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Nachmittags gegen halb fünf hatte Scott den frühmorgendlichen Traum und die Mordsangst, die er ihm eingejagt hatte, nahezu vergessen. Während er auf dem Krankenhausflur der Station »Two Link< mit seinen Studenten sprach, waren seine Gedanken mehr oder weniger schon zu Hause auf der Sonnenterrasse, wo er sich später gemütlich entspannen und in Ruhe sein Bierchen schlürfen würde, so herrlich kalt, dass man es kaum in den Händen halten konnte. Ihm war heiß, und durch die stickige Luft der psychiatrischen Abteilung für chronisch Kranke drang ein nicht gerade angenehmer Geruch. Dicht gedrängt standen in Hufeisenform sechs Studenten in strahlend weißen, gebügelten Praktikantenkitteln um ihn herum, die ihm wissbegierig zuhörten. Sie waren auf ihrer Visite bereits bei fünf Patienten gewesen und die Fälle kurz durchgegangen. Scott war der Meinung, damit sei es mehr als genug für heute. Die letzte Patientin würde Mrs. Stopa sein. Er lockerte seine Krawatte und begann mit der abschließenden Anamnese.
»Mrs. Stopa ist dreiundneunzig Jahre alt.« Scott griff nach der Hand der alten, benommenen Polin, die vor ihm auf der Untersuchungsliege saß. »Sie hat eine Form von gewöhnlicher Altersdemenz - >altersbedingter Verfall« ist der Begriff, den das Lehrbuch verwendet« Das Lehrziel für den heutigen Nachmittag bestand darin, die Studenten an die Freuden des Alterns, genauer gesagt, der so genannten Vergreisung, heranzuführen. »Wie Sie sehen können, vegetiert sie förmlich dahin, ein Fall kompletter Geistesschwäche.«
Ehrlich gesagt, war Mrs. Stopa ein Paradebeispiel für Apathie. Sie starrte mit leerem Blick auf ihren Schoß, sie sabberte, ihre Kiefer mahlten unaufhörlich vor sich hin und erzeugten dabei nichts als grässliche Schmatzlaute. Sonst gab es leider kaum etwas, was Scott über die Alte hätte sagen können, und als sie plötzlich einen fahren ließ, verdrückten sich die Studenten diskret.
Scott beendete die Übungsstunde: »Gut, Freunde. Es ist schließlich Freitag. Wie wär's, wenn wir Schl- ...«
»He, Leute! Schaut euch das mal an!«
Eine junge, attraktive Studentin rief quer durch den Flur nach ihnen. Sie blickte fasziniert über die Schulter eines älteren Mannes, dessen Oberkörper in Kreuzgurten steckte, die ihn daran hinderten, aus dem Rollstuhl zu kippen. Auf den ersten Blick sah es so aus, als sei mit dem alten Mann nicht viel mehr los als mit seiner Mitpatientin Mrs. Stopa. Seine dürre Gestalt versank fast in der für senile Alte üblichen Anstaltstracht: ärmelloses Unterhemd, blaue Schlafanzughose, gestellt vom Krankenhaus, braune Filzlatschen. Außerdem umgab ihn der unverwechselbare Geruch nach Ammoniak. Sein scharfes Gesicht hatte tiefe Falten, vom Kinn hing ein Speichelfaden bis zu dem mit Essensresten voll gekleckerten Lätzchen. Die kleinen, dunkelbraunen, fast schwarz wirkenden Augen erinnerten an die Knopfaugen einer Stoffpuppe und unterstrichen den leeren Gesichtsausdruck.
Doch als Scott sich dem Alten näherte, flackerte plötzlich etwas in dessen Augen auf, was auf eine unvermutete geistige Aktivität schließen ließ. Es war so schnell wieder vorbei, wie es gekommen war. Aber innerhalb dieses Moments, der nur einen Atemzug lang andauerte, meinte Scott etwas ... Lauerndes in diesen von Krähenfüßen umrahmten Augen entdeckt zu haben. Verstärkt wurde dieses merkwürdige Gefühl durch das, was der Mann mit seinen Händen anstellte. Mit seiner Linken hielt er ein Zeichenbrett fest gegen seine Knie gedrückt, während er mit dem Bleistift in der rechten Hand zeichnete.
