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»Wo ist er?«
Janet Brown, die Empfangsdame der Station Two Link, trat unwillkürlich einen Schritt zurück und dankte bei sich dem lieben Herrgott dafür, dass ein Schreibtisch zwischen ihr und dem Mann gegenüber stand. Sie hatte gerade mit ihrem Freund telefoniert, als Scott hinter ihr aufgetaucht war und sich daran gemacht hatte, die Kartei mit den Krankenblättern zu durchwühlen.
»Wo ist wer?«, fragte Janet zurück. Noch nie hatte sie einen Arzt in einer derart katastrophalen Verfassung gesehen. Alkoholiker vielleicht oder auch Unfallopfer, aber niemals einen Arzt. Und mit seinen Augen stimmte was nicht. Sie waren rot umrändert, glänzten viel zu stark und wanderten dauernd hin und her, so als fürchte er, das Gebäude könne einstürzen oder irgendein wildes Tier heranstürmen, um ihn zu verschlingen. Gehetzt - das war das Wort, nach dem sie gesucht hatte. Der Mann wirkte gehetzt.
Scott pflanzte die Fäuste auf die Schreibtischplatte und beugte sich zu ihr hinüber. »Der Alte, der Zeichner. Wo ist er?«
Janet trat noch einen Schritt zurück und stolperte zu ihrem Stuhl hinüber. Ihr fiel ein, dass ihr Freund immer noch am Apparat war und wartete. Während sie rechts und links den Gang hinunterblickte, verfluchte sie die Tatsache, dass er jetzt wegen der abendlichen Essenszeit völlig menschenleer war. Sie wandte den Blick wieder Scott zu.
»Der ist verlegt worden«, brüllte sie fast. »Vor etwa einer Stunde, in die Psychiatrie. Kann ich irgendetwas für Sie tun?«
Aber Scott hatte sich schon umgedreht und rannte auf die Treppe zu. Die Empfangsdame wartete, bis er durch die Tür gewitscht war, dann wählte sie die Null und ließ die Leiterin des Pflegedienstes, die gerade beim Abendessen war, über Lautsprecher ausrufen.
Bateman, dachte Scott, als er die Treppe hinunter zum Hauptgang eilte. Er hatte übersehen, welches Interesse der Chef der Psychiatrie an dem Alten nahm. Selbstverständlich hatte Mavis MacDonald Bateman angerufen, damit er Scotts völlig unangemessene Anweisung bestätigte. Und selbstverständlich hatte Bateman sein Veto eingelegt, Scott drängte sich durch den Hauptgang, schoss ins Schwesternzimmer, das momentan leer war, ging zu der Kartei auf dem Schreibtisch hinüber und machte sich ans Durchblättern, um nach der neuen Zimmernummer des Alten zu suchen.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte eine argwöhnische Stimme in seinem Rücken.
Scott ignorierte sie und blätterte die Kartei weiter durch, wobei er das unkontrollierte Zittern seiner Hände verfluchte.
»Dr. Bowman?«, fragte die Stimme. »Sind Sie das?«
»In welchem Zimmer ist der Zeichner untergebracht?«, fragte Scott und wandte den irren Blick der Schwester zu.
Genau wie die Empfangsdame auf der Station Two Link fuhr die Frau zurück. Sie reagierte damit, dass sie eine Krankenakte aus der Kartei zog und ihm zuwarf. Scott schlug sie hastig auf und suchte nach der telefonischen Anweisung, die er Maris MacDonald gegeben hatte. Wie es die Vorschrift verlangte, hatte Mavis Scotts Arzneimittelverordnung eingetragen und unterschrieben. Aber im Feld darunter stand eine weitere Anweisung, die im Unterschied zu der oberen mit sauberer Füllerschrift eingetragen war, und sie besagte: Obige Anweisung ignorieren. Verlegen Sie den Patienten in die Psychiatrie, gezeichnet Dr. med. V. Bateman.
Der Zeichner befand sich in 117, einem Privatzimmer am Ende des Ganges.
