122089.fb2
„Was zum Beispiel?“
„Wie man nach dem Tod weiterlebt.“
Im Korb unter der Guillotine lagen schon einige Köpfe. Sie starrten mit glasigen Augen in den Morgenhimmel. Blut troff aus dem Korb und rann in einem dünnen Rinnsal das Podest hinunter.
„Wann geht es endlich weiter?“ drangen Stimmen von den umliegenden Sitzplatzen herauf. „Wir haben schließlich Eintritt bezahlt!“
Louis Lavorne kümmerte sich nicht um die Leute. Die alte Hexe faszinierte ihn.
„Laß mich jetzt weiterleben“, wisperte die Hexe. „Tu so, als ob du mich köpfen würdest, und nehme irgendeines der anderen Häupter aus dem Korb heraus, das du dieser blutgierigen Meute zeigen kannst. Sie wird den Unterschied nicht merken. Ich habe ein weites Kleid an. Ich kann meinen Kopf einziehen. Wenn ich erst auf den Totenkarren geworfen werde, komme ich schon weiter.“
„Gut“, sagte Louis Lavorne. „Ich mach' es. Sag mir jetzt das Geheimnis!“
„Du mußt im Blut von drei Jungfrauen baden. Sprich dazu eine Formel.“
Sie flüsterte sie dem Henker ins Ohr.
„Bon“, sagte Louis Lavorne. Er spannte die Guillotine. Die Henkersknechte legten die Hexe auf den Block und ins geschlitzte Halseisen.
„Wie willst du mich freibekommen?“ zischte Marie Leclere, die alte Hexe.
„Gar nicht“, antwortete Louis Lavorne und grinste triumphierend. „Du stirbst, Marie!“
Dann rasselte das Fallbeil herunter.
Louis Lavorne nahm den Kopf aus dem Korb, wie er es immer tat, um ihn der mordgierigen Zuschauermeute zu zeigen.
Doch dieser Kopf, der Kopf der Hexe Marie Leclere aus Lyon, begann zu sprechen. Alle konnten es hören.
„Verflucht seist du, Henker Louis. Verflucht sei auch dein Sohn. Ihr werdet zurückkommen müssen auf diese Welt. Und ihr werdet einen zweiten Tod sterben. Einen Tod, der viel schmerzhafter ist als der meine. Denk an meine Worte, Louis Lavorne. Das Höllenfeuer wird dich verzehren. Es wird dich für immer verschlingen. Sterbe mit deiner Guillotine!“
Dann schwieg der Kopf. Für immer…
„Darf ich Ihnen noch etwas von diesem herrlichen Krabbensalat anbieten?“
„Bitte sehr“, antwortete Chantal Valet. „Er ist wirklich ausgezeichnet. Hatten Sie gedacht, daß sich in unserem guten Grenouille ein dermaßen guter Koch verbirgt?“
„Nicht die Bohne. Ich finde es immer noch unglaublich. Das Essen ist hervorragend. Ich kann es immer weniger verstehen, daß der Marquis diesen Butler nicht mitgenommen hat.“
Richard trat an den Tisch. Er hatte bisher im Hintergrund gewartet. Er schaute pikiert, wie das ein Graf nicht fertiggebracht hätte. Richard kritzelte etwas auf seinen Block.
„Ich habe nicht gekocht“, entzifferte William Corry murmelnd. „Wer dann?“ fragte er. Richard verschwand im Gang zur Küche. Wenig später kam er mit einem Mädchen zurück. Es war sehr hübsch. Keine raffinierte Schönheit wie Chantal, aber sehr natürlich. Ihre gute Figur konnte man unter dem blauen Baumwollkleid nur ahnen. Das Gesicht blickte offen, die Wangen waren leicht gerötet.
Das Mädchen machte einen Knicks.
„Was wünschen Sie?“
„Haben Sie all die Herrlichkeiten gekocht?“ fragte William.
Die Wangen des Mädchens wurden noch röter. Es nickte.
