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Nachdem Scott geduscht hatte, setzte er sich in einen Liegestuhl auf der Sonnenterrasse, schlürfte sein zweites Bier und blickte auf den Pike Lake hinaus. Durch die umliegenden Hügel brach die Dämmerung hier früh ein; schon jetzt, um halb acht Uhr abends, wurde das Licht schwächer. Dennoch hielt die fast greifbare, dunstige Augusthitze an. Es war so, als hätte sich ein weicher Filter vor die Augenlinse geschoben, was der Aussicht einen beinahe traumhaften Anstrich verlieh. Scott konnte da draußen Bob Anderson erkennen. Der unerschrockene Fischer tuckerte in seinem Aluminium-Kahn dahin, die verschwommene Silhouette kauerte über der Angelschnur und einem Bier. Anderson war ein pensionierter Landwirt für Milchprodukte und lebte mit seiner Frau in einem renovierten Landhaus, das nur fünf Minuten Fußweg entfernt an der Cottage Road lag. Scott war etwas überrascht darüber, dass Bob ohne seinen Busenfreund Fred Mills unterwegs war, dessen Sohn den kleinen Jachthafen auf der gegenüberliegenden Seite des Sees betrieb. Soweit man wusste, hatten die beiden alten Kerle auf diesem See seit Menschengedenken zusammen geangelt.
Es war dieser Blick von der Sonnenterrasse auf den See, der den Ausschlag dafür gegeben hatte, das Haus im letzten Dezember zu kaufen. Die frühere Besitzerin war eine bekannte Künstlerin, sie hatte das Haus selbst entworfen und gebaut, sogar die Grube für das Fundament eigenhändig ausgehoben. Das Zimmer unterhalb der Terrasse, das die Bowmans jetzt als Fernseh- und Musikzimmer nutzten, war ihr Atelier gewesen. Wenn man seine Nase in diesem Raum in eine bestimmte Richtung hielt, nahm man immer noch einen entfernten Hauch von Lösungsmitteln und Ölfarben wahr. Das kleine Zimmer mit seinem gemütlichen Licht war Scotts Lieblingsplatz. Hier konnte er in Ruhe lesen, nachdenken und entspannen.
Krista stand direkt vor ihm am Grill und piekte in die Koteletts. Kath war noch unten am See und lachte und kreischte zusammen mit ihren Freunden.
»Sag mal, was möchtest du heute Abend denn noch so unternehmen?«, fragte Scott in der Hoffnung, ein paar Hinweise auf seine Party zu erhaschen. Bis jetzt hatte niemand seinen Geburtstag auch nur erwähnt, und er bekam langsam das flaue Gefühl, dass man ihn vergessen hatte.
»Ach, weißt du, ein bisschen lesen, bisschen fernsehen, mich selbst ein bisschen bemitleiden.« Krista krauste die Nase und drehte sich nach ihm um. »Ich hab meine Tage.«
»Wie gemein!«, sagte Scott und war jetzt sicher, dass sie seinen Geburtstag tatsächlich vergessen hatte. »Überhaupt nicht schön.«
»Was ist mit deinem Finger passiert?« Krista schloss den Deckel des Grills.
»Hab mich an einem Blatt Papier geschnitten.« Einen Moment lang musste er an die rätselhafte Zeichnung denken.