Hastig durchquerte Scott den Gang, bis sich sein Magen vor Angst zusammenzog und er, wieder einmal überwältigt von diesem seltsamen Gefühl der Irrealität, dem Gefühl, im Leeren zu schweben, sein Tempo drosselte. Er holte tief Luft und kämpfte um Orientierung. Der Gang war ihm vertraut. Fast täglich war er hier entlanggegangen, seit die Klinik vor mehr als acht Jahren eröffnet worden war. Sein Büro lag am Ende eines ähnlichen Korridors, nur eine Treppe tiefer. In diesem Gebäude hatte er seinen Lebensunterhalt verdient. Es war ein guter Ort, ein sicherer Ort, ein vernünftiger Ort. Aber war dieser Ort real? War überhaupt irgendetwas real?
Der Flug von. Boston hierher, selbst die Fahrt vom Flughafen in die Stadt waren in der konkreten Erinnerung bereits verblasst und wirkten jetzt eher wie ein Traum. Er wusste nur noch, wie er auf dem Parkplatz des Flughafens in Kristas Chevette eingestiegen war. Daran erinnerte er sich mit schrecklicher Deutlichkeit. An den Duft ihres Parfüms, der immer noch im Wagen hing. An die Gegenstande, inzwischen bedeutungslos, die sie früher aufgrund ihrer Persönlichkeit mit Leben erfüllt hatte: die punkige, mit Strass-Steinen verzierte Sonnenbrille, die sie vergessen hatte, mit nach Boston zu nehmen; das ungeöffnete Päckchen von Trident-Kaugum-mi auf der Ablage des Armaturenbrettes; die hauchdünne Nylon-Strumpfhose auf dem Rücksitz, immer noch in ihrer Verpackung ... kratz, kratz ... kratz, kratz, kratz ...
Scott machte sich auf den Weg, blieb vor dem Eingang zu Zimmer 117 jedoch wie angewurzelt stehen und fröstelte innerlich vor böser Vorahnung. Die letzten paar Schritte schaffte er nur, indem er den Rücken fest an die Wand presste.
Der Künstler saß im Rollstuhl am Fenster, dessen Jalousien heruntergelassen waren. Er wandte Scott den Rücken zu und zeichnete; das Geräusch des Bleistifts schien den ganzen Raum zu erfüllen.
Und plötzlich wurde Scott klar, dass er es nicht fertig bringen würde, dem Alten gegenüberzutreten. Vielleicht war er wirklich der Racheengel eines erzürnten Gottes ... Schließlich hatte sich Scott ja wirklich versündigt, hatte ein hilfloses Kind umgebracht und sich danach feige aus dem Staub gemacht.
Er bringt mich um, Daddy ...
Nein, das musste aufhören, und zwar sofort. Ob Gott, Dämon oder einäugiger Alien: Er würde sich ihm stellen.
Atemlos stürmte Scott ins Zimmer und entriss den mörderischen Händen das Klemmbrett. Der Zeichner - Nicholas Rowe - rührte sich nicht, zuckte nicht einmal mit der Wimper. Er sabberte nur, während seine schwarzen Augen .ohne zu zwinkern ins Leere starrten. Scott ließ den Blick über die beiden vollendeten Zeichnungen schweifen - aber genau wie die Friedhof-Serie wirkten diese Skizzen auf den ersten Blick mit nichts Realem verbunden, jedenfalls mit nichts, das Scott irgendetwas bedeutete. Die erste Zeichnung zeigte einen Richter, der sich mit grimmiger Miene die Verteidigungsrede eines Mannes anhörte, der in altmodischer Gefängniskleidung steckte. Auf dem zweiten Cartoon hielten zwei Wärter den Gefangenen fest, während der Richter das Urteil mit Hammerschlag bekräftigte. Die Kästen für die folgenden Cartoons waren zwar schon sorgfältig umrahmt, aber noch Unheil verkündend leer.
