122098.fb2 Der Wiedersacher - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 12

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»Genaugenommen hast du es ihm versprochen«, antwortete Astrid. »Außerdem – stell dich nicht so an. Ich will schließlich nichts stehlen, sondern mich nur umsehen, das ist alles.«

»Bitte tu das nicht«, sagte Brenner noch einmal. »Ich habe ihm mein Wort gegeben, und das sollte auch für dich gelten.« Natürlich hätte er ebensogut mit dem Türrahmen sprechen können – und strenggenommen tat er das auch, denn Astrid war bereits weitergegangen und hatte sich nach rechts gewandt, so daß er sie nicht mehr sah.

Mit einer Mischung aus Resignation und allmählich müde werdendem Zorn folgte er ihr. Er konnte sie schließlich schlecht mit Gewalt zurückhalten.

Astrid hatte sich bereits ein paar Schritte von derTür entfernt und fast den Durchgang zum Innenhof erreicht, als er sie einholte. Brenner war mittlerweile beinahe so weit, sie doch mit Gewalt zurückzuhalten, aber gerade, als er die Hand heben wollte, um nach ihr zu greifen, blieb sie von sich aus stehen.

Vielleicht, weil es vor ihr nicht viel zu sehen gab; zumindest nichts Interessantes. Hinter dem Torbogen erstreckte sich ein rechteckiger Innenhof, der in seiner Schlichtheit schon fast wieder majestätisch wirkte – Astrid hätte ihn wahrscheinlich als langweilig bezeichnet. Er war nicht sehr groß, und es gab nur drei oder vier Türen, die in die angrenzenden, aus gewaltigen Quadern errichteten Gebäude führten. Auf der gegenüber liegenden Seite gewahrte Brenner eine Anzahl schmaler, tief

ein geschnittener Fenster, hinter denen man eine Bewegung zu erahnen glaubte. Der Hof war mit großen, sorgsam geglätteten Natursteinen ausgelegt, und die Dächer bestanden aus schwerem Schiefer, dem ungezählte Jahrhunderte eine silberne Patina verliehen hatten. Alles an diesem Gebäude erschien übermäßig groß und wuchtig. Dabei gab es überhaupt keinen Grund dafür, dachte Brenner. Wenn ihn sein hobbymäßig erworbenes Wissen um Architektur und Festungsbau nicht im Stich ließ, dann mußte diese sonderbare Mischung aus Burg und Festung aus dem neunten oder zehnten Jahrhundert stammen, einer Zeit, in der es noch nicht nötig gewesen war, sich vor Kanonen und Mörsern hinter immer dicker werdenden Wänden zu verstecken. Um so mühsamer mußte es dafür gewesen sein, Hunderte und Aberhunderte Tonnen von Steinquadern hierherzuschaffen; denn das Baumaterial stammte eindeutig nicht aus dieser Gegend.

»Komm«, sagte er. »Laß uns zurückgehen. Hier gibt es nichts zu sehen. «

Astrid zögerte, wenn auch nur eine Sekunde und wahrscheinlich aus dem einzigen Grund, daß sie ihm aus Prinzip nicht sofort gehorchen wollte. Schließlich nickte sie, drehte sich mit einem resignierenden Seufzen herum – und hob überrascht den Kopf.

»Was ist das?«

»Was ist was? « Auch Brenner lauschte, im ersten Moment allerdings vergeblich. Doch dann hörte er es auch: einen fernen, fast regelmäßigen Laut, der fremd und zugleich vertraut klang – so als würde jemand weit entfernt in einem großenTopf Popcorn machen. Sehr weit entfernt und in einem sehr großen Topf.

Astrid ging mit raschen Schritten an ihm vorbei und in das Torgewölbe zurück. Das Geräusch hielt noch einige Sekunden lang an und brach dann ab, kaum daß sie den halben Schritt zur Brücke hinter sich gebracht hatten.

»Warte! « rief Brenner. Er mußte schon wieder laufen, um Astrid einzuholen, aber zumindest stimmte die Richtung jetzt.

Sebastian würde kaum etwas dagegen einzuwenden haben, daß sie sich den Waldrand ansahen.

Sie erreichten die heruntergelassene Zugbrücke und blieben wieder stehen. Astrids Blick glitt unstet von rechts nach links und wieder zurück. Sie wirkte sehr angespannt. »Was war das?« murmelte sie. »Das gefällt mir nicht.«

Brenner konnte ihr nicht einmal widersprechen. Er wußte noch immer nicht genau, wo er diesen seltsamen Laut einordnen sollte, aber er spürte genau, daß er ihn kannte, und es war dieses Beinahe-Wiedererkennen, das ihn mit Beunruhigung erfüllte. Es war …

… ein Laut, den er unzählige Male zuvor gehört hatte. Niemals in Wirklichkeit, aber doch oft: im Kino, im Fernsehen, in Videofilmen. Das abgehackte Stakkato eines Maschinengewehrs.

