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Als er ins Foyer stürmte und den verschlüsselten Notruf höchster Dringlichkeitsstufe für die Intensivstation hörte beherrschte ihn nur ein einziger Gedanke: Ich muss zu Kath Ich muss zu meiner kleinen Tochter. Mehr als jeder Willensakt war es dieser Gedanke, der ihn vorwärts trug. Er konnte sich überhaupt nicht mehr an die Rückfahrt vom Friedhof zum Krankenhaus erinnern, würde es auch niemals tun. Er war zu einem Geschöpf geworden, das nur noch aus Reflexen heraus handelte und wie automatisch gesteuert funktionierte, wobei er sich unbewusst auf die früher erworbenen Fähigkeiten wie Laufen, Rennen oder Autofahren verließ. Die Stimme, die den Code über das interne Kommunikationsnetz durchgab, brachte ihn dazu, seinen Schritt zu einem gefährlich schnellen Lauf zu beschleunigen. Weit aufgerissene Augen und ungläubige Blicke verfolgten ihn, als er durchs Foyer und den Gang hinunter zur Intensivstation raste.

Nicht Kath, bitte lass es nicht Kath sein ...

Die schweren Türen der Station gaben Scotts ausgestrecktem Arm nach. Der Krach beim Zuschlagen ging in dem zielgerichteten Kommen und Gehen, das sich auf Kaths Nische konzentrierte, fast unter. Eine Krankenschwester, deren blaue Augen gequält blickten, eilte mit einem Wägelchen, auf dem Mittel und Instrumente für den Notfall lagen, den Gang entlang. Ein bärtiger Techniker, der ein Beatmungsgerät hinter sich herzog, kam durch eine schmale Hintertür gestürmt. Von ihrem Stuhl vor dem Computer schoss eine junge Ärztin hoch und hastete unmittelbar vor der Schwester mit dem Wägelchen in Kaths Zimmer.

Und sie alle waren vollauf beschäftigt, jeder Einzelne von ihnen.

Scott raste so schnell durch den Gang, dass er die Krankenschwester, die ihr Wägelchen gerade ins Zimmer schieben wollte, anrempelte und am Ellbogen erwischte. Anstatt sich bei ihr zu entschuldigen, drängte er sich so stürmisch an ihr vorbei, dass er den Karren fast umgeworfen hätte, riss den Vorhang zur Seite ... und blieb, schrecklich verwirrt, wie angewurzelt stehen.

Denn es war nicht Kath, die im Bett lag, sondern eine alte Frau. In jeder sichtbaren Körperöffnung hatte sie Kanülen stecken. Am Bettrand kniete eine Schwester und versuchte, sie durch Herzmassage wiederzubeleben. Dabei zählte sie beim Drücken den Rhythmus so laut mit, dass ihre Worte, die wie irgendeine unheimliche Beschwörungslitanei klangen, den Lärm der Apparate und Summen übertönten: »Eins eintausend, zwei eintausend, drei eintausend ...«

Als die Assistenzärztin Scott am Ellbogen berührte, wirbelte er zu ihr herum. »Ihre Tochter ist von der Intensivstation verlegt worden, auf die Station mit Fernüberwachung«, erklärte sie mit hoher, durchdringender Stimme. »Wir haben ihr Bett gebraucht. Zu der Station geht's dort hinten.« Sie deutete auf die Wand am Ende der Intensivstation. »Bitte, Dr. Bowman, wir brauchen hier jeden Platz.«

»Ist sie ...?«

Die Assistenzärztin warf einen kurzen Blick auf die Schwester, die sich um die Wiederbelebung bemühte, und nickte dann. »Ihrer Tochter geht's gut. Wenn Sie jetzt bitte ...«

Trotz des ringsum herrschenden Chaos konnte sich Scott ein Lächeln nicht verkneifen. Während er aus dem Zimmer eilte, strahlte er vor Erleichterung wie ein Honigkuchenpferd.

