122098.fb2 Der Wiedersacher - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 10

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»Der Schnitt ist ziemlich tief«, sagte Sebastian. »Ich bin nicht sicher, daß er richtig heilt. Ich sollte das nähen. Keine Angst ich verstehe mich auf so etwas. Wir versorgen kleinere Verletzungen hier immer selbst.«

»Nähen?« Astrid wurde noch blasser. Ihr Blick saugte sich an dem Kunststoffetui mit der Nadel fest.

»Es wird ein wenig weh tun«, sagte Sebastian. »Aber nicht sehr. Wenn wir es nicht tun, dann wirst du zum Arzt gehen müssen – ob du willst oder nicht.«

Eine sonderbare Formulierung, fand Brenner. Zumindest für jemanden, der nicht wußte, was mit Astrid los war.

Das Mädchen überraschte ihn erneut, indem es sich nervös mit der freien Hand über das Gesicht fuhr und dann sagte: »Also gut. Aber machen Sie schnell, ehe ich's mir anders überlege. «

Sebastian beeilte sich tatsächlich, aber er arbeitete trotzdem sehr sorgfältig und, obwohl seine Hände eher geeignet schienen, mit Eisenbahnschwellen zu jonglieren, mit erstaunlichem Geschick; schon um Astrid nur ein Mindestmaß an Schmerzen zuzufügen. Trotzdem war ihr Gesicht aschgrau, als er den letzten von insgesamt fünf Stichen gesetzt und den Faden mit einer winzigen Schere dicht über der Haut abgeschnitten hatte.

»Gleich ist es vorbei«, sagte er. »Einen Moment noch. Ich trage eine Salbe auf, die kühlt und den Schmerz ein wenig lindert. «

Astrid hatte während der ganzen, trotz allem sicher sehr schmerzhaften Prozedur keinen Laut von sich gegeben, aber nun schwankte sie ein wenig auf ihrem Stuhl. »Ich glaube, mir wird schlecht«, sagte sie. »Wo haben Sie hier – ?«

» DieToilette?« Sebastian deutete auf dieTür. »Auf der anderen Seite. Es ist die einzigeTür. Brauchst du Hilfe?«

Sie stand auf, hielt sich einen Moment lang mit der unverletzten Hand an derTischkante fest und ging dann mit unsicheren, kleinen Schritten los. Sie atmete langsam und gezwungen tief. »Beim Kotzen? Danke. Das … schaffe ich noch alleine.«

Brenner konnte ein Lächeln nicht mehr ganz unterdrücken, als er Sebastians Verblüffung registrierte. Trotzdem behielt er Astrid aufmerksam im Auge und folgte ihr, um nötigenfalls sofort zugreifen zu können. Sie atmete jetzt schneller, und er konnte sehen, daß sie immer krampfhafter schluckte, um sich nicht schon hier drinnen übergeben zu müssen.

Er begleitete sie bis zur Tür, schloß sie dann aber fast hastig hinter ihr, als sie zu laufen begann und er begriff, daß sie

es schaffen würde. Brenner verspürte eine sonderbare Mischung aus Mitleid und Bewunderung für ihre Tapferkeit. Wenn es etwas gab, was er fürchtete, dann waren es Schmerzen.

Als er sich wieder herumdrehte, begegnete er Sebastians Blick. Einem sehr sonderbaren Blick, der auf eine sehr sonderbare Weise auf ihn gerichtet war. Brenner glaubte regelrecht zu sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Plötzlich erinnerte er sich wieder an jenen anderen, auch nicht sehr angenehmen Blick, mit dem Sebastian ihn und das Mädchen gemustert hatte, als er sie draußen im Wald auflas und daran, wie nahe sie beieinander gestanden hatten, als er gerade das Zimmer betrat. Ohne daß er selbst wirklich sagen konnte, warum, fühlte er sich mit einem Male genötigt, sich zu verteidigen.

»Ich glaube, ich muß Ihnen erklären – «

»Das war sehr freundlich, was sie gerade getan haben«, sagte Sebastian.

Brenner verstand nicht einmal, was er meinte. »Was?«

»Ich habe einen Teil Ihres Gespräches mit angehört«, erklärte Sebastian. Er deutete auf das Tablett auf demTisch, dann zurTür. »Ich hatte ein wenig Mühe, dieTür zu öffnen, so daß ich unfreiwillig lauschen mußte. Es ist sonst nicht meine Art, aber in diesem Fall bin ich froh, es getan zu haben. Ich hatte einen … «, er wirkte plötzlich fast verlegen, »… anderen Eindruck, als ich Sie vorhin traf. Einen falschen.«

»Sie ist ein bißchen jung für mich«, sagte Brenner. Sebastians Worte machten ihn nun verlegen. »Außerdem war es nicht ganz so uneigennützig, wie Sie vielleicht glauben.« »So?«

»Das Mädchen tut mir leid, und?« fragte Brenner. Verrückt aber er hatte immer mehr das Gefühl, sich verteidigen zu müssen, nur weil er für eine Sekunde freundlich gewesen war. Wieso eigentlich, verdammt? »Außerdem kann ich mir so für die drei Groschen einesTelefonanrufes das Gefühl verschaffen, ein gutes Werk getan zu haben.«

»Tun Sie gern Gutes?« wollte Sebastian wissen.