Scott knüllte die noch nicht vollendete Serie zu einer Kugel zusammen und schleuderte sie zu Boden. Das Klemmbrett warf er aufs Bett. Dann trat er hinter den Rollstuhl.
Abrupt fasste er nach den Handgriffen und wirbelte den Rollstuhl herum. Ein Speichelfaden schlug dabei vom Kinn des Alten nach oben und heftete sich an dessen Wange.
»Sie können mit dem Spielchen aufhören, Rowe«, sagte Scott, ohne dabei die nackte Angst verbergen zu können. »Ich weiß jetzt alles über Sie.«
Der Alte reagierte nicht, produzierte aber weiterhin Düfte, die nach Straßenkatze rochen, genau wie vor vier Tagen, als Scott versucht hatte, ihm den Bleistift aus der knotigen Faust zu winden.
Scott umfasste Rowes runzliges gelbes Gesicht und zerrte es auf die Höhe seines eigenen. Er bemühte sich, etwas, irgendetwas in diesen tief liegenden Augen zu erkennen - Augen, die so sehr Kaths Augen ähnelten, wie Scott sie zuletzt gesehen hatte.
»Bitte«, sagte er den Tränen nahe, während vor seinem geistigen Auge Kath auftauchte, die bleich und mit leerem Blick in ihrem Bett lag. »Bitte hören Sie auf damit.« Er packte das schlaffe, runzlige Gesicht noch härter an, so dass sich die Lippen des Alten wie ein Karpfenmaul spitzten. »Sie kann doch gar nichts dafür ...«
Der Zeichner beugte sich vor, befreite sich aus Scotts Griff und streckte die Hände nach dem Klemmbrett auf dem Bett aus. Scott packte die Armlehne des Rollstuhls und sorgte dafür, dass das Klemmbrett ein paar Zentimeter außer Reichweite blieb. Aber der Alte gab nicht auf, sondern streckte weiter die Hände aus und grunzte, während sich seine deformierten Finger wie die eines Ertrinkenden - oh ja, wie die eines Ertrinkenden - in die Luft krallten.
Dieses Gefühl kannte Scott... Und plötzlich kehrte das Entsetzen, das er unter dem Anlegesteg empfunden hatte, so erschreckend unvermittelt und deutlich wie ein Albtraum zurück. Er spürte das Wasser am Hals, so als hätten sich kräftige Hände darum gelegt, Hände, die ihn würgten und ihm die Luft nahmen ...
Scott ließ den Rollstuhl los und taumelte, die Hände an die Kehle gerissen, zurück. Sein Körper war ohne jede Kraft und prickelte vor Drang nach Sauerstoff. Mühevoll schaffte er es, Luft zu holen. kratz, kratz, kratz...
»Hören Sie auf!«, brüllte Scott und ließ eine Hand wie ein Schwert heruntersausen, so dass sich das Klemmbrett aus dem Griff des Alten löste und klappernd zu Boden fiel. »Hören Sie auf damit!« Er grub seine Fäuste in Nicholas Rowes Nachthemd und zerrte ihn mit letzter Kraft hoch. »Krista ist tot!«, schrie er das teilnahmslose Skelett, das er umklammerte, an. »Krista ist tot, und ich will meine Tochter zurück!« Mit aschgrauem Gesicht bückte er sich, schnappte sich das Klemmbrett und stieß es dem Alten grob in die Rippen.
»Hier, du Mistkerl. Zeichne!« Es klang lächerlich - als wolle ein Revolverheld den Polizeichef der Stadt zum Duell herausfordern. »Zeichne meine Tochter als normales Mädchen, oder ich bring dich um!«
Der Zeichner reagierte mit einem Furz, dem feuchten, widerlichen Furz eines Greises.
Und zum ersten Mal, seit Scott ihn gesehen hatte, schien er zu grinsen.
Scott klatschte ihm mit der Rückseite der Hand voll ins Gesicht und hob schon den Arm, um erneut zuzuschlagen, als ihn etwas am Handgelenk packte. Er befreite sich aus der Umklammerung, wirbelte herum - und sah sich Jane Copeland, der Pflegedienstleiterin, gegenüber.
