122082.fb2 Der Cartoonist - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 7

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6

Nachdem Scott das Seil losgelassen hatte, strampelte er blindlings nach oben, hoch zum Licht und der rettenden Luft. Direkt unter dem Anlegesteg schnellte er an die Oberfläche, stieß mit dem Kopf gegen eines der Fässer und warf sein Gesicht dem erlösenden Sauerstoff im knappen Luftraum entgegen. Mit den Fingern griff er zwischen die Holzlatten des Stegs und krallte sich daran wie an Landehaken fest. Hustend und spuckend riss er den Mund auf und sog gierig die Luft ein ... die köstliche Luft, die lebendige Luft. Die Stimme seiner Tochter klang hoch, hektisch und überschlug sich vor Angst, während sie seinen Namen schrie, doch sie erfüllte ihn mit einem seltsamen Triumphgefühl. Dass er sie hörte, hieß: Er war am Leben! Darauf hatte er nicht mehr zu hoffen gewagt.

Jetzt kniete Kath auf dem Steg nieder, spähte durch die Bretter hindurch und griff nach Scotts Fingern. Dann war auch Krista da, deren Stimme Angst und Hysterie verriet und wie das Echo ihrer Tochter klang.

»Scott! Oh, allmächtiger Gott! Alles in Ordnung? Oh, du Mistkerl, du hast mich zu Tode erschreckt! Kommst du da allein wieder raus? Oh, Gott... Oh, Gott!«

Kurz darauf waren Bob Anderson und Frank Mills über ihm, und Scott konnte aus seiner Froschperspektive erkennen, wie sie alle ihn durch die Risse im Holz anstarrten. In seiner Kehle stieg ein irres Lachen auf und erzeugte nichts als Husten. Mehrmals spuckte er einen ganzen Mund voll Seewasser aus, blickte mit brennenden Augen durch die Stegbretter nach oben ... und atmete.

Andersons dröhnender Befehl beendete mit einem Schlag das panische Hin und Her weiblicher Stimmen: »Jetzt reicht's! Ihm fehlt nichts. Wir müssen ihn nur da unten rausholen.« »Oh, Scott... ich dachte, du wärst... ich ...« »Fred, bring die Dame zurück ins Haus ...« »Nein«, sagte Krista und zerrte an Andersons Ärmel. »Mir geht's gut. Ich möchte helfen.«

Bob kniete sich mit einem Bein nieder und blickte Scott mit seinen ruhigen braunen Augen an. »Meinen Sie, dass Sie Ihren Hintern irgendwie da unten rauskriegen, Scotty?«

Beim Versuch zu antworten, brachte Scott nichts als eine heftige Hustenattacke hervor, die wie der Schrei eines Tieres klang. »Ich ... ich kann mich nicht bewegen ...«

Er zitterte hilflos. Seine Muskeln waren von den immensen Strapazen stark angegriffen. Arme, Beine und der Bauch wurden von höllischen Krämpfen geschüttelt. Er klammerte sich so heftig an den Steg, als seien seine Fingerkuppen dort angenagelt. Noch konnte er sich nicht vorstellen, dass er je wieder loslassen würde.

Und natürlich spürte er die Angst, sie war immer noch da. Diese Todesangst, die so frisch war wie eine blutende Wunde. Wenn er unter dem Steg herauskommen wollte, blieb ihm nichts anderes übrig, als wieder zu tauchen - nochmals da hinunter, hinab in die Finsternis des Wassers. Momentan war er dazu einfach nicht in der Lage.

»Nein ...«, keuchte er, wahrend er abermals nach Luft schnappte. »Ich bleib noch eine Weile hier.«

Krista, sie trug immer noch ihren hautengen Aerobic-Anzug, sprang kurz entschlossen in den See. Unter dem Steg tauchte sie wieder auf, schwamm zu ihrem Mann hinüber und legte ihm beruhigend eine Hand auf den Unterarm. Seine Muskeln waren steif und hart.

