122098.fb2 Der Wiedersacher - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 1

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Pünktlich mit dem Beginn des Frühlings war der Winter zurückgekehrt. Die ganze Nacht über hatte es geregnet, als probe die Natur für eine neue Sintflut, und mit dem ersten Licht der heraufziehenden Dämmerung – falls man das stumpfe Bleigrau, das in die Wolken zu fließen begann wie graueTinte in Ballen aus aufgeweichtem schwarzem Löschpapier, Licht nennen wollte – begann der Regen noch kälter zu werden. Kleine, spitze Eisnadeln mischten sich in die schräg vom Himmel stürzenden Wasserschleier, und als die Sonne aufging – ein verwaschener gelber Fleck, nicht ganz rund, mit zerfasernden Rändern und kaum nennenswerter Leuchtkraft – , wurde aus dem Eisregen Schnee und aus dem Morast, in den sich die Wege verwandelt hatten, ein klebriger Sumpf, im dem Eis glitzerte wie hineingestreutes Glas.

Salid haßte dieses Land. Nein – er haßte den Winter, seine Kälte, die jede Bewegung zur Qual machte, und seine Nässe, die einem das Gefühl gab, unter Wasser zu atmen. Das Land war ihm egal. Es war ihm so gleichgültig wie seine Menschen oder die Länder und Menschen irgendeiner anderen Region in diesem kalten, nassen Teil der Welt. Er hatte einige von diesen Menschen getötet – Salid hatte nicht Buch geführt, aber er schätzte, daß es eine Zahl irgendwo zwischen dreißig und fünfzig sein mußte, eher mehr als weniger – , aber er hatte keinen von ihnen gehaßt. Die allermeisten hatte er nicht einmal gekannt. Haß war keine gute Kraft. Haß war destruktiv und schädlich, und er zerstörte nur zu oft nicht nur die, gegen die er gerichtet war, sondern auch den, der ihn aufbrachte. Salid Ibn Yussuf, weit besser bekannt unter dem Namen Abu el Mot, mit dem er in ungefähr zwei Dutzend Ländern der westlichen Welt einen guten Platz in der Hitparade der zehn meistgesuchten Terroristen belegte, wußte nicht einmal wirklich, was Haß war. Er hatte ihn nie verspürt, und das war auch gut so. Haß war eine Flamme, die heiß und schnell brannte und sich nicht nur irgendwann unweigerlich selbst verzehrte, sondern auch den Blick für die Realität trübte. Salid hatte zu viele gute Männer für Ziele sterben sehen, die es nicht wert waren. Was er tat, tat er aus Überzeugung, und das war eine gute Kraft, eine Kraft, die ein Leben lang hielt und ihren Besitzer stärker machte, statt ihn aufzuzehren. Wenn er tötete, dann, weil es getan werden mußte, mit dem gleichen Kalkül und aus den gleichen Beweggründen heraus vielleicht, aus denen ein Schachspieler die Figuren auf seinem Brett bewegte und manchmal opferte. Salid sah das, was er tat, gerne als eine Art großes Spiel an, ein Schachspiel, bei dem sich zwar mehr als zweiunddreißig Figuren auf weit mehr als vierundsechzig Feldern gegenüberstanden, das aber trotzdem nach festen Regeln von Zug und Gegenzug, Aktion und Reaktion gespielt wurde, von Schlagen und Geschlagenwerden. Er war selbst ein ganz guter Schachspieler – nicht überragend, aber ganz passabel – und er hatte einen gewaltigen Vorteil auf seiner Seite: Er war in einer Position, in der zwar auch er sich an gewisse Regeln zu halten hatte, diese Regeln aber weitestgehend selbst bestimmen konnte – und sie seinen Gegnern aufzwang. Vielleicht war das der Grund, aus dem er so erfolgreich war; zumindest aber der, weshalb er so gefährlich war. Salid tötete nicht aus irgendwelchen Gefühlen heraus, sondern mit der Präzision und dem unerbittlichen Desinteresse einer Maschine.