Da Krista für seine Verletzung nur ein leichtes Seufzen übrig hatte, befasste sich Scott erneut mit dem momentanen Problem. Er suchte das Gesicht seiner Frau nach der Andeutung eines Grinsens ab, nach einem versteckten Augenzwinkern, nach irgendetwas, das ihm verriet, dass sie ihn auf den Arm nahm. Aber da war nichts. Sie sah müde aus und beinahe etwas ärgerlich. Plötzlich fühlte er sich alt, verletzt und deprimiert. Krista warf ihm die Andeutung eines matten Lächelns zu und ging zurück ins Haus. Verdammt, dachte Scott, sie hat es tatsächlich vergessen! Er stand auf und holte sich das vierte Bier, ließ es in seinen Krug gluckern und nahm es mit ins Fernsehzimmer, wobei er auf dem Weg versehen dich etwas verschüttete. Er zappte durch die Programme, fand nichts als Nachrichtensendungen und schaltete die Glotze mit einem Stöhnen wieder aus. Danach griff er nach der Abendzeitung und blätterte sie lustlos durch, entdeckte beim flüchtigen Durchsehen jedoch nichts als Chaos und warf sie wieder zur Seite. Er blickte auf den antiken Farnständer aus Rosenholz, den er schon seit über einem Jahr restaurieren wollte, und hätte sich beinahe die Arbeitshandschuhe übergestreift. Doch er sah ein, dass er den Ständer wahrscheinlich ruinieren würde, wenn er jetzt versuchte, mit einem Bauch voller Bier daran zu arbeiten.
Schließlich griff Scott zum Telefon und wählte Gerrys Nummer in Ottawa. Gerry St. Georges war sein bester Freund. Er hatte noch niemals seinen Geburtstag vergessen. Scott hatte mittlerweile eine zwanzig Jahre alte Sammlung alberner Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke, die er Gerry verdankte: Gummi-Dildos, Hundescheiße aus Ton, Plastikkotze, falsche Risse für den Fernsehbildschirm, Riesenbrüste zum Umschnallen und obszöne Postkarten der schlimmsten Art. Gerry war ein halbes Jahr älter als Scott, ein großer, kräftiger Mann mit ausgeprägtem Beschützerinstinkt. Er war Polizist im Bezirk Ottawa.
Bei Gerry ging keiner ans Telefon.
»Abendessen«, rief Krista von der obersten Treppenstufe.
Scott trank sein Bier in großen Zügen leer. Als er aufstand, stellte er fest, dass er ziemlich blau war. Leicht torkelnd erklomm er die ersten Stufen und musste aufgrund seines veränderten Wahrnehmungsvermögens kichern.
Sie nimmt mich nur auf den Arm, stimmt's?
Aber auch beim Abendessen erwähnte niemand das Thema Geburtstage oder Partys. Nicht einmal Kath verriet irgendwelche Anzeichen einer stillen Verschwörung. Sie saß neben Scott und nagte an den Resten eines gegrillten Koteletts.
Er probierte es noch einmal. »Und was hat mein großes Mädchen heute Abend noch vor?«
War da was? Ein verräterisches Augenzwinkern? Eine geheime Botschaft, die unauffällig zwischen Mutter und Tochter ausgetauscht wurde?
»Wir sind alle bei Lita zur Pyjama-Party eingeladen und dürfen dort übernachten.« Kaths Augen sahen ihn bettelnd an. »Mom hat gesagt, ich soll dich fragen ... Kann ich hin, Dad? Bitte!«
»Willst du denn nicht lieber zu Hause bei deinem lieben, alten Vater bleiben?«
Kath sah ihn enttäuscht an. »Um was zu machen?«
»Okay«, sagte Scott und fand sich schließlich mit der Wahrheit ab. »Du kannst hingehen.«
»Bist du sauer?«
Es war Viertel vor neun und fast dunkel. Krista hatte sich in einen matronenhaften Schal gewickelt, auf dem Sofa im oberen Stockwerk zusammengekuschelt und las Legion von Blatty. Kath war seit einer Stunde fort.
Und ob er sauer war!
»Nein.« Er saß Krista gegenüber im Sessel und blätterte durch eine medizinische Fachzeitschrift. »Warum sollte ich?«
»Tja, du bist zwar hier der Seelenklempner«, antwortete Krista mit funkelnden Augen, »aber ich denke, du bist sauer.«
Wollte sie ihn etwa ködern, aus der Reserve locken?
»Ich geh jetzt ins Fernsehzimmer«, sagte Scott mit einem kindischen »Das-hast-du-davon«-Ton in der Stimme. Er ließ die Zeitschrift fallen und stand auf. Während er mit erhobenem Haupt aus dem Zimmer stolzierte, meinte er zu sehen, wie Krista heimlich auf ihre Armbanduhr blickte. Dann las sie weiter. Keine Anzeichen eines Widerspruchs.