Terry Deans, die leitende Schwester der Station, auf der Kath jetzt untergebracht war, sah von ihren Krankenblättern auf und lächelte. Aber ihr Lächeln verflog, sobald sie Scotts Blick begegnete. Wer dieser Kerl auch sein mochte, sie wollte ihn hier nicht haben - so viel war ihr sofort klar. Und falls er keinen plausiblen Grund für seine Anwesenheit nennen konnte, würde sie ihn auf der Stelle mit sanfter Gewalt hinausbugsieren. Denn er war unrasiert und blutverschmiert, seine Kleidung sah katastrophal aus und die Augen hatten irgendetwas ... Wahnsinniges. Sie stand auf. »Kann ich Ihnen helfen, Sir?«

»Ich suche nach meiner Tochter.« Scotts blutunterlaufene Augen blickten nervös von Zimmer zu Zimmer.

»Wie heißt sie denn?« Terry konnte kaum glauben, dass ein Mann, der so heruntergekommen aussah, eine Tochter haben sollte. Sie fragte sich, ob er womöglich der Vater des missbrauchten Kindes in 2 C sei.

»Kath ... Kathleen Bowman. Sie ist zehn. Bis heute früh hat sie auf der Intensivstation gelegen.«

Terry spürte, wie sich der Druck auf ihrer Brust lockerte. Das war der arme Kerl, dessen Frau neulich Nacht bei dem Autounfall ums Leben gekommen war. Dennoch erklärte das nicht, warum er so aussah, als hätte er sich draußen im Regen herumgeprügelt. »Sie ist in 2 F, Mr. Bowman, die dritte Tür rechts.« »Ist irgendjemand bei ihr? Ihre Tante ...?« Terry schüttelte den Kopf. »Ihre Tante ist vor wenigen Minuten gegangen. Hat gesagt, sie wolle sich ein paar Zeitschriften besorgen.«

Scott machte sich eilig auf den Weg. Er wollte Kath keine weitere Minute allein lassen. Er hatte schon daran gedacht, die Polizei anzurufen ... Aber was sollte er denen erzählen? Dass irgendjemand versuchte, eine alte Rechnung zu begleichen? Die Rechnung dafür, dass vor sechzehn Jahren ein kleines Mädchen von einem Auto erwischt worden und tot auf der Straße liegen geblieben war, während sich der Fahrer aus dem Staub gemacht hatte? Gott, dieser höllische Lärm in seinem Kopf. Seit seiner Rückkehr zum Krankenhaus hatte sich das Geräusch leicht verändert. Jetzt klang es so, als huschten Ratten hinter Wandverputz herum, oder ... (oder was?)

Kath lag fest schlafend auf dem Rücken und Jinnie neben ihr auf dem Kopfkissen. Die Puppe, deren Augen stets offen standen, grinste Scott mit gutmütiger Idiotie an.

Er trat ins Zimmer - es war sogar noch kleiner als das auf der Intensivstation, allerdings nicht durch all diese sperrigen Apparate verstopft - und nahm am Fußende des Bettes Platz. Seufzend legte er eine Hand auf Kaths Knöchel, der sich warm und lebendig anfühlte.

Ohne aufzuschrecken öffnete Kath die Augen und sah ihn an.

Doch sie sah gar nicht wirklich ihn an, wie Scott merkte. Eigentlich war ihr Blick auf überhaupt nichts Bestimmtes gerichtet. Ihre Augen standen zwar offen und blickten in Scotts Richtung, aber sie erfassten seine Anwesenheit genauso wenig wie die ihrer Puppe.

Als Scott besorgt Kaths Namen flüsterte, tauchte ein Leuchten in ihren Augen auf, das er darin noch nie zuvor gesehen hatte, ein Glanz, der eher ein Glühen als ein bewusstes Erkennen war. Einen Moment lang schien es so, als verstärke sich das Leuchten. Es wirkte so unnatürlich grell, dass Scott an die bösen Kinder in dem Film Dorf der Verdammten denken musste - und an Jake Lakings Augen in jener längst vergangenen Nacht.

Gleich darauf verschwand es. Jetzt wirkten Kaths Augen so schwarz und leer wie die eines Haifisches.

Scott hielt den Atem an und lauschte.

Dieser Lärm! Was war das nur für ein gottverdammter Lärm? Er drang nicht durch seinen Kopf, sondern kam direkt aus diesem Zimmer, von überall her ... kratz, kratz, kratz ... kratz ...

