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16

Die leichte Brise gewann schnell an Kraft, wurde zum tosenden Wind, der sich so schnell vorwärts zu bewegen schien, als laufe er vor irgendetwas - etwas Düsterem - davon. In der Ferne dröhnten Donnerschläge wie Fußtritte von Riesen. In scharfem Gegensatz zu diesen Geräuschen, die nur sporadisch zu hören waren, hatte sich eine unheimliche Stille, die Ruhe vor dem Sturm, über alles gelegt. Es war eine Stille, die einen verrückt machen konnte, eher trostlos als friedvoll, die Art von toter Stille, die einem düstere Gedanken eingibt.

Scott, der in dieser Stille einsam und allein dasaß, zog nur wenig Trost aus dem kalten Würfel des Lichts, mit dem ihn das Fernsehzimmer umgab. Die Nacht da draußen kam ihm fast flüssig vor, flüssig wie schwarzes Wasser, das sich an den Scheiben sammelte und nur darauf wartete, dass er die Lampen gedankenlos löschte, damit es hineinströmen und ihn verschlingen konnte. Als ihn ein Luftzug an seinem Platz neben dem Mickymaus-Telefon streifte, bekam er eine Gänsehaut, denn er trug nur ein kurzärmeliges Hemd. Schon seit zwei Stunden saß er mit Kaths Flickenpuppe im Schoß da.

Als er jetzt seine Position im Sessel verlagerte, war er dankbar dafür, dass das Quietschen die Stille unterbrach, die kurz zuvor noch so unantastbar gewirkt hatte. Er fühlte sich genauso steif wie an dem Tag, an dem er fast ertrunken wäre, deshalb stand er auf und ging zur Stereoanlage hinüber. Er wählte etwas, das er sich bisher nur ein einziges Mal angehört hatte: Bachs >Goldberg-Variationen<, gespielt von Glenn Gould. Die Anlage im Musik- und Fernsehzimmer war alt und ihre automatische Steuerung längst kaputt. Unbeholfen senkte Scott die Nadel auf die LP. Es gab ein raues, knirschendes Geräusch ... und dann füllten kühle, präzise Klavierakkorde den Raum. Er stellte die Lautstarke so ein, dass die Musik gerade noch zu hören war.

Danach ging er zu dem kleinen Kellerkühlschrank hinüber, fischte das letzte Sixpack Bier heraus und kehrte zu seinem Platz am Telefon zurück. Nachdem er eine Dose aufgerissen und sie mit einem einzigen wohltuenden Schluck geleert hatte, erfasste ihn unverzüglich ein leichtes Schwindelgefühl.

Es war noch nicht so spät, dass Krista nicht mehr hätte anrufen können. Es konnten hundert harmlose Dinge dazwischen gekommen sein und er wusste nur allzu gut, dass Krista sich von ihrem Ziel durch nichts abbringen ließ, wenn sie sich etwas Bestimmtes in den Kopf gesetzt hatte. Wenn sie jetzt mit ihrer Tochter nach Boston fuhr, dann tat sie genau das, mochte kommen, was da wolle. Und nichts, wenn nicht gerade ein Wirbelsturm oder eine nukleare Katastrophe, würde sie daran hindern.

Als er an Kristas - manchmal enorme - Willensstärke dachte, musste Scott trotz all seiner Sorgen und Ängste lächeln. Während der Jahre seiner Facharztausbildung war es Kristas Stärke gewesen, die ihn mehr als einmal davor bewahrt hatte, den ganzen verdammten Bettel einfach hinzuschmeißen. Krista war eine Kraft an sich; selbst in ihrer Abwesenheit ließ sich ihre Präsenz nicht leugnen. Das ganze Haus strahlte ihre Berührung, ihren Geschmack, ihr Wirken aus.

Während Scott die zweite Dose Bier aufriss, ertappte er sich dabei, dass seine Gedanken unwillkürlich zu dem Tag zurückwanderten, an dem er ihr zum ersten Mal begegnet war.

Er war damals seit genau drei Wochen in Sandy Point, Neufundland gewesen und hatte sich gerade erst in Doktor Friths Praxis für Allgemeinmedizin eingearbeitet. Scott war für Frith eingesprungen, nachdem der praktische Arzt einen zweiten Herzinfarkt erlitten hatte. Wie der erste Infarkt war auch der zweite recht glimpflich verlaufen, aber der alte Hausarzt hatte ihn als Warnzeichen betrachtet und sich dafür entschieden, sechs Monate zu pausieren. Scott, der darauf aus war, sich eine kleine finanzielle Reserve anzulegen, ehe er sich spezialisierte, war im hinteren Teil einer Ärztezeitschrift, der Zeitschrift der Kanadischen Ärztevereinigung, auf Friths Anzeige gestoßen und hatte sich beworben. Wie sich herausstellte, war seine Bewerbung die einzige gewesen.