Er stampfte die Stufen hinunter, nachdem er sich — das wievielte war es jetzt? - das fünfte Bier eingeschenkt hatte. Na gut, dann war er eben beleidigt. Nur weil er Psychiater war, hieß das noch lange nicht, dass er vor kleinen Durchhängern und Unsicherheiten gefeit war. Sich an Dinge wie Geburtstage zu erinnern, sie zu zelebrieren, war ein Zeichen der Liebe. Und in dieser Hinsicht stand Scott keineswegs über den Dingen, er brauchte die Bestätigung. Er war Kristas wegen schon immer unsicher gewesen. Vom körperlichen Standpunkt aus betrachtet, war sie von jeher ein weit attraktiverer Mensch als er. Ihr Aussehen übertraf das seinige in einem solchen Ausmaß, dass Scott jahrelang vor Partys und öffentlichen Anlässen, bei denen Krista den Blicken anderer Männer ausgesetzt war, insgeheim zurückgeschreckt war. Er wusste, dass er sie nicht zu Hause einsperren konnte, und hatte ihr gegenüber kein Wort über seine Ängste verlauten lassen. Aber die Männer liefen ihr wie schwanzwedelnder Köter hinterher. Er wusste, dass Krista ihn liebte, wusste, dass sie glücklich war. Aber dennoch ... Manchmal war es beängstigend. Beängstigend, wie sehr er sie brauchte.
Um neun Uhr klingelte das Telefon. Scott, der immer noch verletzt und verärgert war, ließ es läuten und wartete darauf, dass Krista oben abhob. Beim siebenten Klingeln ging er zu Kaths Mickymaus-Telefon hinüber und griff nach dem Hörer. Micky grinste ihn schadenfroh an.
»Hallo«, sagte er etwas zu scharf. Über sich konnte er Krista durchs Zimmer schlurfen hören.
»Scott! Alles Gute zum Geburtstag!«
Es war Gerry.
Scott erwiderte Mickys Grinsen. »Danke, Mann. Ich bin wirklich froh, dass sich irgendwer daran erinnert.« Wie pubertär! Aber die Worte waren bereits draußen. Jetzt war die Katze aus dem Sack.
»Wer hat's denn vergessen?«
»Ach, nur der gesamte Bowman-Harem.«
»So, so, wirklich?« gluckste Gerry. »Das fällt mir schwer zu glauben. Hast du mal 'ne Anspielung fallen lassen?«
Scott stöhnte.
»Naja, vielleicht solltest du das. Wie auch immer, was gibt's Neues? Hast du deine Meinung wegen eurer Reise geändert?«
»Nein. So gern ich auch würde, ich kann einfach nicht mitfahren.«
Die Reise nach Boston war während der letzten Tage ein allabendlicher Zankapfel zwischen Krista und ihm gewesen. Krista wollte am Sonntag losfahren, bei ihrer Schwester Klara am Saint Lawrence übernachten und dann am frühen Montagmorgen nach Boston weiterfahren, um eine Woche bei ihrer Halbschwester Caroline zu verbringen. Krista wünschte sich, dass Scott sie begleitete, aber wie die meisten Dinge hatte sie auch diese Spritztour einer spontanen Eingebung folgend geplant. Die nächste Woche eignete sich für Scott denkbar schlecht. Er steckte bis zum Hals in Arbeit, die er nicht einfach liegen lassen konnte.
