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Es lag nicht direkt im Tal der Loire, sondern etwas abseits auf einem Hügel. Das Schloß war für französische Verhältnisse nicht eben groß. Es hatte nur fünfundzwanzig Zimmer, von den zweckbestimmten Räumen wie Küche, Hauswirtschaftsräume und so weiter einmal abgesehen. Der Marquis hatte es mit allem modernen Komfort ausstatten lassen. Nur eine Klimaanlage fehlte, und die war in diesem Teil Frankreichs ganz bestimmt nicht nötig.
William Corry versäumte auch nicht die Abzweigung, die von der Route Nationale 152 südlich in die Hügel führte. Eigentlich hätte er das Chateau schon sehen müssen, doch die grauen Regenschleier machten den Abstand zwischen der Straße und dem Schloß undurchsichtig wie Milchglasscheiben.
Die Straße war schmal. Am Anfang war sie noch asphaltiert gewesen, doch jetzt glich sie mehr einem Schlammpfad. Das Wasser der zahllosen Pfützen spritzte zur Seite, als Corry den Flitzer durch sie hindurchsteuerte.
Schließlich erreichte er La Bramboille, ein vergessenes Nest mit wenigen Häusern, das vom Weinanbau lebte. Früher hatte das Dorf zum Schloß gehört. Seine Bewohner waren nichts als bessere Sklaven für ihre Herren gewesen. Die Reserviertheit der Dörfler, ja, ihr Haß gegen die jeweiligen Besitzer von Chateau Brumbeau, hatte die Zeiten überdauert. Doch davon wußte William Corry nichts. Auch wenn er es gewußt hätte: Es hätte nichts an seinen Plänen geändert.
Nach der Ortschaft mußte er nach links abbiegen. Der Weg zum Schloß war wieder geteert. Er führte in engen Kurven den Hang hinauf. Das Chateau stand auf seinem Gipfel.
Unvermittelt mündete der Weg in einen weiträumigen Park, dem man trotz des miserablen Wetters die Pflege ansah, die ihm immer noch zuteil wurde. Blumenbeete und Grünflächen waren in geometrische Muster aufgeteilt.
Dann sah William Corry auch das Schloß selbst. Es erhob sich über die hohen Laubbäume. Vier Türme an jeder Ecke des quadratischen Baus zeugten noch von einer Zeit, in der man das Schloß hatte verteidigen müssen. Vom ehemaligen Bauwerk war vermutlich nur mehr der Grundriß geblieben. Das Schloß zeigte nichts mehr von einer Wehrhaftigkeit, von der noch die eigentliche Anlage kündete. Die Fassaden waren verspielt. Kapriziös, schoß es William Corry durch den Kopf. Chateau Brumbeau war ein Lustschlößchen erster Güte.
Der Amerikaner ließ seinen Wagen an der Auffahrt ausrollen. Freitreppen führten von zwei Seiten zum eigentlichen Eingang. Der Regen ließ etwas nach. Trotzdem schlug William Corry den Kragen seines Staubmantels hoch, als er die rechte Treppe mit einigen Sprüngen nahm. Anstelle einer normalen Klingel ragte ein Löwenschädel aus der Wand. Man mußte seine rote Zunge drücken, wenn man sich bemerkbar machen wollte. William Corry drückte.
Er mußte nicht lange warten, bis schlurfende Schritte laut wurden. Eine Klappe, die William vorher übersehen hatte, öffnete sich, und alte Augen musterten ihn mit einer Spur Überraschung im Blick. Nach der Schilderung Inspektor Truffauts konnte es sich bei dem Alten nur um Richard Grenouille, das Faktotum des Schlosses, handeln.
„Ich bin William Corry!“ schrie der Ankömmling unnötig laut, denn wenn man auf einen Stummen trifft, verstärkt man instinktiv auch die Lautstärke.
Der Mann hinter der Klappe schaute ihn zweifelnd an. In seine grünen Augen stand das Mißtrauen geschrieben.
William holte seinen Reisepaß aus der Sakkotasche. „Ich bin William Corry“, sagte er nochmals und schlug die Seite mit seinem Paßfoto auf. „Dieses Schloß hier gehört mir, und jetzt machen Sie endlich auf, verdammt noch mal.“
Die Klappe schloß sich wieder, und das Geräusch eines sich drehenden Schlüssels mischte sich in das Rauschen des Regens. Dann ging die Tür auf.
Richard Grenouille sah genauso aus, wie man sich einen stummen französischen Butler vorstellt. Sein Haar war lang und grau und stand nach den Seiten ab. Eine unverhältnismäßig große Nase beherrschte sein altes Gesicht mit den hohlen Wangen. Nur die Augen funkelten noch lebhaft in dieser grauen Maske.