»Doktor Bowman!«, brüllte sie. »Sind Sie wahnsinnig geworden?«
»Raus!«, bellte Scott. »Sofort raus!« Er ging wie eine Dampfwalze auf sie los.'
Copeland fuhr zurück. »Was geht hier vor, Doktor? Mein Gott, er ist doch nur ein alter Mann ...«
»Raus!«, wiederholte Scott und ballte die Fäuste. »Er hat meine Frau umgebracht.« Mit einem Teil seines Verstandes erkannte er, wie verrückt das klingen musste, aber das machte ihm jetzt nichts mehr aus. »Er hat meine Frau umgebracht, und jetzt will er auch noch meine Tochter töten.«
»Waaas?« Die Pflegedienstleiterin stolperte durch die Tür auf den Gang. »Ich hole jetzt Sicherheitsleute, verdammt noch mal. Lassen Sie den alten Mann in Ru...«
Die zuschlagende Tür schnitt ihr die letzten Worte ab. Scott sperrte ab und zog das Bett als Barrikade vor den Eingang. Als er sich wieder dem Alten zuwandte, merkte er, dass seine Beine so weich wie Gummi waren.
Der Zeichner stierte vor sich hin, während mit Blut vermischter Speichel aus seinem Mund sickerte und der Bleistift in seiner Hand Schwindel erregend schnell über die Seite flog.
Mit bedrohlich gebleckten Zähnen torkelte Scott vorwärts, um nachzusehen, was der Alte zeichnete - und fiel wie ein schlaffer Sack zu Boden, denn seine Beine gehorchten ihm nicht mehr. Als sein Kinn auf die Fliesen schlug, begann die alte Wunde erneut zu bluten.
Jetzt gab es keinen Zweifel mehr: Der Alte grinste tatsächlich.
Nach und nach zog sich Scott bis zu dem widerlichen Kerl im Rollstuhl vor. Mittlerweile bewegte sich der Bleistift mit unfassbarer Geschwindigkeit. Und das klang wie das weit entfernte Flüstern von Verdammten. »Was zeichnen Sie? Warum sagen Sie nichts?« Das heimtückische Flüstern hörte keinen Moment auf. »Es war ein Unfall. Wir waren doch nur unreife Jungs ... und hatten furchtbare Angst. Wir haben doch nicht absichtlich ...«
Wie irgendein unheimlicher, Furcht erregender Despot hielt Nicholas Rowe, an seinen Rollstuhl gebunden, inne und starrte in Scotts vom Wahnsinn gezeichnete Augen. Und einen schrecklichen Augenblick lang hatte Scott das sichere Gefühl, dass der Alte reden würde. Stattdessen zog er ein einzelnes Blatt aus dem Klemmbrett und ließ es auf den Boden fallen. Es landete vor Scotts Augen.
Es enthielt mehrere Cartoons: Ein alter Mann lag auf dem Rücken, auf einer Bahre. Sein im Sterben aufgerissener zahnloser Mund stand offen. Ein wohlbeleibter Arzt in weißem Laborkittel beugte sich über ihn, um ihm an der Brust die Saugnäpfe für die Elektroden anzulegen, denn sein Herz sollte durch Stromstöße wieder zum Schlagen gebracht werden. Auf dem letzten Cartoon war zu sehen, wie es einen Kurzschluss gab, zwei wie in einem Comic gezeichnete Stichflammen aus den Elektroden schossen und der Arzt durch den Stromschlag getötet wurde.
Brian Horner.
Ein weiteres Blatt, dessen Skizzen jedes grausame Detail zeigten, flatterte zu Boden.
Jake Laking.
Jake Laking, wie er ein Repetiergewehr vom Ständer holte und mit nach oben nahm, wo seine Familie beim Fernsehen saß. Wie er es zuerst auf seine Frau, dann auf seine Kinder und zuletzt auf sich selbst richtete und jedes Mal abdrückte.