„Es freut mich, wenn es Ihnen geschmeckt hat.“
„Sind Sie die Köchin hier?“
„Nein. Ich bin die Tochter von Jean Cranisse, dem Gärtner. Mein Name ist Susanne. Wenn Not am Mann ist, helfe ich aus. Würden Sie mir sagen, was Sie heute abend zu essen wünschen?“
„Entscheiden Sie selbst darüber“, meinte William. „Ich verlasse mich ganz auf Sie.“
Er schaute das Mädchen freundlich an. Automatisch verglich er Susanne mit der Frau an seiner Seite. Susanne war fast noch ein Kind und von natürlicher Anmut. In ihrer aufrechten Haltung lag nichts Angelerntes, nichts Einstudiertes. Es war ihre naive Jugend, die sie jedem Mann reizvoll erscheinen lassen mußte. Ihr Haar war zu einem strengen Knoten nach hinten gekämmt. William stellte sich unwillkürlich vor, wie es sich wohl ausmachen würde, wenn es offen auf einem weißen Kissen läge…
„Sie können wieder gehen“, sagte Chantal, der die Blicke Williams nicht entgangen waren. Der junge Mann schaute leicht indigniert, doch er schluckte die Entgegnung, die sich ihm auf die Lippen gedrängt hatte, gerade noch hinunter. So nickte er dem Mädchen nur aufmunternd zu.
„Ein reizendes Kind“, fügte Chantal noch hinzu, nachdem Susanne wieder aus dem Zimmer verschwunden war. „Nur noch ein wenig jung und unerfahren.“
„Das muß nicht unbedingt ein Nachteil sein“, konnte es sich William Corry nicht verkneifen zu sagen. „Sie ist sehr nett.“
Jetzt war die Reihe an Chantal Valet, indigniert zu blicken, doch die Frau beherrschte sich meisterhaft. Ihre Stimme klang schon wieder honigsüß, als sie weitersprach. „Das sagte ich doch auch. Ich beneide sie um ihre Jugend.“
„Dazu haben Sie nun auch wieder keinen Grund“, lenkte William ein. „Sie gefallen mir so, wie Sie sind.“
Sie lächelte ihn gekünstelt an. „Das von Ihnen zu hören freut mich besonders.“
William Corry nahm sich vor, auf der Hut zu sein. Diese Frau hatte etwas vor mit ihm. Sonst wäre sie nicht bereit gewesen, ihn mit allen Mitteln zu umgarnen. Er wollte sehen, wie weit er bei ihr gehen konnte.
„Auf meine Komplimente brauchen Sie nicht stolz zu sein. Ich habe kaum Erfahrungen mit Frauen. Schon gar nicht mit solchen, die nach einer vagen Einladung in das Haus eines wildfremden Mannes gereist kommen. Man nennt sie Partygirls. Stimmt das?“
Chantal biß sich auf die Unterlippe. William sah ihr an, daß sie einem Gefühlsausbruch sehr nahe war. Normalerweise hätte sie jetzt wütend aufstehen und das Zimmer verlassen müssen. Doch Chantal legte nur ihr Eßbesteck beiseite und tupfte sich den Mund mit der Serviette ab. Es war offensichtlich, daß sie Zeit gewinnen wollte.
„Sie können mich nennen, wie Sie wollen. Aber bedenken Sie dabei, daß Sie mir auch unrecht tun könnten.“
„Sie sind kein Partygirl?“
„Eigentlich sollte ich Sie sitzenlassen. Wie ein Gentleman benehmen Sie sich nicht.“
„Ach, wissen Sie. Ich lege keinen großen Wert darauf, als Gentleman zu gelten. Mein Vater wurde vor drei Tagen in diesem Haus ermordet. Der ganze Gefühlsballast, der damit zusammenhängt, erdrückt mich fast. Ich kann jetzt nicht Süßholz raspeln. Zu einer anderen Zeit würde ich mich vielleicht auch anders verhalten.“
Er hatte ihr eine Gelegenheit zum Einlenken gegeben. Weiter durfte er nicht mehr gehen, wenn er herausbringen wollte, was sie von ihm wollte. William Corry bemühte sich, nicht darauf zu achten, daß er mit einer schönen Frau zusammen war. Er taktierte jetzt als geschickter Anwalt. Chantal fiel auch prompt auf die neue Masche herein. William Corry spielte seine Rolle als offener Amerikaner, der sein Herz auf der Zunge trug, ausgezeichnet.
„Entschuldigen Sie bitte“, sagte Chantal. „Ich sehe ein, daß ich mich danebenbenommen habe. All das hier“, sie blickte sich um, „das muß Sie ja bedrücken. Sicher haben Sie Ihren Vater sehr geliebt.“
„Sicher“, bestätigte William. „Das kann einen Mann schon aus der Fassung bringen.“
„Ich fühle mit Ihnen. Wollen wir vergessen, was vorher war? Es war meine Schuld.“
„Machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Schon vergessen.“