Frith führte seine Praxis nach einem einfachen System: Er hatte zwei Untersuchungs- und Behandlungsräume, zwischen denen er hin- und herpendelte. Seine Arzthelferin, eine Teutonin namens Eva Underhoffer, mit der nicht zu spaßen war, sorgte dafür, dass die Praxis wie eine gut geölte Maschinerie lief. Scott musste nur von einem Raum zum anderen wechseln, um dort einen neuen Patienten lächelnd und auf ihn wartend vorzufinden - das Wiegen und die Urinproben waren bereits erledigt.

An diesem Tag hatte die Arzthelferin, nachdem sie eine ältere Diabetikerin gewogen hatte, Scott beiseite genommen und ihn in ihrem schroffen, überheblichen Ton angekündigt, er werde seine nächste Patientin vielleicht als »ein wenig unangenehm« empfinden - wie die Underhoffer es in der ihr eigenen diskreten Terminologie auszudrücken beliebte. Es handle sich um ein junges Mädchen (einen »Hie-ppy«), das in »andere Umstände« geraten sei und jetzt nach einem Ausweg suche. Auf solche Ansinnen konnte die Underhoffer nur mit finsteren Blicken und eifernder Selbstgerechtigkeit reagieren.

Flankiert von der Arzthelferin, deren Waden ihn an Fässer erinnerten, hatte sich Scott in Raum 2 begeben und dort Krista Draper, damals noch Teenager, vorgefunden. In ein Laken gehüllt, hatte sie auf dem Untersuchungstisch gesessen und war bei seinem Anblick heftig errötet. In dieser Anfangszeit war Scott sowieso stets nervös gewesen, als Arzt noch ein Grünschnabel, der mit einem Kopf voll auswendig gelernter Fakten samt einer schwarzen Tasche voller Unerfahrenheit durch die Gegend taumelte. Aber irgendetwas an diesem Mädchen hatte ihn sofort umgehauen. Nichts, das er damals mit einem Namen hätte belegen können. Vielleicht war es etwas in diesen großen, gletscherblauen Augen, in ihrem forschenden, aufgeweckten Blick. Was immer es auch war, jedenfalls ertappte er sich plötzlich dabei, dass er einen trockenen Mund hatte, stotterte und kaum in der Lage war, die Arzt-Patienten-Farce durchzuziehen. Wäre er impulsiver (und sehr viel weniger professionell) gewesen, hätte er vielleicht gesagt: »He, wie wär's, wenn wir beide in die Stadt gehen, uns ein Eis holen, ein bisschen auf der Mole entlangschlendern und diese ganze Sache mit der Abtreibung wie zwei vernünftige Erwachsene durchsprechen.« Stattdessen hatte er all die Fragen gestellt, die von ihm erwartet wurden, auf ihrer Karteikarte Notizen eingetragen (Frith hatte die Karte peinlich genau alle achtzehneinhalb Jahre ihres Lebens hindurch geführt) und sie anschließend untersucht.

Und dieses eine Mal war Scott tatsächlich froh gewesen, dass er Friths dicke, übereifrige Arzthelferin dabei hatte. Der stählerne Blick aus ihren nordischen Augen hatte dafür gesorgt, dass er sich überaus professionell verhielt. Dennoch hatte er Notiz von diesem Mädchen genommen, von ihrer glatten, olivbraunen Haut, von dem dichten Schamhaar, von der Wärme, in die seine behandschuhten Finger eintauchten. Später hatte er Ekel vor sich selbst... und dennoch eine seltsame Hochstimmung empfunden.

Als sie sich ein paar Tage später zufällig trafen, geisterten beide aus ganz unterschiedlichen Gründen abends auf der Mole herum: Scott sehnte sich nach einer Familie und seinem Zuhause und wägte das Für und Wider einer Zusatzausbildung zum Facharzt ab; Kristas Gedanken schwankten zwischen Abtreibung und Selbstmord hin und her. Bei der Vorstellung, dass Krista seine völlig unangemessene Erregung im Untersuchungszimmer der Frith'schen Praxis wahrscheinlich bemerkt hatte, war Scott vor Verlegenheit rot geworden. Aber Krista war in ihre eigenen turbulenten Gedanken versunken gewesen, fast hätte sie ihn jetzt nicht wiedererkannt.