Kath setzte sich im Bett auf, schnellte geradezu hoch, wie eine von einer Schrotkugel getroffene Schießbudenfigur. Mit den Händen griff sie sich ungestüm an den Hals, während aus ihrer Kehle seltsame Gurgellaute drangen, als versuche sie, etwas, das sie verschluckt hatte, wieder loszuwerden. Ihr Gesicht, das die sommerliche Bräune fast verloren hatte, verdüsterte sich und wurde so dunkelgrau wie eine Sturmwolke. Ihre weit aufgerissenen Augen blieben weiterhin dunkel -und plötzlich begriff Scott auch, warum. Ihre Pupillen waren geweitet, so stark geweitet, dass das Blau ihrer Iris davon völlig verschluckt wurde.

Ein Gehirnschaden, dachte er mit plötzlicher, eiskalter Panik Sie hat hier, auf dieser verdammten fernüberwachten Station, ganz allein gelegen und solche Krämpfe bekommen, dass ihr Hirn jetzt nachhaltig geschädigt ist...

Scott riss den Mund auf, wollte losbrüllen.

»Daddy ...«, krächzte Kath in diesem Moment, und das traf ihn so unvermittelt, dass ihm der Schrei in der Kehle stecken blieb. »Mach, dass es aufhört...« Sie griff sich an den Hals. Aus ihrem Mund, der zu einem Schlitz verzerrt war, flog Speichel. »Er ... versucht mich umzubringen ... Daddyyyyyy...« kratz, kratz, kratz, kratz ...

Gelähmt vor Angst, beobachtete Scott seine Tochter, während der Lärm in seinem Kopf ihn auseinander zu reißen drohte. Er musste zusehen, wie seine Kleine erstickte, ohne einen Finger rühren zu können.

»Oh, mein Gott...« Mit wächsernem Gesicht stand Caroline in der Tür. Ein Arm voll Magazine klatschte auf den Fußboden. »Hilfe!«, schrie sie so laut sie konnte. »Um Himmels willen, es muss ihr doch jemand helfen!«

Kaths Hände lösten sich vom Hals und streckten sich nach ihrem Vater aus, während sich ihre Augen grässlich verdrehten. »Daddy... mach dass esssss ...« Scott schlug die Hände vor die Ohren. kratzkratzkratzkratzkratzkra...

»Nein!«, brüllte er und kniff heftig die Augen zu. »NEIN!«

Und in diesem Moment hörte es auf. Alles hörte auf. Das, was Kath würgte, Scotts Schockreaktion, die ihn lähmte, der Lärm in seinem Kopf... Ein Lärm, der so sehr nach ...

Kath schlang ihrem Vater die Arme um den Hals und klammerte sich wie ein ertrinkendes Kind an ihm fest. Er hörte sie neben seinem Ohr mit kurzen, unbeständigen Zügen atmen. Und das erinnerte ihn an sein eigenes entsetzliches Erlebnis, als er unter dem Anlegesteg fast erstickt wäre.

Dumpfe Schritte kündigten Terry Deans an, die leitende Stationsschwester. »Was geht hier vor? Was ist los?«

»Mach, dass es aufhört, Daddy«, flehte Kath atemlos. »Mach, dass er weggeht...« »Wer, Kleines?«, fragte Scott. »»Wer soll weggehen?« Als Terry Deans Kaths mühsames Atmen und die bösen roten Flecken an ihrem Hals bemerkte, trat sie mit vor Sorge verzerrter Miene näher. »Lassen Sie mich sehen«, sagte sie und fuhr gleich darauf so zurück, als sei sie von etwas gestochen worden. Denn Scott hatte ihr Kath mit einem Ruck entrissen. Inzwischen hatte er jede Beherrschung verloren. »Nein«, schrie er, »halten Sie sich da raus!«

Im Türrahmen tauchte ein schlaksiger Krankenpfleger auf.

»Ken, holen Sie Hilfe«, wies Terry ihn an. »Und machen Sie schnell!«

Der Pfleger eilte davon.

»Such Kaths Kleidung zusammen, Caroline«, sagte Scott, der seine Tochter immer noch an die Brust drückte. »Wir hauen von hier ab.«

»Nein«, keuchte Kath. »Er will... Daddy!«

Scott sträubten sich die Nackenhaare. Er schob Kath von sich weg, um ihr ins Gesicht zu starren, das schon wieder purpurrot anlief. Und ihre Augen ...