Schließlich schwebte das aus dem Messingrahmen gerissene Familienfoto aus Scotts Büro auf den Boden, langsam und in großen Bögen, wie Herbstlaub. Mit Blut war ein großes X darüber geschmiert.
Wieder begann der Bleistift Unheil verkündend zu kratzen. Scott, der inzwischen wie ein Kind schluchzte, kroch auf die Füße des Alten zu. »Hören Sie auf«, flehte er unter Tränen. »Hören Sie auf... Sie kann doch gar nichts dafür, kapieren Sie das denn nicht? Bitte!« Er zog sich auf die Knie hoch und benutzte dabei die Speichen des Rollstuhls als Stütze.
Langsam und wohl überlegt neigte der Alte das Klemmbrett Scott zu, so dass er die gerade entstehenden Zeichnungen flüchtig sehen konnte. Dabei hielt der Bleistift keinen Augenblick inne; mit übermenschlicher Schnelligkeit sauste er über das Blatt, schuf die Umrisse mit derartiger Geschwindigkeit, dass sie sich fast zu bewegen schienen.
Ein Kind in einem Bett. Kath, an deren Hals Atemröhrchen befestigt waren. Jinnie, die schlaff auf Kaths Brust lag und ihn mit ihren leblosen Puppenaugen genauso anglotzte wie noch vor wenigen Stunden, als sie unter Kaths Bett im Krankenhaus gerutscht war.
Scott befahl seinen Händen, sich zu rühren, nach dem Klemmbrett zu greifen, es zu schnappen und auf seine Knie zu legen, damit er diese todbringenden Zeichnungen an sich nehmen und zu unzähligen dicken Schneeflocken zerreißen konnte. Aber seine Hände gehorchten ihm nicht. Sie waren kalt, taub und kamen ihm so vor, als gehörten sie ihm gar nicht.
Wie ein Schatten tanzte der Bleistift des Zeichners über das nächste Blatt. Mit jedem teuflischen Kasten veränderte Jinnie ihre Position, gelangte vom Bett auf den Fußboden, vom Fußboden aus hinter die künstliche Lunge. Eine Stummelhand griff nach dem Stecker des Beatmungsgerätes an der Wand...
»Nein!«, schrie Scott und kämpfte mit aller Kraft gegen die Schlaffheit und Taubheit in seinen Muskeln an. »Nein!«
Quälend langsam, Zentimeter für Zentimeter, näherte sich Jinnies Hand dem Stecker. Scott konnte sie hinter dem schattenhaft tanzenden Bleistift des Alten erkennen. Die Hand schloss sich um das Stromkabel ... und hielt plötzlich inne.
Nicholas Rowe starrte Scott in die Augen und lachte - ein scharfes, freudloses Lachen, das Scott bis ins Mark erschütterte. Und dann verzerrte sich das heimtückische Greisengesicht, nahm einen finsteren Ausdruck an, und ein Klümpchen Speichel landete direkt in Scotts Augen, die er aus einem Reflex heraus zugedrückt hatte.
Vor seinem geistigen Auge erschien Kath, in gespenstisches Zwielicht getaucht, und setzte sich im Bett auf. Die riesigen, schwarzen Pupillen hatten den Rest der Augen verschluckt. Das beim Luftröhrenschnitt implantierte Röhrchen ragte wie ein Messergriff aus ihrem Hals. Flehend riss sie die Hände hoch: »Er bringt mich um, Daddy«, flüsterte sie weit entrückt, ohne jede Erregung, ohne jede Angst. »Er bringt mich um.«
Die Hand des Künstlers rührte sich erneut Genau wie die Hand der Puppe.
Heftige Wut, heiß wie geschmolzene Lava, durchströmte Scott Bowman und schwemmte alle Ängste weg, nahm ihnen jede Bedeutung.
Als er sich hochrappelte, hielt der Alte erneut inne. Der Ausdruck triumphierender Rache wich dem bestürzter Verwunderung.
Diese kurze Pause war alles, was Scott brauchte.
