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Scott wachte am Samstagmorgen kurz vor zehn auf. Er hatte einen Kater, und sein Körper war vom Schlafen auf dem Teppich ganz steif. Neben ihm, in einem Kübel voller Wasser, schwamm die leere Champagnerflasche. Als er sie entdeckte, musste er lächeln und an die vergangene Nacht denken ...
Doch das Lächeln verging ihm, sobald ihm Delia Horners Brief und die davon ausgelösten Erinnerungen einfielen. Es wunderte ihn, dass Brian seiner Frau von den schrecklichen Geschehnissen erzählt hatte. Er selbst hatte sich schon vor Jahren geschworen, mit Krista niemals darüber zu sprechen.
Am Fußende des Bettes fand er ein kleines, unbeholfen verpacktes Geschenk, und als er es öffnete, kehrte sein Lächeln zurück. Es war von Kath: eine unsägliche Kreatur, die sie aus Ton geformt hatte. Er stellte sie auf die Kommode, neben das gerahmte Foto seiner Eltern, und wandte sich den Flügelfenstern zu.
Der See da draußen wirkte aufgewühlt und der Himmel durch und durch grau, wie Zinn. Im Osten lauerte eine schwere Gewitterwolke am trüben Horizont, bedrohlich wie ein finsterer Koloss, der vorläufig nur sein Haupt und den kräftigen Torso zur Schau stellt. Es würde bald ein Sturm aufziehen. Typisches Wochenendwetter!
Als Scott sich vom Fenster abwandte, drang von draußen ein schriller Schrei zu ihm nach oben, so hoch und unvermittelt, dass er zusammenfuhr und erschrak. Dann sah er, wie Kath und ihre Freundin Lita am Anlegesteg herumgaloppierten und sich spielerisch mit viel Gekreisch schubsten. Erleichtert zog er seine Badehose an, griff nach einem Handtuch und schlenderte die Treppe hinunter.
Krista lag auf dem Fußboden des Wohnzimmers und verrenkte sich gerade zu einer nicht sehr damenhaften, aber faszinierenden Aerobic-Übung. Als sie gleich darauf ihre Position veränderte und die Beine bis an die Grenzen des Möglichen spreizte, stieg in Scott das unschöne Bild auf, wie sie mittendurch gerissen wurde. Sie versuchte ein Lächeln, das jedoch zu einer Art Grimasse wurde. Scott warf ihr einen Kuss zu und trat durch die mit Fliegengitter versehene Schiebetür nach draußen.
Kath eilte den Pfad hinauf, um ihn zu begrüßen. Als Scott sich hinabbeugte, um sie hochzuheben, warf sie sich in seine Arme. Ihr Körper fühlte sich klitschnass und kalt an. Dann gab sie ihm einen herzhaften Kuss und umschlang seinen Nacken mit ihren kräftigen, braun gebrannten Armen: »Haste mein Geschenk gekriegt?«
»Ja, hab ich, und es war allerliebst«, sagte Scott. Das, was er da ausgepackt hatte, war ein bunter, klumpiger Lehmmann mit Glotzaugen, einem Schweinerüssel, hochstehenden Haaren und einem breit grinsenden Mund mit Hasenzähnen.
Als originell konnte man dieses Geschenk vielleicht bezeichnen, aber ganz bestimmt nicht als allerliebst »Und du meinst wirklich, er sieht mir ähnlich?«
»Sei nicht albern, Dad. Ich hab ihn mir doch ausgedacht Aber wo du's jetzt selbst erwähnst...«
Kath lachte und Scott setzte sie wieder auf dem Boden ab.
»Gehst du schwimmen?«, fragte sie und deutete auf sein Handtuch.
»Ich bin mir noch nicht sicher. Kennst du jemanden, der mir vielleicht Gesellschaft leisten wurde?« Er stellte fest, dass Kaths Freundin Lita verschwunden war.
»Vielleicht«, sagte Kath kokett.