Scott hatte bereits von diesem alten Kerl gehört, ihn aber noch nicht persönlich zu Gesicht bekommen. Der behandelnde Therapeut und Chef der Psychiatrie, Vince Bateman, hatte den Fall des alten Herrn bei einer der Besprechungen, die regelmäßig mittwochmorgens stattfanden, als diagnostisch schwer einzuordnen eingestuft. Aus medizinischer Sicht erfüllte der Patient die meisten Kriterien für eine altersbedingte Demenz, dagegen sprach jedoch seine, wie Bateman behauptete, fast unglaubliche künstlerische Begabung. Der Alte war mit dem Rettungswagen eingeliefert worden, er war ohne Bewusstsein gewesen und hatte keinerlei Papiere bei sich gehabt, die ihn hätten ausweisen können. Bateman hatte ihn der Einfachheit halber auf den Namen der Zeichner getauft.
»Los, kommt her«, rief die Studentin nochmals. »Das müsst ihr sehen! Das ist einfach der Hammer!« Die Gruppe versammelte sich um den alten Mann und bestaunte neugierig die flinken, scheinbar zufälligen Bewegungen des Bleistifts auf dem Zeichenblock. Mit einem ungeduldigen Blick auf die Uhr stellte sich Scott zu ihnen.
Ungeachtet der Störung seiner Privatsphäre fuhr der Alte mit dem Skizzieren fort und schaukelte dazu im Takt der Musik, die aus dem Radio neben ihm drang. Es war eines jener alten Transistorradios, die vor mehr als zwanzig Jahren so populär gewesen waren, lange bevor Walkmans und Ghetto-blaster eingeführt wurden. Ein Streifen alten, schmuddeligen Kreppbands hielt das rissige und ramponierte Gehäuse zusammen.
Scott blickte auf den Zeichenblock des Alten, und sofort war seine Ungeduld wie weggeblasen. Als kleiner Junge war Scott ein richtiger Comic-Fan gewesen und hatte, von Sergeant Rock bis Richie Rich, alles verschlungen. Aber so etwas wie das hier hatte er noch nie gesehen.
Der Zeichner hatte Action-Szenen entworfen, deren einzelne Sequenzen durch die für die klassischen Comics typischen gerahmten Kästen liefen. Die Cartoons zeigten zwei Männer beim Boxkampf. Auf dem Letzten der Serie war zu sehen, wie einer von ihnen bäuchlings auf der Matte lag, während der andere mit gespreizten Beinen über ihm stand und die Arme triumphierend nach oben streckte. Vom Ohr des Unterlegenen sickerte, schwarz wie Blei, Blut auf den Boden; der Alte war gerade dabei, die Einzelheiten des besiegten Körpers auszuarbeiten. Der Bleistift bewegte sich mit unglaublicher Genauigkeit und Geschwindigkeit. Kein Zweifel, die Zeichnungen waren von hoch professioneller Qualität Nein, dachte Scott, es war mehr als das: Sie wirkten geradezu lebendig.
»Was ist mit ihm, Dr. Bowman?«, fragte einer der Studenten.
»Naja, das weiß keiner so genau«, antwortete Scott, während er versuchte, sich den Vortrag von Dr. Bateman ins Gedächtnis zu rufen. »Ein namenloser Landstreicher, den man bewusstlos im Park nahe des QE-Parkways gefunden hat. Er gehört nicht zu meinen Patienten. Aber wenn ich mich richtig erinnere, hat man bei ihm im Gegensatz zu den meisten anderen namenlosen Obdachlosen, die hier eingeliefert werden, keine klassischen Zeichen von Alkoholismus feststellen können.«
Scotts Blick streifte erneut den Mann im Rollstuhl. Für eine oder zwei Sekunden fühlte er sich durch das ständige Kratzgeräusch des Bleistifts irritiert.
»Er ist einfach fantastisch!«, sagte das Mädchen, das den Alten zuerst entdeckt hatte. »Seht mal, wie schnell er ist. Fast so, als müsse er dabei kaum auf das Blatt schauen.«
»Meint ihr, dass er wirklich debil ist?«, wollte ein indischer Student mit leiser Stimme wissen.
Noch während Scott den Mund aufmachte, um zu antworten, kam ihm eine hohe, fast feminine Stimme zuvor. »Tja, meine verehrten Damen und Herren Doktoren, es sieht ganz so aus, als treffe diese Diagnose zu.«
Scott und sein Gefolge drehten sich um und sahen sich Dr. Bateman gegenüber, der die Frage auf seinem Weg durch den Flur zufällig mitgehört hatte.