Dabei war Salid alles andere als der typischeTerrorist; sofern es in diesem Gewerbe überhaupt eine typische Karriere gab. Er war als einer von drei Söhnen einer wohlhabenden, wenn auch nicht wirklich reichen palästinensischen Kaufmannsfamilie aufgewachsen und hatte in den beiden ersten Jahrzehnten seines Lebens weder existentielle Not noch unerträgliches Unrecht erlebt, zumindest nicht am eigenen Leib. Denn sein Vater hatte es stets verstanden, sich mit beiden Seiten zu arrangieren, den Israelis und der PLO und ihren diversen Splitter– und Konkurrenzgruppen; ja, es war ihm sogar mit dem unnachahmlichen Geschick eines arabischen Händlers, dessen ganze Größe einem Nicht-Muslim niemals klar werden würde, gelungen, sich und die Seinen unbeschadet durch das Gewirr von familiären, religiösen, politischen, weltanschaulichen, prinzipiellen oder auch einfach nur willkürlichen Verstrickungen, gegenseitigen Verpflichtungen und angezeigten Rücksichtnahmen zu lavieren und dabei auch noch seinen Geschäften nachzugehen. Und – und das war das Erstaunlichste überhaupt – er hatte all dies vollbracht, ohne sich dabei den Groll irgendeiner Seite zuzuziehen. Salid hatte eine Jugend gehabt, um die ihn neunundneunzig Prozent seiner Landsleute beneidet hätten: Geld, Frauen, Reisen – nichts von alledem im Überfluß, aber niemals so wenig, daß er irgend etwas entbehrt hätte – und Leere. Eines Morgens war er in einem billigen Hotelzimmer inTel Aviv aufgewacht, hatte den im Schlaf zusammengerollten Körper der billigen Prostituierten neben sich betrachtet und den Nachgeschmack des billigen Whiskys auf der Zunge verspürt und sich gefragt, ob das alles war, was er von seinem Leben erwartete: alles möglichst billig zu bekommen. Manchmal, wenn er darüber nachdachte, wieso sich sein Leben so radikal anders entwickelt hatte als das seiner beiden Brüder und all seiner Jugendfreunde, glaubte er, daß die Entscheidung an jenem Morgen gefallen war. Es hatte noch lange gedauert, ehe irgend etwas geschehen war – Jahre, um genau zu sein – , aber an diesem Morgen war der erste Stein ins Rollen gekommen: ein winziger Kiesel, so klein, daß man nicht einmal ein Klicken hörte, und doch groß genug, um eine Lawine auszulösen.

Salid fuhr sich mit der linken, von gleich zwei Handschuhen gegen die beißende Kälte geschützten Hand über das Gesicht und verzog die Lippen, als er Eis in seinem Bart spürte. Salid war, zumindest nach mitteleuropäischen Maßstäben, ein gutaussehender Mann; ein Umstand, den er sich schon mehr als einmal zunutze hatte machen können. Seine Freunde behaupteten, er sehe aus wie Omar Sharif in seinen besten Tagen. Seine Feinde bestritten dies nicht, versäumten aber niemals, hinzuzufügen, daß ihm sowohl Sharifs Charme als auch seine weltmännische Art abgingen, sein Blick aber dafür verschlagen wie der einer Ratte sei. Im Moment fühlte er sich jedoch allerhöchstens wie eine erfrorene Ratte.

Dabei kam ihm und dem halben Dutzend anderer, die seit dem vergangenen Abend hier saßen und um die Wette froren, der plötzliche Wetterumschwung nur recht. Kälte und Regen hatten auch die letzten Spaziergänger aus der ohnehin einsamen Gegend verscheucht, und niemand, der seine fünf Sinne – oder auch nur ein paar davon – beisammen hatte, würde ohne wirklich zwingenden Grund mit einem Wagen hierherkommen. Der einzige, auf keiner Karte eingezeichnete Weg, der zu dem stacheldrahtumzäunten – und ebensowenig auf einer Karte zu findenden – Camp zweieinhalb Kilometer entfernt führte, war schon bei gutem Wetter eine Marterstrecke. Aufgeweicht und halb weggespült, wie er jetzt war, grenzte es an Tollkühnheit, ein Fahrzeug hierher zu lenken, das sich nicht auf Ketten oder besser gleich Schwimmkufen bewegte.