Scott lief bis zum Ende des Anlegestegs und bückte sich, um sein Handtuch dort abzulegen. Als er sich wieder aufrichtete, gruben sich zwei starke, kleine Hände in seinen Allerwertesten und versetzten ihm einen solchen Stoß, dass er Hals über Kopf in den kühlen blauen Sees stürzte. Als er wieder auftauchte, jetzt hellwach, schoss Kath über ihn hinweg und landete mit einer Arschbombe direkt hinter ihm. Scott tat so, als würde er sie verfolgen, worauf Kath die Leiter hochkletterte und ihn unter spielerischem Gekreische mit Wasser bespritzte. Er stieg hinter ihr her und setzte sich neben sie auf den Anlegesteg.
»Hast du einen Kater?«, fragte sie mit erwachsen klingender Stimme.
»Nur einen klein...«, erwiderte Scott und hielt mitten im Satz inne: Mit weit aufgerissenen Augen starrte Kath entsetzt auf ihr Handgelenk. »Was ist, Kleines? Was ist los?« In seiner Fantasie machten sich bereits Heerscharen von Blutegeln über seine Tochter her.
»Mein Armband! Ich habe mein Armband verloren!« Sie wandte den Blick zum Wasser. »Es muss bei meiner Wasserlandung abgefallen sein. Oh Daddy, was soll ich jetzt nur tun?« Sie war den Tränen nahe.
Im Juni hatte Scott ihr zum Geburtstag ein schlichtes Silberarmband geschenkt, und Kath hatte es seitdem mit fast religiöser Ehrfurcht getragen. Nun war dort, wo das Armband gesessen hatte, nur noch ein dünner, weißer Streifen zu sehen.
»Kannst du es für mich zurückholen, Daddy? Bitte!« Die Augen mit den Händen abschirmend, blinzelte Scott argwöhnisch in die trüben, von Algen durchwucherten Tiefen. Tatsächlich meinte er dort unten, ungefähr zwei bis drei Meter vom Steg entfernt, irgendetwas schwach glitzern zu sehen.
»Wir werden es finden, Süße. Bleib ganz ruhig. Wie wär's, wenn du ins Fernsehzimmer läufst und nach Daddys Tauchmaske suchst? Sie müsste in der Krempelkiste neben der Werkbank liegen.«
Im Nu und mit wilder Entschlossenheit schossen Kaths braun gebrannte Beine den Hügel hinauf. Binnen einer Minute war sie keuchend mit der schwarzen Tauchmaske in den Händen zurück.
»Hier.« Sie reichte ihm die Maske herüber. »Kannst du mein Armband sehen?«
»Ich glaub schon«, sagte Scott, während er sich die Maske überstreifte. »Mach dir keine Sorgen.«
Er stellte sich an den Rand des Anlegestegs, atmete in kurzen, kräftigen Zügen ein und aus und schätzte die Fallkurve beim Springen ab. Immer noch konnte er irgendetwas Silbernes so schwach wie einen Stern am bewölkten Himmel in den schlammigen Tiefen glitzern sehen. Der See wurde hier schnell tief; nur ein kleines Stück vom Steg ging es bereits vier bis fünf Meter hinunter - das war einer der Gründe, warum er froh war, dass seine beiden Frauen so gute Schwimmerinnen waren.
Nachdem er noch einmal tief Luft geholt hatte, sprang er los. Schon sank er, gefolgt von sprudelnden Luftblasen, tiefer und tiefer. Dichtes Seegras reckte sich ihm mit hin und her wogenden Fingern entgegen. Der Körperkontakt mit den langen, durchsichtigen Fasern war so unangenehm, dass es ihn schauderte. Das Wasser war kühler hier unten, fast eisig kalt.
Scott sah sich näher um und entdeckte schon bald das Armband. Es war in einem Büschel von Algen gelandet, die einen großen Felsblock überzogen. Wie würde Kath ihn loben! Voller Vorfreude schnappte Scott schnell nach der silbernen Schlinge und stieß sich kräftig mit den Füßen ab, um Schwung für seinen Aufstieg zu holen.