Scott spürte, wie die alte Abneigung gegen seinen Kollegen in ihm hochstieg. Was seine Tätigkeit als Klinikpsychiater betraf, konnten Bateman nur wenige das Wasser reichen, und das wusste er selbst leider nur zu gut. Sein Ego hatte den Umfang eines Grizzlybären, und er war auch ähnlich grob, was die Zusammenarbeit mit ihm beinahe unerträglich machte. Schon hatte er - ohne sich auch nur durch einen Blick mit Scott zu verständigen - die Leitung der Diskussion an sich gerissen.
»Als dieser alte Herr vor zwei Wochen bei uns eingeliefert wurde, hatte er nichts bei sich als zerrissene Lumpen und einen Rucksack, der dieses Zeichenbrett, einen Haufen alter Zeichnungen und ein Bündel Bleistifte enthielt.« Bateman korrigierte den Sitz seiner Gucci-Krawatte und schnipste einen störenden Fussel vom Ärmel seines edlen Fischgrätjacketts. »Noch ehe die Arzte ein Untersuchungsergebnis hatten, erlangte er sein Bewusstsein wieder und legte mit seinen Zeichnungen los. Einer meiner Assistenzärzte hatte ihn in seiner Sprechstunde, diagnostizierte richtigerweise eine altersbedingte Geistesschwäche und ließ ihn zu uns verlegen. Er wird auf der Station für chronisch Kranke bleiben, bis man ihn in ein passendes Heim verlegen kann - vielleicht nach Saint Vincent oder in eine ähnliche Einrichtung.«
»Aber was ist mit seinen Zeichnungen? Jemand, der so ein künstlerisches Talent hat, kann doch nicht einfach altersschwachsinnig sein, oder?«, hakte der Inder nach.
Ein plötzlicher Ausdruck von Ratlosigkeit legte sich wie eine rasch vorüberziehende Wolke über Batemans Gesicht. Er strich sich nachdenklich über den Schnauzbart, bevor er antwortete. Seine Worte schienen ihm fast körperliche Schmerzen zu bereiten. Es war überaus schwer für Vince Bateman, eine Unsicherheit zugeben zu müssen. »Leider muss ich gestehen, dass ich in Bezug auf seine künstlerischen Arbeiten ratlos bin. Es könnten möglicherweise Handlungen sein, die aus seinem Unterbewusstsein hervorgehen und etwas mit seiner Vergangenheit zu tun haben. Vielleicht ist es etwas, das er früher ganz ohne Anstrengung oder viele Gedanken getan hat. Da diese Art von Altersdemenz in Zyklen auftritt, kann es auch sein, dass er nur in mehr oder weniger klaren Momenten zeichnet. Die Tatsache, dass er während dieser Phasen nicht kommuniziert, könnte auf einen anderen Defekt zurückzuführen sein, vielleicht auf Aphasie als Sekundärwirkung eines Schlaganfalls. Oder er hat ganz einfach beschlossen, seine Umwelt zu ignorieren.«
Die Ratlosigkeit war von Batemans Gesicht verschwunden und zeigte sich stattdessen auf den Gesichtern der Studenten. Typisch für Bateman, dass er einfach über die Köpfe der Neulinge hinwegredete.
Scott beschloss, Batemans Diagnose zu erläutern - er war sauer und wollte außerdem endlich nach Hause. »Damit, liebe Leute, will Dr. Bateman nur sagen, dass wir nicht die geringste Ahnung haben, wie der alte Mann tickt. In mancher Hinsicht passt er perfekt in die Schublade für Altersdemenz.
Aber es gibt auch wesentliche Züge, die überhaupt nicht mit dieser Diagnose übereinstimmen.«
Batemans Gesicht lief rot an. Noch mehr als Unordnung hasste er es, wenn jemand anderes in aller Öffentlichkeit seine Worte richtig stellte. Scott musste den Kopf zur Seite drehen, um ein selbstzufriedenes Grinsen zu verbergen.