Salid und die fünf anderen waren zu Fuß gekommen, vor mehr als zwölf Stunden. Sie würden nicht zu Fuß wieder gehen, zumindest nicht auf dem gleichen Weg, auf dem siegekommen waren, denn sie hatten eine Überraschung in Form einer acht Pfund schweren Splittergranate im eisigen Morast des Waldweges zurückgelassen; nur für den fast – aber eben nur fast – ausgeschlossenen Fall, daß irgend jemand doch auf die Idee kommen sollte, Stoßdämpfer und Achsen seines Wagens einem besonderen Härtetest zu unterziehen. Wenn ja, würde er anders ausfallen, als ihm lieb war. Auf jeden Fall erheblich kürzer.

Die sechs Männer boten im Moment keinen sehr guten Anblick. Ihre pelzgefütterten Parkas waren dunkel und schwer vor Nässe und die Gesichter gerötet vor Kälte, aber zugleich auch blaß, denn keiner von ihnen hatte in der zurückliegenden Nacht mehr als eine Stunde geschlafen. Die gefleckten Tarnhosen, die sie trugen und deren beabsichtigter Effekt sich mit der ersten Schneeflocke ins Gegenteil verkehrt hatte, waren mit Morast bespritzt und so steif, daß sie bei jeder Bewegung wie Stanniolpapier knisterten. Trotzdem war Salid zufrieden. Der Regen hatte alle Spuren weggespült, und der Schnee, der seit einer halben Stunde fiel, deckte nun auch die Asche des kleinen Feuers zu, das sie angezündet hatten; sorgsam so abgedeckt, daß kein noch so schwacher Lichtschein ihre Gegenwart verraten konnte.

Das einzig Saubere an ihnen waren die Waffen: vier russische Kalaschnikows, ein amerikanisches Mr6 und Salids umgebautes G3-Gewehr, eine deutsche Präzisionswaffe, die er nachträglich mit einem selbstgebastelten, aber höchst effektiven Schalldämpfer und einem Nachtsichtgerät versehen hatte. Das war eine Eigenheit von Salid; eine der wenigen Schwächen, die er sich erlaubte: Er benutzte stets die Waffen derer, gegen die er kämpfte. Wenn sie seinen Ansprüchen nicht entsprachen, so verbesserte er sie eben. Salid war auch der einzige, der die Kapuze seines Parkas nicht hochgeschlagen hatte, sondern trotz der beißenden Kälte barhäuptig dasaß und sich nicht einmal die Mühe machte, das Gesicht aus dem Wind zu drehen, und das, obwohl er von allen hier vielleicht am meisten unter der Kälte litt.

»Sie kommen.«

Salid hob den Kopf, blinzelte aus rotgeränderten Augen nach Süden und griff dann ungeschickt nach dem Funkgerät, das neben ihm an einem Baum lehnte. Er stieß es um. Salid fluchte leise in seiner Muttersprache und zerrte den Fäustling mit den Zähnen herunter. Darunter kam das schwarze Leder eines zweiten Handschuhs zum Vorschein, mit dem er nach dem Gerät griff und es an der Antenne aus dem Schlamm zog, in den es gefallen war. Umständlich wischte er es an seiner Jacke sauber und drückte die Sprechtaste.

»Meute an Leitwolf. Wiederholen.« Seine Stimme klang so, wie sein Gesicht aussah: Beides vergaß man nie wieder wirklich, wenn man ihm einmal begegnet war. Er sprach ein so akzentfreies Deutsch, als wäre er in diesem Land aufgewachsen – aber das galt für das halbe Dutzend anderer Sprachen, das er beherrschte, genauso.