Er knallte dem Alten die Faust ins Gesicht, spürte das Wabbeln uralten Fleisches, das Knacken poröser Knochen. Mit der freien Hand packte er das Klemmbrett und zerrte mit ganzer Kraft daran, aber Rowe ließ nicht locker. Wie eine Katze fauchte er durch die schwarzen Zahnstümpfe.
Vor dem Zimmer klopfte jemand an die Tür.
»Machen Sie auf!«, sagte eine gedämpfte Stimme. »Scott, ich bin's, Vince Bateman. Machen Sie sofort die Tür auf!«
Scott und der Alte lieferten sich eine Schlacht um das Klemmbrett, zerrten es zwischen sich hin und her, wie Holzfäller, die gemeinsam einen Baumstamm durchsägen. Vage hörte Scott das Klicken eines Türschlosses. Er hob den Fuß und trat den Alten in den Brustkorb, wobei er selbst fast das Gleichgewicht verloren hätte.
Rippen knackten.
Als sich die Tür leicht öffnete, schrammte das Bett, das als Barrikade davor geschoben war, heftig über die Fliesen. Durch den Spalt war Batemans schrille Stimme zu hören, die kreischte: »Was, zum Teufel, geht da drinnen vor? Machen Sie die Tür auf, verdammt noch mal!«
Scotts Beine wurden schon wieder so weich wie Gummi. Er wandte den Blick von diesen dunklen, hypnotischen Augen ab und zerrte nochmals am Klemmbrett, wobei er vor Anstrengung ebenfalls zu fauchen begann. Inzwischen knurrte der Alte wie eine Wildkatze.
Und während Scott entsetzt zusah, erwachte Kaths Flickenpuppe in ihrem Kasten zum Leben - wie eine animierte Comic-Figur auf einer winzigen Leinwand, die einen Trickfilm in Schwarzweiß zeigte. Ihre stummelartige Hand schloss sich fester um den Stecker an der Wand und zog. Jetzt konnte Scott auch die Metallzinken des Steckers erkennen, die bereits halb herausgerissen waren und im Licht der nicht sichtbaren Neonröhren funkelten.
Hinter ihm war lautes Ächzen zu hören; das Bett, das als Barrikade diente, rutschte wieder ein paar Zentimeter vor.
Ohne jede Vorwarnung ließ Scott das Klemmbrett los und streckte die Hände nach der Kehle des Alten aus. Der dürre Greisenhals schwabbelte zwischen Scotts zudrückenden Händen. Es war ein gutes Gefühl.
Ersticke, du Mistkerl, dachte er mit verrückter Fröhlichkeit. Ersticke, so wie ich damals, so wie meine kleine Tochter...
Während er würgte und die schwarzen Augen aus den Höhlen traten, stach der Zeichner mit dem Bleistift zu, trieb dessen Spitze in Scotts linke Schulter. Scott schrie zwar auf, ließ aber nicht locker, im Gegenteil: Er schloss die Hände noch ein wenig fester um die Gurgel des Alten und verstärkte den Druck.
Stirb, dachte er, und der Gedanke wurde zur Gebetslitanei: Stirb, stirb, stirb...
Als der Alte erneut mit dem Bleistift ausholte, erwischte er Scott im Gesicht. Aus dem bleigeschwärzten Loch in der Wange schoss sofort Blut Stirb ...
Die Tür schrammte so weit auf, dass Bateman den Kopf hindurchstecken konnte. »Scott!«
Wieder stieß der Bleistift zu - doch Scott hatte inzwischen die Handgelenke des Alten gepackt und drehte sie nach innen, wobei er sich mit dem ganzen Gewicht und voller Kraft gegen dessen verwelkten Arm stemmte.
Was folgte, war ein seltsam knallendes Geräusch und ein gurgelndes Todesröcheln.