»Hier, in diesem Rucksack, liegt ein ganzer Haufen seiner Arbeiten«, bemerkte Bateman. Er deutete auf einen schweren Wollbeutel, der hinten am Rollstuhl hing. »Vielleicht möchten Sie das ja mal durchsehen. Die meisten sind ziemlich makaber und grausam und erinnern an Horror-Comics. Viele Zeichnungen scheinen sich auf Ereignisse aus den Nachrichten der letzten Zeit zu beziehen, hauptsächlich Katastrophenmeldungen. Übrigens ein weiterer Beweis, der meine Theorie zyklisch auftretender, geistig klarer Momente unterstützt. Wir nehmen an, dass er diese Geschichten im Radio hört und daraus eigene Comic-Versionen kreiert.« Danach zog sich Bateman mit den Worten »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden« zurück.
Und weg war er. Voller Elan schwebte er mit ausschweifenden, affektierten Schritten durch die Gänge - und Scott fragte sich zum wiederholten Mal, welchem Geschlecht dieser Mann wohl den Vorzug gab.
Immer noch in sich hineingrinsend, näherte sich Scott dem Rollstuhl. »Lassen Sie uns mal einige von denen hier anschauen. Und dann packen wir's für heute, einverstanden?« Während seine Studenten eifrig nickten, langte er in den Rucksack.
»Auuuuu-tsch!«, brüllte Scott und zog seine Hand hastig zurück. Aus seinem Zeigefinger quoll Blut, die Tropfen klatschten auf die Armlehne des Rollstuhls. Als einige auf dem nackten Arm des Künstlers landeten, schreckte der Alte wie bei einem Schlag zusammen. Andere Tropfen sprenkelten den Boden zu Scotts Füßen, was aber keiner bemerkte. Alle Augen richteten sich auf seinen Finger.
»Herrgott, noch mal ...«, schrie Scott auf und versuchte seinen Ausbruch gotteslästerlicher Flüche zu bremsen, während sein vorwurfsvoller Blick ins dunkle Innere des Beutels wanderte. »Was zum T— ...?«
Eine Studentin mit deutlichem Übergewicht und Spuren jugendlicher Akne zückte ein halb verbrauchtes Päckchen Papiertaschentücher und reichte es Scott hinüber. Gleich darauf spähte sie so vorsichtig in den Beutel, als rechne sie damit, etwas werde sie gleich anspringen. Als sie sich davon überzeugt hatte, dass keine Gefahr drohte, steckte sie ihre Wurstfinger hinein und holte unter Rascheln ein Blatt Papier hervor, dessen Rand blutverschmiert war.
»Sie haben sich am Papier geschnitten«, bemerkte sie altklug und zog ein Bündel Zeichnungen heraus.
Der Zeichner blätterte zu einer neuen, leeren Seite vor und fuhr mit seinen Bleistiftzeichnungen fort, ohne dass er etwas von all der Aufregung mitzubekommen schien.
Scott untersuchte seinen Finger. Die Schnittwunde war schmal, aber erstaunlich tief. Mit einem kleinen Druckverband würde er die Verletzung schnell verarzten können, allerdings brannte sie höllisch. Während er auf den schmuddeligen alten Mann hinabblickte, überlegte Scott, wann er seine letzte Tetanus-Spritze bekommen hatte.
»Alles in Ordnung, Herr Doktor?«, fragte der Inder.
»Ist nicht weiter tragisch, es schmerzt nur ein bisschen.« Scott lehnte sich zu der übergewichtigen Studentin hinüber, die die Zeichnungen bereits durchblätterte. Trotz seiner Absicht, baldmöglichst nach Hause zu fahren, war sein Interesse durch die letzte Bemerkung Batemans erneut geweckt: Demnach bezogen sich einige der Zeichnungen auf aktuelle Nachrichtenmeldungen. Er schaute gespannt auf den Stapel Blätter, den das Mädchen Seite für Seite durchging.
Bateman hatte Recht gehabt. Viele der Skizzen waren recht makaber. In diesen Szenen schaufelten sich halb verrottete, Leichen schändende Ungeheuer aus Gräbern heraus, aufgedunsene Meereskreaturen grapschten aus veralgten Tiefen des Ozeans nach den Beinen ahnungsloser Badender, und irgendein großes, dunkles, wabberndes Etwas lauerte gierig unter dem Bett eines schlafenden Kindes.
Diese letzte Bildfolge erinnerte Scott an die nächtlichen Ängste, unter denen Kath bis vor kurzem gelitten hatte. Fast jede Nacht war sie zu völlig unchristlicher Stunde, um sich schlagend und schreiend, aufgewacht und hatte behauptet, irgendetwas sei unter ihrem Bett, irgendein schuppiges, feuchtes Wesen glibbere dort herum und greife nach ihren Zehen.