Der Butler machte eine Verbeugung und gab den Weg frei. Seine Hand, an der die Adern dick und blau hervortraten, fuhr in sein schwarz-weiß gestreiftes Jackett. Sie kam mit einem Block und einem Kugelschreiber zurück. Die Hand kritzelte etwas auf den Block. Richard hob ihn dabei dicht vor sein Gesicht. Er mußte stark kurzsichtig sein. Dann hielt er William Corry den Zettel hin.
„Herzlich willkommen“, stand darauf, doch sein Gesicht sagte etwas anderes. Scher dich zum Teufel! oder etwas ähnlich Stilvolles.
„Holen Sie bitte mein Gepäck aus dem Wagen“, sagte William. „Und dann zeigen Sie mir mein Zimmer. Ich werde einige Zeit hierbleiben. Wenn Sie wollen, können Sie einige Tage Urlaub machen. Ich brauche Sie vorerst nicht. Ich komme auch allein zurecht.“
Der grauhaarige Butler nickte. Aus der Nische hinter dem Portal fischte er einen Regenschirm und spannte ihn auf. William Corry ging in die Empfangshalle hinein. Er war nicht allzusehr überrascht von dem Anblick, der sich ihm bot. Prunkvoll und ungemütlich, brachte er seinen ersten Eindruck auf einen Nenner.
Die Halle war groß und dunkel. Durch die Rosettenfenster an der Frontseite kam nur das trübe Regenlicht. Es fiel auf einen quadratischen hohen Raum, an dessen Stirnseite sich eine pompöse Treppe - ähnlich der an der Front des Gebäudes - in das erste obere Stockwerk erhob. Eine Veranda lief rund um drei Seiten der Halle. Von ihr aus mündeten Türen in die anliegenden Zimmer.
William suchte nach einem Lichtschalter, und er fand ihn neben einem Rundbogen, der einen Gang zur rechten Seite des Gebäudes abschloß. An den beiden schmiedeeisernen Lüstern flammten ganze Batterien von Kerzenlampen auf und tauchten die Halle in ihr gleißendes Licht. Leute, die William nichts sagten, schauten von Gemälden lebensgroß auf ihn herab und schienen ihn feindselig zu mustern. Sein Blick wurde sofort von einem Bild gefangengenommen, das halbhoch an jener Stelle hing, unter der die beiden seitlichen Treppen zusammentrafen. Es zeigte einen Mann mittleren Alters. Er steckte in einem knöchellangen roten Kittel, der blutbesudelt war. Unter der rechten Armbeuge hielt er eine ebenfalls rote Kapuze wie ein Ritter des Mittelalters seinen Helm. Die Augen des abgebildeten Mannes schauten grausam. Sie waren von jener Grausamkeit, die einem das Blut in den Adern gefrieren läßt. Eine scharf hervorspringende Geiernase ragte wie der Schnabel eines Raubvogels aus einem vom Laster gezeichneten hageren Gesicht. Ein Blitz zuckte durch den Hintergrund herab und tauchte das Podest mit einer Guillotine in unwirkliches blaues Licht.
Die Buchstaben auf dem geschwungenen Messingschild unter dem Gemälde waren groß genug, so daß William Corry sie von seinem Standplatz aus entziffern konnte: „Louis de Lavorne, 1750 - 1805.“
Corry hatte den Diener gar nicht bemerkt, der diesmal unhörbar näher getreten war und sich mit zwei Koffern abschleppte. Sein Rücken war gebeugt.
„Lassen Sie sich helfen“, sagte William Corry. „Ich habe nicht daran gedacht, daß Ihnen die Koffer zu schwer sein könnten.“
Der Alte schüttelte störrisch den Kopf und schritt auf die Treppe zu. William blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Vor einer der Türen setzte Richard Grenouille die Koffer ab. Er zog einen Zettel aus seinem Jackett. Er war feucht. Er mußte ihn noch draußen beim Auto beschrieben haben.
„Das war das Zimmer Ihres Vaters. Wollen Sie hier wohnen?“
William Corry nickte nur und öffnete vor dem Alten die Tür. Sie war nicht verschlossen gewesen.
Unvermutet blieb der junge Mann stehen. Diesen Anblick hatte er nicht erwartet. Der Raum war supermodern eingerichtet. Er hätte zu jeder Hollywoodvilla gepaßt, aber hier in diesem alten Schloß konnte man eine Einrichtung dieses Stils nicht erwarten.