Die Erleuchtung kam ihm, als er wieder in die oberen wärmeren Wasserschichten gelangte - und dieses Aha-Erlebnis traf ihn mit solcher Wucht, dass die Gedanken ein fast hörbares Klicken in seinem Kopf verursachten.
Die Unterseite der Anlegestelle sah genauso aus wie die kuriose Bleistiftzeichnung! Jene, die dieses durchdringende Deja-vu-Gefühl in ihm hervorgerufen hatte. Der senile, alte Künstler hatte die Unterseite seines Anlegestegs abgebildet!
Noch ehe er wieder an der Oberfläche aufgetaucht war, wurde Scott bewusst, wie völlig absurd diese Feststellung war ... Dennoch: Wenn sein Gedächtnis ihn nicht täuschte, war die Ähnlichkeit nicht zu verkennen. Scott hatte die Unterseite des Anlegestegs erst ein einziges Mal gesehen, und zwar Ende April, als er gemeinsam mit Gerry den Steg ins gerade getaute Wasser gelassen hatte. Die frühere Hausbesitzerin hatte allein gelebt und deshalb bei der Konstruktion ihres Bootsstegs Wert auf eine leichte Handhabung gelegt. Sie hatte im flachen Wasser, nahe am Ufer, einen schmalen Laufsteg errichtet, dessen drei kurze Abschnitte auf gusseisernen Pfählen montiert waren. Der breite Hauptteil des Stegs war ein einfaches, vier Mal vier Meter großes Quadrat aus Zedernholz, das, ähnlich einem Schwimmdock, durch an der Unterseite befestigte Fässer an der Wasseroberfläche gehalten wurde. Im Winter konnte man diesen Teil leicht an Land ziehen und im Frühjahr wieder zurück in den See befördern. Scott hatte an jenem kühlen Apriltag nur einen kurzen Blick auf die verkrustete Unterseite des Stegs geworfen, aber ihm waren dabei diese ungewöhnlichen Fässer mit ihrem engmaschigen Rippenmuster und den aufgedruckten Rosen aufgefallen. Jetzt war seine Erinnerung wieder glasklar.
Scott zog sich am Steg hoch und setzte sich, etwas verwirrt und aus dem Gleichgewicht gebracht, auf die Kante. Kath ließ sich neben ihn plumpsen und untersuchte mit hoffnungsvollen Blicken seine Hände.
»Hast du's gefunden?«
Als Scott die rechte Hand öffnete, in der das kleine Silberarmband verborgen war, schrie Kath begeistert auf. Sofort griff sie nach dem Schmuckstück, legte es an und küsste ihn mit voller Wucht auf den Mund. Genau in diesem Moment tauchte Lita auf und Kath schoss davon, um ihr jedes Detail der Beinahe-Katastrophe zu schildern. Und während sie den Weg hochraste, bewunderten ihre Augen das Armband wie einen neu gefundenen Schatz.
Es war selbstverständlich unmöglich, konnte nur ein Zufall sein. Das war die einzige sinnvolle Erklärung. Ganz bestimmt hatte der alte Zeichner etwas völlig anderes skizziert, etwas, das der Wirklichkeit zufällig ein wenig ähnelte und deshalb bei Scott bestimmte Erinnerungen ausgelöst hatte. Genau so musste es sein. Denn wie und wann sollte der Alte die Unterseite des Anlegestegs, seines Stegs, gesehen haben? Vielleicht kannte er die Künstlerin, die früher hier gewohnt hatte, überlegte Scott, ohne dass er selbst es glauben konnte. Und falls das zutraf: Wie sollte er wissen, wer jetzt hier wohnte?
Und wenn er es doch weiß ?, widersprach Scotts Kopf mit einem dieser abstrusen Gedankengänge, die manchmal durch absurde Ereignisse heraufbeschworen werden. Was ist, wenn der Alte tatsächlich weiß\ dass ich hier lebe? Und falls ja, hat er dann versucht, mir auf diese Weise etwas mitzuteilen ? Indem er die Zeichnung als eine Art Zeichen benutzt hat?
