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30

Der Friedhof von Hampton Meadow nahm rund viertausend • Quadratmeter des hügeligen Geländes ein, das rund achthundert Meter von Clayton Barrs Auffahrt entfernt lag. Scott, der ohne Mühe hingefunden hatte, stellte den Wagen vor der schmiedeeisernen Eingangspforte ab. Ehe er in den Nieselregen hinaustrat, holte er die Zeichnungen aus der Tasche und faltete sie sorgfältig auseinander.

Nach Westen hin setzte sich die Landstraße mit vielen Windungen fort und folgte dabei einer Bodenkrümmung, die sich über mehrere hundert Meter erstreckte. Hinter einem Buckel führte sie scharf nach links und verschwand aus dem Blickfeld. Auf dem Seitenstreifen ging Scott langsam auf den Hügel zu. Selbst aus dieser Entfernung konnte er erkennen, wo der Volvo von der gepflasterten Straße abgekommen war. Dort wies der Matsch tiefe Furchen auf. Am Hügel waren Bremsspuren zu sehen, die sich wie schwarze Bänder in sein Blickfeld schlängelten - Spuren, die einander kreuzten und wieder trennten, als sie zum Seitenstreifen bogen. Als Scott näher heranging, konnte er die Stelle ausmachen, an der das Auto auf die Mauer geprallt war; überall lagen abgesplitterte Steinbrocken herum. An der Bruchstelle der Friedhofsmauer standen keine Bäume. Es gab hier keine niedrig hängenden Aste, die erklärt hätten, warum die Windschutzscheibe nach innen zerschellt war.

Scott stieg die steile Böschung zum Straßengraben hinunter, wobei er auf dem regenfeuchten Gras immer wieder ausglitt. Irgendetwas da unten war ihm ins Auge gefallen. In einer Mulde mit abgestandenem Wasser glitzerte etwas, das wie Metall aussah. Als er hineingriff, stießen seine Finger auf ein abgesprengtes Blechteilchen, das zum Volvo gehörte. Das Wasser war so moderig, dass seine Hand nach Jauchegrube stank, als er sie wieder herauszog.

Er ließ das Blechteilchen fallen und kletterte die gegenüberliegende Böschung hinauf. Danach stieg er schwer atmend über die niedrige Mauer aus Feldsteinen und betrat den Friedhof.

Während er sich weiter hineinwagte, verwandelte sich der im Eingangsbereich wohl geordnete Friedhof in ein Wirrwarr verstreuter Grabstätten, von denen ein beträchtlicher Anteil fast nur aus rechteckigen Granitplatten bestand, die flach in die Erde eingelassen waren. Offenbar kümmerte sich niemand um diesen hinteren Teil, mit Ausnahme einiger weniger persönlich betreuter Grabstätten.

Fast unbewusst vermied er es, direkt auf die Gräber zu treten. Seine Mutter hatte ihn davor gewarnt, als er noch recht jung gewesen war, und seitdem hatte er aus irgendeinem Aberglauben heraus kein gutes Gefühl dabei.

Nachdem er eine kleine Anhöhe erklommen hatte, blieb er kurz unter einem knorrigen, kahlen Baum stehen, der nur wenig Schutz vor dem Regen bot. Hinter der Anhöhe zeichnete sich vor einer Bodenmulde voller Grabstätten eine schwarz gekleidete Frau ab, die vor einem sandfarbenen Grabstein kauerte. Sie wiegte sich hin und her und weinte. Ihr jämmerliches Schluchzen drang mal leiser, mal lauter zu Scott hinüber. Ein durchnässter Kranz von Sommerblumen lag auf dem frisch ausgehobenen, regenfeuchten Grab. Trauer, dachte er, tiefe Trauer, die durch nichts zu trösten ist. Während er zu der Frau hinüberblickte, die ihm den Rücken zuwandte, ließ der Regen nach. Gleichzeitig kühlte, es so ab, dass Scott sein eigenes Atemwölkchen sehen konnte. Fröstelnd ging er mit vorsichtigen Schritten auf die andere Seite der Anhöhe hinüber, um sich wieder auf den Weg nach unten zu machen und so weit Abstand zu der trauernden Frau zu gewinnen, dass er ihre Totenklage, die wie die einer Wahnsinnigen klang, nicht mehr hören musste. Dabei schleifte er die Füße hinter sich her, anstatt sie zu heben. Und dennoch hatte ihn eine schreckliche Unruhe erfasst, die ihn immer weiter vorwärts trieb. Krista, dachte er mutlos, liebste Krista ... Gleich darauf blieb Scott wie angewurzelt stehen, denn er spürte physisch, wie ihn Augen verfolgten und auf seinen Rücken starrten. Als er scharf herumwirbelte, kamen ihm seine Beine plötzlich so leicht vor, dass es fast schon unheimlich war. Seine Muskeln waren angespannt und zur schnellen Flucht bereit.

