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Truffaut tätschelte ihr die Wangen.
Sie schlug die Augen auf und schrie hysterisch. Erst als sie bemerkte, daß sie sich wieder bewegen konnte, wurden ihre Gedanken klar.
„Setzen Sie sich auf“, sagte der Inspektor. „Sie haben es überstanden.“
Chantal setzte sich auf. Nagenguest hatte ihre Beine aus den Lederschlingen befreit. Die Frau fiel in sich zusammen und schlug die Hände vors Gesicht. Truffaut zog sein Sakko aus und legte es ihr um die Schultern.
Inzwischen war auch William Corry wieder soweit. Er hatte seinen Ekel überwunden. „Was ist mit ihr passiert?“ fragte er.
„Das möchte ich auch gerne wissen“, entgegnete Truffaut. „Aber ich denke, es wird noch einige Zeit dauern, bis Mademoiselle Valet uns das erzählen kann.“
„Es war schrecklich“, sagte sie plötzlich zuckend. „Es war furchtbar. Zuerst Pierre und dann diese Gestalten…“
„Welche Gestalten?“
„… der rote Henker und sein Sohn…“ Chantal schrie auf. Ihr Blick war auf die Überreste Margents gefallen. Sie schlug die Fäuste vor die Augen. „Nein!“
„Doch!“ sagte Truffaut bestimmt. „Die Leiche ist schwer zu identifizieren, aber es handelt sich aller Voraussicht nach um Ihren Entführer. Um Pierre Margent, wenn ich nicht irre.“
„Sie irren sich nicht“, sagte Mike Nagenguest. „Ich habe ihn trotzdem wiedererkannt. Zwar habe ich nur Fotos von ihm gesehen, aber er müßte es sein.“
Mit spitzen Fingern zog Mike Nagenguest eine Karte aus der blutbesudelten Sakkohälfte des einen Leichenteils.
„Ich habe die Karte. So finden wir wenigstens nach oben zurück.“
„Wenn schon alles vorbei ist“, warnte Truffaut, und seine Befürchtungen sollten sich noch bewahrheiten…
William Corry räusperte sich.
„Sind Sie so weit, daß Sie uns in kurzen Zügen erzählen können, was überhaupt alles passiert ist?“ wandte er sich an Chantal, die sich ihrer Nacktheit überhaupt noch nicht bewußt worden war. „Vielleicht stelle ich am besten die Fragen, und Sie antworten mir.“
Chantal nickte.
„Nun, Mademoiselle Valet. Was ist geschehen? Aber erzählen Sie der Reihe nach.“
„Als ich auf die Toilette ging, stand Pierre in der Kabine. Er hat mich in den Weinkeller geschleppt. Er wollte mich ermorden, weil ich mit Ihnen gehen wollte und von seinen schmutzigen Plänen die Schnauze voll hatte.“
Sie drückte sich unfein aus, aber verständlich.
„Pierre muß schon öfter hier gewesen sein. Nachdem er Ihren Freund niedergeschlagen hatte, schleppte er mich hierher. Er kannte sich hier aus.“
„Weiter!“
„Ich hatte schon alle Hoffnung aufgegeben. Ich hatte keine Ahnung, daß Pierre ein dermaßen perverses Schwein ist. Er hat mich auf dieses Brett gespannt und wollte mich so vergewaltigen.“
„Hat er's getan?“
„Er kam nicht mehr dazu. Denn da war dieser gräßliche Heulton. Was dann kam, war noch viel schrecklicher.“
„Und was?“
Bevor Chantal antworten konnte, dröhnte ein schrilles Gelächter durch die Folterkammer.
Die Männer standen wie vom Donner gerührt.
„Dann kam, was jetzt kommt“, schrillte eine brüchige Greisenstimme überlaut.
Die Tür zur Folterkammer schwang von selbst zu, obwohl sie von den Männern weit offengelassen worden war. Der Riegel schob sich vor, begann rot zu glühen.
Die vier waren gefangen.
„Nein!“ schrie Chantal. „Nochmals überlebe ich das nicht!“
Truffaut hatte seine Pistole gezogen. Ebenso Mike Nagenguest.
Ein schauerliches Gelächter hallte durch die Kammer. Mike und Truffaut fühlten, wie ihre Waffen heiß und heißer wurden. Fluchend ließen sie die Pistolen fallen.
Dann züngelten wieder Flammen aus der Wand, verbrannten scheinbar den Stein.
Zwei rotgekleidete Gestalten mit Kapuzen auf dem Kopf materialisierten sich. Frische Blutspritzer hatten ihre Kittel besudelt.
„Es ist soweit“, sagte eine hohle Stimme. Sie kam von der hageren Gestalt. „Der Mann, der meinen Besitz stehlen wollte, wird hingerichtet. Bald kommt das Morgengrauen. Bist du bereit, William Corry?“
Anstatt eine Antwort zu geben, sprang William an die Wand und riß eine der Fackeln aus ihrer Halterung. Er schleuderte sie der rotgekleideten Gestalt entgegen. Obwohl die brennende Fackel genau die Kapuze des Dämons getroffen hatte, flog sie - ohne auf einen Widerstand zu treffen - weiter und verlöschte an der Wand.
„O Sterblicher“, sagte die Stimme höhnisch. „Bewahre dir deine Kraft für die Stunde des Todes. Du wirst sie gebrauchen können. Das Sterben auf der Guillotine ist nicht angenehm. Schreiten wir zur Tat, Justin.“
In die rundliche Gestalt kam Bewegung.
„Was soll ich tun, Vater?“
„Bringe diese Kreaturen hinauf zum Schafott. Der Mann von der anderen Seite des Ozeans wird als erster sterben. Wir werden viele Köpfe haben.“
Grauen erfaßte William. Er konnte nichts gegen diese Dämonen ausrichten.
Truffaut hatte die Arme sinken lassen und starrte die Erscheinungen entgeistert an. Sein Kiefer war heruntergesunken. Der Mund stand offen.
Nagenguest ging es nicht besser. Doch er war eine Kämpfernatur. Ohne Grund war er nicht der Leibwächter von Desmond Corry geworden. Er unterdrückte seine Angst und stürmte los, obwohl er gesehen hatte, was mit der Fackel Williams geschehen war. Als seine Faust in die Gestalt des roten Henkers tauchte, schrie er auf. Er wollte sich noch zurückwerfen, doch der Schwung seines massigen Körpers war nicht mehr aufzuhalten. Nagenguest fiel voll durch die unverrückbar fest stehende Gestalt von Louis de Lavorne.
Auf der anderen Seite wand er sich am Boden. Er wälzte sich, doch er konnte die grünen Flammen, die an ihm emporzüngelten, nicht löschen. Die Haut begann zu jucken und zu brennen, als wäre sie verätzt. Nagenguest brüllte sich den ganzen Schmerz aus dem Leib, doch es gab keine Rettung mehr für ihn.
„Ihr habt meine Macht gesehen!“ donnerte der Dämon. „Es gibt keine Rettung für euch. Ihr seid des Todes. Ich habe euch dazu verurteilt.“
Justin kicherte klirrend. „Des Todes“, wiederholte er.
Truffaut war aschfahl geworden. Er hatte sich an die Wand zurückgedrückt und dabei krampfhaft vermieden, den glühenden Riegel der Tür zu berühren. Nagenguest war verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben. Chantal stierte mit leeren Augen auf die beiden Dämonen. Sie war zu keiner Regung mehr fähig. Das war zuviel für sie gewesen.