Aber nein, natürlich nicht. Der Mann war doch völlig weggetreten, da war kein Funken von Verstand mehr übrig. Und selbst wenn er versucht haben sollte, ihm etwas mitzuteilen, warum mit etwas so Absonderlichem wie einer Skizze, auf der die Unterseite des Anlegestegs abgebildet war? Falls er tatsächlich wissen sollte, wo Scott wohnte, warum zeichnete er dann nicht einfach das Haus? Es war zum Verrücktwerden!
Ungeachtet der Kälte, die den aufkommenden Sturm ankündigte, blieb Scott nass und zitternd sitzen und dachte über die Zeichnung nach. Er versuchte sich jede Einzelheit dieser kurzen bizarren Momente, die er am gestrigen Nachmittag allein mit dem Alten verbracht hatte, ins Gedächtnis zu rufen. Zuerst war da das unheimliche Gefühl gewesen, dass er diese Dinge schon einmal gesehen haben musste, dann war die Schwester mit einer Nachricht für ihn vorbeigekommen ... Und hatte der alte Mann sich in diesem Augenblick nicht besonders beeilt? Hatte er nicht begonnen, schneller zu zeichnen? Als ob er befürchte, Scott könne ihn verlassen, ohne die vollständige Zeichnung gesehen, ohne den Zusammenhang erkannt zu haben?
Scott schüttelte den Kopf und stand auf, während vor seinem geistigen Auge das Bild des sabbernden, wahnsinnigen Alten auftauchte, dessen Fähigkeiten so fehl am Platz schienen. Er versuchte, gedanklich wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen: Sicher war nur seine Fantasie mit ihm durchgegangen, oder?
Aber es half nichts. Die Verbindung, die sein Verstand hergestellt, auf die er sich fixiert hatte, konnte er nicht leugnen und beim besten Willen nicht wieder aus der Welt schaffen, sosehr er auch nach Gegenargumenten suchte. Als sein Blick zum wiederholten Mal in die Tiefe schweifte, kam er zu dem Schluss, dass es nur einen Weg gab, die Sache ein für alle Mal zu klären. Abrupt drehte er sich um und eilte mit schnellen, nervösen Schritten den Hügel hinauf.
Auf der Suche nach seiner wasserfesten Minolta-Kamera durchwühlte Scott den gesamten Schrank des Fernsehzimmers. Schließlich fand er sie, noch immer in ihrer ursprünglichen Verpackung, hinter einem Satz unbenutzter Golfschläger. Seine beiden Frauen hatten ihm die kompakte, mit einem Plastikgehäuse verkleidete Kamera im letzten Jahr zu Weihnachten geschenkt Er hatte sie am ersten Weihnachtstag ausgepackt, einige Fotos von seinen Lieben vor dem geschmückten Baum gemacht und den Apparat gleich wieder weggepackt. Tatsächlich hatte er den Film immer noch nicht entwickeln lassen, die fast unbenutzte Filmrolle steckte noch im Gehäuse. Wie praktisch! So brauchte er keinen Film zu besorgen und konnte sich die Fahrt in die Stadt sparen.
Als er das Blitzlicht ausprobierte, stellte er fest, dass es noch funktionierte. Nach einem flüchtigen Blick in die Bedienungsanleitung eilte er wieder nach draußen. Kath begleitete ihn ein Stückchen.
