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„Ja“, sagte William gepreßt. „Führen Sie mich bitte. Einmal muß ich diese Kammer sehen.“
„Dann folgen Sie mir.“
Jean Cranisse betrat das größere der beiden Treibhäuser. Er züchtete darin Rosenhybriden und eine Vielzahl von hochwüchsigen Lilienarten sowie andere Gewächse, die William nicht kannte.
Ranken griffen wie Fangarme bis zur Mitte des Ganges. Dann bückte sich der Gärtner.
„Einen Augenblick noch“, sagte er. „Ich muß noch einige Töpfe beiseite stellen.“
William Corry wartete, bis Jean Cranisse eine Falltür freigeräumt hatte.
„Die Falltür habe ich angelegt“, meinte der Gärtner dazu. „Ich habe gedacht, daß man den Gang darunter benutzen könnte, um darin die Gladiolenzwiebeln überwintern zu lassen. Die Temperatur ist genau richtig. Sie müssen aufpassen, daß Sie nicht in die Kästen treten. Einige habe ich dort aufbewahrt. Jetzt sind sie leer. Aber Sie könnten sich verletzen.“
„Ist kein Licht dort unten?“
„Ich habe eine Taschenlampe.“
Jean Cranisse öffnete die Falltür und verschwand in der Öffnung. „Sie müssen den Kopf einziehen. Am Anfang ist es ein wenig eng. Aber das dauert nicht lange.“
William Corry folgte dem Mann. Er leuchtete ihm mit einer starken Stablampe den Weg aus. Der Lichtkreis zeigte sechs Stufen, die in das Dunkel hinabführten. William Corry konnte es nicht verhindern, daß ihn die Aufregung überfiel wie der Schatten einer düsteren Wolke an einem sonnenbeschienenen, Tag.
Cranisse schien den Gang sehr gut zu kennen. Mit traumwandlerischer Sicherheit bahnte er sich einen Weg zwischen den Holzkästen hindurch, die an den Wänden des Ganges aufgestapelt waren. William hatte Mühe, ihm zu folgen.
Dann verschwanden die Kisten an den Wänden. Der Gang war durch den gewachsenen Fels gehauen worden und führte leicht abwärts.
„Existieren Pläne über die unterirdische Anlage des Schlosses?“ fragte William den vor ihm gehenden Gärtner.
„Es gibt bestimmt welche. Ich habe sie einmal durch Zufall gesehen. Marquis de Lavorne hatte einmal Pläne vor sich ausgebreitet gehabt, als ich in sein Schreibzimmer kam. Er hat mir gesagt, daß es sich um alte Pläne des Kellers handelte.“
„Wissen Sie, wo er diese Pläne aufbewahrte?“
„In seinem Schreibzimmer, nehme ich an. Genau weiß ich es nicht. Sie könnten auch in der Bibliothek liegen. Die befindet sich im linken Turm, wenn Sie vor dem Schloß stehen.“
„Und wo ist das Schreibzimmer des Marquis?“
„Ihr Vater hat es vollkommen neu eingerichtet, wie mir meine Tochter erzählte.“
William Corry schwieg. Sie waren vor einer mächtigen Holztür stehengeblieben.
„Helfen Sie mir?“ bat Jean Cranisse. „Der Riegel geht so schwer. Ich war vor Jahren das letztemal auf dieser Seite der Tür - damals war ich jünger.“
William zog mit an der schweren Eichenbohle. Sie bewegte sich nur widerwillig in den angerosteten gußeisernen Halteschienen. Doch mit der Kraft Williams war das Hindernis schnell beseitigt. Cranisse legte den Balken in die Ecke hinter der Tür und machte sie auf. Sie quietschte in den Angeln. Das Geräusch hallte dumpf wieder.
„Warum ist das Echo so dumpf hier?“ fragte William Corry.
„Das habe ich mich auch schon gefragt“, meinte Cranisse. „Wahrscheinlich gibt es hier irgendwo ein unterirdisches Wasserreservoir. Der Brunnenschacht ist auch nicht weit von hier entfernt. Chateau Brumbeau ist unabhängig von der kommunalen Wasserversorgung.“
Sie kamen in einen größeren Raum. Auf den ersten Blick schien er leer.
Während seiner Erklärung hatte Cranisse sich gedreht. Der Strahl seiner Taschenlampe streifte dabei eine Kiste. Sie war groß und mit Eisen beschlagen.
„Was ist mit dieser Kiste?“ fragte William.
„Welche Kiste?“
„Hier. Rechts von mir.“
William Corry war neben sie getreten.
Cranisse richtete den Strahl seiner Taschenlampe in die Richtung Williams.
„Seltsam“, sagte er. „Die Kiste hat hier nichts zu suchen. Sie hat früher immer im Nebenraum gestanden. Es ist die Kammer mit der Guillotine. Jemand muß sie hier herübergebracht haben. Aber wer könnte so etwas Unsinniges machen?“
„Die Mörder meines Vaters zum Beispiel.“
Der Gärtner sagte nichts mehr. Er ging nun ebenfalls zur Kiste. „Das Schloß ist auch zerstört“, sagte er.
William Corry hob den Deckel an. Er war schwer. Dann leuchtete die Stablampe des Gärtners in das Innere der Truhe.
Ein rotes Tuch lag darinnen. Doch als William es herausnahm, entpuppte es sich als knöchellanger Kittel. Noch etwas lag in der Truhe.
Eine rote Kapuze.
Beide Kleidungsstücke waren von rostroten Flecken übersäht.
Eingetrocknete Blutflecken.
Einige der Flecken waren heller.
Sie waren frisch.
Bestimmt nicht älter als drei Tage.
Der Gärtner wurde blaß. „Das ist die Kutte von Louis de Lavorne, dem Henker.“ Er bekreuzigte sich.
„Haben Sie der Polizei erzählt, daß die Truhe aus dem Raum mit der Guillotine verschwunden ist?“
„Es war mir nicht aufgefallen. Ich habe nichts gesagt. Es wäre wohl richtig gewesen?“
„Schon möglich. Sie brauchen sich deswegen keine Sorgen zu machen. Ich werde das den Polizisten erklären. Aber wieso kommt es, daß die Mordkommission diesen Raum nicht auch untersucht hat? Die müßten doch die ganzen Gewölbe durchstöbert haben.“
„Von der anderen Seite sieht man nicht so ohne weiteres, daß hier eine Tür ist. Es ist eine Geheimtür. Aber wie man von der anderen Seite den Riegel herausbringt, weiß ich nicht.“
„Gehen wir hinüber.“
William Corry ließ die Kutte in die Truhe zurückfallen und den Deckel zurücksinken.