122082.fb2
Maria Flasetto hielt mit ihrem Karren vor Zimmer 117 an und murmelte in ihrer italienischen Muttersprache ein Gebet. Sie hatte vor ihrer Schicht von dem Mord gehört, durch den Buschfunk, und da schon war ihr klar gewesen, dass man die Beseitigung dieser Schweinerei letztendlich ihr aufhalsen wurde. Maria war Putzfrau. Sie übernahm regelmäßig die Nachtschicht, damit sie ihren Tagesjob an der High-School behalten konnte. Und Zimmer 117 lag in ihrem Abschnitt des Hauptganges.
Sie nahm all ihren Mut zusammen und rollte den Karren ins Zimmer. Der Geruch fiel ihr als Erstes auf. Drüben in Italien hatte ihr Vater im Schlachthaus des Dorfes gearbeitet. Derselbe Geruch hatte in seiner Kleidung gehangen, wenn er abends nach Hause gekommen war. Als Mädchen hatte sich Maria ausgemalt, wie die Tiere, die ihr Vater schlachtete, mit letzter Kraft diesen Gestank produzierten, um sich gegen das gnadenlose Beil zu wehren. Eigentlich war es ein Gemisch verschiedener Gerüche: Es stank nach Urin, Gedärmen, leicht säuerlich nach Blut und noch nach etwas anderem, das nichts mit den Eingeweiden zu tun hatte, aber sehr alt roch.
Als Nächstes bemerkte sie das Blut. Während sie ihre Augen so weit aufriss, dass sie rund wie Porzellantassen wurden, wäre sie beinahe ohnmächtig geworden. Hinten in ihrer Kehle sammelte sich Galle, angeekelt stöhnte sie leise auf.
So viel Blut... Noch nie im Leben hatte sie so viel Blut gesehen.
Ihre tief religiösen Ängste machten sich in einem erschrockenen Schrei Luft und drängten sie zum Zimmereingang zurück, wo sie stehen blieb. Gleich darauf machte sie kehrt: Wenn sie das hier nicht beseitigte, würde sie vielleicht die Arbeit verlieren. Und das konnte sie sich nicht leisten, gerade jetzt nicht, wo Gino mit dem Studium anfing.
Heftig atmend machte sich Maria ans grässliche Werk. Sie begann damit, dass sie sich den Fußboden vornahm und aufwischte. Es verblüffte sie, wie schwer es war, das Blut von den Fliesen zu schrubben. Ihr wurde fast schlecht davon. Selbst an der Zimmerdecke klebte Blut.
Dio buono!
Während sie schrubbte, konnte sie nicht umhin, sich im Kopf die einzelnen Szenen des Verbrechens auszumalen. Gott, dachte sie, ich kenne diesen Dr. Bowman doch. Er hat immer wie ein solch netter Mann gewirkt und sich sogar die Zeit genommen, mit dem Reinigungspersonal zu reden. Hat uns das Gefühl gegeben, auf einer Stufe mit ihm zu stehen. Nie im Leben hätte ich ihn für wahnsinnig gehalten. Aber einen hilflosen alten Mann auf diese Weise umzubringen ... Was kann ihn nur dazu getrieben haben?
Während ihre stämmigen Beine sie kaum noch trugen, beugte sich Maria vor, um unter dem Bett sauber zu machen. Als sie zum dritten Mal schnell darunter fuhr, erwischte der Mopp eine zusammengeknüllte Papierkugel. Fast hätte sie die Kugel in den großen Müllsack geworfen, der an ihrem Karren befestigt war; doch dann hielt sie inne und entfaltete das Papier, da sie sich daran erinnerte, dass der alte Mann Künstler gewesen war.
Mit verwirrter Miene musterte sie die Zeichnungen eine Minute lang und legte sie danach zur Seite. Später, wenn sie hier fertig war, würde sie das Blatt der Krankenschwester geben. Was für ein Verbrechen, dachte sie und schwang ihren Mopp zur Decke empor. Ein hilfloser alter Mann, der so begabt gewesen ist...
Der Mann, der Vince Bateman gegenüber saß - er zeigte bereits Ansätze zur Glatze und hatte ein vogelartiges Gesicht blätterte fast ehrfürchtig durch den dicken Stapel von Zeichnungen. Peter Lloyd leitete die Psychiatrische Abteilung am Penatanguishene, der Landesklinik für geistig behinderte oder geistesgestörte Menschen, die straffällig geworden waren.