»Sie kommen«, wiederho lte die Stimme aus dem Funkgerät. »Eine halbe Stunde zu früh, aber sie sind es. Sind gerade an mir vorbeigefahren. Sie fahren ziemlich schnell.«

Ein Stirnrunzeln erschien auf Salids Gesicht. Er mochte es überhaupt nicht, wenn sich jemand nicht an die Spielregeln hielt – und die besagten eigentlich, daß der Wagen erst in gut dreißig Minuten hier sein sollte; eher später, wenn man den plötzlichen Wettersturz bedachte. Eine Sekunde lang blickte er das Funkgerät ärgerlich an. Dann nickte er, stand mit einer fließenden Bewegung auf und sagte: »Gut. Bleib, wo du bist, und halt die Augen offen.«

Er schaltete ab und ließ das Sprechgerät in der Jackentasche verschwinden. Seine Bewegung hatte die anderen aufsehen lassen, und sie mußten sowohl seine Worte als auch die andere Hälfte des Gespräches verstanden haben, die aus dem Funkgerät gekommen war. Trotzdem sahen sie ihn nur an, bis er eine Handbewegung machte. »Es geht los.«

Die Männer reagierten mit einer Präzision, die jahrelangen militärischen Drill verriet. Rasch und ohne ein überflüssiges Wort ergriffen sie ihre Waffen, löschten ihre Zigaretten im Schnee und steckten die Kippen ein. Ihre Bewegungen waren schnell, aber ein wenig ungelenk. Die Nacht in Kälte und Schnee hatte sie Kraft gekostet und ihren Muskeln die Geschmeidigkeit genommen. Aber Salid wußte, daß sie so präzise und tödlich wie programmierte Maschinen funktionieren würden, wenn es soweit war. Sehr viel mehr waren sie in seinen Augen auch nicht.

Beinahe lautlos verließen sie den Platz, an dem sie die Nacht zugebracht hatten, ohne mehr Spuren als ein paar Abdrücke im feuchten Boden und die erloschene Feuerstelle zurückzulassen. Regen und Schnee würden dafür sorgen, daß niemand etwas damit anfangen konnte.

Sie bewegten sich ungefähr hundert Meter weit durch den verschneiten Wald, ehe Salid als erster den Weg erreichte und anhielt. Er griff in dieTasche, zog ein kleines Kästchen mit einer einzelnen roten Taste und einem ebenfalls rot leuchtenden Lämpchen heraus und drückte den Schalter.

Das Licht wurde grün. Die Granate war jetzt nicht mehr scharf. Aus eng zusammengekniffenen Augen spähte er den Weg hinab. Die Bäume standen hier besonders dicht. Regen und Schnee hatten die Äste schwer werden lassen, so daß sie sich wie die Kuppel eines grünweiß gefleckten Domes über dem Waldweg schlossen und das Licht fast vollständig wegfilterten. Wie immer nach einem heftigen Schneefall war es sehr still, so daß das Motorengeräusch des näher kommenden LKWs beinahe schon überdeutlich zu hören war, lange, ehe der Wagen selbst in Sicht kam. Er mußte noch weit hinter der nächsten Biegung des Weges sein.

Salid entsicherte sein Gewehr und ließ sich auf ein Knie sinken. Er bewegte ein paarmal das linke Bein, bis sein Knie eine flache Kuhle in den Schnee und den darunterliegenden Matsch gewühlt hatte, in der es sicher ruhte. Dann richtete er den Lauf der Waffe auf die Stelle, an der der LKW auftauchen mußte. Er zielte freihändig, trotz der mehr als zwanzig Pfund, die die Waffe mitsamt ihrer Zusatzausstattung wog. Zweimal mußte er umgreifen. Das G3 war ein wenig kopflastig geworden, so daß es einige Sekunden dauerte, ehe der Lauf mit dem klobigen Schalldämpfer-Aufsatz zu zittern aufhörte.