»Was willst du damit?«, fragte sie und deutete auf die knallgelbe Kamera, die von seinem Handgelenk baumelte. »Ich muss da was unter dem Steg überprüfen.« Kath verzog das Gesicht. »Dad, hast du mir nicht gesagt, dass ich niemals da runtergehen soll? Ist das nicht gefährlich?«
»Nur für kleine Mädchen.«
Die Kamera fest an sich gedrückt, tauchte Scott erneut in den See, machte ein paar schnelle Stöße abwärts und wendete gleich darauf, um die Unterseite des Stegs zu untersuchen. Von hier unten aus, mit den Füßen über der Felsplatte schwebend, konnte er die vier verkrusteten Fässer und - trotz des trüben Lichts - sogar ihr engmaschiges Rippenmuster erkennen. Jetzt konnte er auch die Embleme mit den weißen Rosen ausmachen; sie waren ausgeblichen, aber unverkennbar die Markenzeichen der alten White-Rose-Ölbehälter. Das alles sah, soweit er sich erinnern konnte, der Zeichnung verdammt ähnlich. Allerdings konnte er von hier aus kein Beweisfoto schießen. Die Skizze war aus größerer Entfernung und tieferem Winkel gezeichnet gewesen.
Scott strampelte zurück zur Oberfläche, um tief Luft zu holen. Kath, die an der Leiter stand und zu ihm hinuntersah, kniff ihr kleines Gesicht besorgt zusammen. »Bleib nicht so lange da unten, okay?« »Okay, mein Schatz.«
Er kletterte auf den Anleger und winkte einem näher kommenden Motorboot zu. Bob Anderson und Fred Mills kehrten gerade von ihrer frühmorgendlichen Angeltour zurück. Mit stolzem Grinsen hielt Bob eine Schnur hoch, an der einige fett aussehende Hechte hingen. Mittlerweile kannte Scott ihre Gewohnheiten: Angeln von sieben bis elf, danach zu Bob nach Hause, um belegte Brote und Bier zu vertilgen, dann wieder raus bis vier Uhr nachmittags.
Mit der Kamera in der Hand und den Füßen voran schoss Scott wie ein Speer ins Wasser. Während er hinabsank, hörte er das sanfte Tuckern von Andersons kleinem Außenbordmotor. Innerhalb von Sekunden drang er bis zum Grund vor und landete auf der gleichen glitschigen Felsplatte wie zuvor, inmitten von brusthohen Algen. Scott gab sich alle Mühe, ihre Ekel erregenden Auswüchse zu ignorieren, und spähte stattdessen zum Steg hinauf.
Ja, bei Gott, da war es! Genau das Muster, das er am Vortag auf der Zeichnung gesehen hatte, das Muster, das die Erinnerung ausgelöst hatte: vier gerippte Fässer, die ausgeblichenen Rosen und die geschwungenen Linien. Die Linien waren nichts anderes als die Holzlatten des Stegs - von unten gesehen, verzerrt durch die kleinen Wellen an der Wasseroberfläche.
Scott richtete die Kamera darauf und schoss ein Foto. Im grellen Weiß des aufleuchtenden Blitzes wurde jedes Detail deutlich sichtbar.
Direkt hinter ihm verlief eine heimtückische Unterströmung und wuchs zu einem kalten Strom an, dessen Algen wie Tentakel über seinen Rücken strichen. Als sich ein langer Strang wie ein lose sitzender Gürtel um seine Taille legte, erschauerte Scott, teils wegen der eiskalten Unterströmung, vor allem aber wegen des widerlichen Gefühls, das dieses Seegras auf seiner Haut verursachte. Er duckte sich und machte sich bereit für den schnellen Aufstieg zurück zur Wasseroberfläche ...
In diesem Moment glitt er aus. Sein rechter Fuß rutschte ab. Der glitschige, von Algen überzogene Stein, auf dem er gestanden hatte, rollte ein Stückchen das steile Gefälle des Seebettes hinunter und prallte so gegen einen Felsbrocken, dass er Scotts Schienbein einklemmte.
Panisch, als habe ihn ein Blitzschlag getroffen, stierte Scott auf sein Bein. Als er lautlos aufschrie, entwich ein Teil der so kostbaren Luft und blubberte an die Oberfläche.