»Wie war's denn hiermit?«, unterbrach Scott seinen Gedankengang und hielt eines der Blätter mit der unversehrten Hand hoch. »Bestimmt erinnern Sie sich noch an die Dauerberichterstattung über das Flugzeugunglück der 747 in Uplands, ist ja noch nicht lange her.« Die Bilderfolge zeigte eine schnittige, riesige Boeing, die außer Kontrolle geriet, am Ende des Rollfelds hin und her schlitterte und, mit dem Bug voran, in einem angrenzenden Maisfeld in zwei lichterloh brennende Hälften zerbarst. »Sieht ganz so aus, als hätte Dr. Bateman Recht gehabt«, bemerkte er wie im Selbstgespräch.
Beeindruckt vertieften sich die Studenten in die Zeichnungen. Nach einer Weile schlug Scott vor, den Rest ohne ihn anzuschauen. Er sei schon spät dran. In seinen Gedanken war er bereits auf dem Heimweg.
Die Studenten wollten ebenfalls gern los. Sie dankten Scott für die Zeit, die er sich für sie genommen hatte, legten die Zeichnungen zurück in den Beutel und marschierten durch den Krankenhausflur davon. Dabei unterhielten sie sich angeregt über den seltsamen alten Mann und das vor ihnen liegende August-Wochenende.
Während Scott sich zum Gehen anschickte, bemerkte er aus dem Augenwinkel irgendeine Bewegung. Als er stehen blieb und sich umdrehte, sah er gerade noch, wie sich ein einzelnes Zeichenblatt aus der welken Hand des Künstlers löste. Scott bückte sich, um es aufzuheben; seine Neugier zwang ihn, sich den Inhalt genauer anzuschauen.
Auch bei diesen vier Cartoons ging es um eine Horrorgeschichte. Anfangs war eine einsame Gestalt in einem heruntergekommenen, von Spinnweben durchzogenen Zimmer zu sehen. Die Gestalt stand vor einem kunstvoll anmutenden Kamin, der die Form eines Löwenkopfs hatte, und hackte mit einer Axt die Holzbohlen des Fußbodens auf. Das letzte Bild zeigte, wie die Gestalt unter den Bohlen einen mumifizierten Leichnam entdeckte, dessen Herz von einem Messer durchbohrt war. Die toten Hände hielten irgendeinen rechteckigen Gegenstand fest an die Brust gedruckt.
Die herausragende Qualität der Bilder beeindruckte Scott. Was für ein Talent!
Während er die Zeichnungen zurück in den Beutel stopfte, blickte er nochmals auf die aktuelle Arbeit des Alten. Die fast mechanische Hartnäckigkeit, mit der er skizzierte, die unheimliche Fülle von Einfallen, die einfach aus ihm herauszuströmen schienen, zogen Scott in ihren Bann. Er konnte nur schwer akzeptieren, dass in einem Gehirn, das ein solches Talent hervorgebracht hatte, völlige Leere herrschen sollte. Schon nach dem ersten Eindruck war Scott versucht gewesen zu glauben, es müsse irgendeine Möglichkeit geben, zu ihm durchzudringen, einen Weg geben, mit ihm zu kommunizieren. Ihm war klar, dass sein Interesse an diesem Patienten nur teilweise beruflicher Natur war, zum größten Teil beruhte es auf purer Neugier. Es reizte ihn einfach, mehr über den Mann zu erfahren. Einiges an seinem comicartigen Stil kam Scott entfernt bekannt vor und versetzte ihn in die Tage seiner Kindheit zurück, als er geradezu verrückt nach Comics gewesen war. Vielleicht hatte dieser Greis einmal einen der Klassiker wie Tales from the Crypt oder The Vault of Horror illustriert. Immerhin war es eine interessante Möglichkeit -vielleicht hatte er eine verkalkte Berühmtheit vor sich!
