanden und ganz scharf darauf, sie zu drangsalieren. Eine gute halbe Stunde verbrachte er damit, sich über den geöffneten Kofferraum des Volvo zu beugen und jedes einzelne Gepäckstück zu durchwühlen, das er finden konnte. Zurück blieb ein wildes Durcheinander. Zehn Minuten, nachdem sie die Landesgrenze nach Vermont überquert hatten, hielt sie ein Polizist wegen Verstoßes gegen die Geschwindigkeitsbeschränkung an und zwang sie, mit ihm zusammen mehr als zehn Kilometer zurück zur Polizeiwache irgendeiner kleinen Stadt zu fahren, damit sie dort die Geldbuße zahlte. Kurz vor Montpellier ging ihr das Benzin aus. Danach zeigte ihr ein erboster Tramper den Stinkefinger. Und auf der Terrasse vor dem McDonald's in Barre ging eine mordlustige Seemöwe im Sturzflug auf sie los.

Aber der Gipfel aller Katastrophen sollte erst noch kommen, nachdem sie die Stadtgrenze von Lincoln in New Hampshire passiert hatten.

»Eh, Mom, ich glaub, wir hätten da hinten rechts statt links abbiegen müssen«, meldete sich Kath. Es war eine Feststellung, in der ein vorwurfsvolles »Hab-ich's-dir-nicht-gleich-gesagt?!« mitschwang.

Kath, die auf die Straßenkarte des Automobilclubs gesehen hatte, hatte es ihr tatsächlich rechtzeitig gesagt. Trotzdem war Krista links abgebogen, eigentlich ohne jeden einleuchtenden Grund. Es war ihr einfach ... richtig vorgekommen, so, als habe es sich von selbst ergeben. Erst später war ihr aufgefallen, dass sie sich recht seltsam verhalten hatte. Denn von Natur aus war sie doch gar nicht so impulsiv, schon gar nicht, wenn sie ein bestimmtes Ziel hatte. Sicher, sie hatte den abrupten Wechsel des Straßenzustands bemerkt: Die Asphaltdecke wies hier alle möglichen Risse auf und sah verblichen aus. Dabei hatte sie an die von der Sonne verbrannten Lehmbrocken denken müssen, mit denen sie als Kind auf dem Kartoffelacker von Onkel Albert gespielt hatte. Und die Straßen wurden jetzt auch schmaler. Aber die Umgebung hatte so heimatlich gewirkt. Die peinlich sauberen Bauernhöfe und kultivierten Felder hatten sie an Neufundland erinnert, wo sie geboren war.

Doch nach fünfundzwanzig oder dreißig Kilometern hatte der Asphalt plötzlich aufgehört, einfach so. Die unbefestigte Landstraße, die hier begann, war nur noch am Rand betoniert Rechts wurde sie von Ansiedlungen gesäumt, links von einem Weg für Dinosaurier oder sonstige Urviecher. Nachdem sie eine halbe Stunde auf dieser Straße geblieben waren, hatte Kath vorgeschlagen, einfach umzudrehen. Aber Krista hatte wieder nicht auf sie gehört, sondern war weitergefahren. Aus zwei Gründen: Zum einen hatte sich die Straße mehr als ein dutzend Mal geteilt, ohne dass an irgendeiner Abzweigung ein Hinweisschild aufgetaucht wäre - und das bedeutete, dass die Chance, bald wieder auf eine Stadt zu stoßen, gleich Null war. Zum anderen widersprach das Umkehren ihrem Naturell. So etwas hatte ihr noch nie gelegen. Manchmal war das auch gut so ... aber längst nicht immer.