Ganz langsam kam das Motorengeräusch näher. Eine halbe Minute verging, dann eine, zwei … schließlich tauchte der Wagen hinter der Biegung auf: ein schwerer Armee-Laster in NatoOliv, die gefleckte Tarnplane über der Ladefläche dunkel und eingebeult vom Wasser, das sich darauf gesammelt hatte. Die Scheibenwischer arbeiteten rasend und gleichmäßig, um die geteilte Frontscheibe sauber zu halten, aber die Gestalten der beiden Männer im Führerhaus waren trotzdem nur als verschwommene Umrisse zu erkennen. Selbst die großen Zwillingsreifen des Fahrzeuges hatten Mühe, auf dem aufgeweichten Boden Halt zu finden. Der Laster schaukelte wild von einer Seite zur anderen; manchmal drehten die Räder durch und schleuderten kleine Dreckfontänen hoch. Der Motor heulte protestierend, denn der Fahrer quälte den Wagen im ersten oder zweiten Gang über den Weg, um überhaupt noch von der Stelle zu kommen. Weißer Dampf quoll aus dem Kühlergrill, wie der Atem eines alt gewordenen Drachen, der sich schnaubend durch sein verzaubertes Reich quälte.

Das G3 senkte sich um eine Winzigkeit. Salids Finger krümmte sich um den Abzug, fand den Druckpunkt und verharrte noch einmal. Als der Wagen noch zehn Meter entfernt war, zog er durch, zweimal hintereinander und so schnell, daß er kaum Zeit fand, den Gewehrlauf zwischen den beiden Schüssen um Millimeter zu schwenken. Das doppelte, leise Pfffhump der Schüsse ging vollkommen im Dröhnen des Motors unter.

Zwei oder drei Sekunden lang geschah gar nichts. Der Wagen grub sich einfach weiter auf wühlenden Rädern durch den Schlamm, wie ein stöhnendes Ungeheuer, das durch nichts zu stoppen war; dann brach er plötzlich aus, stellte sich quer und kippte fast um. Der Motor heulte schrill und protestierend, beruhigte sich wieder und tuckerte im Leerlauf weiter. Weißer Rauch quoll aus den rostzerfressenen Auspuffrohren und begann auf den Weg herabzusinken.

Salid hob seine Waffe ein wenig. Der Lauf deutete jetzt auf einen der verschwommenen Schatten hinter der Windschutzscheibe. Er bewegte sich. Aus dem Inneren des Lasters erscholl ein wütendes »Goddam! «, dann flog die Beifahrertür auf, und eine Gestalt in einer dunkelgrünen Uniform sprang aus dem Wagen – um prompt bis über die Knöchel im Morast zu versinken. Noch immer wütend vor sich hin fluchend, zerrte der Mann die Füße aus dem Morast, hielt sich mit der linken Hand am Kühler des Lasters fest und stapfte, nach vorne gebeugt, als kämpfe er gegen einen nicht vorhandenen Sturm, um den Wagen herum.

Ein dritter, noch lauterer Fluch kam über seine Lippen, als er die beiden geplatzten Vorderreifen sah. Mit einem ärgerlichen Schnauben ging er in die Knie, legte beide Hände um das Rad und zerrte sinnlos daran.

Das G3 gab ein weiteres, gedämpftes Pfffhump von sich, und in der Windschutzscheibe des Wagens erschien ein daumen

nagelgroßes Loch, eingewoben in ein Spinnennetz winziger ineinanderlaufender Risse und Sprünge. Der verschwommene Schatten dahinter machte einen grotesken Satz und sank in sich zusammen. Alles ging so schnell und leise, daß der Soldat auf der anderen Seite des Wagens es nicht einmal merkte.

Es hätte ihm auch nichts genutzt.

Der Lauf des G3 schwenkte herum, schob sich ein wenig weiter vor, verharrte – und gab zum viertenmal dieses leise, tödliche Geräusch von sich. Der Soldat sank in der Hocke nach vorn, prallte mit dem Gesicht gegen den Reifen und kippte zur Seite.

Seit den ersten beiden Schüssen war nicht einmal eine Minute vergangen.