Brenner war nun vollends verstört. Unter allen anderen denkbaren Umständen und an jedem anderen vorstellbaren Ort wäre dieses Gespräch ebenso pathetisch wie albern gewesen, aber hier nicht. Vielleicht lag es einfach an der simplen Tatsache, daß Sebastian seine Holzfällerkleidung gegen eine Mönchskutte eingetauscht hatte – selbst für einen so überzeugten Agnostiker, wie Brenner einer zu sein sich einbildete, noch immer die Kleider jener Männer, die traditionell für Begriffe wie Vertrauen, Verständnis und Selbstlosigkeit standen. Wie fast jeder fühlte er sich in einer solchen Umgebung befangen.

»Warum nicht?« antwortete er ausweichend. »Ja-ich denke schon. «

»Nun, dann sollten Sie wissen, daß niemand selbstlos handelt, der Gutes tut«, sagte Sebastian. » Es ist immer ein Geschäft. Sie tun ein gutes Werk, und Sie bekommen etwas dafürein Dankeschön, eine Anerkennung oder auch nur das Wissen, etwas Positives getan zu haben. Das macht es nicht kleiner.«

So hatte Brenner das noch gar nicht gesehen. Er war auch nicht sicher, daß dieser Gedanke so stimmte. Wenn das Sebastians Vorstellung von der Essenz des Evangeliums war, war sie doch sehr vereinfacht. Andererseits – waren nicht alle großen Dinge in Wahrheit auch sehr einfache Dinge?

Seine Gedanken begannen in eine Richtung zu wandern, die ihm nicht gefiel. Er löste sich mit einem Ruck von seinem Platz an der Tür, ging zum Fenster und lehnte sich mit verschränkten Armen so gegen die Wand, daß er Sebastian und den kleinen Ausschnitt der Welt draußen gleichzeitig im Auge behalten konnte.

»Wo wir schon einmal dabei sind«, sagte er, ohne Sebastian direkt anzublicken. »Ich habe mich noch gar nicht für Ihre Hilfe bedankt. Ich hoffe, Sie bekommen unseretwegen keinen Arger.«

»Mit Bruder Antonius?« Sebastian erinnerte sich offensichtlich an jedes Wort, das er gesagt hatte. »Um ehrlich zu sein – ich habe es ihm noch gar nicht gebeichtet. Aber er wird mir schon nicht den Kopf abreißen.«

»Wenn Sie wollen, rede ich selbst mit ihm«, sagte Brenner.

Sebastian lächelte. Wahrscheinlich hatte er unwissentlich etwas sehr Dummes vorgeschlagen. »Das wird kaum nötig sein«, sagte er. »Und ich weiß nicht einmal, ob es gut wäre. Bruder Antonius empfängt sehr selten Besuch.«

»Sie haben hier draußen überhaupt sehr selten Besuch, nicht?« fragte Brenner. Er wandte seine Aufmerksamkeit nun doch wieder ihrem Gastgeber zu, doch wenn Sebastian ihm seine kaum noch verhohlene Neugier übelnahm, so verbarg er es meisterhaft.

»Eigentlich nie«, gestand er. »Wir leben hier sehr abgeschieden. Fernab von der Welt, aus der Sie stammen und das Mädchen. Manchmal ist es sehr einsam hier, aber diese Einsamkeit ist nötig, damit wir uns ganz auf unsere Aufgabe konzentrieren können.«

Brenner hütete sich, danach zu fragen, was diese Aufgabe war. Er hatte wenig Lust, sich mit Sebastian auf eine theologische Diskussion einzulassen; schon damit ihm nicht versehentlich herausrutschte, was er von alledem hielt. Wo sie schon einmal beim Thema »gute Taten und der Lohn dafür« waren: er wäre sich ziemlich schäbig vorgekommen, Sebastian für seine Hilfe zu danken, indem er ihm erklärte, daß er das, was er und seine Brüder taten, für eine Art besseren Mummenschanz hielt.

