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Während Scott in der Abflughalle des Flughafens Montreal saß und sein zweites Bier bestellte, fuhr Krista schließlich von Thurstons Texaco-Niederlassung in Fryeburg los. Ernie hatte Recht behalten: Das Besorgen der Ersatzteile und die Reparatur hatten den ganzen Tag in Anspruch genommen. Eine ebenso unangenehme Überraschung war die Rechnung: vier-hundertsechsunddreißig Dollar plus achtundachtzig Cents, wohlgemerkt US-Dollar, keine kanadischen. Als sie bezahlte, fiel Krista ihr erstes Auto ein, ein Vauxhall Victor, Baujahr 1965. Sie hatte weniger als die Hälfte der Summe für den ganzen Wagen hingelegt, verdammt noch mal!

Sie waren immer noch drei Stunden von Boston entfernt, zweieinhalb, wenn sie viel Gas gab. Danach würde sie noch den Flughafen Logan International suchen müssen, eine Aussicht, die sie nach all dem, was an diesem Tag sowieso schon passiert war, nicht gerade in Hochstimmung versetzte. Am frühen Nachmittag hatte sie Caroline angerufen, um sie vorzuwarnen, dass sie frühestens gegen Mitternacht mit ihnen rechnen könne, da sie Scott noch vom Flughafen abholen müsse. Anschließend hatten Kath und sie sich eine Frühvorstellung in Fryeburgs einzigem Kino, der Zauberlaterne, angesehen, eine Wiederaufführung von Spielbergs Gremlins. Obwohl Krista anfangs skeptisch gewesen war, hatte ihr der Film schließlich doch Spaß gemacht. Nach der Hitze des Augusttages, bei der alles an einem zu kleben schien, war die Klimaanlage des Kinos ein wahrer Segen, und der Film brachte genau die richtige Mischung aus Witzigem und Blutrünstigem, um sowohl den hysterischen Aspekten ihres Frustes als auch ihren Mordgelüsten entgegenzuwirken.

Als sie die Interstate 95, die nach Süden führte, erreicht hatten, dämmerte es bereits. Während Kath ein Nickerchen machte, hielt sich Krista ständig links, als habe sie diese Fahrspur ganz allein für sich gepachtet, und fuhr im angenehmen, wenn auch überhöhten Tempo von hundertzwanzig Stundenkilometern dahin.

Als es dunkel wurde und die ärgerlichen Einzelheiten der letzten beiden Tage langsam verblassten, fiel Krista Scotts seltsame Bitte wieder ein, die Bitte, die er an diesem Morgen am Telefon geäußert hatte: »Bitte fahr nicht nach Einbruch der Dunkelheit.«

Noch deutlicher als an die Worte erinnerte sie sich an den Ton, in dem er es gesagt hatte. Er hatte sie fast angefleht -nicht offen, aber sie hatte es dennoch gespürt. Seine Stimme hatte dabei leicht geschwankt: Er hatte sich zwar alle Mühe gegeben, seine Sorge zu verbergen, aber regelrecht gebettelt

Warum nur?, fragte sie sich, während die Mittellinie sich endlos weit vor ihr erstreckte. Am liebsten hätte sie es Scotts Charakter zugeschrieben - er neigte dazu, sich Sorgen um sie zu machen - oder ihrer eigenen Fantasie, aber es gelang ihr nicht

Nun ja, jetzt blieb ihr sowieso nichts anderes übrig, als bei Dunkelheit zu fahren, oder? Entweder fuhr sie die ganze Strecke durch, oder sie würde in einem weiteren Nomad's Notch landen. Und eine solche Scheiße wollte sie auf keinen Fall noch einmal erleben, vielen Dank auch.

Sie legte eine Hand auf Kaths Oberschenkel, machte es sich im Sitz bequem und beschleunigte auf hundertdreißig.

Und wieder begann die Temperaturanzeige aufzuleuchten, anfangs nur schwach und mit gelegentlichem Blinken, bald darauf mit demselben anhaltenden Rot wie beim letzten Mal. Nach zwei, drei Kilometern tauchte ein Schild auf, das eine Autowerkstatt an der Ausfahrt Byfield ankündigte. Zu erschöpft, um sich auch nur irgendwie zu ärgern, bremste Krista ab und nahm die Ausfahrt. Nach Byfield waren es noch fünf Kilometer.

Der ölverschmierte Blödmann in der Werkstatt sah Ernie Thurston verdächtig ähnlich, nur war er jünger. Es hat etwas mit seinem Blick zu tun, dachte Krista, während sie dem Automechaniker, der gar nicht richtig zuhörte, von den Ärgernissen des heutigen Tages erzählte. Als sie den Kühler erwähnte, kam es ihr so vor, als leuchteten seine Augen genauso auf wie Ernies.