»Komm schon, Liebling. Lass uns versuchen, dich hier rauszuholen.« Wenn sie zum äußeren Rand des Stegs gelangen wollten, mussten sie allerdings erst einmal vier stützende Querbalken hinter sich bringen, die zum Teil unter Wasser lagen. »Wir nehmen uns einen Abschnitt nach dem anderen vor.«

Krista packte sein Handgelenk und zog ihn mit behutsamem, aber bestimmtem Griff fort. Sie sah seinen Augen an, dass er wieder schreckliche Angst hatte.

Zögernd gab Scott nach.

»Einmal tief Luft holen, Liebster, und dann lass es uns versuchen, okay?«

Scott nickte bedächtig und atmete ein. Dann tauchte er zusammen mit Krista unter.

Blitzschnell gelangten sie zur gegenüberliegenden Seite des ersten Querbalkens, wobei Scott einen so gewaltigen Satz machte, dass er sich den Kopf schon wieder stieß - dieses Mal an der Kante eines Metallverbindungsstücks.

»Vorsichtig, Liebster«, sagte Krista. »Es wird alles wieder gut. Es sind nur noch drei, nur drei... oh, Scott, ich dachte, du wärst ...« Sie hatte Tränen in den Augen. »Komm, mein Schatz, nur noch drei.«

Und langsam, einen Abschnitt nach dem anderen, schafften sie es.

Endlich am äußeren Rand des Anlegestegs angelangt, streckte Scott einen Arm aus und hielt sich an der Kante fest. Völlig erledigt legte er seine Wange an die raue Holzoberfläche.

Krista blieb im Wasser, unmittelbar neben ihm, strich ihm übers Haar und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Bob und Fred hockten direkt über ihm.

»Okay, Kumpel«, sagte Bob. »Lassen Sie Ihre Frau jetzt los, wir ziehen Sie hoch.« Er griff nach Scotts Handgelenk. »Kommen Sie schon, Doktor. Einfach loslassen. Sie sind jetzt im grünen Bereich. Kommen Sie!«

Langsam lösten sich seine Finger. Mit Kristas Hilfe hievten die beiden Alten Scotts starren, zitternden Körper, der gut neunzig Kilo wog, aus dem Wasser.

Wie ein toter Fisch klatschte Scott auf die nasse, glitschige Oberfläche des Stegs. Leichte Wunden überzogen sein Bein wie Rallyestreifen, aber es gab keine offensichtlichen Anzeichen für einen Bruch. Krista kniete sich neben ihn, küsste sein Gesicht, fuhr mit ihren Fingern durch sein wirres Haar. Kath war während der letzten Minuten völlig in Vergessenheit geraten. Jetzt stand sie am Ufer, ein Stückchen entfernt vom Steg, ließ einen Mundwinkel hängen und stocherte mit zwei Fingern darin herum. Als Scott sie endlich bemerkte und so dastehen sah, fühlte er, wie sich sein Herz - genau wie der übrige Körper - vor Schmerz verkrampfte.

Während die nackte, seine Seele zermürbende Panik nach und nach verflog, streckte er die Hand nach seiner Tochter aus. Langsam, fast schüchtern kam Kath zu ihm und ergriff sie.

Eine ganze Weile verharrten sie so. Keiner rührte sich, weder Scott mit seinen beiden Frauen noch Bob und Fred, die still daneben standen. Schließlich halfen sie ihm mit vereinten Kräften zuerst auf die Beine, dann den Hügel hinauf und ins Fernsehzimmer, in seinen Lieblingsraum, wo man immer noch einen leichten Hauch der von der Malerin benutzten Lösungsmittel und Ölfarben wahrnehmen konnte.

»Ich möchte euch allen danken!«, sagte Scott Sein Atem ging immer noch zu schnell. »Ihr habt da draußen mein Leben gerettet. Ja, das habt ihr wirklich.«

Mittlerweile war eine halbe Stunde vergangen. Bob hatte vorgeschlagen, einen Krankenwagen zu rufen, aber Scott hatte sich widersetzt und unter Husten und Keuchen versichert, ihm gehe es gut, er müsse sich nur etwas ausruhen. Krista hatte sein Bein mit einer perfekt sitzenden Mullbinde versorgt, während Fred oben in der Küche Tee gekocht hatte. Scott versuchte an seinem zu nippen (Krista musste die Tasse für ihn halten, denn mit seinen zitternden Fingern schaffte er das nicht), aber der Tee kam ihm prompt und in einem riesigen, seine Eingeweide zerreißenden Schwall wieder hoch.