Es dauerte nicht lange, da hatten sie vierzig oder mehr Kilometer ins Nirgendwo zurückgelegt. Krista nahm an, dass sie sich irgendwo südlich von Mount Hancock befinden mussten, einem mehr als dreizehnhundert Meter hohen Berg, der auf der Straßenkarte nur als winziges Dreieck verzeichnet war. Mit knapp fünfundzwanzig Stundenkilometern krochen sie auf einem vom Rinnsalen und Schlaglöchern durchzogenen Feldweg dahin, der links und rechts von Bäumen gesäumt wurde. Bäume, nichts als Bäume, deren Kronen einander berührten, deren Laub sich miteinander verschränkte, so dass sie wie durch einen Tunnel fuhren. Auf beiden Seiten setzten sich die Baumreihen bis ins Endlose fort. An manchen Stellen sah es so aus, als könnten sie die Weiterfahrt blockieren. Hin und wieder brachen die Strahlen der Spätnachmittagssonne durch den Tunnel, aber alles in allem wirkte die Atmosphäre düster.

Sie hatten jede Orientierung verloren.

Allerdings ließ sich Kath davon nicht aus der Fassung bringen, das war nicht ihre Art. Genau wie ihr Vater sah sie fast jede Situation von der Sonnenseite her. Sie schob ein Band ins Kassettendeck: Thriller dröhnte los und machte der Stille ein Ende. Das Video in Kaths Kopf spulte die Szene ab, in der Michael Jackson über einen von Nebel verhangenen Friedhof stolziert und Vincent Price mit seinem legendären Bass Unheil und Verderben prophezeit. Kath, Zeit ihres jungen Lebens ein Jackson-Fan, ließ die Glieder zucken und vollführte einen Breakdance, wenn auch nur mit den Beinen.

Sie fuhren weiter und weiter, nie schneller als fünfzig. An manchen Stellen bremste Krista so scharf ab, dass die Reifen quietschten und der Volvo fast zum Stehen kam. Die laute Musik machte ihr nichts aus - sie dämpfte das metallische Scheppern und Knirschen des Fahrgestells.

Die Straße, sofern man überhaupt von einer Straße sprechen konnte, war wirklich schlimm.

Kath hielt nach Tieren Ausschau und ließ ihren Blick von einer Seite zur anderen schweifen. Vorhin hatte sie ein paar Kaninchen entdeckt, außerdem ein Rehkitz, das noch wacklig auf seinen Beinen stand.

»He, Mom, is' doch toll hier, nich'?«, schrie sie so laut, dass sie die Musik übertönte.

Krista nickte und dachte bei sich: Tja, wirklich toll Völlig orientierungslos am Arsch der Welt. Müde und gerade dabei, den Wagen deines Vaters zu Schrott zu fahren. Wirklich zum Totlachen, Mädchen.

Nach weiteren zwanzig Minuten - sie hatten nicht einmal zehn Kilometer hinter sich gebracht - entdeckte Kath in einer sonnigen Lichtung einen Mann, der gerade frisch gefällte Baumstämme auf den Anhänger eines kleinen, roten Traktors lud. Auf einem der Kotflügel lag eine Kettensäge, die im Sonnenschein funkelte.

»Sieh mal, Mom, da drüben.« Kath deutete auf die Lichtung.

Krista bremste ruckartig ab und hielt sofort an, denn es kam ihr so vor, als habe sie gerade den letzten Überlebenden auf dem Planeten Erde gesichtet. Der Waldmensch richtete sich auf, wischte sich die Hände an den Hosenbeinen seines Overalls ab und wandte sich der Straße zu. Gleich darauf stieg Krista aus und ging mit steifen Beinen zur anderen Wagenseite hinüber. Dabei stellte sie fest, dass der Autolack mit einer dicken, grauen Staubschicht überzogen war.

»Entschuldigen Sie«, rief sie ins Gehölz hinein und schwenkte die Hand über dem Kopf. Der Mann winkte zurück und stapfte durch das Unterholz auf sie zu. Plötzlich schüchterte seine enorme Größe Krista ein.