»Wenn heut ein neuer Kühlblock eingebaut wurde, dann hat sich wahrscheinlich bloß 'ne Klemme gelöst«, bemerkte er nur halb bei der Sache. Mit einem Auge fixierte er den tragbaren Farbfernseher auf dem Schreibtisch vor sich, der lautstark ein Spiel der Red Sox übertrug. »Ham Se stark aufs Gas gedrückt?«, fragte er nach einem Blick auf den dampfenden Volvo.

»Ziemlich«, räumte Krista ein. »Ich bin ein bisschen in Eile.«

Sie folgte dem Blick des Mannes und spähte mit zusammengekniffenen Augen durch das vordere Fenster, das mit toten Insekten übersät war. Draußen konnte sie Kath sehen, die ihr verschlafenes Gesicht der Werkstatt zugewandt hatte. Als sie Kath betrachtete, überkam Krista plötzlich heftige, fast Schwindel erregende Liebe für ihr Kind.

»Tja«, bemerkte der Mechaniker selbstzufrieden, nachdem die Diagnose so schnell erledigt war. Bei dieser Art von Reparatur würde er nicht viel von dem Spiel verpassen müssen. »Fahrn Se den Wagen zur ersten Nische da drüben, dann schaun wa mal nach.«

Während der Mechaniker unter der Motorhaube herumwerkelte, ging Krista auf die Toilette, da sie dringend pinkeln musste. Danach schlenderte sie draußen herum. Es war eine sternenklare Nacht und Vollmond. Der Augustmond hatte einen seltsamen Kupferton, wie ein glänzender, neuer Penny. Krista fiel auf, dass neben Schmieröl und Benzin auch der schwach faulige Gestank eines Sumpfes zu riechen war, den sie von hier aus nicht sehen konnte. Die Bewohner der Lüfte machten sich mit lautstarkem Gezwitscher bemerkbar.

Plötzlich fröstelnd und mit einem seltsamen Übelkeitsgefühl im Magen, das der schwache Verwesungsgestank ausgelöst hatte, eilte Krista in die Werkstatt zurück und blieb dort mit verschränkten Armen stehen. Während sie dem Automechaniker zusah, dachte sie über die Schicksalsschläge der letzten vierundzwanzig Stunden nach. Irgendetwas an diesem ganzen traurigen Desaster machte ihr schwer zu schaffen. Sie konnte es zwar nicht genau benennen, aber es beunruhigte sie. Es war das absurde Gefühl, ein Gefühl aus dem Bauch heraus, dass jemand sie von außen gesteuert hatte und immer noch steuerte. Natürlich war das Unsinn und lag sicher an der Erschöpfung, die an ihren Nerven zerrte.

Aber...

Aber was hatte sie dazu gebracht, dort drüben in New Hampshire die falsche Straße zu nehmen?

War sie nicht einfach einer spontanen Eingebung gefolgt?

Ja, einer plötzlichen Eingebung, und das sah ihr selbst gar nicht ähnlich.

Oder steckte mehr dahinter ...? (biege hier ab)

Eine innere Stimme? Ein innerer Befehl? (bieg ab)

Und hatte es nicht wie die Stimme eines anderen geklungen? (hier!)

Ach du lieber Herrgott, nein, dachte Krista und verwarf gleich darauf diesen offensichtlich verrückten Gedanken. Das ist Blödsinn, Kindchen. Es ist nichts anderes gewesen als dein ganz normaler Wahnsinn: eine alltägliche Situation, die du gründlich vermasselt hast.

Das Krachen der zuschlagenden Motorhaube brachte sie sofort zurück in die graue Wirklichkeit der Autowerkstatt. Im Hintergrund waren die lauten, hektischen Töne der Baseball-Übertragung zu hören, das Spiel steuerte auf einen Höhepunkt zu. Kath, die immer noch im Wagen saß, fuhr zusammen und wachte auf. Mit halb geschlossenen Lidern blickte sie sich in der trübe beleuchteten Nische um, igelte sich aber gleich darauf wieder ein, um weiterzuschlafen.