»Werden Sie Ihr Wort halten?« fragte Sebastian plötzlich. Die Frage überraschte ihn. »Ihren Eltern nicht zu verraten, wo sie ist, meinen Sie?« Brenner überlegte einige Augenblicke, ohne wirklich zu einem befriedigenden Ergebnis zu gelangen. Er hatte bisher noch gar nicht darüber nachgedacht – warum auch? Es gab keine Veranlassung, ein einmal gegebenes Wort zu brechen. Schließlich zuckte er mit den Schultern »Ich schätze, es würde niemandem etwas nutzen, wenn ich es breche«, sagte er. »Obwohl es wahrscheinlich richtig wäre. Es ist für ein Mädchen wie sie nicht ga nz ungefährlich, sich ganz allein dort draußen herumzutreiben.«

»Sie sollten sehr vorsichtig sein«, sagte Sebastian. »Sie vertraut Ihnen. Wenn Sie dieses Vertrauen brechen, richten Sie vielleicht mehr Schaden als Nutzen an.«

Als ob er das nicht wüßte! Trotzdem: »Ich fürchte, Sie leben hier wirklich ein bißchen weit weg von der richtigen Welt«, sagte er. »Wissen Sie, was einem sechzehnjährigen Mädchen alles passieren kann, das ganz allein dort draußen ist?«

»Sie ist nicht allein«, sagte Sebastian. »Gott ist hier.«

Die Oberzeugung, mit der Sebastian diese Worte aussprach, machte es Brenner schwer, wirklich zornig zu werden. Er bemühte sich, den gewohnten Zynismus, der sich sonst immer in seine Stimme schlich, wenn er über Religion sprach, ein wenig im Zaum zu halten. Er spürte allerdings selbst, daß es ihm nicht völlig gelang. »Dann hoffe ich nur, er ist auch bei ihr, wenn sie irgendeinem gewissenlosen Kerl in die Hände fällt, der sie vielleicht erst süchtig macht und sie hinterher auf den Strich schickt. Verzeihen Sie … ich will Ihnen bestimmt nicht zu nahe treten, aber ich fürchte, daß – «

»– ich keine Ahnung habe, wie es dort draußen wirklich aussieht?« fiel ihm Sebastian ins Wort. Er schüttelte den Kopf. Er sah ein bißchen verletzt aus, aber nicht zornig. »Weltabgeschieden heißt nicht weltfremd, mein Freund. Oder gar dumm. Ich kenne die Gefahren, von denen Sie sprechen. Ich kenne sie nur zu gut. Ich gebe Ihnen sogar recht – es wäre vernünftiger, Ihr Wort zu brechen und sie nach Hause zu schicken. Wenn Sie es wünschen, benachrichtige ich sofort die Behörden. Ich frage mich nur, was wir ihrer Seele damit antun.«

»Ihrer Seele?« In seiner Stimme war ein Klang von Spott, den er nicht unterdrücken konnte. Es tat ihm leid, daß das Gespräch in diese Richtung zu gehen begann, aber er gab Sebastian mehr die Schuld daran als sich. Wieso hatte er davon angefangen? Brenner hatte nicht einmal daran gedacht, Astrid reinzulegen. Wieso unterstellte er ihm mit seiner Frage eine Absicht, die er nie gehabt hatte?

Sebastians Blick wurde eine Spur härter. »Ihren Glauben daran, daß es noch ein paar ehrliche Menschen auf der Welt gibt, wenn Sie diese Definition dem Wort Seele vorziehen«, sagte er. »Er wäre vielleicht für alle Zeiten zerstört.«

Brenner brachte es auf den Punkt. »Sie wollen sagen, daß ich mich auf jeden Fall falsch entschiede, ganz egal, wie ich mich auch entscheide.«

»Manchmal muß man das Falsche tun, um noch größeres Unheil zu vermeiden«, bestätigte Sebastian. »Und manchmal weiß man vielleicht nicht einmal, welche der beiden Möglichkeiten die falschere ist.«

»Ich … glaube, das verstehe ich nicht ganz«, sagte Brenner verwirrt.

»Vielleicht kommt eines Tages der Moment, an dem Sie es verstehen«, sagte Sebastian. Er stand auf. »Doch nun entschuldigen Sie mich. Es wird Zeit für unser gemeinsames Gebet. Versprechen Sie mir, in diesem Raum zu bleiben, bis ich zurück bin? Es wird nicht lange dauern. Vielleicht eine halbe Stunde. Danach bringe ich Sie und das Mädchen ins Dorf.«

»Gibt es dort eine Bank?« fragte Brenner.

Sebastian war bereits auf dem Weg zur Tür, blieb aber jetzt noch einmal stehen. »Ein Postamt«, sagte er. »Warum?«

»Weil mir nicht nur das Benzin, sondern auch das Bargeld ausgegangen ist«, gestand Brenner. »Eine Tankstelle allein würde mir nicht viel nutzen, fürchte ich.«

Sebastian blickte fragend, und Brenner erklärte ihm mit wenigen Worten, wie das Mädchen und er überhaupt in diese mißliche Lage geraten waren. »In dem einen oder anderen Punkt haben Sie vielleicht sogar Recht, den Fortschritt zu verdammen. Ohne dieses moderne Plastikgeld wären wir gar nicht in diese Verlegenheit gekommen.«

»Und jetzt hätten Sie gerne ein wenig von unserem guten alten Papiergeld«, vermutete Sebastian lächelnd.