Als er auf Krista stieß, saß sie auf dem zerfallenden Ausläufer der Mole, hatte den Blick verträumt in die Ferne gerichtet und musste auf jeden, der sie dort sah, wie eine wunderliche Gestalt aus vergangenen Jahrhunderten wirken, die darauf wartete, dass das Schiff ihres Geliebten in der Dünung auftauchte. An diesem Abend hatte sie sich mitten in einem qualvollen Übergangsstadium befunden. In den letzten Wochen war sie durch die harte Schule heftiger Nackenschläge gegangen und vom Mädchen zur erwachsenen Frau gereift. Schließlich endete es damit, dass Scott sie in die Arme nahm und tröstete. Als es später in Strömen regnete, küsste er sie, strich ihr über das nasse Haar und flüsterte, es werde schon alles gut werden. Noch ehe er die Mole verließ, war er bis über beide Ohren verknallt. Nachdem er sie nach Hause gebracht hatte und zu seiner engen Koje in der Klinik zurückgekehrt war, hatte er stundenlang mit einer Art Phantomschmerz im Herzen wach gelegen.

Sieben Monate später, Kristas Bauch war inzwischen auf die Größe eines Basketballs angeschwollen, heirateten sie. Einen Monat später kam das Kind auf die Welt, das sie Kathleen Marie tauften.

Auch darüber hatte Scott seit Jahren nicht mehr bewusst nachgedacht: über die Tatsache, dass er nicht Kaths leiblicher Vater war. Anfangs, ehe Kath geboren war, hatte das an ihm genagt. Aber selbst damals war ihm klar gewesen, dass dieses Nagen vor allem mit seinem eigenen, ach-so-empflndlichen Ego zu tun hatte. Ein anderer Mann war mit dem Mädchen, das er liebte, zusammen gewesen, ein anderer Mann war in sie eingedrungen. Krista, die seine Empfindungen spürte, versicherte ihm, es sei nur eine einmalige Sache gewesen, mit einem Jungen, in den sie die ganzen letzten Schuljahre hindurch verschossen gewesen sei. »So was kann auch nur mir passieren«, hatte sie an jenem Abend auf der Mole gesagt. »Ich probier's ein einziges Mal - und schon bin ich schwanger.«

Aber als Kath erst einmal auf der Welt war und ihn mit ihrem niedlichen, runden Gesicht zu verzaubern begann, hatte er sich erneut bis über beide Ohren verknallt. Kath war ganz und gar seine Tochter. Wehe jedem Mann, der sich erdreisten sollte, das in Frage zu stellen.

Als das Telefon im Fernsehzimmer schrillte, fuhr Scott wie in einem Krampf zusammen. Kaths Puppe rollte von seinem Schoß auf den Fußboden, wo sie mit dem Kopf nach unten als formloses Stoffbündel landete. Mit einem Satz schnappte er sich den Hörer, der in der Hand der Mickymaus klemmte.

»Hallo?«

»Dr. Bowman?«

Es war Vince Bateman. Angesichts der Uhrzeit und der Situation war Scott über diesen Anruf ebenso erstaunt wie verärgert.

»Ich weiß, es ist schon spät«, sagte Bateman, ohne Scotts Antwort abzuwarten, »aber ich habe gerade ...«

»Hören Sie, Vince«, unterbrach ihn Scott, »ich verstehe ja, dass Sie wegen der Besprechung sauer sind. Tut mir Leid, aber ich kann mich im Augenblick nicht damit befassen. Ich erwarte nämlich einen wichtigen Anruf und muss die Leitung freihalten.«

»Um die Besprechung geht's aber gar nicht«, erwiderte Bateman. »Außerdem ist sie trotz Ihrer Abwesenheit bemerkenswert gut gelaufen. Ich rufe Sie in meiner Eigenschaft als Stationschef an, Scott. Was ich eigen dich sagen wollte, ist Folgendes: Gerade eben hat mich die Aufsicht auf der anderen Leitung informiert, dass Sie am frühen Abend eine ziemliche Szene hingelegt haben, eine Szene bei unserem medial veranlagten Patienten. Stimmt das?«

»Ja, aber ...«

»Was, zum Teufel, geht hier vor, Scott?« In Batemans Stimme schwang ein offener Vorwurf mit. »Nach dem, was die Schwester sagt, hätten Sie den alten Mann ernsthaft verletzen können. Ein solches Verhalten macht sich gar nicht gut, mein Freund. Was läuft da schief? Stehen Sie vielleicht unter übermäßigem Stress?«

Als er jetzt darüber nachdachte, musste Scott zugeben, dass es tatsächlich nach einer schlimmen Szene ausgesehen haben musste. Und es stimmte auch - er hatte es selbst gemerkt, als die Schwester ihn daran gehindert hatte, den Mann weiter zu schütteln dass er den Alten, gebrechlich wie er war, um ein Haar ernsthaft verletzt hätte.

Dennoch merkte Scott, wie ihn Batemans herablassender Unterton zur Weißglut brachte. Ganz abgesehen davon, dass er dieses Gespräch jetzt nicht führen wollte.