Aber da war nichts. Nur dieser abgestorbene, jämmerliche Baum auf dem Hügelkamm, der seine Drachenklauen in den schiefergrauen, von Wolken überzogenen Himmel reckte. Nichts als irgendein blöder Baum. Etwas Eiskaltes fuhr Scott unter die Haut und breitete sich dort wellenartig aus. Mit beiden Händen griff er nach den Zeichnungen, klappte die Seiten an der durchnässten Falzung auf und richtete den Blick auf den Kasten, der ihn schwindeln machte: Auf dieser Zeichnung hob sich ein kahler Baum schwarz gegen einen bleichen Mond ab. Mit weit aufgerissenen Augen wandte er den Blick vom Blatt. Er konnte nicht glauben, was er da eben gesehen hatte: Der Baum auf der Zeichnung glich in allen Einzelheiten dem, der direkt vor ihm stand. Jeder Ast, jeder Zweig, jeder Knoten war darauf detailgetreu abgebildet

Völlig konsterniert blickte Scott zwischen der natürlichen und der gezeichneten Szenerie hin und her, verglich im Kopf beide Ansichten miteinander, trat von rechts nach links, trat vor und zurück, wie ein Landvermesser, der Markierungen in die richtige Perspektive rücken will. Während er sich leicht zur Seite drehte, starrte er mit zusammengekniffenen Augen auf die trostlose Szenerie vor sich, um sie gleich darauf erneut mit dem Kasten zu vergleichen, in dem im Vordergrund, als schiefergraue Silhouette, ein Grabstein abgebildet war. Auf der Zeichnung war der Baum weiter entfernt... Und ja, tatsächlich: Ganz rechts war darauf auch ein teilweise zerstörter Abschnitt der Friedhofsmauer zu sehen ...

Es war nicht nur der Baum. In jeder Einzelheit entsprach die Zeichnung dieser ganzen traurigen Szenerie. Es war so, als habe der Alte genau hier gesessen, als er diese Sequenz zeichnete, und nicht meilenweit entfernt in Ottawa.

Der Winkel war trotzdem noch nicht ganz richtig ...

Ein Stückchen weiter zurück, soufflierte Scotts Hirn, zurück und weiter nach rechts. Da, genau, jetzt stimmt's!

Als Scott mit der rechten Ferse gegen etwas Hartes stieß, erfasste ihn eine schreckliche Gewissheit Langsam drehte er sich um, um sich dem Anblick zu stellen.

Es war derselbe Grabstein wie auf der Zeichnung, genau wie er befürchtet und irgendwo tief im Inneren auch gewusst hatte. Wie ein Kind, dessen schlimmster Albtraum plötzlich wahr geworden ist, fuhr er instinktiv von der zwei mal ein Meter großen, eingesunkenen Totenstätte zurück. Er schüttelte den Kopf, um die Benommenheit loszuwerden, und machte sich daran, den verwitterten Vers zu entziffern, der im oberen Abschnitt des Grabsteins eingemeißelt war:

Wo du jetzt stehst, oh Mensch, bin ich einmal gewesen. Bald wirst du ruhn wie ich und hier ein anderer lesen.

Scott wandte den Blick nach unten, dem Namen der Verstorbenen zu, und las: Marissa Rowe. Als er die Zeichnung heranzog, stellte er fest, dass die lesbaren Buchstaben genau so aussahen wie die auf dem Grabstein vor ihm: dasselbe M, dasselbe i, dasselbe doppelte s, dasselbe R. Aber wer war Marissa Rowe? Der Name sagte ihm nichts. Während er sich vor dem Regen duckte und an einem in Stein gemeißelten Namen herumrätselte, der ihm nichts bedeutete, ließ er seinen Blick fast abwesend über die Lebensdaten der Verstorbenen gleiten.

Und als er sie las, als sein Hirn diese letzte Querverbindung herstellte, ergriff ihn eine so elementare, entmutigende Furcht, dass er sich ruckartig umdrehte, um zu fliehen, um so weit zu rennen, bis sich Kontinente zwischen ihn und den Friedhof legten. Aber seine Füße weigerten sich, sie blieben hier haften, als wären sie festgenagelt. So konnte er nur stehen bleiben, wahrend er keuchte und aus tiefster Kehle wimmerte.

Denn Marissa Rowe, bei ihrer Beerdigung zehn Jahre alt, war am 12. Juli 1972 gestorben. Genau an dem Tag, als Scott und seine Freunde mit Scotts Volkswagen, dem alten Käfer, ein Kind umgefahren und getötet hatten.

Ein kleines Mädchen, das sie damals für nicht viel älter als zehn Jahre gehalten hatten ...

So alt wie Kath. nein

Scotts Beine gaben unter ihm nach. Als er sich hart auf Marissa Rowes Grabstelle setzte und das Kinn am gebeugten Knie aufschlug, gruben sich seine Zähne schmerzhaft in die Lippen. Er spürte, wie er ins Rutschen kam und näher auf den Grabstein zu glitt, als werde er gezogen. Und jetzt sickerte ihm auch noch etwas Nasses vom Kinn, dessen Tropfen sich auf dem klammen Handrücken verteilten. Blut? Ja, es war Blut und ...

... Glasscherben flogen herum und stachen wie wütende Hornissen und das Kind brach mit dem Gesicht durch die Windschutzscheibe und als wir ausstiegen war sie bereits tot aber es war niemand in der Nähe und es stand so viel auf dem Spiel unsere Karrieren unsere Zukunft das war uns allen klar...

... also sind wir davongelaufen.

Scott, der immer noch rücklings auf dem Boden lag, krabbelte auf Händen und Füßen von der Grabstelle fort und versuchte der Erinnerung, die ihn jetzt einholte, zu entfliehen.

In jener Nacht hatten sie sich verfahren, sie konnten sonst wo gelandet sein, sogar irgendwo hier in der Nähe ...