Unmittelbar neben Scott tauchte plötzlich eine Krankenschwester auf: »Dr. Bowman ...«
Scott antwortete nicht, er hatte nicht einmal die Stimme der Frau gehört Während er gebannt auf die Zeichnung starrte, die der Künstler gerade angefangen hatte, durchzuckte ihn das Gefühl von einem Déjà-vu. Dabei fiel ihm eine ähnliche Begebenheit ein: Vor vielen Jahren hatte er in einem bayerischen Dorf plötzlich das Gefühl gehabt, einen Ort zu kennen, an dem er vorher noch nie gewesen war. Damals hatte er gerade irgendein primitives Folterwerkzeug in einem verstaubten Museum des Mittelalters inspiziert. Krista hatte sich über ihn lustig gemacht und behauptet, wahrscheinlich sei er in einem früheren Leben mit einem ähnlichen Folterwerkzeug öffentlich gedemütigt worden - als Strafe für die unaussprechlichen Dinge, die er mit einer Pfarrerstochter angestellt habe.
Aber warum ausgerechnet jetzt? Die Zeichnung hatte noch nicht einmal richtige Formen angenommen, es waren bislang nur runde, irgendwie gerippte Objekte in geometrischer Anordnung zu erkennen ...
»Dr. Bowman?«, sprach ihn die Schwester nochmals an.
Der Alte zeichnete jetzt zügiger, er versah das Ganze mit Struktur und Räumlichkeit; das Kratzen des über die Seite huschenden Bleistifts glich einem heiseren Flüstern. Die runden Objekte wurden zu Zylindern ... zu Fässern ... Es waren vier Fässer. Aber was sollte das rippenartige Muster? Vielleicht Reifen, die die Fässer in gleichen Abständen schützend umgaben. Sie kamen ihm irgendwie bekannt vor.
»Dr. Bowman!«
Scott wandte den Kopf halb zu der Schwester herum, blickte aber gleich darauf wie unter Zwang zurück auf die Zeichnung. Wie mit Zauberhand versah der Alte eines der Fässer blitzschnell mit einer Blume, die einer Rose glich. Und schon skizzierte er, immer noch im selben rasanten Tempo, eine Reihe parallel liegender Latten, die die Fässer miteinander verbanden. Sie wirkten wie Bohlen, hatten aber außergewöhnlich geschwungene Kanten.
Scott fragte sich, wo und wann er das alles schon einmal gesehen hatte. Etwas in seiner Erinnerung sagte ihm, dass es erst kürzlich gewesen sein konnte.
Als er eine Hand auf seinem Unterarm spürte, drehte er sich schließlich um. Das Gesicht der Krankenschwester war vor Verzweiflung schon rot angelaufen. »Ähm, ja, tut mir Leid«, sagte er, »aber ich ...« Sofort konzentrierte er den Blick wieder auf die Zeichnung, wobei er versuchte, die Formen, ihre geometrische Beziehung zueinander und die große, weiße Rose irgendwo in seiner Erinnerung zu orten.
»Ihre Frau ist auf Leitung dreizehn«, bemerkte die Krankenschwester.
»Danke.« Scott fühlte sich so plötzlich zurück in die Wirklichkeit geholt, als sei er aus einem Traum gerissen worden.
»Hinten im Besprechungszimmer ist ein Telefon frei«, teilte ihm die Schwester kopfschüttelnd mit und ging weiter.
Als Scott sich widerstrebend vom Rollstuhl abwandte und auf den Weg machte, um den Anruf entgegenzunehmen, unterbrach der Alte seine Bleistiftskizzen und sah dem Arzt mit starrem Blick hinterher. Am Ende des Flurs blieb Scott kurz stehen, da er den Blick spürte. Er drehte sich nicht um, sondern setzte seinen Weg gleich darauf fort. Doch in diesem kurzen Moment des Zögerns überlief ihn eine solche Gänsehaut, als habe jemand auf seinem Grab getanzt
Er holte einen Verband aus dem Versorgungsschränkchen, wickelte ihn um den Finger und ging danach zum Telefon im Besprechungszimmer. Sein Finger pochte höllisch, außerdem hatte er Hunger und Durst und wollte nur noch nach Hause.
Doch als er Kristas muntere, kräftige Stimme hörte, waren der alte Mann und das eigenartige Deja-vu-Gefühl schnell vergessen.
Wenn auch nur für einen kurzen Augenblick.
Das Zwielicht und die schärfer hervortretenden Schatten des Spätnachmittags erfassten die einsame Gestalt auf dem Flur, die im Rollstuhl am Fenster saß. Mit den Fingerspitzen berührte der Alte behutsam, fast zärtlich die gerinnenden Blutstropfen auf seinem Unterarm und verdrehte dabei die dunklen Augen. Die versiegelten Lippen zuckten.
Es dauerte ein Weilchen, bis er sein Zeichnen fortsetzte.