»Klemme war locker, genau wie ich dachte«, bemerkte der Mechaniker, wahrend er zurück ins Büro eilte. Sofort schoss sein Blick wieder zum Fernsehschirm hinüber. Die Stimme des Sportreporters überschlug sich fast vor Begeisterung über den Spielverlauf. »Allerdings müsste noch Frostschutzmittel nachgefüllt werden.«

»Tun Sie alles, was nötig ist«, erwiderte Krista. »Wenn ich nur fahren kann.«

Fünf Minuten später waren sie wieder auf der Straße. Die Temperaturanzeige am Armaturenbrett blieb dunkel und gab kein Lebenszeichen mehr von sich. Gemäß den Instruktionen des Automechanikers schlug Krista die südliche Richtung ein, anstatt den Rückweg nach Norden anzutreten, um von dort aus nach Osten, auf die Interstate 95, abzubiegen. Er hatte gesagt, sie werde etwa fünf Kilometer von der Tankstelle entfernt einen Zubringer zur Interstate finden - und jetzt tauchte auch schon das Schild auf.

Die linke Abfahrt führte zu einer wenig befahrenen Landstraße, die sie an jene erinnerte, die sie am Vortag in New Hampshire entlanggefahren waren. Plötzlich war die Landschaft in eine fast unheimliche Dunkelheit gehüllt. Die Scheinwerfer des Fernlichts reflektierten die Schwärze so, als sei sie eine feste Masse. Hier und da drang schwacher, gelblicher Lichtschein durch die pechschwarze Nacht: Es waren die erleuchteten Fenster von Bauernhäusern, die ein gutes Stück von der Straße entfernt standen. Sie begegneten keinem anderen Fahrzeug. »Sind wir schon da?«

In ihre eigenen Gedanken vertieft, fuhr Krista zusammen, als Kath sich plötzlich meldete. »Bald, Liebes, ist nicht mehr weit. Warum schläfst du nicht noch ein bisschen?«

»Bin nicht mehr müde.«

Krista wurde bewusst, dass sich Kath die ganze Zeit über, die ganze verflixte Odyssee hindurch, wie ein wahrer Schatz verhalten hatte. Schließlich hätte sie ja auch Theater machen, herumjammern und damit die Sache noch viel schlimmer machen können, als sie ohnehin schon war. Aber nein. Da zeigte sich wieder mal, wie reif Kath für ihr Alter war. Dabei hätte ein kleiner Wutanfall vielleicht sogar gut getan, vor allem, wenn sie beide gleichzeitig getobt hätten.

Nahe an der gespenstisch wirkenden weißen Mittellinie lag ein totes Murmeltier. Ein großer schwarzer Vogel - eine Krähe oder ein Rabe — zog ein letztes Mal hastig an einem Strang von Gedärmen, ehe er sich in die Lüfte schwang und verschwand. Krista hatte angenommen, dass alle Vögel nachts schlafen. Der Kadaver des Murmeltiers leuchtete im Scheinwerferlicht kurz auf und tauchte gleich darauf hinter dem Wagen ins Dunkel.

»Armes altes Murmeltier«, sagte Kath in einer recht gelungenen Imitation von Mr. Rogers und verrenkte den Hals, um es in der Nacht verschwinden zu sehen. (Anm. d. U.: Mr. Rogers bezieht sich auf die Kindersendung »Mr. Roger's Neighbourhood« im amerikanischen Fernsehen, eine Serie im Kinderprogramm von PBS. Ihr Protagonist ist Fred Rogers, der kleine Geschichten erzählt und Lieder singt.)

Nach einem Blick auf die Uhr am Armaturenbrett klemmte Krista den Fuß noch fester aufs Gaspedal. Vor ihnen bog die Straße scharf nach links.

Einen Moment lang steuerten sie auf den dunklen Abgrund des Straßengrabens zu, aber gleich darauf brachte Krista den Wagen wieder auf Spur.

»Grrr-roße, grüne Klumpen von grässlichen Gedärmen ...«, sang Kath in schrillsten Tönen.

»Kath!«, sagte Krista lachend. »Das gehört sich nicht.« Es war ein Lied, das sie selbst als Mädchen gesungen hatte. Kaths schräger Gesang weckte bei ihr Erinnerungen an Lagerfeuer und nächtliche Gespenstergeschichten.

»Ich weiß«, kicherte Kath. »Komm schon, Mom, sing mit Grrrrroße...«

Krista stimmte in den Refrain ein: »... große, grüne Klumpen von grässlichen Gedärmen, Affenpfot und Hundekot...«

Der Wagen schoss über eines jener Schlaglöcher hinweg, die einem den Magen umdrehen können. »Huiiii!«, schrie Krista und beschleunigte im Rhythmus des Refrains. Die Straße, die mittlerweile aufwärts führte, fiel nach links steil ab.