Salid richtete sich auf, trat an die Fahrertür und riß sie auf, den Lauf seiner Waffe schräg nach oben gerichtet. Aber da war nichts mehr, worauf er hätte schießen müssen. Der Fahrer – ein junger Bursche von allerhöchstens zwanzig Jahren – hing zusammengesunken über dem Lenkrad. Auf seinem Gesicht lag ein durch und durch erstaunter Ausdruck, aber kaum Schmerz. Das kleine, runde Loch zwischen seinen Augen blutete nicht einmal sehr stark. Dafür war sein Hinterkopf praktisch nicht mehr vorhanden. Die doppelt faustgroße Wunde in der Schädeldecke denToten dampfte in der Kälte.

Salid warf die Waffe über denToten hinweg auf den Beifahrersitz, zerrte den Leichnam aus dem Wagen und durchsuchte rasch dessen Taschen. Er fand einen kleinen, in Plastik eingeschweißten Ausweis, den er an sich nahm. Zwei seiner Begleiter ergriffen denToten und schleiften ihn in den Wald, gerade weit genug, daß er vom Weg aus nicht sofort gesehen werden konnte. Es war überflüssig, die Leichen gut zu verstecken. Alles was sie brauchten, war eine halbe Stunde.

Der Rest der Aktion verlief so schnell und präzise, wie sie sie geübt hatten: die beiden Toten verschwanden im Wald, während zwei der Angreifer große, an Feuerlöscher erinnernde Stahlflaschen brachten, aus denen eine Mischung aus Preßluft und schnelltrocknendem Schaumstoff in die zerschossenen Reifen zischte. Der Wagen richtete sich schaukelnd wieder auf, noch immer mit ein wenig Schlagseite, aber für den Rest der kurzen Strecke fahrbereit. Die Preßluftflaschen verschwanden auf der Ladefläche, und einer der Männer trat an das Führerhaus und brach den Scheibenwischer über der zerschossenen Scheibe mit einem kurzen, harten Ruck ab, ehe er auf den Beifahrersitz kletterte und dieTür hinter sich zuzog. Dreißig Sekunden später war der letzte der verbliebenen vier Angreifer unter der Plane verschwunden.

Der Motor des Lasters heulte auf. Schaukelnd setzte das schwerfällige Fahrzeug zurück, grub sich selbst aus dem Morast heraus und richtete die Schnauze wieder in seine ursprüngliche Richtung. Seit dem ersten Schuß waren knapp zwei Minuten vergangen.

Salid hatte sich aus Parka und Tarnhosen geschält, währenddie anderen die Spuren des Überfalls verwischten. Darunter war die dunkelblaue Uniform eines Staff-Sergeants der US-AirForce zum Vorschein gekommen. Das G3 lag entsichert über seinen Knien und schaukelte wild hin und her, während er Gasund Kupplungspedal des zwanzig Jahre alten Ford betätigte. Seine linke Hand fuhr über Gesicht und Kinn und entfernte den weißen Schimmer aus seinem Bart. Seine Augen waren zu schmalen Schlitzen zusammengepreßt. Er sah nicht viel durch die zerschossene Scheibe, denn der Schnee fiel immer heftiger, und das abgebrochene Ende des Scheibenwischers schien ihm spöttisch zuzuwinken. Er war nervös. Alles war bisher genau nach Plan verlaufen, er hatte keinen Grund, nervös zu sein, aber er war nervös, und diese Nervosität allein war Grund genug, ihn noch nervöser zu machen. Irgend etwas stimmte nicht. Er wußte nicht, was es war, er konnte sich nicht einmal denken, was es war, aber da war etwas; so deutlich, daß er es fast anfassen konnte.