»Wir sprechen ein andermal darüber, einverstanden, Vince?«

»Ich hätte nicht angerufen, wenn ich die Sache nicht für wichtig gehalten hätte ...«

»Es geht um den Zeichner und einige seiner Skizzen«, erklärte Scott. »Ich fürchte, Krista und Kath sind in Gefahr, könnten einen Unfall mit dem Auto haben. Bitte verstehen Sie, dass ich die Leitung freihalten muss. Krista hätte längst anrufen müssen.« Als er seine Ängste in Worte fasste, wären Scott fast die Tränen gekommen. »Vielleicht versucht sie ja gerade, zu mir durchzukommen, während die Leitung durch unser Gespräch besetzt ist.«

»Oh.« Batemans ursprünglich heftiger Ton schwand. »Nun ja, vielleicht gibt es ja gar keinen Grund zur Sorge. Solche Leute können sich auch einmal irren, wissen Sie ...« »Auf Wiederhören, Vince.«

»Wiederhören«, sagte Bateman und fügte hastig hinzu: »Geben Sie mir Bescheid, falls ... Auf Wiederhören, Scott.«

Mit einem verzweifelten Seufzer hob Scott Kaths Puppe auf und setzte sie auf die Tischplatte. Ihr Kopf sackte schlaff nach vorn. Er warf einen Blick auf die Uhr. Als er sah, dass es bereits auf Mitternacht zuging, fuhr ihm die Angst so heftig in den Rücken, als habe ihn ein Skorpion gestochen. Sie hätte längst anrufen müssen. Sie hätte anrufen müssen ...

Als das Telefon eine halbe Stunde später erneut klingelte, schrie Scott erschrocken auf, während er den Hörer ans Ohr nahm. »Scott, hier ist Gerry.«

Scott sank das Herz in die Hose. Es hätte Krista sein müssen, dann hätte er diese ganze verdammte Angelegenheit vergessen können. Er hätte ihr sagen können, dass er sie liebte, wäre danach ins Bett gegangen und hätte die ganze Sache seiner überhitzten Fantasie zugeschrieben. Aber es war Gerry, und das verschlug Scott die Sprache. Da er das Schlimmste befürchtete, wollte ein Teil seines Ichs gar nicht hören, was sein Freund ihm mitzuteilen hatte.

Gerry rief jedoch nur an, um ihm zu versichern, die Polizei von Maine und Massachusetts werde volle Amtshilfe leisten. Er hatte den Polizisten mitgeteilt, es gehe um einen Fall von Kindesentführung, sie aber davor gewarnt, Gewalt anzuwenden: Vermutlich handle es sich bei der Kidnapperin um die vom Kind getrennt lebende leibliche Mutter. Da sich die Strafvollzugsbehörden nur ungern in häusliche Streitigkeiten einmischten, hatte er außerdem erwähnt, Mutter und Kind seien in einem gestohlenen Wagen unterwegs.

Nachdem sich Scott bei seinem Freund bedankt und für seinen kurz angebundenen Ton entschuldigt hatte, klemmte er das Telefon wieder in die Hand der Mickymaus.

Er machte ein weiteres Bier auf und stürzte es in hastigen, durstigen Zügen hinunter. Müde und hungrig wie er war, machte das Bier ihn sofort betrunken. Seine Muskeln schmerzten, genau wie seine Hüfte, und jetzt tat ihm auch noch der Kopf weh.

Das Donnergrollen da draußen rückte ständig näher, hin und wieder flammten im Süden grelle Blitze auf.

Sie hätte längst anrufen müssen, ging es ihm wieder und wieder durch den Kopf.

Sie hätte anrufen müssen ...

Als Scott gegen halb zwei Uhr morgens nach dem Sixpack Bier neben sich griff, fand er nur noch leere Dosen vor. Beim Aufstehen schwankte er. Er ging zur Stereoanlage hinüber, hob die Nadel von der Schallplatte - schon seit fast einer Stunde zirkulierte sie im Leerlauf und stieß immer wieder gegen das innere Etikett kehrte zum Telefon zurück und rief Caroline in Boston an. Das Gespräch war kurz, die Nachricht eindeutig. Sie hatten sich noch immer nicht bei Caroline gemeldet. Scott entschuldigte sich für die nächtliche Störung, worauf Caroline erwiderte, das sei schon in Ordnung und er solle sich keine Sorgen machen. Nachdem er sich von ihr verabschiedet und aufgelegt hatte, versuchte er zu lesen - zuerst eine wissenschaftliche Fachzeitschrift, danach ein Groschenblatt-, starrte jedoch nur auf die ewig gleichen Zeilen, ohne ihren Inhalt zu erfassen. Gegen zwei Uhr forderte der Alkohol sein Recht, so dass er wie betäubt einschlief, ohne dass die Bilder ihn losließen. Immer wieder hatte er im Traum die Zeichnungen vor Augen, nur gehörte das Gesicht jetzt Kath. 