Inzwischen hatte der Himmel die Farbe von dunklem Schiefer angenommen, schon klatschten die ersten Regenspritzer auf die Fliesen der Terrasse. Während sich ein Sturm zusammenbraute, schaukelten die Birken und Fichten so unruhig hin und her, als wollten sie sich gleich von den Wurzeln lösen und die Flucht ergreifen. Am fernen, von Nebel verhangenen Himmel grollte der Donner. Es klang fast so, als knurre ein leerer Magen.

Scott lag eingekuschelt in eine dicke Daunendecke auf dem Ausklappsofa im Fernsehzimmer. Neben ihm saßen Krista auf der einen, Kath auf der anderen Seite. Seine Tochter sah unter ihrer Sommerbraune sehr blass aus, ihre Augen glänzten verdächtig. Scott wurde bewusst, dass sie einen Schock erlitten hatte, was ihn trotz seiner eigenen Beschwerden stark beunruhigte. Immer noch so angezogen, als posierten sie für ein heraustrennbares Poster der Zeitschrift Feld 6f Fluss, waren Bob und Fred zwischen Sofa und Farbfernseher stehen geblieben. Die beiden Alten sahen so aus, als sei ihnen die Situation irgendwie peinlich, und wirkten seltsam fehl am Platz. Während Fred in seinen Gummistiefeln von einem Bein aufs andere trat, kaute Bob nervös auf seiner Pfeife herum.

Jetzt nahm Bob die Pfeife aus dem Mund, weil er etwas sagen wollte. Dabei stopfte er den Daumen in den leeren Pfeifenkopf. »Wir hatten einfach nur Glück, Scott.« Er deutete mit dem Pfeifenstiel auf Kath. »Deine Kleine da drüben ist diejenige, die dich gerettet hat.«

Als Scott Kath den Arm um die Taille legte, fuhr sie, aufgeschreckt aus ihren trüben Gedanken, sofort hoch. Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht ganz. Kurz darauf wurden ihre Augen wieder glasig.

Da Scotts erster Tauchgang ihr Angst gemacht hatte, war Kath stehen geblieben, hatte nach seinem zweiten Sprung atemlos Wache gehalten und gewartet, dass er wieder an der Oberfläche auftauchte. Als die Kamera, umgeben von einem Schwarm Luftblasen, hochgegluckert kam, war ihr bewusst geworden, dass etwas nicht stimmte, und sie hatte nach Hilfe gerufen. Die beiden Angler hatten bereits drüben bei Bob zu Hause angelegt und wollten gerade aus dem Boot klettern, als sie Kaths Rufe hörten. Schnell waren sie zurück an Bord gesprungen, hatten Vollgas gegeben und in Windeseile die kurze Strecke offenen Wassers durchschnitten, die zwischen den Häusern der Andersons und der Bowmans lag.

»Hätte sie nicht in genau diesem Moment losgebrüllt«, sagte Bob, ohne den Satz zu beenden. Er klopfte seinem Partner auf den Rücken. »Obwohl - es war der alte Fred hier, dem der Einfall kam, dass wir den Anker hinter uns herziehen könnten.«

Mit verlegenem Lächeln betrachtete Fred seine Stiefelspitzen. »Waren Sie da unten eingeklemmt, Scotty?«, fragte er. »Auf dem Seegrund?«

Scott nickte, und das Nicken bewirkte einen kurzen Krampf. Krista, die es merkte, drückte ihn noch fester an sich. Und sogar Kath kehrte kurz aus ihrer trüben Gedankenwelt zurück, um seinen zitternden Arm zu streicheln.

Scott, der immer noch mühsam atmete, versuchte, seinen Rettern die Schrecken des letzten Tauchgangs zu beschreiben. Danach schwieg er.