Der Wagen rollte noch zehn oder zwölf Meter weit den Berg hinab, ehe die Reifen auf dem hartgefrorenen Randstreifen zu rumpeln anfingen und Brenner behutsam auf die Bremse tippte. Er verlor dadurch mit Sicherheit fünf oder sechs Meter, viel leicht sogar mehr, denn die Straße verlief noch ein gutes Stück weit abschüssig, aber das Risiko, daß die Reifen auf dem Gemisch aus Schnee und angefrorenem Matsch den Halt verloren und der Mitsubishi sich querstellte oder gar ins Schleudern kam, war zu groß. Diese fünf oder sechs Meter ärgerten ihn ungemein – obwohl er sich gleichzeitig sagte, was für ein Unsinn das war. Er hatte fünf oder sechs Kilometer Fußmarsch vor sich – wenn er Glück hatte. Wenn nicht, konnten es auch gut zehn werden. Bei eisigem Schneefall, noch eisigerem Wind, mit leichten Sommerschuhen und nur in Jacke und Hose. Brenner dachte mit einem lautlosen Seufzen an Mantel und Handschuhe, die er in seinem Hotelzimmer in Frankfurt vergessen hatte. Das hieß – genaugenommen hatte er sie gar nicht vergessen. Er hatte sie auf seinem Zimmer liegenlassen und sich schon auf dem Weg in die Tiefgarage daran erinnert, daß der Winter in den letzten beidenTagen zurückgekehrt war, und die Wahrheit war, daß er schlicht zu faul gewesen war, noch einmal hinaufzufahren und sie zu holen. Schließlich hatte sein Wagen eine gut funktionierende Heizung. Und einen fast leerenTank. Aber die Strecke, die er zu fahren hatte, betrug kaum hundert Kilometer, und so war er im Vertrauen auf Gott und die Eurocard-Gesellschaft um halb sechs Uhr morgens losgefahren.

Einer von beiden hatte ihn im Stich gelassen.

Brenner hatte zu spät begriffen, daß er mit der kleinen Bequemlichkeit, nicht noch einmal in den Aufzug zu steigen und seinen Mantel zu holen, eine Kettenreaktion in Gang gesetzt hatte, an deren Ende ein möglicherweise stundenlanger Spaziergang durch den verschneitenTaunus stand. In seinem Mantel befanden sich nämlich nicht nur die Handschuhe, sondern auch seine Brieftasche mit sämtlichen Papieren, Schecks und dem allergrößten Teil seines Bargeldes. Brenner hatte in dem schmalen Portemonnaie, das er in der Gesäßtasche trug, nichts als seine goldene Eurocard und etwas über sieben Mark in bar gefunden. Fünf davon hatte er für Zigaretten ausgegeben, und was die Kreditkarte anging – Wenn Sie mit derEurocard zahlen.zeigen Sie, daß Sie gut mit Geld umgehen können. Ha, ha, ha! – , war sie nicht das Plastik wert, auf das sie gedruckt war. Bei der ersten Autobahntankstelle, an der er vorbeigekommen war, war der Kartenautomat kaputt gewesen; die zweite hatte das Ding erst gar nicht angenommen. Und der Tankanzeiger war unerbittlich weiter gesunken. Schließlich hatte er die Autobahn verlassen, um eine Tankstelle zu suchen, die Kreditkarten akzeptierte, oder eine Bank oder irgendein Postamt, auf dem er mit diesem verfluchten Scheißding Geld bekommen konnte.

Und damit hatte die Katastrophe erst richtig begonnen. Er hatte keine Tankstelle gefunden. Eine Bank oder ein Postamt auch nicht. Genaugenommen nicht einmal eine Stadt. Seit er die Autobahn verlassen hatte, mußte er sich in irgendeinem unbekannten – und vor allem unbewohnten – Land befinden, denn er hatte nicht ein einziges Schild gesehen. Kein Hinweis auf die Autobahn, keine Bundesstraßen-Schilder, keine Ortsschilder – geschweige denn ein Ort-, nichts. Er mußte durch eine Art Dimensionsfalte oder so etwas gerutscht sein, dachte er, die ihn auf eine Parallelwelt geführt hatte, auf der es Bäume und Straßen und Schnee gab, aber keine Menschen. Und kein Benzin. DerTank war leer, basta. Die Anzeige stand schon seit gut fünf Minuten unter Null.

Trotzdem griff er nach dem Zündschlüssel, drehte ihn herum und versuchte den Motor zu starten. Das Ergebnis war genau so, wie er erwartet hatte: der Anlasser drehte sauber und schnell durch, aber der Motor des Space-Wagon tuckerte nicht einmal. Im Tank mußte mittlerweile so etwas wie Vakuum herrschen.