»Es ist doch nicht etwa deshalb, weil dich Caroline in jeder Diskussion schlägt, oder?«
Scott lachte in sich hinein. »Es ist verdammt schwer, sich in einer Auseinandersetzung gegen jemanden zu behaupten, der immer Recht hat, so viel ist klar.«
Caroline, die ein paar Jahre älter war als Scott, hatte es zu einem Doktortitel in Sozialer Anthropologie und einer vollen Professorenstelle am Pine Manor College gebracht, einer Hochschule für reiche höhere Töchter in Cambridge, nahe Harvard. Sie hatte in den Sechzigerjahren in Berkeley promoviert und war durch und durch von diesem radikalisierten Umfeld geprägt. Voller Stolz hatte sie sogar ein gerahmtes Foto auf dem Kaminsims zur Schau gestellt, das zeigte, wie sie während einer Uni-Revolte den Einsatztruppen der Polizei den Mittelfinger entgegenstreckte. Caroline war eine engagierte Feministin und nahm — auch wenn sie ein gutmütiger und großzügiger Mensch war — oft Anstoß an Scotts eher traditionellen Ansichten über die Beziehungen zwischen Männern und Frauen. Sie war neun Jahre vor Krista geboren und der einzige Nachwuchs aus der ersten Ehe ihrer gemeinsamen Mutter. Sie und Krista standen sich wirklich sehr nah, und Scott musste sich vorsehen mit dem, was er über sie sagte. Aber abgesehen von dem, was er als Carolines »dogmatischen Zug« betrachtete, mochte er sie sehr gern.
»Aber nein, Caroline ist nicht der Grund. Jedenfalls nicht dieses Mal. Ich hab nächste Woche den Arsch voll zu tun mit diesem ganzen administrativen Mist, alles Sachen, vor denen ich mich einfach nicht drücken kann. Traurig, aber wahr.« Wenn es in seiner Ehe überhaupt ein Problem gab, überlegte Scott in der kurzen Gesprächspause, dann dieses: Krista fand, dass er zu viel Zeit bei der Arbeit und zu wenig Zeit zu Hause, bei seiner Familie, verbrachte. Es war die alte Leier, eine, mit der die meisten Arzte zu leben lernten - oft als Geschiedene. Die wenigen wirklich schlimmen Auseinandersetzungen, die Krista und er im Laufe ihres Zusammenlebens ausgetragen hatten, waren fast immer um dieses Thema gekreist. Ein- oder zweimal hatte sich daraus sogar ein wirklich hässlicher Streit entwickelt. Den letzten großen Krach hatten sie vor gar nicht allzu langer Zeit gehabt, kurz nachdem sie das Haus am See gekauft hatten.
Mit dem Verkauf ihres Hauses in Ottawa hatten sie einen riesigen Reibach gemacht: Der Wert war in den acht Jahren, in denen es ihnen gehört hatte, um mehr als das Doppelte gestiegen. Und auch mit dem Grundstück am See hatten sie ein gutes Geschäft gemacht. Die Künstlerin, der es gehörte, hatte es mit dem Verkauf eilig gehabt, da sie das Geld so schnell wie möglich benötigte. Kristas Schlussfolgerung war ganz einfach: Warum sollte Scott weiterhin so hart arbeiten, wenn er sich jetzt eigentlich auch zur Ruhe setzen konnte? (Zwar würden sie dann, wohlgemerkt, nicht gerade luxuriös leben können, aber durchaus angenehm und immer noch genügend Geld übrig haben, um ihrem Kind die beste Ausbildung zu sichern.) Warum sollte er sich so kaputtmachen, wenn er doch wegen der Arbeit in den Ausschüssen und dieser administrativen, Zeit verschwendenden Projekte sowieso ständig herummeckerte? Sie erwarte, sagte sie, von ihm natürlich nicht, dass er sich jetzt schon völlig zur Ruhe setze, könne aber nicht einsehen, warum er sich nicht wenigstens die Abende und Wochenenden freihalten könne. Schließlich sei er doch Psychiater und kein Herzchirurg, verdammt noch mal!
Als er, um sich selbst zu verteidigen, das Thema in fieser Weise auf Kristas teuren Geschmack gelenkt hatte, war ein wirklich hässlicher Streit entbrannt. Zumindest konnte ihm keiner nachsagen, dass er in seiner Ehe irgendwelche psychologischen Winkelzüge anwendete. Wenn er sich stritt, geschah es aus dem Bauch heraus.