»Ja, Ma'am?«, fragte er fast unterwürfig, während er mit sicherem Schritt die Böschung erklomm. Sein Grinsen wirkte sympathisch und freundlich, außerdem war er jünger, als Krista ursprünglich gedacht hatte. Aus der Nähe betrachtet sah er nicht älter als achtzehn oder zwanzig aus. »Was kann ich für Sie tun?« Er zog ein blaues Halstuch aus der Hüfttasche, rieb sich damit über die Stirn und steckte es wieder weg. »Ham Se sich verfahr'n?«

»Tja, bin vorhin, nahe bei Lincoln, falsch abgebogen.«

Sein Mund verzog sich zu einem noch breiteren, wissenden Grinsen. »Passiert oft. Wohin woll'n Se denn?«

»Na ja, eigentlich nach Boston, aber im Augenblick wär ich schon froh, wieder auf die Hauptstraße zu kommen.« Über die Schulter sah sie zu dem Feldweg hinüber, auf dem sie zuletzt gefahren waren. »Oder überhaupt auf irgendeine richtige Straße.«

»Teufel noch mal, is' doch 'ne leichte Übung.« Er wandte sich halb um und deutete irgendwohin. Dabei nahm er sein Ziel so ins Visier, als sei der ausgestreckte Arm ein Gewehrlauf. »Fahrn Se einfach aufm Weg weiter, den Se gekommen sind. Nur müssen Se sich rechts halten, wo der sich gabelt. Dann sind Se in Null Komma nix wieder auf der gepflasterten Straße.« Immer noch grinsend trat er einen halben Schritt näher. »Sind Se aus Kanada?«

»Ja«, erwiderte Krista und wich zur Fahrerseite des Volvo zurück. »Stimmt genau.«

Als die solide Breite der Motorhaube zwischen ihnen lag, war ihr schon wohler. Jetzt grinste der Typ Kath an, die immer noch auf ihrem Sitz herumhopste. Das Fenster war geschlossen. Der Bursche wirkte zwar durchaus freundlich ... Aber er roch schlecht und war einen ganzen Kopf größer als Scott, der immerhin auch gut einen Meter fünfundachtzig maß. Und seine Augen wirkten irgendwie seltsam. Sie wanderten allzu häufig hin und her, und eines war so nach außen gedreht, als spähe er heimlich auf einen Punkt in ihrem Rücken. Kristas Fantasie neigte dazu, mit ihr durchzugehen.

Schließlich hatte sie den Film The Texas Chainsaw Massacre noch gut in Erinnerung. Falls sich dieser Bursche in den Kopf setzen sollte, sie beide in den Wald zu schleppen, würden sie kaum eine Chance zur Flucht haben - Aerobics hin oder her.

»Danke für Ihre Hilfe«, sagte sie und ließ sich schnell auf den Fahrersitz gleiten. »Schönen Tag noch.« Insgeheim war ihr diese Phrase zwar zuwider, aber hier schien sie ihr angebracht.

Er kramte erneut das Halstuch hervor und wischte sich nochmals über die Stirn. »Wünsch ich Ihnen auch, Ma'am. Und denken Se dran: bei der Gabelung rechts halten.«

Während Krista losfuhr, beobachtete sie ihn im Rückspiegel. Er blieb noch einen Augenblick stehen, um ihnen nachzusehen, dann steckte er das Halstuch weg und machte sich auf den Rückweg zum Traktor.

Die Safari zu den baumreichen Ausläufern der White Mountains hatte sie gute drei Stunden gekostet. Um die Zeit wieder hereinzuholen, verzichteten sie darauf, zum Abendessen anzuhalten. Stattdessen knabberten sie beim Fahren ihre Brote, die mit Käse, Tomaten, Schinken und Salatblättern belegt waren.