Kratzkrackratz...

Ein großer, schwarzer Arzt kam so ins Zimmer gestürmt, dass das Stethoskop an seinem Hals wie ein neckischer Schal auf und ab tanzte. Als er Kaths Zustand erfasste, eilte er, Anweisungen brüllend, zu ihr. »Besorgen Sie einen Wagen mit Notausrüstung und ein Beatmungsgerät und holen Sie Hilfe von der Intensivstation. Ich will eine Infusion mit...«

»Ist er das, Kleines?«, fragte Scott »Meinst du diesen Mann?«

»Bitte, Sir!«, unterbrach ihn der Arzt. »Machen Sie Platz. Wenn das Ihr Kind ist, befindet es sich in großer Gefahr. Ich muss sofort eingreifen.«

»Haun Sie ab!«, schrie Scott

Und dann warf sich ein Pfleger über ihn und zog ihn weg, während Kath keuchte, sich unbeholfen an die Kehle fasste und Scott mit diesen seelenlosen, schwarzen Augen anglotzte Nach und nach strömten Menschen ins Zimmer: die Assistenzärztin von der Intensivstation, die Krankenschwester mit den runden Augen, die wieder das klappernde Wägelchen vor sich herschob, der bärtige Techniker mit dem Beatmungsgerät. Eine weitere Schwester, die sich bemühte, Kaths Arme festzuhalten, während der Arzt ihr Sauerstoff verabreichte. Kath warf sich wild hin und her, ihr Hals war wie der einer Kröte aufgebläht. Jeder Versuch, Luft zu holen, mündete in einem schwachen, krächzenden Röcheln.

»Lassen Sie die Hände von ihr!«, bellte Scott und schleuderte den Pfleger weg, als sei er nicht schwerer als ein Kopfkissen. »Lassen Sie meine Tochter in Ruhe! Nicht sie ist für ihren Zustand verantwortlich, haben Sie denn keine Augen im Kopf?«

So fest wie Handschellen schlossen sich Finger um seine Gelenke. Ein kräftiger Unterarm nahm ihn in den Schwitzkasten. Als Scott sich mit dem Ellbogen wehrte, merkte er, wie er irgendjemanden am Kinn traf.

»Schaffen Sie ihn hier raus!«, befahl der Arzt und fügte, an die Schwester mit dem Wagen gewandt, hinzu: »Bereiten Sie eine 6 E-Infusion vor. Ich werde sie intubieren müssen.«

Scotts Blickfeld trübte sich, der ganze Raum schwankte und begann sich um ihn zu drehen. Überall auf seinem Körper waren Hände und Arme, die ihn gewaltsam aus dem Zimmer zerrten.

Dieser verdammte Lärm!

Erneut stand Scott, voll gepumpt mit Adrenalin, im Türrahmen jenes Krankenzimmers, das in einer anderen Klinik lag. Und benötigte jedes Quäntchen Selbstbeherrschung, das er aufbringen konnte, um vor dem harmlosen Greis im Rollstuhl nicht davonzulaufen.

Vor einem harmlosen Alten und seinem unablässig kratzenden Bleistift.

In diesem Moment der Erinnerung merkte er - oder ein uralter, dunkler Teil seiner Seele -, was es mit dem Lärm in seinem Kopf auf sich hatte.

Kaths wilder Kampf war beendet. Jetzt lag sie völlig still da, während der Arzt versuchte, ein Röhrchen in ihre Kehle einzuführen. Am Fußende des Bettes stand eine Schwester, die ein steriles Operationsbesteck auspackte. Scharfe Instrumente aus rostfreiem Stahl funkelten im kalten Licht der Neonröhren. Alle Augen im Zimmer waren von Hoffnungslosigkeit und Resignation getrübt, alle Vorhänge zugezogen. Und der Lärm in Scotts Kopf ließ endlich nach. Mit einer einzigen entschiedenen Bewegung befreite er sich aus der Umklammerung - und verließ mit einem Dutzend schneller Schritte die Station, durchquerte den Hauptgang und stürmte ins Angehörigenzimmer. Am Bett blieb er stehen und schnappte sich das Telefon, während er mit scharfen, flachen Zügen Luft holte.