Stunden später - jedenfalls kam es ihm so vor, in Wirklichkeit war nur eine einzige Stunde vergangen — fuhr er bei einem heftigen Donnerschlag auf. Der sommerliche Sturm tobte inzwischen so heftig, dass der Strom ausgefallen und das Haus in Dunkel getaucht war. Allerdings funkelte das Zimmer in dem Moment, als Scott die Augen aufschlug, im Widerschein eines grellen Blitzes. Während dieses kurzen Augenblicks strahlender Helligkeit fiel sein Blick auf Kaths Flickenpuppe, die vor ihm auf der Tischplatte thronte: Ihr plumper Körper war aufgeschlitzt, so dass die Füllung in einem hässlichen, grauen Bausch hervorquoll. Aus einem Winkel des mit Grübchen verzierten Mundes rann frisches Blut.

Gleich darauf wurde es wieder dunkel, und als hier und da ein Blitz aufflackerte, war die Puppe wieder ganz, war wieder die gute alte Jinnie. Irgendwann dämmerte der Morgen herauf.

Beim ersten Tageslicht rief Scott noch einmal bei Caroline an. »Wahrscheinlich haben sie einfach in irgendeinem Motel

übernachtet«, meinte sie. Allerdings verriet ihre Stimme, dass auch sie sich inzwischen Sorgen machte. Beide wussten sie, dass es Krista gar nicht ähnlich sah, sich nicht zu melden. Auch dieses Gespräch war kurz.

Nachdem er seine übervolle Blase entleert hatte, holte sich Scott das schnurlose Telefon und machte sich damit auf den Weg zum See. Der Sturm hatte inzwischen eine Atempause eingelegt, es fiel nur leichter Nieselregen. Die sabbere, kühle Luft roch nach regenfeuchtem Laub. Auf halbem Weg zum See hinunter entdeckte Scott ein vierblättriges Kleeblatt und bückte sich instinktiv, um es zu pflücken, entschied sich jedoch dagegen und markierte die Stelle stattdessen mit einem abgebrochenen Zweig. Er nahm sich vor, damit zu warten, bis Kath wieder bei ihm war, und dann so zu tun, als habe er das Kleeblatt gerade erst entdeckt...

Während Scott sich alle Mühe gab, seine Sorgen zu verdrängen, setzte er den Weg zum See hinunter fort. Ringsum war das Grün blau gesprenkelt: Viele der dicken Blaubeeren, die man hier im August ernten konnte, hatten sich bereits vom Strauch gelöst und lagen auf dem Boden. Jenseits des Landestegs kräuselte eine Böe die Wasseroberfläche, um gleich darauf durch die Birken am Seeufer zu fahren und an ihren papierdünnen Blättern zu rütteln. Im Westen türmten sich zahlreiche noch nicht entladene Gewitterwolken übereinander und trieben wie in einer Regatta ungestüm dahin. Hinter Scott, im Osten, kämpfte die aufgehende Sonne um ihre Vorherrschaft. Ihr Licht erzeugte ein fast fluoreszierendes, gelbliches Grün, das unheimlich wirkte, als es die Hügel einhüllte und sie vor dem Hintergrund des rötlich übergossenen Himmels aufleuchten ließ.

Scott trat auf den Landesteg hinaus, blieb am Rand stehen und starrte in das aufgewühlte Wasser. Unwillkürlich versuchte er sich auszumalen, wie es wäre, ins Wasser einzutauchen, sich bis zu den Zehen zu strecken und in hohem Bogen hineinzuspringen ... Dabei wurde ihm so schwindelig, dass er sich schnell wieder auf festen Boden zurückziehen musste.

Mein Gott, ich wünschte, das Telefon würde endlich läuten. Er konnte dessen stummes Gewicht in der Jackentasche spüren. Ob so oder so: Alles war besser, als derart im Dunkel zu tappen.

Ach ja, wirklich?

Er nahm am Picknicktisch Platz, legte die Füße auf die Bank, stützte das Gesicht in die Hände und schaukelte in stiller Qual vor und zurück. Der Gedanke, seiner Frau und seiner Tochter könne etwas zugestoßen sein, war ihm unerträglich, erfüllte ihn mit ohnmächtiger Angst ... nein, etwas noch Stärkerem. Seitdem er diese Zeichnungen entdeckt hatte, die möglicherweise mit seiner Familie zu tun hatten, war Scott ein einziges Nervenbündel, ging auf Schatten los, malte sich katastrophale Szenen aus, die er nicht verdrängen konnte. Nachts hatte er sich sogar in etwas hineingesteigert, das er für eine von Übermüdung und Stress verursachte Halluzination hielt: Im flackernden Widerschein des Blitzes war es ihm so vorgekommen, als sei Kaths Puppe aufgeschlitzt worden und voller Blut. Jede Minute, die verstrich, ohne dass Krista anrief, bestärkte ihn in der Gewissheit, dass der Alte Recht gehabt hatte und ein Unfall passiert sein musste ... ein schlimmer Unfall. Ihm war kalt, er fühlte sich so leer und ausgehöhlt wie die Fässer, die unter dem Anlegesteg trieben.