Jemand muss uns gesehen haben, dachte er aufgeregt und befühlte seine aufgespaltene Lippe. Irgendjemand hat uns gesehen und rächt sich jetzt an uns.

Das ist doch Irrsinn, wandte der letzte Rest von Vernunft, der ihm verblieben war, dagegen ein, völliger Irrsinn ... Wie konnten sie (und wer waren sie überhaupt?) Krista dazu gebracht haben, genau diese Straße zu nehmen? Und warum eine derart ausgeklügelte und so lange aufgeschobene Rache? Wie hätte irgendjemand derartig unberechenbare und nicht miteinander verknüpfte Ereignisse so geschickt inszenieren können?

Trotz dieser Einwände der Vernunft bestand Scotts Kopf darauf, einen höchst finsteren Plan zu rekonstruieren. Ihn verfolgte die verrückte Vorstellung, irgendjemand könne seinen beiden Frauen seit ihrer Abfahrt von zu Hause gefolgt sein. Mit der Absicht, sie zu entführen. Wozu Gelegenheit war, als sie anhielten, um zu tanken oder zu Mittag zu essen.

Und dann hatte man die beiden gezwungen, hierher zu fahren, und sie ohne jede Erklärung am anderen Ende diese Nebenstraße ziehen lassen. Vielleicht waren die Entführe sogar so brutal gewesen, Marissa Rowes Leichnam zu exhumieren und irgendwo an der Straße aufzubauen. Im Dunkeln mochte Krista die Leiche für einen lebenden Menschen gehalten haben, vor allem, falls der oder die Entführer den Leichnam am Fuß des steilen Buckels platziert hatten Clayton hatte gesagt, er habe das Hupen zehn oder fünfzehn Minuten ignoriert. Erst danach war er hierher gegangen, und das musste noch einmal zehn Minuten gedauert haben -genügend Zeit also, um alle verdächtigen Requisiten zu beseitigen. Und später hatten sie die sterblichen Überreste des Kindes vielleicht wieder begraben ... War es das, was ich bei Krista gerochen habe ? Und auch im Auto? Während seine Gedanken durcheinander wirbelten, rappelte sich Scott unsicher hoch und blieb im Regen stehen, der sich inzwischen zu einem heftigen Schauer ausgewachsen hatte. Nochmals nahm er sich die Zeichnungen vor, bis ein Windstoß sie ihm aus den Händen riss und davontrug.

Es musste so sein. Irgendjemand hatte vor sechzehn Jahren am Straßenrand gekauert und sie gesehen, sich das Nummernschild des Volkswagens gemerkt und danach abgewartet, lange und mit unerschütterlicher Geduld abgewartet - wie Scott selbst es vielleicht auch getan hätte, wenn Kath so etwas zugestoßen wäre ...

Nachdem das taube Gefühl aus Scotts Beinen gewichen war, machte er sich auf den Rückweg zum Wagen. Wenn jemand hinter Kath her war, dann war sie in Gefahr, sobald sie allein war, selbst im Krankenhaus. Doch mitten auf dem Weg drehte er um und eilte auf den Friedhof zurück, um nach den Zeichnungen zu suchen. Plötzlich konnte er sich nicht mehr vorstellen, wie er ohne sie weitermachen sollte. Die Zeichnungen waren die einzige handgreifliche Verbindung zu dem irrsinnigen Komplott, das er aufgedeckt zu haben glaubte, der einzige Beweis dafür, dass er nicht völlig übergeschnappt war.

Er fand die Blätter zerfetzt und völlig durchnässt an der Steinmauer wieder. Jenseits der Einfriedung, durch Lücken in den ausladenden Bäumen gerade noch zu erkennen, bemerkte er eine kleine Straße, die zwar gepflastert, aber offenbar schon seit Jahren nicht mehr benutzt war. Der von der Sonne ausgebleichte Asphalt wies viele Risse auf, in denen wilde Gräser und Wolfsmilch sprossen. Ein verwittertes, schiefes und von Patronen durchsiebtes Holzschild wies die Straße als OLD BURWASH ROAD aus.

Und wieder spulte sein Gedächtnis Jahre zurück, bis zum Abgrund der Hölle, wo ...

... sie, mit einem Schlag hellwach, im Auto saßen. Der Rausch verflog und die Müdigkeit wich, weil ihnen allen ihre missliche Lage bewusst wurde. Auf dem Rücksitz fummelte Jake mit der Straßenkarte herum, die er beim Versuch, sie aufzuklappen, zerriss. Und während er mit der Karte kämpfte, kreischte er mit hoher, überdrehter Stimme: Wo sind wir überhaupt ? Was ist das für eine Straße ? Old Burwash, blaffte Scott zurück ... Old Burwash Road ...

Scott geriet ins Stolpern, fast wäre er hingefallen.

Und plötzlich war es so, als sei er durch die fragile Schicht gebrochen, die geistige Gesundheit von geistiger Umnachtung trennt. Das Summen in seinem Kopf wurde plötzlich ohrenbetäubend laut, verschluckte die Geräusche in seiner Umgebung und verzerrte sie gleichzeitig wie durch einen Lautsprecher: das leise Seufzen des Windes, das regelmäßige Tropfen des Regens, das Pochen seines Herzens, das gegen seine Rippen schlug. Als er sich bückte, um die Zeichnungen aufzuheben, schienen die Cartoons für einen Augenblick zum Leben zu erwachen. Körper in verschiedenen Stadien der Verwesung bahnten sich einer nach dem anderen mit den Schultern den Weg aus der bebenden Erde. Er meinte, sie zu hören und zu riechen. Dieser Moment war so irreal, dass er sich mit einem Ruck umwandte, um die Gräber hinter sich ins Visier zu nehmen.