»Was wird das, wenn es fertig ist?« fragte Astrid stirnrunzelnd. »Willst du die Batterie leerorgeln?«

Brenner ließ gehorsam den Zündschlüssel los, aber er widerstand der Versuchung, das dunkelhaarige Mädchen auf dem Beifahrersitz anzusehen oder gar etwas zu sagen, was ihm wahrscheinlich im gleichen Moment schon selbst leid täte. Der zweite große Fehler an diesem Tag: er nahm normalerweise nie Anhalter mit. Aber das Mädchen hatte ihm einfach leid getan, wie es dagestanden hatte, zitternd vor Kälte, den winkend erhobenen Daumen ebenso blaugefroren wie die Lippen und mit Augen, die so groß und dunkel wie die eines verschreckten Rehs waren. Mittlerweile waren sie schmaler geworden und ihr Blick sehr viel härter. Das Mißtrauen darin war selbst mit einer gewaltigen Portion guten Willens nicht mehr zu übersehen. Während der letzten Minuten war ihre rechte Hand immer öfter in die Jackentasche geglitten und hatte an irgend etwas darin herumgefingert. Brenner vermutete, daß sie eine Spraydose mit Tränengas, ein Messer oder irgendeinen anderen Blödsinn darin trug. Blöde Kuh. Er konnte sie verstehen; das Leben einer Anhalterin, zumal wenn sie so jung und attraktiv war, barg gewisse Risiken. Aber trotzdem: blöde Kuh.

»Sieht so aus, als wäre der Sprit alle«, sagte er lahm.

»Ja, so sieht es aus.« Astrid nickte. Ihre Hand schloß sich fester um das, was immer sie in der Jackentasche trug.

»Der Tank ist wirklich leer«, sagte Brenner. Seine Stimme klang gereizt. Astrid schien sich nicht darüber im klaren zu sein, daß er sich in einer Stimmung befand, in der er nur nach jemandem suchte, an dem er seine schlechte Laune auslassen konnte. »Was glaubst du eigentlich, wonach ich in den letzten zehn Minuten verzweifelt gesucht habe?«

Das Mädchen war klug genug, nicht zu antworten. Aber sein Blick sprach Bände. Brenner zerrte mit einer wütenden Bewegung den Zündschlüssel aus dem Schloß und rammte ihn regelrecht in die Jackentasche. Er hatte Scheibenwischer und Licht ausgeschaltet, und die Windschutzscheibe war schon zur Hälfte zu; bedeckt von einer millimeterdünnen Schicht aus Eis, das in kleinen Stücken abwärts rutschte und dabei einen dünnen Film auf dem Glas hinterließ, der sofort wieder gefror. Die Heizung hatte im gleichen Moment, in dem er den Schlüssel abzog, aufgehört, einen Strom warmer Luft in den Wagen zu pusten, und obwohl Brenner ganz genau wußte, daß es unmöglich war, glaubte er die Kälte bereits zu spüren, die in den Wagen kroch. »Sieht so aus, als würden wir laufen müssen«, sagte er.

»Wir?« Astrid zog die rechte Hand aus derTasche, und Brenner versteifte sich für eine halbe Sekunde. In der nächsten 21

Sekunde kam er sich reichlich dämlich vor. Astrid zog eine Packung Marlboro und ein Bic-Feuerzeug aus der Jacke, bediente sich und zuckte wortlos die Achseln, als sie ihm die Packung hinhielt und er ablehnte.

»Wieso wir?«

»Ich habe keine Ahnung, wie lange ich bis zur nächsten Tankstelle brauche«, antwortete er. »Vielleicht Stunden. Du würdest erfrieren, wenn du im Wagen bleibst. Es kann verdammt kalt werden. «

Astrid ließ ihr Feuerzeug aufflammen und nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette. Der Rauch stieg ihr in die Augen und ließ sie tränen. »Warum warten wir nicht einfach?« fragte sie, während sie sich mit den Fingerknöcheln der freien Hand über die Augen fuhr und ein Husten unterdrückte. »Irgendwann kommt schon ein Wagen vorbei, den wir anhalten können.«