Bob legte eine Hand auf Freds Schulter und deutete mit dem Kinn auf Scott, der immer noch zitterte, obwohl er die Augen kaum noch offen halten konnte. Er war körperlich erledigt - ein Zustand, den Bob Anderson nur zu gut kannte. Oft genug war es ihm selbst am Ende eines Arbeitstages so gegangen, wenn er sechzehn Stunden lang unter der unbarmherzigen Julisonne auf dem Feld geschuftet hatte.

»Lass uns mal gehen«, sagte er zu seinem Freund, der zustimmend nickte.

»Danke noch mal«, murmelte Scott, als die zwei Alten aufbrachen.

Dann sank sein Kopf zentnerschwer aufs Kissen, während ihn wohltuende Dunkelheit umfing, der er sich bereitwillig überließ. Unterdessen zuckten die ersten Blitze über den stürmischen, mit Elektrizität aufgeladenen Sommerhimmel. Unruhig warf sich Scott hin und her, durchschlief aber den Sturm, der bis zum Mittag tobte, und wachte erst am späten Nachmittag wieder auf.

Mit einem erstickten Schrei fuhr er hoch. Wieder spürte er, wie der See ihm die Kehle zudrückte. Aber es war nur ein Kissen, das er sich während des Schlafs über das Gesicht gezogen hatte. Es war zwar federleicht, hatte ihm im Traum jedoch das Gefühl zu ertrinken gegeben. Als Krista seinen Schrei hörte, stapfte sie in Windeseile die mit Teppichboden ausgelegte Treppe hinunter zu ihm ins Fernsehzimmer und rief alarmiert seinen Namen.

»Mir geht's gut«, sagte Scott »Hab mir selbst einen Schrecken eingejagt. Das ist alles.« Er rollte sich auf die Seite und versuchte, sich aufzurichten.

Erst jetzt wurde ihm klar, welchen Schaden sein kurzer Kampf unter Wasser angerichtet hatte. Seine Gliedmaßen fühlten sich an, als habe jemand, während er sich träge seinen Träumen hingegeben hatte, die Knochen mit flüssigem, von Kies durchsetztem Zement ausgegossen, der mittlerweile gehärtet war. Alle Muskeln muckten bei der kleinsten Bewegung vor höllischem Schmerz hörbar auf. Als er sich nach vorn lehnte, um sich selbst irgendwie aus dem Bett zu schieben, zogen sich seine Bauchmuskeln zu einem unglaublichen Krampf zusammen. Um die Schmerzen zu lindern, musste er Krista bitten, seine Beine durchzudrucken, damit er sie ausstrecken konnte. Mit ihrer Hilfe setzte er sich schließlich auf die Bettkante, wo er wütend mit einer persönlichen Bestandsaufnahme begann.

Wie sich herausstellte, waren die steifen, empfindlichen Muskeln noch das geringste Problem. Der Schmerz hatte sich seinen Weg direkt in die Knochen gebahnt. Schon bei der geringsten Bewegung fühlte er sich so, als habe irgendjemand Metallfüllungen mit scharfen, gezackten Kanten in jedes seiner Gelenke implantiert. Seine Wirbelsäule glich einer Turnierlanze, die man ihm vom Kopf bis zum Hintern durch den Körper getrieben hatte. Trotz Kristas perfektem Verband pochte der Schmerz in seinem Bein. Die Hüfte war eine einzige empfindliche Schwellung: Bei Scotts letztem Befreiungsversuch waren die Gelenkkapseln und einige der umliegenden Muskelfasern zerrissen - eine Verletzung, die sich noch lange bei jedem Wetterwechsel böse bemerkbar machen würde, wie er wusste. Außerdem zirkulierte das Blut noch nicht wieder in den Gliedern: Sie waren so kalt wie die eines Leichnams. Seine Finger schmerzten. Seine Zehen schmerzten. Seine Zähne schmerzten ... Sogar seine Kopfhaut schmerzte.

Er stöhnte auf. Und als Krista ihn bemutterte, ließ er sie gewähren.