Bateman, in elegantes Glencheck gewandet und adrett wie immer, ging hinter seinem Schreibtisch auf und ab. »Seit der Tat hab ich bestimmt schon ein dutzend Mal mit Bowman gesprochen, und er besteht immer noch darauf, dass seine Geschichte die reine Wahrheit ist. Seine Wahnvorstellungen sitzen tief, Peter. Anfangs dachte ich, sie könnten einfach eine Art Reaktion sein - schließlich hat er seine Frau verloren und beinahe auch noch sein einziges Kind. Aber er weigert sich, von der Vorstellung abzurücken, dass der alte Mann irgendein böser Magier gewesen ist. Ein Magier, der sich für den Tod seiner Enkelin ... oder Tochter ... an ihm gerächt hat. Bowman hat auch irgendetwas Übles von Inzest dahergeschwafelt.«
Dr. Lloyd musterte Bateman über die halben Brillengläser hinweg. »Wie hat Bowman bei seiner Vorstrafe überhaupt die Zulassung zur Medizinischen Hochschule geschafft?«
»Er hat Fahrerflucht begangen, ist gemeinsam mit seinen Freunden getürmt ... Sofern man diesem Teil seiner Geschichte Glauben schenken möchte.«
Lloyd schüttelte mit einer Müdigkeit, die tief in seinen Augen lag, den Kopf. »Was ist mit seiner Tochter geschehen?«
»Sie hat sich wieder erholt. Offenbar haben die Ärzte und Schwestern in Massachusetts nicht damit gerechnet, zumindest nicht mit einer vollständigen Genesung. Derzeit wohnt sie bei Verwandten.«
»Durfte er sie schon sehen?«
»Nein, noch nicht. Er hat immer noch Phasen, in denen er außerordentlich gewalttätig ist, trotz aller Medikamente. Hat Halluzinationen und Albträume und behauptet, der alte Mann sei mit ihm da drinnen. Ich habe ihm persönlich versichert, dass es seiner Tochter gut geht, aber er will es nicht glauben. Ihre Leute werden selbst entscheiden müssen, wann der beste Zeitpunkt für einen Besuch des Mädchens gekommen ist.«
»Hmmm«, sinnierte Lloyd und warf nochmals einen Blick auf die Zeichnungen. »Was ist das hier?« Er drehte ein arg zerknülltes Blatt so herum, dass Bateman es sehen konnte.
Bateman zuckte nur mit den Achseln. Er weigerte sich, für wahr zu halten, was diese Skizzen enthüllten, obwohl er es tief in seinem Inneren besser wusste. »Eine Putzfrau hat das an dem Abend vor zwei Wochen unter dem Bett des Alten gefunden.«
Die erste Zeichnung zeigte einen Richter, der sich mit grimmiger Miene die Verteidigungsrede eines Mannes anhörte, der in altmodischer Gefängniskleidung steckte. Auf dem zweiten Cartoon hielten zwei Wärter den Gefangenen fest, während der Richter das Urteil mit Hammerschlag bekräftigte.
Es gab noch vier weitere Cartoons. Beiläufig bemerkte Peter Lloyd, dass deren Textur sich leicht von der anderer Zeichnungen unterschied: Im Unterschied zu den mit Bleistift ausgeführten Originalskizzen wirkten sie eher wie verblichene Kopien. Allerdings wurde er nicht recht schlau daraus und fuhr deshalb fort, interessiert deren Inhalt zu betrachten.
Die dritte Abbildung zeigte, wie der Gefangene aus dem Gerichtssaal geschleppt wurde, während aus seinem verzerrten Mund unhörbare Verwünschungen drangen. In der vierten Zeichnung wurde der Mann gewaltsam in eine Gummizelle verfrachtet.
In der Fünften steckte er in einer Zwangsjacke und kauerte in einer Ecke auf dem nackten weißen Boden. Die Beine hatte er an die Brust gezogen, den Kopf auf die angewinkelten Knie gestützt.
Im letzten Bild der Sequenz war es Abend geworden. Der Mann kauerte als kaum sichtbarer Klecks in einer Ecke. Die Zeichnung vermittelte ein so beklemmendes Gefühl von Tragik und Einsamkeit, dass Lloyd eine leichte Gänsehaut bekam.
Und da war noch etwas, das er fast übersehen hätte. Als er erkannte, was es war, gab es ihm den Rest, verstärkte das innere Frösteln und führte schließlich dazu, dass er wie in einem heftigen Krampf zusammenzuckte.
Durch ein kleines, vergittertes Fenster hoch oben in der Mauer spähten hasserfüllte rote Augen lauernd ins Innere der Zelle.
ENDE