Ihm fiel die Instruktion ein, die ihm die Krankenschwester am Vortag gegeben hatte. »Ich bin am Anschluss zwei-fünf-null«, teilte er der Telefonzentrale mit. »Geben Sie mir eine Leitung nach draußen.«

Die folgende Pause nutzte Scott dazu, ein winziges Telefonverzeichnis aus der Brieftasche zu ziehen. Er blätterte zum Buchstaben L und fand das, was er suchte, auf der Mitte der Seite. Es war eine Nummer, die er schon Vor Jahren notiert, aber noch nie angewählt hatte.

Nach mehrmaligem Klicken der Schaltungen war das Freizeichen zu hören. Er drückte elf in unterschiedlicher Tonhöhe summende Tasten. Nach dreimaligem Läuten meldete sich eine weibliche Stimme, die angespannt und wie unter Drogen klang: »Jaaa?«

»Scott Bowman am Apparat. Ich bin ein alter Freund von Jake und muss dringend mit ihm sprechen. Ist er ...«

Bitteres Kichern unterbrach ihn mitten im Sau. »Soll das ein Witz sein?« »Wie bitte?«

»Ich bin Jakes Schwester. Jake hat sich umgebracht, Mr.

Bowman. Sich selbst, seine Frau und seine beiden süßen Babys. Wir haben sie alle vor vier Tagen beerdigt.«

Oh, Gott, »Wie hat er Aber wahrend er noch sprach wurde aufgelegt

Benommen gab er eine andere Telefonnummer ein, diesmal musste er nicht nachschlagen. Er verwählte sich dabei, so dass er die Eingabe wiederholen musste. »Health Sciences Center Ost-Ontario.« »Geben Sie mir die Station Two Link. Dr. Bowman am Apparat. Bitte beeilen Sie sich.« Mehrfaches Klicken, danach der Wählton. »Hier Two Link, Mavis MacDonald, Stationsschwester.« »Mavis?« Scott spürte so etwas wie Erleichterung, denn er kannte diese barsche alte Oberschwester, die ein Universitätsstudium absolviert hatte, und mochte sie. »Ich bin darauf angewiesen, dass Sie mir einen Gefallen tun ...« »Dr. Bowman? Sind Sie das?«

»Ja. - Hören Sie zu, Mavis, das hier ist furchtbar wichtig.« Beim Sprechen merkte er, wie ein Rest von Selbstbeherrschung zurückkehrte. Diese ganzen Vorgänge mochten zwar völlig unfassbar sein, aber zumindest konnte er den Wahnsinn jetzt an einem ganz bestimmten Punkt festmachen und dieses schreckliche Durchdrehen, das kein Ziel kannte, überwinden. »Ich möchte, dass Sie so schnell wie möglich zum Zimmer des Alten, des Zeichners, gehen, sich sein Klemmbrett schnappen und damit zurück ans Telefon kommen.« Ihm fiel ein, wie er versucht hatte, dem Zeichner den Bleistift aus der arthritischen Klaue zu winden. »Falls er sich dagegen wehrt, holen Sie Hilfe. Und machen Sie schnell!«

Am anderen Ende der Leitung folgte ein Schweigen, das Unsicherheit verriet. Gleich darauf sagte Mavis so, als gebe sie den wahnwitzigen Vorstellungen eines mit Kummer geschlagenen Mannes nach: »Das mit Ihrer Familie tut mir sehr Leid, Dr. Bowman. Uns allen hier ...«

»Erledigen Sie es sofort, Mavis. Bitte!«

Während Scott wartete, drang das ferne Rauschen so zischend wie ein ganzes Meer von Störgeräuschen an sein Ohr - ein Lärm, der irgendwie noch nervtötender war als das inzwischen verstummte Kratzen.

Caroline tauchte neben ihm auf und packte ihn am Arm. »Was geht hier vor, Scott? Wen rufst du an?«

Er hob den Arm, um sie zum Schweigen zu bringen. Als Mavis wieder an den Apparat kam, zuckte er zusammen. »Haben Sie's bekommen?«, platzte er heraus, ehe sie sich melden konnte.