»Oh, du mein armer Liebling«, gurrte sie. »Das muss ja furchtbar für dich gewesen sein.« Sie streichelte seine stoppelige Wange. »Ich wusste erst gar nicht, was ich denken sollte, als ich Kath da unten so schrecklich schreien hörte. Ich dachte, sie hätte sich verletzt oder so was. Ihre Freundin Lita ist wie ein erschrockenes Karnickel davongerannt.« Als sie ihn noch fester an sich drückte, zuckte er zusammen. »Dem Himmel sei Dank, dass du es überstanden hast. Möchtest du irgendwas? Etwas zu essen oder trinken? Wie geht's deinem Bäuchlein?«

Scott lächelte und entdeckte dabei, dass auch diese Muskeln schmerzten. Er merkte, dass Krista in einem leichten Schockzustand war. Wahrscheinlich würde sie völlig ausrasten, sobald auch nur die Tür hinter ihrem Rücken zuknallte.

»Mein Hals tut vom Husten weh«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass ich jetzt schon richtig schlucken kann. Aber ich würde ganz gern nach oben gehen.«

Krista half ihm auf die Beine. Für einen Moment wurde ihm etwas schwindelig, und das Zimmer schien sich um ihn herum zu drehen, aber das gab sich bald. Während er mit den Treppenstufen kämpfte und sich dabei fest auf Krista sowie das Geländer auf der anderen Seite stützte, wurde ihm seine eigene Schwäche bewusst - und dabei musste er plötzlich an den Zeichner und dessen verschrumpelten Körper denken.

Was ihn auf die Minolta brachte.

Am oberen Ende der Stufen angekommen - von hier aus war ein Teil des Wohnzimmers einzusehen -, entdeckte Scott seine Tochter. Kath hockte auf dem Fußboden und schaute sich die Bugs-Bunny-Show im Fernsehen an. Er sah auch, dass ihr Blick nicht auf die Mattscheibe, sondern auf ihre Hände gerichtet war, die starr und eng ineinander verschlungen in ihrem Schoß lagen.

Als Kath ihre Eltern kommen hörte, fuhr sie erschrocken herum. Während die beiden ins Zimmer humpelten, schenkte sie ihnen ein müdes Lächeln.

Mit professionellem Blick erkannte Scott sofort, dass das Verhalten seiner Tochter Ausdruck eines schweren emotionalen Traumas war. Während der drei oder vier Minuten, in denen Scott um sein Leben kämpfte, hatte Kath erstmals in ihrem Leben wirkliche Angst empfunden, nackte Angst. Und wie ein Junkie, der sich gerade seinen Schuss gesetzt hat, musste sie erst einmal wieder davon herunterkommen. Obwohl Kaths Reaktion ihm Sorgen bereitete, glaubte er zu wissen, was sie durchmachte. Die pure Angst hatte auch ihn dort unten, auf dem Grunde des Sees, an den Rand des Wahnsinns getrieben.

»Ich werd' mich ein Weilchen aufs Sofa legen«, sagte er.

»Möchte ein bisschen bei meinem Mädchen bleiben.« Kath half ihrer Mutter, Scott auf die Couch zu betten.

»Bist du sicher, dass ich dir nicht doch irgendetwas holen soll?«, fragte Krista, nachdem Scott ausgestreckt und zugedeckt auf dem Sofa lag.

»Mir geht's gut. Wirklich.« Gleich darauf fragte er - beiläufig, wie er hoffte, was ihm allerdings schlecht gelang - die beiden: »Hat jemand meine Kamera gefunden?«

Krista schüttelte den Kopf: »Welche Kamera?«

»Hab ich ganz vergessen«, murmelte Kath, deren Miene ein schlechtes Gewissen verriet und gleichzeitig unglücklich wirkte.

»Was hast du überhaupt da unten getrieben?«, fragte Krista.

Scott wollte den wirklichen Grund nicht verraten, denn angesichts dessen, was geschehen war, schien er von ziemlich weit hergeholt.