Während er in der seltsam aufgeladenen Luft herumsaß, hörte er irgendwann eine Möwe mit so klagender Stimme schreien, dass sie beunruhigend menschlich klang. Als sich Scott zu dem Geräusch in seinem Rücken umdrehte - in seiner Müdigkeit hatte er sich ausgemalt, Kath habe sich aus Spaß an ihn herangeschlichen sah er, dass der grauweiße Vogel auf einem Felsen thronte, eine Elritze ausweidete und ihn mit den gelben Augen gleichzeitig argwöhnisch beobachtete. Voller Wut darüber, dass die Möwe ihn unwissentlich derart hereingelegt hatte, schwenkte er die Arme, bis sie davonflog. Während sie sich in die Lüfte schwang, verfolgte ihn ihr Geschrei wie hämisches Gelächter.

Scott schossen Tranen in die Augen, sein Blick verschwamm. Dennoch fielen ihm auf dem Boden nahe am Anlegesteg zwei seltsame rosafarbene Streifen auf. Als er näher hinsah, merkte er, dass es sich um Haarklammern handelte, die Krista gehörten. Gleich darauffiel ihm ein, dass sie die Klammern aus ihrem Haar gelöst hatte, als sie vor einigen Wochen mit ihm zusammen nackt im See gebadet hatte. Später hatte sie die Suche danach aufgegeben. Scott lächelte, während er die Klammern aufhob. Er nahm sie mit zum Tisch und rief sich dabei alle intimen Einzelheiten jener warmen Nacht ins Gedächtnis zurück.

Es war ein Samstag gewesen. Da Kath bei einer Freundin übernachtete, hatten Krista und er das Wochenende ganz für sich gehabt. Sie waren unten am Bootssteg gewesen, hatten sich ein bisschen betrunken und herumgealbert, bis Krista schließlich vorschlug, schwimmen zu gehen, und sich auszuziehen begann. Scott erinnerte sich noch deutlich an ihre blassen, vorgewölbten Brüste, die sich im körnigen Zwielicht des Mondes so erotisch von der ansonsten gebräunten Haut abgehoben hatten. Ebenso deutlich erinnerte er sich an die vage, Schwindel erregende Angst davor, bei Nacht zu schwimmen, ein Gefühl, das den Nervenkitzel noch erhöhte. Bis zum Morgen danach, dachte er grimmig, bis wir den steinigen Boden und das Unkraut spürten. Sie hatten gelacht, waren herumgeschwommen und hatten einander nass gespritzt, bis Krista sein Glied in die Hand genommen und hart gemacht hatte. Und dann hatten sie sich geliebt, auf dem Anlegesteg, nackt unter Sternen. Es war schön für sie beide gewesen. Und danach, es war unglaublich, waren sie an Ort und Stelle eingeschlafen, so ineinander verschlungen, dass sie nicht einmal gefroren hatten.

Sofort folgte auf diese Erinnerung eine andere. Seltsamerweise fiel ihm ein, wie Kath mit fünf Jahren einen Eiswürfel verschluckt hatte und fast daran erstickt wäre. Als erlebe sein Gehirn eine Art Kettenreaktion, führte eine Erinnerung zur nächsten. Es dauerte nicht lange, bis ihm eine ganze Kaskade von Erinnerungssplittern in schneller Abfolge durch den Kopf schoss.

Scott hätte nicht sagen können, wie viel Zeit verstrichen war, als der Wind plötzlich auffrischte und es erneut zu regnen begann. Völlig vertieft in das Mosaik von Erinnerungen überhörte er das erste schrille Läuten des schnurlosen Telefons, als es sich in seiner Jackentasche meldete. Beim zweiten Läuten reagierte er und zog es aus der Jacke, nahm jedoch nicht ab. Auf den Regen achtete er nicht. Ihm war nur die eigene Angst bewusst, die schwer auf ihm lastete, auf sein Herz drückte und es zu zermalmen drohte. Bestimmt war es Gerry, der anrief und mit seiner lauten Stimme gleich sagen würde: Tut mir Leid, Scott, aber sie sind tot... Sie sind beide tot...