»Ja, war überhaupt kein Problem. Der schläft wie ein Baby.«

»Sagen Sie mir, was Sie sehen. Was hat er gezeichnet?«

»Nichts. Da ist nur ein leeres Blatt...«

»Sehen Sie darunter nach.«

Er hörte Papier rascheln. »Verrückt«, sagte Mavis ins Telefon. »Sieht makaber aus, so als ob irgendeine bizarre Comic-Figur das letzte bisschen Leben aus einem Kind herauspresst, es erwürgt... Ein Mädchen, glaube ich, das im Bett liegt«

»Du lieber Gott«, murmelte Scott Ihm brach der kalte Schweiß aus, sein Körper sackte in sich zusammen. »Wie kann das sein ... Wie ist das nur möglich?«

Aber er hatte es gewusst Tief in seinem Inneren hatte er es seit seinem Besuch in dem verlassenen Haus gewusst - seitdem er das vergilbte, alte Polaroid-Foto gesehen hatte. Und jene abscheulichen Augen, die wie Einschusslöcher gewirkt hatten.

»Doktor Bowman? Sind Sie noch dran?«

Scott presste den Hörer ans Ohr. »Mavis, bitte nehmen Sie eine Verordnung von Medikamenten entgegen. Ich werde das abzeichnen, sobald ich heute Abend zurück bin. Ich möchte, dass Sie ihm alle drei Stunden, ohne jede Unterbrechung, fünfundsiebzig Milligramm von Chlorpromazin IM verabreichen. Außerdem ...«

»Fünfundsiebzig Milligramm«, wiederholte Mavis. »Ich will Ihnen ja nicht ins Handwerk pfuschen, Doktor, aber fünfundsiebzig Milligramm werden den alten Kerl glatt umhauen. Er schläft doch sowieso schon, um Himmels willen, warum...«

»Tun Sie's einfach, Mavis. Sie wollen diese Anweisung doch bestimmt nicht übergehen. Das ist mein voller Ernst. Ich möchte, dass er völlig außer Gefecht gesetzt wird, das Bewusstsein verliert. Er ist gefährlich, Mavis, er ist...« Scott führte den Satz nicht zu Ende, er hatte sowieso schon zu viel gesagt »Bitte tun Sie einfach, was ich Ihnen aufgetragen habe. Es ist wichtig. Wichtiger, als Sie ahnen.«

»Also gut«, erwiderte Mavis, der bereits klar war, was sie tun würde. »Und Sie unterschreiben die Verordnung noch heute Abend?«

»Darauf können Sie sich verlassen. Erledigen Sie's sofort, Mavis, bitte!« Er legte auf.

»Bleib hier!«, befahl er Caroline, ohne auf ihre Fragen einzugehen. Gleich darauf eilte er zurück zur Station.

Als Scott hastig eintrat, erhob sich der Arzt, der Kath gerade behandelt hatte, von seinem Platz hinter dem Schreibtisch. Er blickte so finster, dass Scott seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt sah.

»Sie hatte irgendwelche Probleme mit der Atmung«, erklärte der Arzt und sah Scott aus seinen kaffeebraunen Augen resigniert, aber ohne auszuweichen, an. »Ähnliches hab ich noch nie gesehen. Es war ja kein Fremder im Zimmer, aber als ich sie zu intubieren versuchte, war es so, als ob jemand von außen auf das Zellgewebe drücke. Ich konnte das Röhrchen einfach nicht hineinbekommen und musste einen Luftröhrenschnitt durchfuhren.«

»Heißt das, dass sie noch am Leben ist?« Scotts Grinsen grenzte gefährlich nahe an Wahnsinn.

Zum ersten Mal wandte der ältere Arzt den Blick ab. »Ja, sie lebt, Dr. Bowman ...« Offenbar fehlten ihm im Augenblick die Worte. »Allerdings hat ihr Hirn sehr wahrscheinlich einen Schaden erlitten, wie ich furchte. In diesem frühen Stadium kann man unmöglich sagen, wie groß dieser Schaden ...«

Immer noch grinsend, schob sich Scott so rücksichtslos an dem Arzt vorbei, als sei er irgendein Gegenstand, der ihm im Weg war, und eilte zu Zimmer 2 F.