William fiel ein, daß sein Vater ein Exzentriker war, ein Mann, dem Gegensätze sehr viel bedeuteten. Eine Luxusliege mit eingebautem Fernsehgerät, Stereoanlage, Telefon und Hausbar dominierte im Raum. Die hohen Wände waren mit schwarz-weiß lackierten Schrankwänden verstellt. Ein dicker Teppichboden schluckte jeden Schritt. Mitten im freien Raum des Zimmers stand schließlich dieser altertümliche Schreibtisch, den William auch schon im New Yorker Haus seines Vaters gesehen hatte. Der Sekretär war eine alte englische Intarsienarbeit. Er paßte hierher wie eine Hollywoodschaukel auf den Nordpol.
„Ich esse in einer Stunde“, sagte William Corry. „Sorgen Sie bitte auch dafür, daß der Gärtner zu mir heraufkommt. Ich möchte mich mit jemandem unterhalten.“
Der Butler senkte devot den Kopf und ging rückwärts zur Tür hinaus.
„Warum nehmen Sie nicht mit mir vorlieb?“
William Corry fuhr herum. Die Frau, die aus dem Nebenzimmer gekommen war, war schön wie die Sünde.
„Du bist ein Hornochse!“
Pierre Margent schlug dem Gangster die Zeitung mit den übergroßen Schlagzeilen ins Gesicht. „Du hirnverbrannter Trottel! Was hast du dir nur dabei gedacht, als du diesen Amerikaner auf die Guillotine legtest?“
„Aber wir mußten ihn doch aus dem Haus schaffen. Er hätte unseren ganzen Plan gefährdet“, wehrte sich Marc Lever kläglich. „In der kommenden Woche soll doch schon angeliefert werden.“
„Und jetzt haben wir mindestens ein paar Wochen lang die Polizei auf dem Hals, du Idiot. Sie werden mit ihren Ermittlungen nicht so schnell lockerlassen. Der Fall hat ein Riesenaufsehen erregt. Noch dazu, weil es sich bei dem Toten um einen Amerikaner handelt. Um einen von internationalem Ruf. Um einen Waffenschieber. Mit dem Mann hätte man sich doch arrangieren können. Er funkte auf der gleichen Wellenlänge wie wir. Er nahm es mit den Gesetzen auch nicht so genau.“
„Dazu ist es jetzt zu spät.“
„Das weiß ich selbst, du Vollidiot. Aber ich garantiere dir: Das war dein letzter Fehler. Du machst mir keinen Kummer mehr.“
Marc Lever wurde aschfahl im Gesicht. Er wich zur Holzwand der versteckten Jagdhütte zurück. „Aber du kannst doch nicht…“
„Natürlich kann ich“, entgegnete Pierre Margent wütend und bestimmt. „Und du weißt genau, daß ich das kann. Du hast alles verpatzt. Jetzt bekommst du die Quittung serviert.“
Marc Lever hatte keine Waffe bei sich. Hilflos und wie hypnotisiert starrte er auf das Messer in Pierres Hand. Die Klinge zeigte aufwärts.
„Du hast ihm jetzt genügend Angst eingejagt“, meinte Alan. Der dritte Mann hatte in einer der Ecken gelehnt und mit einem Stück Holz in seinen Zähnen herumgestochert. Er war noch jung. Höchstens zweiundzwanzig Jahre vielleicht. Er hatte mehr Pickel im Gesicht, als seiner Schönheit guttat.
„Halte dich hier raus, Alan. Das ist meine Sache.“
„Aber er hat es doch nur gut gemeint.“ Er spuckte das Stück Holz aus.
„Schweig!“ schrie Pierre Margent unbeherrscht. „Wir können ihn ohnehin nicht mehr brauchen.“
Der Boß der Dreiergruppe machte einen weiteren Schritt auf Marc Lever zu. Der schlotterte am ganzen Körper. Er war zu keiner Regung mehr fähig. Er klebte an der Wand wie eine Fliege am Leim. Das Messer näherte sich ihm immer mehr.
Dann stieß Pierre Margent zu. Erbarmungslos und hart. Die Klinge fuhr dem jungen Gangster bis zum Heft zwischen die Rippen. Blut sprudelte aus seinem Mund.
Pierre Margent hatte das Messer wieder herausgezogen. Er schaute zu, wie der Körper seines Kumpans langsam nach vorn kippte und krachend aufs Gesicht fiel.
„Schaff den Kerl hinter das Haus“, wandte sich der Mörder an Alan. „Als ich heute früh hier ankam, habe ich hinter der Hütte als erstes eine Grube ausgehoben. Dort legst du den Idioten hinein. Verscharre ihn und leg einige Zweige über die Stelle.“