Beim dritten Läuten nahm er den Hörer ans Ohr. Die Stimme am anderen Ende - eine hohe, angespannte Stimme, die vertraut klang - schnitt ihm das Wort ab, ehe Scott sich melden konnte. »Scott?«

Dieses einzige Wort wirkte wie ein schmerzstillendes Mittel. Kummer und böse Vorahnung lösten sich in einem einzigen bebenden, kaum hörbaren Atemzug auf. Scott fing zu kichern an.

»Hör zu, Scott, du wirst nicht glauben, in welcher Scheiße ich hier stecke ... Lachst du etwa? Es ist mein voller Ernst, Scott...« Es war Krista.

»... hörst du mir jetzt endlich zu?«

Ehe Scott antworten konnte, hörte er, wie die Stimme seiner Frau vor Wut scharf wurde und gleich darauf gedämpft klang, weil sie die Hand über die Sprechmuschel gelegt hatte. Sie sprach mit jemandem an ihrem Ende der Leitung - und nicht allzu höflich.

»Würden Sie mich hier, um Himmels willen, ein Privatgespräch führen lassen? Mein Gott noch mal!« Sie war wieder dran. »Nicht zu fassen, was das für Volltrottel sind.« »Was ist da los, Krista?«, fragte Scott, der seine Stimme endlich wiedergefunden hatte, aber immer noch grinsen musste. »Bist du gesund und munter? Was ist passiert? Als du dich nicht gemeldet hast, dachte ich schon ...«

»Das tut mir Leid, Liebling. Aber lass mich erklären. Oh, es ist eine lange Geschichte. Gestern Abend hab ich mit dem Auto eine gottverdammte Kuh angefahren ...«

»Eine Kuh?« Scott musste schon wieder kichern. Eine Kuh, dachte er mit hysterischer Heiterkeit, nur eine blöde, gottverdammte Kuh.

»Das ist nicht komisch. Wir hätten uns dabei verletzen ... oder sogar draufgehen können. Jedenfalls ist die arme Holsteiner inzwischen nur noch Hackfleisch. Ich hab ihre Hinterbeine mit der Stoßstange erwischt Der Bauer hat gesagt, er müsse sie erschießen. Weißt du, Kath und ich haben uns gestern Nachmittag völlig verfranzt und, na ja, du weißt ja, wie ich bin, wenn ich irgendwohin muss.«

Allerdings.

»Es war dunkel, und ich bin auf dieser gewundenen Straße ziemlich schnell gefahren ... Wenn Neuengland irgendwas im Überfluss hat, dann sind es solche Straßen mit Zickzackkurven.«

Krista war wirklich fertig, wie Scott an ihrem Endlosmonolog merkte. Dennoch konnte er sein Lächeln nicht unterdrücken. Ihnen war nichts passiert, Gott sei Dank waren sie unversehrt.

»Wir sind um diese scharfe Kurve gebogen - und da waren sie, Kühe, vielleicht sechzig oder so, überall auf der verdammten Straße. Und ein halbes Dutzend Bauern mit Taschenlampen und Hunden. Die Kühe hatten den Weidezaun niedergetrampelt und waren ausgebrochen. Dem Auto ist nicht viel passiert ... ich meine, ich kann noch damit fahren. Der Kühler ist ein bisschen eingedrückt. Ich bin ins Schleudern geraten und im Straßengraben gelandet. Mein Gott, ich bin mir wie eine Kriminelle vorgekommen. Diese Bauern haben mir ganz schön hässliche Blicke zugeworfen ... Und dann mussten sie das Auto auch noch auf die Straße hieven. Egal, aber um dem noch eins draufzusetzen, musste es auch noch zu regnen anfangen. Regen mit Blitz und Donner, es war ein regelrechter Gewittersturm. Und du weißt ja, wie solche Gewitter Kath zu schaffen machen.«

Während er grinsend im Regen saß, nickte Scott vor sich hin. Bei schlimmen Gewittern fiel Kath in die Verhaltensweisen eines fünf oder sechs Jahre jüngeren Mädchens zurück.

»Jedenfalls war ich fix und fertig. Deshalb hab ich einen Bauern gefragt, wie weit es zum nächsten Motel ist. Er sah so aus, als würde er mir lieber erzählen, ich solle ... na ja, du kannst es dir sicher ausmalen ... Aber er hat's mir dann trotzdem gesagt. Also sind wir losgefahren, wobei ich wie Espenlaub gezittert hab, nachdem wir die Kuh erwischt hatten. Und Kath war völlig verängstigt und verhielt sich wie eine Dreijährige.«

Während er zuhörte, wanderte Scott den Hügel hinauf zurück zum Haus. Erst jetzt kam ihm zu Bewusstsein, dass er im Augustregen dagesessen und im Geiste Nachrufe auf die beiden Menschen verfasst hatte, die ihm auf der ganzen Welt am meisten bedeuteten. Ohne dass er es merkte, zertrat er mit der Schuhsohle den vierblättrigen Klee, den er mit einem Zweig markiert hatte. Nur die Höhepunkte in Kristas heruntergerasseltem Bericht drangen bis in die Gehirnbereiche vor, in denen er sie sortieren konnte, aber das spielte keine Rolle. Was zählte, war allein Kristas Stimme - diese lebhafte, entnervte Stimme, die in ihrer Erregung in den alten neufundländischen Dialekt ihrer Kindheit zurückgefallen war ... Was zählte, war allein die Tatsache, dass sie noch am Leben war. Das Auto, die Kuh, der Zeichner — nichts davon war wesentlich.