»... große, grüne Klumpen von grässlichen Gedärmen, Affenpfot und Hundekot, alles eingewickelt zum Erwärmen, und mir fehlt der Löffel, welche Not...«

Hinter dem Buckel führte die Straße in einer Zickzack-Kurve scharf nach rechts, schärfer, als Krista erwartet hatte. Sie fuhr viel zu schnell, um das Tempo noch angemesssen zu drosseln.

Kath, die erst nach und nach begriff, was Kristas veränderter Gesichtsausdruck bedeutete, ließ das Lied mit leicht kabarettistischer Pointe ausklingen: »Doch mir fällt sogleich was ein, ich zieh's mit dem Strohhalm rein ... Schlüüürrrff!« Gleich darauf wandte sie den Blick, um durch die Windschutzscheibe zu spähen.

Irgendjemand stand mitten auf der Straße und schwankte wie ein Betrunkener hin und her.

Im Bruchteil der Sekunde vor dem unvermeidlichen Zusammenprall schossen Krista verschiedene Gedanken durch den Kopf, aber keiner hatte damit zu tun, dass ihr bisheriges Leben an ihr vorbeigezogen wäre. Während dieser kurzen, surrealen Zeitspanne kam ihr gar nicht der Gedanke, dass Kath oder ihr selbst etwas passieren könne. Vielmehr fragte sie sich, was ein Betrunkener mitten in der Nacht, mitten im Nirgendwo, mitten auf der Straße zu suchen habe. Ein Teil ihres Hirns kam in recht kühler Überlegung zu dem Schluss, dass sie auf keinen Fall in den Straßengraben und damit den Wagen zu Schrott fahren würde, nur um diesem Freak auszuweichen (wahrscheinlich war er geistig zurückgeblieben, als Folge ländlicher Inzucht...)

(Was ist mit seinem Gesicht los?)

Auf keinen Fall würde sie das lieben ihrer Tochter aufs Spiel setzen ...

(Was hat er für seltsame Klamotten an?)

... und ihr eigenes auch nicht Flüchtig registrierte sie, dass Kath angeschnallt war, sie selbst aber nicht Gleichzeitig fragte sie sich, wie viel (zusätzlicher) Schaden am Wagen entstehen, ob der Mann beim Zusammenprall sterben und was Scott zu all dem sagen würde.

(Grinst der Mann ?)

Ob Instinkt, Reflex oder schlichte Menschlichkeit: Jedenfalls übernahm jetzt irgendetwas die Herrschaft über Kristas Hände, so dass sie das Lenkrad nach rechts riss und versuchte, diesem todgeweihten Mann auf der Straße auszuweichen ...

(Ist das etwa ein Kind?)

Wie ein benommenes Tier wankte und stolperte die Gestalt direkt auf das Auto zu. Krista riss das Lenkrad hart nach rechts.

Kath schrie auf.

Was folgte, war ein grobes Knirschen von Metall - dann zersplitterte die Windschutzscheibe und verwandelte sich in ein Mosaik herumfliegender, stechender Scherben. Die Gestalt wurde mit dem Kopf voran durch die Scheibe geschleudert und landete direkt vor Kath. Für den Bruchteil einer Sekunde - die Zeitspanne eines aufflackernden Blitzlichts - konnte Krista das Gesicht im Schein des Armaturenbrettes sehen. Ein Großteil der einen Gesichtshälfte war wie weggeblasen; der Kiefer hing lose herunter, da die Bänder gerissen waren; aus dem Mund, der weit offen stand, sickerte schwärzliches Blut

Dann türmte sich irgendetwas Massives vor ihnen auf, leuchtete auf — und Krista wurde aus dem Sitz geschleudert. Als sie mit dem Schädel gegen das Wagendach prallte, kämpfte sie trotz ihrer Benommenheit mit der makabren Vorstellung - der völlig irren Vorstellung —, dass das Gesicht, das soeben durch die Windschutzscheibe gekracht war, einem längst Verstorbenen gehören müsse. Und diese Vorstellung verfolgte sie immer noch, als sie den Weg durch den Tunnel antrat in dem der Atem für immer stockt. Und der in eine Dunkelheit führt, die keine Umkehr zulässt.

An einer niedrigen Mauer aus Feldsteinen kam der Wagen plötzlich zum Halt. Aus der eingedrückten Motorhaube wich Dampf. Die eingeklemmte Hupe erwachte zum Leben. Ihr durchdringendes Klagegeheul drang durch die Nacht, die unaufhaltsam auf den Morgen zuging, als sei nichts geschehen. Nichts rührte sich.