»Ich vermute, du hältst mich auch schon für einen alten, langweiligen Zwangsneurotiker«, beendete Scott die Gesprächspause.
Gerry lachte: »Ich finde, du bist ein Arschloch ... aber das netteste Arschloch, das mir jemals über den Weg gelaufen ist.« Scott strahlte. »Hör mal, ich war heute bei euch drüben und hab dir ein Geschenk dagelassen, aber du musst es suchen gehen. Ich hab es hinter einem losen Stein im Kamin oben bei euch versteckt.«
Scotts Neugier war im Nu geweckt. Er liebte Überraschungen - jedenfalls die erfreulichen. Der Kamin war im Eltern-Schlafzimmer, aber Scott waren dort noch nie lose Steine aufgefallen.
Er begann, die Lunte zu riechen. Also doch eine Verschwörung!
»Ich muss los«, sagte Gerry, ehe Scott ihn aushorchen konnte. »Ich wünsch dir einen schönen Geburtstag. Und lass lieber mal ´ne Anspielung fallen, bevor es dafür zu spät ist.«
»Danke, Kumpel. Tschüss und bis bald!« Scott hörte Gerry kichern, als er den Hörer zurück in Mickys Hand legte.
Hinter einem losen Stein im Kamin ...
Beinahe schon wieder gut gelaunt, polterte Scott grinsend die Stufen zur mittleren Etage hinauf, trottete weiter zur nächsten Treppe, blieb kurz stehen, um ins Wohnzimmer zu spähen (und festzustellen, dass Krista verschwunden war), und machte sich danach auf den Weg nach oben. Als er sich übermütig um den Treppenpfosten schwang, stieß er mit den Fingern gegen die Briefe, die er vorher auf dem Pfosten abgelegt hatte, und verstreute sie dabei versehentlich über den gesamten Fußboden. Während er sich leise fluchend bückte, um sie wieder aufzuheben, fiel sein Blick auf einen Brief, der in Winnipeg abgestempelt war. Es war zwar die Adresse des Absenders angegeben, aber kein Name. Die Handschrift war eindeutig weiblich.
Plötzlich und ohne plausiblen Grund hatte er aus dem Bauch heraus ein Gefühl böser Vorahnung, ähnlich dem, mit dem er an diesem Morgen aufgewacht war. Er riss den Briefumschlag auf. Während er die Stufen hinaufging, las er die einzige darin enthaltene, handgeschriebene Seite.
Lieber Scott,
selbst beim Schreiben dieser Zeilen kann ich noch nicht fassen, was ich Ihnen mitteilen muss. Brian ist tot. Wir haben ihn vor drei Wochen beerdigt, aber erst jetzt finde ich die Zeit und den Mut, seine Freunde im weiteren Umkreis zu benachrichtigen. Es geschah im Krankenhaus, es war ein absurder, tragischer Unfall. Brian wurde wegen eines Herzstillstands in die Notaufnahme gerufen. Er wollte dem Patienten einen Elektroschock verpassen, doch in dem Moment, als er die Elektroden ansetzte, gab es eine Fehlzündung, der Apparat ging irgendwie nach hinten los und versetzte ihm einen tödlichen Stromschlag. Seine Kollegen haben über eine Stunde lang versucht, ihn wiederzubeleben, aber sie konnten ihn einfach nicht zurückholen.
Brians Herz war sowieso schon angegriffen. Ich vermute, es lag an seinem Übergewicht. Er hat gutes Essen geliebt.
Es war ein schreckliches, schreckliches Unglück. Unsere Anwälte werden Klage einreichen, aber das bringt Brian auch nicht zurück. Er war ein guter Ehemann, ein guter Vater und ein guter Freund.