Zwar zerrte er so heftig an seinem Bein, dass ihm der Schmerz durch den Knöchel schoss, aber das Bein ließ sich nicht bewegen. Also versuchte er, den großen Felsbrocken wegzurollen, anfangs mit dem freien Fuß, danach mit den Händen, aber er musste dabei nach oben stoßen, und dazu war der Stein zu schwer.
Während sich weitere Algen um seine Brust, seine Arme, seine Beine schlangen, blieb Scott fassungslos und wie erstarrt stehen. Die kalte Unterströmung wurde noch kälter. Er zerrte nochmals an seinem eingeklemmten Bein, versuchte, irgendwie die Selbstbeherrschung zu bewahren. Noch war er nicht bereit, sich den Ernst der Lage einzugestehen. Er versuchte es mit dem anderen Fuß, drehte und zog, aber es war vergeblich. Sein Bein rührte sich nicht von der Stelle.
Und schließlich dämmerte ihm, wie ausweglos seine Lage war, und ihn packte das Entsetzen.
Mein Gott ich sitze wirklich fest!
Seine Hand ließ die Kamera los, die, sich immer wieder überschlagend, an die Oberfläche stieg. Wie im Totentanz wiegten sich Tentakeln aus Seegras in der Unterströmung hin und her ... berührten ihn, streiften ihn, wanden sich um ihn.
Hinter der Tauchermaske wurden Scotts Augen immer größer. Teufel noch mal!, fluchte sein Kopf in sinnloser Wut. Ich sitze fest! Mein Gott! Warum hab ich denn niemanden zur Sicherheit mitgenommen?
Der Drang nach Luft machte ihm den Hals so eng, als drücke ihm jemand die Kehle zu. Er kniete sich nieder, suchte nach einer Art Hebelkraft, umfasste sein Bein mit den Händen und stemmte es mit aller Kraft gegen den Untergrund, bis seine Muskeln sich verkrampften.
Aber er konnte sein Bein nicht befreien. Es war wie angewachsen, die Steine hielten es fest. Wieder zerrte er daran, bis die Anstrengung wie Feuer in seinen Sehnen brannte. Da, endlich gewann er einige Zentimeter, so dass er sein Bein bis zur Hälfte der Wade befreien konnte — wenn auch auf Kosten einiger sich ablösender Hautfetzen.
Scott spürte eine Welle der Erleichterung. Nur noch einmal kräftig ziehen und dann würde er frei sein ...
Doch sein nächster Ruck bewirkte überhaupt nichts, im Gegenteil: Der Stein verlagerte sich erneut und presste sich noch fester gegen die Mauer aus Felsblöcken.
Der Drang nach Luft wurde zunehmend körperlich spürbar - unmöglich, dagegen anzugehen. Scott war klar, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis er seinen Rachen zwangsläufig aufreißen und das Seewasser einatmen würde.
Dunkelheit legte sich um ihn und trübte sein Sichtfeld. Mitten in dieser Dunkelheit stieg ein grausames Bild in ihm auf: Er sah die abgekauten Gliedmaßen eines Tieres vor sich, das sich in einer Falle wand. Erneut schob sich Scott vor und zurück - nicht nur, weil er sich vom Seegrund lösen wollte, sondern auch, weil er dieses Bild loswerden wollte. Er lehnte sich gegen die Felsbrocken, benutzte die Ferse als Keil und drückte sich mit Macht dagegen. Aber der Fels war zu glatt, sein Fuß rutschte abermals ab, wobei er sich den Ballen stieß. Er versuchte es noch einmal, ohne den geringsten Erfolg.
Vor Angst wie gelähmt, starr vor Schreck, hing er regungslos dort unten im Wasser. Und wieder bahnte sich Luft aus seinen Lungen den Weg nach draußen, stieg in kleinen Blasen an die Oberfläche. Vergeudete Luft.
Das kann doch einfach nicht wahr sein!, schrie seine Seele in die grünschwarze Stille hinein. Unmöglich, dass ich hier unten im See festklemme, das ist doch heller Wahnsinn. Nein! NEIN! Komm schon, Scott, zieh! Zieh!! ZIEH!!