»Schließlich fand ich das Motel, Nomad's Notch« Krista lachte spöttisch. »Wenn du mich fragst, würde Nomad's Crotch schon eher passen (Anm. d. Ü.: Nomad's Notch: Nomadenherberge; Nomad's Crotch frei übersetzt Geschlechtsteil eines Nomaden). Was für ein Saftladen!« Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Oh, Scheiße, dieser kleine Dreckskerl, der Motel-Besitzer, hat das eben mitgehört. Ich wollte dich anrufen, als ich hier ankam«, fuhr sie in normalem Tonfall fort. »Es war spät, schon nach Mitternacht, und ich wusste, du würdest dir Sorgen machen. Aber wegen des Gewitters ist das Telefonnetz zusammengebrochen, das Stromnetz auch. Also mussten Kath und ich im Dunkeln in diesen matschigen Hof hinaus und nach Zimmer siebzehn suchen. Und da stellt sich heraus, dass uns diese kleine Ratte die Bruchbude ganz am Ende der Reihe zugewiesen hat, mit undichtem Dach, ohne Heizung und mit einer vermoderten, alten Matratze. Als ich heute Morgen aufwachte, hatte ich überall am Arsch Abdrücke von den Sprungfedern.«

Krista war drauf und dran, die Beherrschung zu verlieren. Scott hatte das Gefühl, sie werde vielleicht zu weinen anfangen. Erleichtert, wie er war, hatte er verkannt, wie sehr sie dies alles mitgenommen hatte. Im Vergleich zu dem Schicksal, das er sich ausgemalt hatte, kamen ihm Kristas Missgeschicke wie Kleinigkeiten vor. Aber alles war relativ.

»... hab dauernd von dieser armen Kuh geträumt. Als ich sie erwischt hab, hat sie sich eingekotet, Scott. Hat direkt auf die Motorhaube geschissen.« Als Krista ihren Monolog kurz unterbrach, konnte er über die Meilen hinweg ihre lauten Atemzüge hören. »Und dann ...«Jetzt weinte sie tatsächlich, Scott konnte die Tränen fast kullern hören. »Und dann das! Um halb sechs Uhr früh wird meine Zimmertür aufgerissen und diesen beiden gehirnamputierten Polizisten platzen herein!«

»Oh, mein Gott.« Plötzlich fand Scott die ganze Situation zum Brüllen komisch. Gerrys Werk ... Seine Detektivarbeit hatte Früchte getragen.

»Was geht da vor, Scott? Die halten mich für irgendeine Kriminelle, für eine Kidnapperin. Ist doch nicht zu fassen, oder? Ich hab denen meinen Führerschein, den Fahrzeugbrief und all das gezeigt, und Kath hat ihnen gesagt, dass ich ihre Mutter bin, aber die behaupten, sie müssten erst auf so was wie ´ne Unbedenklichkeitsbescheinigung aus Kanada warten.«

Sofort sah Scott eine Möglichkeit, aus der ganzen Sache mit weißer Weste herauszukommen. Vielleicht sogar als Held. »Hör mal, Liebling, lass das Weinen und gib mir deine Nummer im Motel, dann rufe ich dich sofort zurück. Ich werde mich mit Gerry in Verbindung setzen. Mal sehen, ob er diesen ganzen Schlamassel nicht aufklären kann. Offensichtlich hat es da irgendein Missverständnis gegeben.« Aus einer spontanen Eingebung heraus, die er erst Stunden später begreifen sollte, fügte er gleich darauf hinzu: »Und dann buche ich einen Flug und stoße in Boston zu euch ... Zur Hölle mit all den Sitzungen, dem Job und der Psychiatrie.«

»Okay, mein Süßer.« Krista schniefte zwar noch, klang aber wieder beherrschter. »Du bist ein Schatz.« Sie gab ihm die Nummer durch. »Danke. Und das mit dem Auto tut mir Leid.«

»Denk nicht ans Auto. Meine beiden Frauen sind heil und gesund, nur das zählt. Ich hab sowieso schon daran gedacht, den Volvo gegen einen Chevette einzutauschen.«