»Nichts Besonderes. Ich hatte nur plötzlich die Idee, die Minolta auszuprobieren. Dort unten, tief in den Algen, tummelten sich ein paar Sonnenbarsche. Ich wollte sie gern fotografieren. Würdest du mal nachsehen? Nach der Kamera, meine ich?«

»Na gut, Monsieur Cousteau«, sagte Krista. »Alles, was dein Herz begehrt« Sie küsste ihn sanft auf die Stirn. »Ich bin nur froh, dass es dir gut geht« Mit breitem Lächeln ließ sie ihn mit seiner Tochter allein.

Scott klopfte auf den Rand der Couch. »Komm und setz dich zu mir«, sagte er liebevoll. Kath kam seinem Wunsch zwar nach, reagierte jedoch eher mechanisch und wie benommen. Er zog sie nah zu sich heran und küsste sie auf die Wange. Ihre Haut fühlte sich fiebrig an.

»Mir fehlt nichts, Kleines«, sagte er. Kaths Unterlippe zitterte, als sie versuchte, ihre Tränen zu unterdrücken. »Mir ist nichts passiert Und Bob hatte Recht, weißt du. Ich muss dir dafür danken.« Das Zittern verwandelte sich in den Anflug eines Lächelns. Aber eine einsame Träne trat ihr doch aus den Augen, rollte die Wange hinunter und fiel auf Scotts Handrücken.

»Geht's dir wirklich gut, Daddy?«, fragte Kath, während ihre Augen in Tränen schwammen.

»So gut wie eh und je.«

Kath umarmte ihn so abrupt und heftig, dass es ihm wehtat, und ließ den Tränen mit heftigem Schluchzen freien Lauf. Immer noch zitternd, tat Scott sein Bestes, um sie zu trösten.

Krista hatte sich eine von Scotts Windjacken wie ein Cape um die Schultern gelegt und ging barfuß den Hügel zum See hinunter, wobei sie darauf achtete, auf dem nassen Gras nicht auszurutschen. Der Himmel, der inzwischen so weit aufgeklart war, dass die Sonne hier und da durch die Wolkendecke blinzelte, verfinsterte sich schon wieder, und es lag etwas Unruhiges in der Luft. Als Krista den Anlegesteg betrat, hörte sie das Platschen und Gluckern des Wassers unter ihren Füßen und zog die Jacke enger um sich. Dieser verrückte Morgen hatte ihr Denkvermögen vorübergehend lahm gelegt, so dass sie eine Weile brauchte, bis ihr wieder einfiel, wozu sie eigentlich hergekommen war.

Die Kamera.

Während sie auf der Suche nach der Minolta ihre Runden über den Steg machte, tauchten in ihrem Inneren plötzlich ungelöste Fragen auf. Sonnenbarsche?, wiederholte eine Stimme in ihrem Kopf. Warum sollte er hier nach Sonnenbarschen tauchen? Aber sie fand keine Antwort darauf, sondern spürte nur unendliche Erleichterung, dass er noch lebte.

Krista hatte fast schon aufgegeben, als sie die Kamera plötzlich doch noch entdeckte. Sie hatte sich in den zum Teil unter Wasser liegenden Asten einer Trauerweide verfangen, die am Rande ihres Grundstücks stand. Wie die Fragen in ihrem Kopf tauchte der Fotoapparat unvermittelt auf, um gleich wieder zu versinken. Sie musste bis zu den Knien ins Wasser waten, um ihn herauszuholen. Ihre Jeans wurde dabei ganz nass, aber das machte ihr nichts aus. Sie hob die Kamera aus dem Wasser und verstaute sie sofort in irgendeiner Tasche, da es sie nervte, wie das flache, gelbe Gehäuse im Zwielicht des heraufziehenden Gewitters funkelte.

Als Krista vom See zurückkehrte, stellte sie fest, dass ihr Mann und ihre Tochter beide auf dem Sofa eingeschlafen waren. Es sollte noch eine gute Stunde dauern, bis sie wieder aufwachten. Zu diesem Zeitpunkt erreichte der Sturm, der jetzt wesentlich heftiger als am Morgen tobte, seinen Höhepunkt. Ein ohrenbetäubender Donnerschlag weckte Vater und Tochter, die wie aus einem Mund erschrocken aufschrien.