Aber unter dem sterbenden Gras und den anwachsenden Regenpfützen lag die Erde völlig unberührt da und breitete den schweren Mantel des Todes über die Dahingeschiedenen.

Scott lehnte sich gegen die Mauer aus Feldsteinen, presste die klammen Finger gegen die Schläfen und wartete darauf dass sich das Hämmern in seinem Kopf endlich legte. Als es zu einem erträglichen Pochen abgeebbt war, stieg er über die niedrige Einfriedung und machte sich zitternd und mit großen, steifen Schritten auf den Weg durch die Old Burwash Road. Der spätsommerliche Regen ließ ihn bis ins Mark frösteln.

»Ist sie tot?«

Rund fünfhundert Meter westlich der Stelle, an der er über die Friedhofsmauer gestiegen war, blieb er stehen. Als er zu Boden schaute, meinte er, auf dem Asphalt ganz schwach einen fast kreisrunden Fleck zu erkennen.

Und dann stand Brian Horner hinter ihm und fragte wieder und wieder: »Ist sie tot? Ist sie tot?« Seine Stimme war schrill vor Entsetzen. »Ist sie tot?«

Kurz vor der Morgendämmerung standen sie im leichten Nebel herum, verängstigt und wie zu Standbildern erstarrt. Alle drei beugten sich über den steifen Körper des Kindes und sahen zu, wie sich die rote Pfütze, die den zarten Kopf wie ein Heiligenschein umgab, immer weiter ausbreitete. In ihrem hübschen, weißen Sommerkleid voller Rüschen und Spitzen lag die Kleine zusammengekrümmt auf der Seite. Ein Bein war völlig unnatürlich verdreht. Die Arme hatte sie vor sich gestreckt, als hätte sie noch versucht, sich irgendwo festzuhalten, während sie sterbend durch die feuchte Morgenluft gesegelt war. Sie hatte schneeweiße Söckchen getragen, aber am verdrehten Bein war das Söckchen halb vom Fuß gerutscht. Die Wucht des Aufpralls hatte sie auf der Stelle aus den frisch geputzten Sonntagsschuhen geschleudert. (In diesem Augenblick wurde Scott klar, dass es tatsächlich Sonntag war. Sie war bereits für den Kirchgang angezogen gewesen.) Ist sie tot ?

Das Kätzchen, dem sie nachgelaufen war, kam aus dem Schatten geschossen und miaute dabei zum Herzerbarmen -eine winzige, von Gott und der Welt verlassene Kreatur. Aber als der Wind das seidige Haar der Kleinen erfasste, sprang das Kätzchen munter vorwärts und schlug spielerisch nach den durcheinander wirbelnden silberweißen Strähnen.

Scott, der sich so fühlte, als müsse sein Kopf gleich platzen, kniete sich an ihre Seite und legte einen Finger auf ihre Halsschlagader. Jedes bisschen Empfindsamkeit, das er noch besaß, konzentrierte er auf die Fingerspitze. Dazu murmelte er innerlich Gebete, die er seit vielen Jahren, allzu vielen Jahren, nicht mehr gesprochen hatte.

Aber er konnte nichts spüren, nichts als weiche Haut und nachlassende Wärme. Als er sich zu seinen Freunden umdrehte, die im Hintergrund immer noch warteten und fast wie gesichtslose Silhouetten wirkten (wie eine Schar von Gespenstern, hatte er später gedacht - jetzt fiel es ihm wieder ein), standen Tränen in seinen Augen.

Er wandte sich wieder dem Kind zu und stellte dabei seltsam distanziert und mit medizinischer Nüchternheit fest, dass es ein Albino war. Gleich darauf geriet die Welt ringsum aus den Fugen und schwand aus seinem Blickfeld, als sich nach und nach Dunkelheit über ihn senkte. Und dann gruben sich kräftige Finger in seine Schultern, und die Stimme eines Wahnsinnigen schleuderte ihm hart und zischend irgendwelche Worte entgegen.

»Werd mir bloß nicht ohnmächtig, du Arschloch. Wir müssen hier weg, Mann, und zwar sofort. Das ist dir doch klar, oder?« Jake Laking. »Da hinten bei den Bäumen leuchtet irgendwas, ich nehm an, es ist das Außenlicht einer Veranda. Allerdings glaub ich nicht, dass uns irgendwer gesehen hat.« Seine bernsteinfarbenen Augen funkelten wie die eines Raubtiers. »Wenn wir hier bleiben, sind wir geliefert. Komm schon, steh auf. Sofort!«

»Er hat Recht, Scott«, sagte jemand mit schwankender Stimme. Brian. »Lieber Gott, er hat ja Recht... Bitte!«

Und er hatte wirklich Recht, oder? Hier bleiben war gleichbedeutend mit einer unvorstellbar harten persönlichen Katastrophe. Das Kind war tot - und für Tote kann man sowieso nichts mehr tun. Um sicherzugehen, tastete Scott nochmals nach der Halsschlagader des Mädchens. Immerhin war es ja möglich, dass er den lebenswichtigen Pulsschlag beim ersten Mal nicht richtig registriert hatte. Schließlich war er ja noch kein Arzt; das hier hatte er doch nur aus dem Fernsehen, verdammt noch mal. Da machten sie das immer, selbst in Western.