Nach der Uhr am Armaturenbrett war es inzwischen 22.00 Uhr. Krista war klar, dass Caroline mittlerweile schon auf sie warten würde, aber sie waren immer noch auf der 122, gut vier Stunden von Boston entfernt. Sie hatte kurz überlegt, ob sie anhalten und nach einem Telefon suchen sollte, aber sie rechnete mit Carolines Verständnis, denn sie und ihre Halbschwester waren sich recht ähnlich.

Während sie durch die hereinbrechende Nacht fuhr und Kath leise neben ihr schnarchte, dachte sie voller Liebe an Scott. Nach dem Schrecken, den er ihr am Samstagmorgen eingejagt hatte, war ihr deutlich bewusst geworden, wie viel er ihr bedeutete, wie sinnlos ihr Leben - abgesehen von ihrer Liebe zu Kath - ohne ihn wäre. Scott kannte seine Frau in- und auswendig und liebte sie wahnsinnig, daran hegte sie keinerlei Zweifel. Die gesamten zehn Jahre ihrer Ehe hindurch hatte er sie sozusagen auf Händen getragen.

Allerdings hatte Krista mitunter das beunruhigende Gefühl, dass es irgendwo tief in seinem Inneren etwas nicht sonderlich Erfreuliches gab, das Scott ihr vorenthielt. Irgendein dunkles Geheimnis, was es auch sein mochte. Im Laufe der Jahre hatte sie es immer weniger gespürt, dennoch gab es Zeiten ...

Wie zum Beispiel am Freitagabend, am Abend seines Geburtstages. Was hatte in dem Brief gestanden, den er an diesem Tag erhalten hatte - in dem Brief mit der Nachricht, dass sein früherer Kommilitone gestorben war? Was hatte er ihr verschwiegen? In seinem Gesicht hatte sich pures Entsetzen gespiegelt. Selbst wenn sein bester Freund Gerry gestorben wäre, hätte sie ein solcher Gesichtsausdruck verblüfft. Warum hatte er den Brief so ins Feuer geschleudert, als müsse er sich von einer zappelnden Schlange befreien?

Vor Jahren, als sie frisch verheiratet gewesen waren, hatten ihm Träume, nächtliche Albträume, so zu schaffen gemacht, dass er oft schreiend und schweißüberströmt aus dem Schlaf gefahren war. Und er hatte danach stets behauptet, er könne sich an den Inhalt dieser Träume überhaupt nicht erinnern. Und da waren noch andere Dinge gewesen, die ihr aufgefallen waren: Manchmal, wenn sie beide allein gewesen waren und Krista sich beim Fernsehen in seine Armbeuge geschmiegt hatte, war es ihr eindeutig so vorgekommen, als nehme er sie gar nicht wahr, als sei er der Wirklichkeit völlig entrückt. Das war ein recht unheimliches Gefühl gewesen.

Doch das war Schnee von gestern, wie sie sich selbst sagte. Inzwischen hatten sie ein wunderbares Familienleben, und auch die Zukunft sah rosig aus. Sie würden gemeinsam alt werden und Fett ansetzen. Scott fehlte ihr, wenn sie nicht beieinander waren, aber sie wusste auch, dass er solche Trennungen auf Zeit schwerer nahm als sie. Nach ein paar Tagen ließ er sich dann irgendwie gehen, trank zu viel, aß nichts Gescheites und vergaß auch, aufzuräumen oder sauber zu machen. Obwohl er, wenn Krista zu Hause war, häufig kochte und putzte - es schien ihm wirklich Spaß zu machen. Er war nicht notorisch schlampig oder nachlässig, nur brauchte er seine Familie um sich herum. Sie war der Kitt, der ihn zusammenhielt. Auch das war für Krista ein beruhigendes Gefühl: Ihr Mann brauchte sie wirklich. Und sie machte kein Hehl daraus, dass sie dieses Gefühl genoss.