Doch als er eintrat, erstarb das Fünkchen Selbstbeherrschung, das während des Telefonats wieder aufgeflackert war, und hinterließ solche Dunkelheit in ihm, als sei ein Stern erloschen. Wie oft hatte er als Assistenzarzt eine ähnliche Szene erlebt? Hundert Mal? Zweihundert Mal? Er sah einen Techniker, der für die Beatmung sorgte und mit den Reglern der künstlichen Lunge so herumhantierte, als hänge ein kleiner Junge mit Leib und Seele an seinem Videospiel; eine Krankenschwester, die mit grimmiger Miene die blutbefleckten beim Luftröhrenschnitt verwendeten Instrumente einsammelte — so über ihr Operationsbesteck gebeugt, als erwarte eine erschöpfte Kellnerin das Ende ihrer Doppelschicht. Und da lag auch die Patientin: still und starr in einem blütenweißen Bett, während ein unbarmherziges Gummigebläse Zug um Zug Sauerstoff in ihre Lunge pumpte.

Nur, dass diesmal seine eigene kleine Tochter die Patientin war.

Diesmal war es Kath.

Die künstliche Lunge war mit einem Plastikteil an ihrer Kehle verbunden. Aus dem Einschnitt sickerte ein Tropfen Blut, durch die ausgetretene Gewebeflüssigkeit zu blassem Rosa verdünnt. Wie eine blutige Träne rann der Tropfen an ihrem Hals herunter.

Scott wurde schwindelig, fast wäre er in Ohnmacht gefallen. Als er sich vorstellte, wie alle lebensrettenden Apparate verschwanden, blieb nur ein einziges Bild zurück. Das Bild, wie Kath in einem Sarg aus Mahagoni lag, dessen Deckel offen stand. Der penetrant süßliche Geruch von Blumen war so unerträglich, dass ihm übel wurde; er spürte, wie sich ihm langsam, aber sicher der Magen umdrehte ...

Als er die Augen schloss, verschwand das Bild. Und als er sie wieder öffnete, war er mit seiner Tochter allein im Zimmer.

Er bemerkte, dass Jinnie unter dem Bett auf dem Fußboden lag. In der Hektik der lebensrettenden Maßnahmen, die Arzt und Schwestern erst vor wenigen Minuten in diesem Raum durchgeführt hatten, war die Puppe aus dem Bett gefallen. Es war nur ihr aufgedunsenes Gesicht zu sehen; die niemals zwinkernden Augen schienen ihn anzuklagen. Er hob sie auf und setzte sie wieder auf Kaths Kopfkissen.

Kaths Augen waren geschlossen.

Sie schläft, dachte er und tröstete sich mit dieser Selbsttäuschung. Sie macht nur ein Nickerchen. Er legte eine Hand an ihre Stirn.

Gleich darauf hob er zum Test ihrer Reflexe - das hatte er wahrend des Medizinstudiums gelernt - ihre Lider an und untersuchte die Augäpfel.

Nichts. Schwarze. Dunkle Teiche stillstehenden kalten Wassers.

Am liebsten hätte Scott sich sofort bemüht, sie aufzuwecken, sie zu erreichen, sie aus den trüben Teichen dieser Augen, in denen ihr Selbst unterging, herauszuholen. Es war der Arzt in ihm, der diesen schrecklichen Versuch vereitelte.

Scott zog sich zurück.

Und dann kam ihm eine Idee, die so völlig unglaublich und dennoch unwiderstehlich war, dass er schon beim Gedanken an diese Möglichkeit zu zittern begann. Er hatte zwar keine rationale Vorstellung davon, mit wem oder was er es hier zu tun hatte - aber schließlich war ja auch nichts von allem, was geschehen war, rational, oder? War er dem Teufel persönlich, verkörpert durch diesen ekelhaften Alten, von Angesicht zu Angesicht begegnet? Oder war es irgendein verbitterter Racheengel Gottes? Wenn ihm vor vier Tagen (war es wirklich erst vier Tage her?) jemand erzählt hätte, er werde innerhalb weniger Stunden ohne Wenn und Aber an übersinnliche Erscheinungen glauben, hätte er herzlich darüber gelacht. Hätte dieselbe Person behauptet, er werde keine Woche später ernsthaft über einen Pakt mit dem Teufel nachsinnen, hätte er ihr eine Zwangseinweisung in die Psychiatrie verpasst.