Als die Sicherheitsleute Scott mit einem Ruck von Nicholas Rowe wegrissen, steckte der Bleistift bis zum Radiergummi in der Kehle des Alten. Aus dem Loch schoss ein erstaunlich großer, grellroter Strahl Blut, bespritzte Batemans makellosen, grauen Anzug und die teuren, italienischen Schuhe und befleckte sein kreidebleiches Gesicht
Einen Augenblick lang blieben alle im Zimmer Versammelten schweigend und wie versteinert an Ort und Stelle stehen: Scott, Vince Bateman, Jane Copeland, die drei Sicherheitsleute und die beiden jungen Krankenpfleger.
Gleich darauf begann der Alte laut zu lachen; es war ein schrilles, trockenes Kichern, das in manischen Zyklen kam und ging und so klang, als dringe es direkt aus dem Schlund der Hölle. Während er lachte und aus seinem Hals Blut schoss, gab sich Vince Bateman keine Mühe, aus dem Weg zu treten. Der Alte lachte und lachte, und das Blut besudelte sein Klemmbrett, das böse Instrument seiner teuflischen Rache. Er lachte und lachte, während das Leben aus ihm heraussickerte und auf den Boden tropfte.
Und plötzlich drang neben seinem Lachen, wie ein weit entferntes Echo, auch das helle Lachen eines Kindes durchs Zimmer. Scott hörte es und wusste, dass es auch alle anderen hörten. Aber er merkte, dass sie es ebenso schnell und erfolgreich wieder verdrängten, wie er selbst es mit der Wahrheit getan hatte.
Nach und nach erstarb das Lachen.
Der Zeichner sackte im Rollstuhl nach vorn. Die Leinengurte verhinderten, dass er auf den Fußboden voller Blutpfützen kippte.
Kath!
Mit gespreizten Ellbogen schnellte Scott wie ein heranstürmender Linienrichter zur Tür. Und er hätte sie auch fast erreicht, da die anderen immer noch völlig gebannt dastanden.
Doch dann brüllte Bateman: »Halten Sie ihn auf!« Und fünf Männer kamen gemeinsam auf Scott zu, schlossen wie Kampfhunde einen immer engeren Kreis um ihn, in den Augen seltsame Scheu.
Dann fielen sie über ihn her, packten seinen ganzen Körper. Ein riesiger Unterarm legte sich um seinen Hals und schnürte ihm die Luft ab. Scott biss so lange zu, bis er Blut schmeckte und merkte, wie der Arm weggezogen wurde. Irgendjemand schrie vor Zorn und Schmerzen schrill auf. Gleich darauf griffen andere Arme zu und rangen ihn zu Boden. Eine Faust grub sich so in sein Brustbein, dass seine Lungenflügel zusammenfielen und ihm schwarz vor Augen wurde. Jetzt war der Krankenpfleger, den er gebissen hatte, wieder über ihm. Seine kräftigen Arme nahmen Scotts Oberschenkel in die Zange und hoben ihn hoch, stemmten ihn in die Luft
Die Nadel, die in seine Hüfte stach, spürte er kaum.
Ketamin, dachte er, schnell wirkendes Zeug.
Durchströmt von reiner vulkanischer Energie wirbelte Scott Bowman herum, trat zu, wand sich und schlug mit den Armen um sich, bis er frei war. Mit einer einzigen flinken Bewegung sprang er über das Bett und durch die offene Tür. Aber noch während er den Gang hinunter und ins Schwesternzimmer taumelte, dessen Tür er hinter sich abschloss, begann die Droge zu wirken. Die Wählscheibe des Telefons schien sich zu verzerren und durchzuhängen, wie das Zifferblatt einer Dali-Uhr, und der voll gestopfte, kleine Raum wie Toffee-Masse um ihn herumzuwabern. Er schüttelte den Kopf, um ihn wieder klar zu bekommen, fand die Nummer, die er brauchte, und rief das Krankenhaus für Allgemeinmedizin in Danvers an.
»Geben Sie mir Station ...«, sagte er noch, ehe irgendjemand antwortete. Dann brach er zusammen. Mit leisem, ' dumpfen Knall schlug seine Stirn auf der Mappe auf, die auf dem Schreibtisch lag, aber niemand hörte es.