Obwohl wir beide, Scott, uns nie begegnet sind, habe ich das Gefühl, Sie zu kennen. Brian hielt sehr viel von Ihnen und hat oft von Ihnen gesprochen. Er hat mir erzählt, was vor Jahren geschehen ist, die Geschichte, an der er selbst, Sie und ein weiterer Mann namens Jake beteiligt waren. Ich musste ihm schwören, das Geheimnis für mich zu behalten, aber das spielt jetzt wohl keine Rolle mehr. Hauptsächlich schreibe ich Ihnen jetzt wegen dem, was er mir erzählt hat. Es muss furchtbar gewesen sein, besonders für Sie. Und dennoch habe ich das Gefühl, dass Sie das Richtige getan haben. Das Leben geht eben weiter.
Mit Bedauern und besten Grüßen Delia Homer
Delias Brief, besonders der letzte Absatz, riefen in Scott eine Erinnerung hervor, die unter harten Schichten der Verdrängung vor sich hin gemodert hatte. Jahrelang hatte er sich bemüht, diese Erinnerung aus seinem Gedächtnis zu löschen. Jetzt erfasste ihn tief im Inneren ein solches Grauen, dass er zitterte und nach einem Halt suchen musste. Benommen lehnte er sich gegen den Türrahmen zum Schlafzimmer und starrte mit leerem Blick vor sich hin.
Wie im Traum nahm Scott seine Frau wahr, die in provokanter Pose und von einem Kissenberg gestützt vor dem Kamin lag. Im Kamin knisterte ein fröhliches Feuer, und Krista trug ihre gewagteste Reizwäsche. Vor ihr stand ein Behälter mit dicken Eiswürfeln, der eine Flasche edelsten Champagners kühlte. Daneben funkelten im Feuerschein zwei ihrer besten Kristallkelche.
Als Krista jetzt aufstand, wirkte sie eher erschrocken als sexy. Scott versuchte zu lächeln, versuchte so zu tun, als sei alles in Ordnung, als sei er ganz begeistert von dieser kleinen Intrige, die Gerry und Krista hinter seinem Rücken gesponnen hatten. Krista sah wirklich aufreizend aus. Wenn sie ihm nur einen Moment Zeit ließ, würde er gleich bei ihr sein, ihr zuprosten und später mit ihr schlafen ... Aber er konnte nicht, die Erinnerung hinderte ihn daran. Krista fasste ihn an der Armbeuge: »Scott, was ist los?«, fragte sie besorgt. »Du siehst schrecklich aus.« Als sie gleich darauf den Brief in seiner Hand bemerkte, schwang eine böse Vorahnung in ihrer Stimme mit, so dass sie schwankte. »Ist jemand gestorben? Jemand aus der Familie?«
»Nein, Kris. Keiner aus der Familie. Erinnerst du dich noch an die Jungs, mit denen ich die Studienjahre bis zum ersten Examen durchgezogen habe? Jake Laking und Brian Horner?«
Krista nickte, während sie in ihrem Gedächtnis kramte. Scott hatte die beiden seit den Tagen vor ihrer Hochzeit nicht mehr erwähnt. »Es ist Brian Horner. Er ist derjenige, der gestorben ist.« »Oh, Liebling. Das tut mir Leid. Aber - es ist doch schon Jahre her, dass ihr eng miteinander befreundet wart. Als ich dich eben so in der Tür stehen sah, so verloren und blass, da dachte ich ... Ich weiß auch nicht. Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt.«
Scott knüllte den Brief zusammen und schnipste ihn ins Feuer, wo er zunächst in einer bläulichen Flamme aufging und sich dann zu feiner schwarzer Asche zusammenkräuselte.
»Mir geht's gut«, erklärte Scott und nahm seine Frau in die Arme. »Ich hab ein paar zu viele intus, das ist alles.«
»Meinst du, du schaffst noch ein Letztes?«, fragte Krista, während sie den Verschluss ihres BHs aufschnappen ließ.
»Darauf kannst du wetten«, sagte Scott und legte sich mit ihr vor das offene Feuer. Wie sich herausstellte, war sein Geburtstagsgeschenk keineswegs hinter einem Stein versteckt.
Später schliefen sie dort ein.
Und zu Scotts Erleichterung hatte er in. dieser Nacht überhaupt keine Träume.