Aber da war nichts, war kein Puls. Und selbst die Wärme, die er eben noch gespürt hatte, war kaum noch wahrzunehmen. Jetzt mussten sie an sich denken.

Mussten sich aus dem Staub machen.

Das Kätzchen leckte an dem klebrigen, unheimlichen Blut und schnurrte dabei wie ein Motor ... der Motor eines Volkswagens. In diesem Moment merkte Scott, dass er ganz allein neben dem Opfer seiner Tat kniete. Die anderen hatten sich in den Wagen geflüchtet. Jake saß starr und steif hinter dem Lenkrad, Brian hatte sich auf dem Rücksitz zusammengekauert.

Heftig hin und her schwankend, blieb Scott an Ort und Stelle stehen, unfähig, den Blick von dem seelenlosen Körper abzuwenden, für dessen Tod auf der Straße er verantwortlich war.

Und dann rannte auch er davon.

Er stolperte über einen winzigen verlorenen Schuh, fiel so hin, dass er alle viere von sich streckte, rappelte sich wieder hoch und zwängte sich wie ein Dieb in den wartenden Wagen.

Doch vorher merkte er noch, dass hinter den Bäumen ein gelbliches Licht flackerte.

Scott wandte den Blick von dem unheimlichen Fleck auf der Straße zum regenfeuchten Wald, wo er ein Gebäude ausmachen konnte. Von seinem Standort aus sah er einen Teil des mit schwarzen Schindeln gedeckten Daches. Niedergeduckt, nach hinten geneigt, mit einem einzigen verrotteten Giebel und einer verglasten Veranda ähnelte es eher einer Hütte als einem Haus. Als Scott völlig durchnässt und zitternd in die von Unkraut überwucherte Lichtung trat, die das Gebäude umgab, merkte er, dass hier niemand mehr wohnte. Irgendwann einmal, es musste Jahre her sein, hatte jemand das Gebäude auf Pfahle gebockt. Wahrscheinlich, um es gegen Überschwemmungen zu sichern. Allerdings hatte sich eine der Holzstützen längst verlagert, so dass sich das Gebäude jetzt bedenklich zur Seite neigte.

Scott befand sich am Rande dessen, was früher wohl einmal der hintere Garten gewesen war. Links von ihm, quer über einer Pfütze, standen die rostigen Überreste einer Kinderschaukel. Unter einer Trauerweide verrottete eine aus Fässern zusammengenagelte, niedrige Hundehütte. Auf der kleinen Terrasse vor der Hintertür gammelten eine uralte Ringer-Waschmaschine, ein bejahrter Holzstuhl und ein verrostetes Dreirad vor sich hin. Über der Tür, die nur angelehnt war, hing eine nackte Glühbirne, wundersamerweise völlig unversehrt. Der düstere Eingang war kreuz und quer mit Spinnweben überzogen.

Ist es wirklich die Old Burwash Road gewesen?, fragte sich Scott, während modriges, schaumiges Wasser seine Schuhe durchtränkte. Kann es nicht auch irgendeine andere Old ... irgendwas Road gewesen sein? Geht vielleicht meine Fantasie mit mir durch, erschöpft und übermüdet, wie ich bin? Ist es wirklich hier gewesen?

Völlig durcheinander machte sich Scott mit hastigen, großen Schritten auf den Weg durch den Garten. Wie jemand, der sich beobachtet glaubt, blickte er, nervös von einer Seite zur anderen, wieder und wieder. Am Haus angekommen, warf er sich mit der Schulter gegen die Hintertür, hielt aber plötzlich inne, weil sich sein ungutes Gefühl mit einem Mal verstärkte.

Was hoffe ich, hier zu finden ? Was kann schon Gutes dabei herauskommen f Besser, ich verschwinde auf der Stelle und fahre nach Danvers zurück, zum Krankenhaus, zu meinem Kind, zu dem Einzigen, das in meinem Leben noch etwas bedeutet.

Wie unter einem Zwang sah Scott erneut zur Tür. Mit den Jahren hatte sie sich gewölbt, und der Rahmen war so schräg verzogen wie das gesamte Gebäude. Eigentlich hätte sie sich nach innen öffnen müssen, aber als Scott es probierte, kreischte sie laut auf, weil Holz auf Holz rieb, und verklemmte sich dann. Mit eingezogenem Bauch gelang es ihm, sich durch den Spalt zu quetschen.

Er fand sich in einer verstaubten, düsteren Küche wieder, in der man kaum etwas sehen konnte, weil nur vom angrenzenden Gang her diffuses, graues Licht hineindrang. Früher einmal war der Boden mit Linoleum im Schachbrettmuster ausgelegt gewesen, aber inzwischen war es größtenteils abgeblättert und gab den Blick auf die Holzbohlen frei. Von staubigen Spinnweben überzogen, lagen überall leere Whisky-Flaschen herum. In der Ecke stand ein Holzofen, daneben lag ein umgekippter Küchentisch aus Chrom und Kunststoff. Es gab nur ein einziges Fenster, das sich über der Spüle befand, und das war mit Holzbrettern verschalt.

Hau ab, drängte ihn sein Verstand. Mach, dass du hier weg kommst. Verschwinde!