Plötzlich war es so, als breche ein innerer Damm, als durchströme ihn heiße, unbändige Wut. Scott nahm den Kampf auf, tanzte wie wild herum, fuchtelte mit den Armen, als seien sie Windräder, grub seinen Fuß fest in den Grund des Sees, der ihn dort unten in seinen Klauen hielt. Und erzeugte durch seinen verrückten Tanz nichts als Schlammwirbel, die ihm jede Sicht nahmen, und Atemnot, die ihm die Brust heftig zusammenpresste. Jeder Muskel verlangte, dass er den Mund aufriss und seine Lungen Sauerstoff einatmeten! Benommen sah er zur Oberfläche hinauf, zum Licht, zur Luft ... so verdammt nah! Und er kämpfte weiter, so dass er den Rest seiner Kräfte und seiner kostbaren Sauerstoffreserve verbrauchte.
Egal, was er tat, es war sinnlos. Er saß fest wie ein Fisch im Netz. Durch seine wilden Verrenkungen hatten sich die Algen nur noch fester um ihn geschlungen.
Ein weiterer Luftstoß entwich seiner Brust, die sich wie ein Schraubstock immer weiter verengte.
Warum kommt denn niemand? Bob! Krista! Bitte! BITTE!
Scott Bowman dachte an seinen Tod. Nur knapp vier Meter unter seinem eigenen Anlegesteg würde er gleich ertrinken.
Plötzlich schnappte es in seinem Kopf: Er tauchte in Leere ein, in reine, ursprüngliche Leere, jenseits aller schlichten Angstvorstellungen. Er würde sich dem Drang nach Luft nicht länger widersetzen. Luft war jetzt sein Ein und Alles, das Zentrum seines schwindenden Universums, und Scotts Körper gehorchte diesem alles übertönenden Befehl. Hilflos öffnete er den Mund und atmete tief ein. Und das Wasser bahnte sich den Weg durch Zugänge, die von der Natur dafür nicht vorgesehen waren.
Als die Erstickungswelle wie Feuer durch sein Hirn toste, quollen seine Augen hervor. Seine Brust wehrte sich wütend und versuchte, das Wasser aus den Lungen zu vertreiben. Von weit her hörte er das mechanische Tuckern von Andersons Außenbordmotor - vielleicht waren es aber auch die rasselnden Knochen des Sensenmanns. Scott war es egal, er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er war nur noch ein verzweifeltes Tier, das sich jetzt mit solcher Wildheit aufbäumte, dass sich die Sehnen aus den Knochen lösten.
Aber sein Bein ließ sich nicht bewegen.
Sein Gehirn schwoll an, unzählige Bilder strömten in grellen Farben auf ihn ein, Wasser trat an die Stelle der Luft.
Scott war dabei zu ertrinken.
Durch Nebelschleier, die sich dichter und dichter um ihn legten, sah er den Anker, der wie irgendein bizarres Seeungeheuer mit silbernen Schuppen und speerformigen Flossen durchs Wasser schnitt. Nahe einer seltsam verlockenden, tödlichen Euphorie, unfähig, noch irgendetwas zu erfassen, sah Scott mit dumpfer Ehrfurcht zu, wie das Ding näher und näher rückte.
Und dann bemerkte er das gelbe Nylontau.
Direkt über ihm war Bob Andersons Boot. Und es zog einen Anker hinter sich her.
Getrieben von letzten Überlebensinstinkten, richtete Scott den Blick auf das Tau und stürzte sich darauf. Als er es in den Händen hielt und bemerkte, wie es sich unter seinem Griff straffte, stemmte er den freien Fuß gegen den Felsbrocken, der den anderen Fuß festhielt, und drückte ein letztes Mal dagegen.
Oben an der Wasseroberfläche gab Anderson mit dem Außenbordmotor Vollgas.
Und Scotts Bein löste sich aus der Falle.