Jenseits des Horizonts flackerten am Himmel, der von Elektrizität aufgeladen war, die grellen Blitze eines Hitzegewitters auf. Es sah so aus, als explodierten dort Bomben. Im steten Licht der Scheinwerfer fielen Krista die Blätter der Bäume am Straßenrand auf: Windböen rüttelten sie so durch, dass ihre silbernen Unterseiten zu sehen waren. Kristas Mutter hatte immer behauptet, das sei ein sicheres Anzeichen für aufkommenden Sturm.

Verärgert von der Aussicht, dadurch womöglich noch später anzukommen, drückte Krista noch ein bisschen stärker aufs Gaspedal. Die Tachonadel zeigte jetzt auf hundertzehn. Im Volvo kam ihr das gar nicht so schnell vor, besonders jetzt nicht, denn auf der Strecke war buchstäblich nichts los. Der Wagen hatte eine ausgezeichnete Straßenlage, und Krista bremste nur ab, wenn sie durch kleine Städte oder Dörfer fuhr, was inzwischen kaum noch vorkam.

Plötzlich trat sie so scharf auf die Bremse, dass der Wagen mit knirschenden Reifen zum Stehen kam. Vor der Windschutzscheibe waren leuchtende, bernsteinfarbene Augen aufgetaucht, die, wie sich jetzt herausstellte, Waschbären gehörten. Es war eine ganze Bärenfamilie - eine Mutter mit zwei Kleinen -, die gemächlich und hintereinander über den Asphalt schlurfte. Nachdem sie, offenbar ohne sonderliches Interesse, kurz zum Wagen herübergeschaut hatten, verschwanden die drei jenseits des Seitenstreifens im hohen Gras.

Kath fuhr mit einem letzten Schnarcher hoch. »Was ist los?«

Krista fuhr wieder an. »Nichts, Kleines, nur eine Bärenfamilie.« Dennoch hatte ihr Herzschlag sich heftig beschleunigt.

Kath drehte sich im Sitz um und blinzelte durch das Heckfenster. »Schade, ich hab sie verpasst.«

»Ich auch, da haben sie noch mal Glück gehabt.«

Kath lächelte, um gleich darauf - wandlungsfähig wie ein Chamäleon - das Gesicht zur Schmollmiene zu verziehen. »Wo ist Jinnie?«

»Zu Hause, in deinem Zimmer, nehme ich an«, erwiderte Krista und dachte: Sie ist immer noch ein kleines Mädchen, zumindest wenn sie schläft.

»Ich hab sie vergessen ... ups!« Kath pupste - zwar leise, aber dennoch nicht zu überhören. »Hab gefurzt!«, kicherte sie.

Krista unterdrückte ein Lachen. »Sag nicht furzen, das ziemt sich nicht für eine Dame.«

»Hab doch gar nicht furzen gesagt, sondern ge-furzt.«

»Kath«, mahnte Krista mit gespielter Strenge.

»Was soll ich denn sonst sagen?«

»Gar nichts. Wenn du furzt, sagst du besser gar nichts und versuchst, es einem anderen in die Schuhe zu schieben.«

Kath lachte. »Sind wir bald da?«, fragte sie nach kurzer Pause.

»Ist nicht mehr weit. Bist du müde?«

»Hm.« Sie wischte sich etwas Feuchtes aus dem Augenwinkel. »Hoffentlich geht's Daddy gut.«

»Bestimmt, Liebes. Du hast doch gestern Abend selbst mit ihm gesprochen, am Telefon.«

Der Volvo schwenkte gerade in eine scharfe Kurve, die erst über einen Buckel und dann steil hinunter führte. Vorsichtig lenkte Krista den Wagen durch die Kehre und sah danach zu Kath hinüber.

»Tja«, sagte Kath ohne rechte Überzeugung. »Allerdings ... Mom!!«

Aus purem Instinkt heraus - ihr blieb nur noch Zeit, einen kurzen Blick auf den kommenden Straßenabschnitt zu werfen - trat Krista mit voller Kraft auf die Bremse, so dass der Wagen wild herumschleuderte und sich drehte.