Mit gesenktem Kopf und weichen Knien trat Scott auf den schmalen, düsteren Gang hinaus, in dem Girlanden von Spinnweben schaukelten. Die Schräglage von Boden und Wänden nahm ihm die sowieso schon beeinträchtigte Orientierung, so dass ihm alles bizarr und unwirklich vorkam. Er fühlte sich wie in einem Spiegelkabinett, das die Perspektiven verzerrt

Scott bewegte sich so vorsichtig, als seien ihm Verfolger auf den Fersen. Unter seinen Füßen knackten lose Holzbohlen, knirschten Glasscherben. Hinter den mit Mörtel verputzten, rissigen Wänden huschte irgendetwas hin und her - vielleicht auf der Flucht vor ihm, vielleicht auch nicht Als er auf halbem Weg die Hände ausstreckte, blieben unzählige Spinnweben daran hängen. Überall klebten die Hüllen toter Insekten in der grauen Masse.

Schritt für Schritt schob er sich zu dem Rechteck schwachen Lichts an der Stelle vor, wo sich der Gang zur Treppe hin weitete und der Eingang zum Wohnzimmer lag. Als er nach links in den überwölbten Gang schwenkte, stieß er mit dem Zeh gegen etwas Hartes. Was folgte, war eine kurze, aber laute Kettenreaktion: Eine gelockerte Holzbohle, die sich wie ein Schlagbaum quer über den Treppenaufgang gelegt hatte, stürzte auf einen Tragbalken, so dass beides, viel Staub aufwirbelnd, mit Donnerhall zu Boden krachte.

Danach herrschte völlige Stille, bis auf den Dauerregen, der gegen die zerbrochenen Fensterscheiben klatschte. Es dauerte eine Weile, bis sich der uralte Staub wieder gelegt hatte. In dichten Schwaden wirbelte er wie Abendnebel über einem Moor durchs Zimmer. Nach und nach drang das spärliche Licht, das durch die Sprossenfenster sickerte, wieder hindurch und verlieh den Gegenständen in seinem Umkreis einen bläulich-weißen Schimmer.

Mitten an der hinteren Wand, wegen der Staubschwaden kaum zu erkennen, wölbte sich ein niedriger Bogen, der von der Form her an eine venezianische Brücke erinnerte. Darunter gähnte ein schwarzes Loch. Zuerst dachte Scott, es sei nur irgendein zufällig symmetrischer Schaden an der Wand. Aber als er näher heranging, sah er, dass die Wand nicht beschädigt war, sondern dass dort tatsächlich eine Öffnung klaffte, die Öffnung eines riesigen Kamins, die das Maul eines in Stein gemeißelten Löwen darstellte. Der massive, gewölbte Rachen des Königs der Tiere wirkte so, als habe er den ganzen Raum verschlucken wollen und sei in diesem Moment erstarrt.

Und Scott hatte genau das schon mal irgendwo gesehen.

Das Zimmer, den Löwen, die ganze Szenerie.

Aber wo?

Gleich darauf fiel es ihm plötzlich wieder ein. Der Zeichner. Die Serie von Zeichnungen, die der Alte - fast vorsätzlich, wie es Scott damals vorgekommen war - bei ihrer ersten Begegnung am Freitagnachmittag hatte zu Boden fallen lassen

Dieser Kamin, dieser Raum und ...

Die Holzbohlen des Fußbodens. In dieser Serie von Cartoon hatte ein Mann die Holzbohlen aufgehackt. Und entdeckt dass ...

Mit vor Angst weichen Knien stolperte Scott durch den schiefen Gang zurück. Dabei nervten ihn die Fetzen von Spinnweben, die ihm an den Armen und im Gesicht hängen blieben. Als er um die Ecke gebogen war und in die Küche trat, stieß er mit dem Ellbogen an ein Regal voller Tontöpfe, die alle herunterfielen und auf dem Fußboden zerschellten.

Mit zusammengekniffenen Augen suchte er jeden Winkel des voll gestopften Raumes ab, stieß dabei irgendwelche Gegenstände um oder schob sie auf die Seite. In der Holzkiste neben dem Ofen fand er schließlich, was er gesucht hatte. Eine Axt.

Sofort eilte er ins vordere Zimmer zurück und schwang dabei die Axt über dem Kopf. Wie im Fieberwahn holte er zum ersten gewaltigen Schlag aus.

Als die Holzbohlen unter der Wucht dieses Schlages zersplitterten, merkte er, wie ihn die letzten Reste klaren Verstandes verließen. Beim nächsten Schlag drang ein primitives Brüllen aus seinem Mund. Er beugte sich hinunter, um sein Zerstörungswerk zu inspizieren. Der Staub stieg in solchen Schwaden auf, dass er kaum noch atmen konnte. Wie Blut, das in kaltes Wasser rinnt, wirbelten die Staubwolken durch die Lichtbahnen, die vom Fenster aus ins Zimmer drangen. Scott ließ seine ganze Seelenqual, das Gefühl von Verlust und die Wut am Fußboden aus, den er mit dem verrosteten Blatt der Axt bearbeitete. Sein Atmen verwandelte sich in ein raues Hecheln, das an die Geräusche einer Maschine erinnerte. Der Staub hatte seine Kehle so ausgedörrt, dass sie schmerzte.