Aber wenn der Alte diese Dinge nur dadurch, dass er sie zeichnete, geschehen lassen konnte — und tat er nicht genau das? —, dann konnte er sie vielleicht auch wieder aus der Welt schaffen. Womöglich würde man ihn dazu überreden können,

Kath ihr normales Selbst zurückzugeben und ihre Seele zu retten, so dass sie wieder in diese leeren Augen zurückkehrte.

In diesem Augenblick schoss Scott die Möglichkeit durch den Kopf, dass er völlig durchgeknallt war, aber er verwarf sie schnell wieder, ging zu einem Telefon und rief den Flughafen an. Dort konnte man ihm einen Platz für einen Direktflug um drei Uhr nachmittags reservieren, also würde er um zehn nach vier in Ottawa eintreffen. Jetzt war es zwanzig nach zwei.

Er kehrte ins Zimmer zurück, griff nach seiner Flugtasche und warf einen letzten Blick auf Kath, ehe er davoneilte. Am Zimmereingang stieß er mit Caroline zusammen.

»Scott, wo gehst du hin?«

Er packte sie so heftig am Arm, dass er ihr wehtat. »Bleib bei ihr«, sagte er mit wahnsinniger Eindringlichkeit »Beschütze sie.«

»Scott

Als er sich an ihr vorbeidrängte, blieb seine Flugtasche an der Türklinke hängen und löste sich aus seinem Griff. Kleidung fiel heraus, eine Zahnbürste und der Umschlag mit den Weihnachtsbildern. Die Fotos rutschten heraus und verteilten sich fächerförmig wie das Blatt eines Kartenspielers auf dem Fußboden.

Scott hob die Tasche auf und stopfte die Kleidung wieder hinein, während sich Caroline verwirrt bückte, um die Fotos einzusammeln.

Als sie wieder hochsah, war Scott bereits verschwunden.

Am schwersten war es für Caroline, die Bilder von Krista anzusehen, aber sie ging sie wie unter einem Zwang durch, wobei ihr Mienenspiel ständig zwischen Schmerz und Freude wechselte. Unfassbar, dass ihre kleine Schwester tot sein sollte ...

Während Tränen ihren Blick trübten, stieß Caroline auf die Unterwasser-Aufnahme von der Anlegestelle. Verwundert betrachtete sie das Foto, wobei ihr plötzlich kalt wurde, und mischte es dann unter die anderen Bilder ganz unten im Stapel.

Auf dem nächsten Abzug war überhaupt nichts zu erkennen ... Oder doch?

Ungläubig sah Caroline zu, wie sich die nicht entwickelte Aufnahme kaum merklich zu verändern begann. Anfangs dachte sie, ihre Fantasie spiele ihr einen Streich, es sei nur eine Sinnestäuschung ihres überreizten Hirns.

Aber nein: Das Ding veränderte sich tatsächlich, entwickelte sich wie ein Polaroidfoto, nur langsamer. Nach und nach tauchte ein Gesicht oder der Teil eines Gesichtes auf... und zwei Hände, die nach oben griffen.

Mein Gott, dachte Caroline ebenso erschrocken wie verwundert, dieser Gesichtsausdruck...

Das Gesicht auf dem Foto, das sich jetzt herauskristallisierte, als lichte sich nach und nach eine düstere Rauchwolke, war grässlich verzerrt, wie zu einem Todesschrei. Und es schien in irgendeiner Masse festzustecken ... Unterhalb des Kinns, rund um die Ohren und rings um die Stirn war ... Treibsand?

Ja, es war das Gesicht eines Mannes, der in Treibsand versank.

Aber es war nicht irgendein Gesicht. Scott? Die Nerven in Carolines Fingern versagten, das Bild wirbelte auf den Boden. Auch auf dem nächsten Abzug, ebenfalls leer, lichtete sich der Nebel nach und nach und enthüllte hasserfüllte rote Augen, Zahnstümpfe und riesige Blutspritzer.

Caroline schrie auf. Diesmal entglitten ihr alle Fotos und verteilten sich wie die Bruchstücke eines geplatzten Traums auf dem Fußboden.