Mühelos ließen sich die alten, verwitterten Holzbohlen lösen. Irgendwann geriet Scott ins Stolpern, und dabei fiel die Axt in den breiten Spalt im Fußboden, der einem ausgehobenen Grab ähnelte. Als er sich bückte, um nach der Axt zu greifen, flatterte eine im Schlaf aufgeschreckte Fledermaus heraus und schoss an ihm vorbei, mitten durch die Staubschwaden. Ohne darauf zu achten, setzte Scott sein Zerstörungswerk fort, wahrend Tränen an seinen staubigen Wangen herunterrannen und dort Spuren hinterließen.

Nachdem die Luft sich aufgeklart hatte und wieder trübes Licht in den Raum sickerte, war der halbe Fußboden aufgerissen. Jetzt stießen Scotts Füße gegen etwas Trockenes, Brüchiges - und dabei fielen ihm die letzten Cartoons der makabren Serie ein.

Die Gestalt auf der Zeichnung hatte einen mumifizierten Leichnam entdeckt, dessen Herz von einem Fleischermesser durchbohrt war. Die toten Finger hatten etwas Flaches an die Brust gedrückt.

Und genau das befand sich unter seinen Füßen.

Scott griff hinunter und löste das Bündel aus den verdorrten Armen, die es umklammerten. Als er die Augen in den eingesunkenen Höhlen sah, die wie aus dem Schädel gelöste Eiskugeln wirkten, fiel ihm Dr. Holley ein: Ist sie das? Ist das Ihre Frau?

Das Bündel bestand aus einer Decke, die ein Buch umhüllte. Es war ein großes Sammelalbum aus weichem Material, ähnlich den Mappen, die Scott in der Schulzeit dazu benutzt hatte, Unterlagen für bestimmte Klassenprojekte, etwa Zeitungsausschnitte oder Fotos, zu sammeln und dort einzukleben. Als er das Bündel auswickelte, zerbröselte der Stoff unter seinen Händen. Es blieben nur Fetzen zurück, die nach Schimmel und Moder stanken.

Er verlagerte seine Position so, dass er den Rücken dem Fenster zuwandte, und setzte sich auf den Rand der Grube. Dabei fiel sein Blick auf ein schwach glänzendes Stück Metall in den Tiefen des hohlen Brustkorbs. Als er sich näher darüber beugte, entdeckte er ein Fleischermesser aus rost freiem Stahl, das sich bis in die Wirbelsäule des Leichnams gegraben hatte. Auf der Schneide war etwas aufgespießt, was wie eine Dörrpflaume aussah, ein Gewebeknoten, der früher einmal ein menschliches Herz gewesen war.

Während das Album aufgeschlagen auf seinen Knien lag blickte Scott mit zusammengekniffenen Augen auf das Foto das auf der ersten Seite klebte. Es war ein verblichenes Polaroidfoto, aufgenommen im Garten; im Hintergrund waren die Schaukel und die Trauerweide zu erkennen. Ein blasses Mädchen mit silbernem Haar stand neben einem großen, grinsenden Mann, dem es bis zur Hüfte reichte. Der Mann war sicher schon über siebzig und hatte äußerst eindrucksvolle dunkle Augen - Augen, die eher wie Knöpfe aussahen ...

Die Worte, die irgendjemand mit blauer Tinte darunter geschrieben hatte, waren kaum noch lesbar - so als hätten Zeit und Fäulnis ihr Vernichtungswerk gerade noch so lange aufgeschoben, bis irgendjemand dieses von einem Leichnam bewachte Bündel fand. Die sorgfaltig gemalte Bildunterschrift lautete: OPA UND MARISSA ROWE. MISSYS 10. GEBURTSTAG, 11. JULI 1972. Der Zeichner ... der Alte war der Großvater des Kindes. Scott, der sich so fühlte, als häute ihn jemand bei lebendigem Leib, schlug die Seite um und versuchte, den verblassten Brief, der dort eingeklebt war, zu entziffern. Er trug das Datum des 3. Januars 1970. Die Schrift war unregelmäßig und verschmiert, offenbar hatte die Hand beim Schreiben gezittert. Außerdem war der Brief voller Rechtschreibfehler; die meisten Worte waren so buchstabiert, wie sie ausgesprochen wurden. Der Wortlaut, den Scott rekonstruierte, war folgender:

Lieber Daddy,

mir geht 's jetzt viel besser. Die Arzte im Sanatorium sagen, ich kann jetzt wieder ein normales Leben fuhren. Hab seit zwei fahren nicht mehr getrunken und noch länger keine Drogen genommen. Ich will meine Marissa zurück. Ich weiß, dass du der Vater bist, und das hab ich auch den Ärzten im Sanatorium gesagt, aber sie braucht ihre Mama jetzt. Also leg mir bitte nix in den Weg. Wie die Arzte sagen, hob ich immer noch das Sorgerecht. Es sind neun lange Jahre gewesen. Ich will nicht, dass du ihr so was antust wie mir. In einer Woche bin ich da. Bitte bereite meine kleine Tochter darauf vor. Sag ihr, wir werden in Boston leben, in einer hübschen Wohnung nah am Wasser.

Deine Tochter Marietta

Nicht der Großvater ... der Vater!

Scott blätterte um. Auf der nächsten Seite klebte die Buntstiftzeichnung eines Kindes: Ein primitiv gezeichnetes, mit Strichen angedeutetes Kind kauerte hinter dem Bein eines großen Strich-Männchens, das ein Messer in der Hand hielt. Vor ihnen stand eine hässliche Hexe mit langer, von Warzen übersäter Nase, die eine Flasche in der Hand hielt. Darunter stand in kindlicher Schrift, bei der sich einige Buchstaben nach hinten neigten: BITTE LASS NICHT ZU DASS SIE MICH HOLT

Auf der nächsten Seite klebte ein alter Zeitungsausschnitt vom 30. Januar 1970.

Von ihrem Vater als vermisst gemeldet: Marietta Rowe, 36, Mutter einer Tochter, Marissa Rowe. Miss Rowe wurde vor kurzem aus einer Bostoner Rehabilitationsklinik entlassen und befand sich auf dem Heimweg zu ihrem Kind, für das sie jetzt ihr Sorgerecht geltend machen wollte. Seitdem ist nichts über ihren Verbleib bekannt. Bislang hat Nicholas Rowe, Marietta Rowes Vater, für Marissa gesorgt. Bereits kurz nach Marissas Geburt erhielt er das Sorgerecht für seine Enkelin. Es fehlen jegliche Hinweise und Spuren, die ...

Der Zeitungsausschnitt enthielt auch ein Foto, das ebenfalls stark verblichen war. Ein flaches Gesicht, gezeichnet von Krankheit und Alkohol, blickte Scott wie ein Gespenst an Marissas Mutter. Ein düsteres, grobes, vom Leben betrogenes Gesicht. Am Hals hing ein auffälliges Medaillon, ein Friedenssymbol, eingefasst in ein silbernes Oval.

Scott zündete ein Streichholz an und leuchtete damit in die Grube. Das zarte, gelbe Flämmchen schwankte hin und her und ließ nicht auszulotende Schatten hervortreten.

An der Kehle des Skeletts baumelten die Kette und das inzwischen verrostete Medaillon.

Der Alte hatte seine eigene Tochter umgebracht, weil er Marissa nicht mehr hatte hergeben wollen. Welch seltsame, schreckliche Liebe ... Scott, der fast zu atmen vergaß, blätterte um. Und stieß auf Zeichnungen.

Erneut überwältigte ihn das Gefühl völliger Irrealität. Die Zeichnungen zeigten den Unfall, der vor so langer Zeit passiert war ... Aber aus Sicht des Kindes.

Im ersten Cartoon streckte sich eine weiße Kinderhand nach dem Kätzchen aus, das sich ihr spielerisch entzog. Der Schwanz der Katze war steil aufgerichtet, die winzigen Beine wirbelten blitzschnell und mit großen Sprüngen davon. In der nächsten Sequenz teilte sich das hohe Gras. Die Verfolgungsjagd ging weiter: Das Kätzchen war immer leicht voraus, duckte sich, vollführte Täuschungsmanöver und schoss davon. Dann war die Straße zu sehen, die grellen Scheinwerfer. Dieser stille, endlose Moment. Metall, das sich auftürmte, glitzerndes Chrom, eine Wand aus Glas, dahinter ein dämonisches Gesicht, das Scotts eigenes war ...

Und ein weißhaariges Kind, um dessen Kopf sich ein Heiligenschein aus Blut gelegt hatte.

Wie kann er das wissen? Wie stellt er es an, mir so etwas anzutun?

Scott merkte, wie nach und nach der Wahnsinn von ihm Besitz ergriff, ohne dass er sich dagegen wehrte. Er blätterte weiter...

... und stieß auf weitere Zeichnungen.

Ein brennendes Haus. Eine stattliche Villa. Groß und stolz, genau wie sein Vater gewesen war. Züngelnde Flammen, die auf und ab tanzten. Eine weitere Zeichnung aus größerem Abstand, die zeigte, wie sich die Einfahrt in geschwungener Linie von den mit Säulen eingefassten Toren bis zum Haus erstreckte. Deutlich war die in Messing gearbeitete und auf Hochglanz polierte Hausnummer 47 zu erkennen.

Es war das Haus, in dem Scott aufgewachsen war.

Das Haus, in dem seine Eltern verbrannt waren.

So heftig zitternd, dass er kaum noch Luft bekam, wandte sich Scott der letzten vermoderten Seite zu. Dort fand er eine Nachricht in sauberer gotischer Schrift, die schlicht und einfach besagte: Auge um Auge.

Trotz seiner Verwirrung und Benommenheit sah Scott jetzt rot, sein Entsetzen vermischte sich mit ungezügelter Wut.

Blutstropfen benetzten die aufgeschlagene Seite und bildeten dort kleine Kreise aus rötlichen Perlen. Als Scott eine Hand ans Kinn hob, stellte er fest, dass die kleine, erbsengroße Narbe wieder aufgeplatzt war und zu bluten angefangen hatte.

In diesem Moment schien sich der Deckel des Albums zu bewegen und sich in der Hand zu winden, die es festhielt. Aus dem Einband löste sich ein Knäuel aus Schnecken und schwarz glänzenden Käfern und glitschte über Scotts nackten Unterarm, so dass er zu Tode erschrocken aufschrie, das Buch zu Boden schleuderte und wie besinnungslos auf seinen Arm einschlug. Mühsam rappelte er sich hoch, stolperte im Dunkeln aber über eine Flasche und schlug lang hin, wobei sich irgendetwas Scharfes in seinen Oberschenkel grub. Ohne auf den Schmerz zu achten, stand er wieder auf und ging hastig, aber vorsichtig weiter.

Er musste hier raus. Musste zurück zu Kath.

Von jetzt an würde sie stets in Gefahr sein, sobald man sie allein ließ.