Aber das konnte nicht sein! Das war nicht möglich! So etwas geschah nicht. Nicht wirklich. Und nicht hier.

»Dort«, sagte Astrid plötzlich. Sie deutete nach Süden. »Sieh doch! «

Brenners Blick folgte der Geste, und was er sah, ließ ihn für eine Sekunde vollends an seinem Verstand zweifeln. So dicht über den Bäumen, daß die Rotoren einen weißen Schleier aus den Wipfeln peitschten, raste ein Helikopter heran. Das Motorengeräusch klang schrill und ungleichmäßig, und er flog nicht ganz gerade, sondern taumelte wie eine betrunkene Riesenlibelle.

Eine Sekunde später tauchte ein zweiter Helikopter über dem Wald auf, der den ersten ganz offensichtlich verfolgte. Beide Maschinen schienen zu brennen, denn sie zogen zerfetzte weiße Rauchschleier hinter sich her.

»Was ist denn das?« murmelte Astrid. Erst als sie fortfuhr, begriff Brenner, daß sie nicht das Geschehen meinte, sondern einen der beiden Hubschrauber. »Das Ding sieht ja aus wie Blue Thunder. «

»Ein Apache«, antwortete Brenner automatisch, obwohl es ihm fast aberwitzig erschien, in diesem Moment über einen

Film zu reden. Immerhin – es gab etwas, was sie beide interessierte … »Er war das Vorbild für den Film. Aber das … das ist ein Kampfhubschrauber. Was, zumTeufel – «

Unter dem wie abgeschnitten aussehenden Bug des Apache loderte orangerotes Feuer. Ein schriller, heulender Laut erscholl, einem Fanfarenstoß fast ähnlicher als dem Geräusch von Schüssen, und der kleinere Helikopter torkelte zur Seite wie ein Schmetterling, der von einer flachen Hand mitten im Flug getroffen worden war.

»Um Gottes willen«, flüsterte Brenner. »Sie … sie schießen!« Ihm kam nicht einmal der Gedanke, daß das Mädchen und er in Gefahr sein konnten, obwohl sich die beiden Maschinen genau auf das Kloster zubewegten. Sie waren noch zwei oder drei Kilometer entfernt; Sekunden, bei dem irrwitzigen Tempo, in dem sie heranjagten.

»Vielleicht drehen sie einen Film«, murmelte Astrid. Ohne daß es ihr selbst bewußt gewesen wäre, war sie dichter an Brenner herangerückt. Sie zitterte.

Die nächste Salve, die der Apache auf den flüchtenden Chopper feuerte, enthob Brenner einer Antwort. Sie verfehlte ihr Ziel, aber die Geschosse fuhren mit einem hörbaren Klatschen in die Baumwipfel, zerfetzten Blätter und Äste, prasselten wie stählerner Regen auf die Zugbrücke und zertrümmerten die dünne Eisdecke des Flusses.

» Um Gottes willen! « schrie Brenner. »Weg hier! «

Er fuhr herum, riß das Mädchen mit sich und rannte in den Schutz des Torgewölbes zurück. Astrid schrie und begann wild um sich zu schlagen, wie eine Ertrinkende, die ihren Retter mit sich in die Tiefe zu ziehen drohte, aber Brenner zerrte sie einfach weiter hinter sich her. Das Heulen der beiden Hubschrauber wurde lauter, und wieder erscholl dieser schrille, stählerne Posaunenstoß, mit dem die modifizierte Gatlin-Gun des Apache ihre Geschosse ausspie.

Brenner blickte sich im Laufen um und sah, daß der kleinere Helikopter sowohl an Tempo als auch an Höhe verloren hatte und sich in spitzem Winkel der Brücke näherte. Vielleicht hoffte der Pilot, daß die andere Maschine nicht auf ihn feuern würde, um das Gebäude nicht zu treffen.

Es war eine trügerische Hoffnung. Brenner hörte das furchtbare Geräusch der Maschinenkanone, noch bevor er den Apache sah, der wie ein flammenspuckendes Ungeheuer vom Himmel stürzte. Die Salve verfehlte den Helikopter, aber sie traf genau in denTorbogen.

Es war vorbei. Brenner wußte, daß sie jetzt sterben würden, aber er hatte nicht einmal Angst. An der Spitze einer rasend schnell länger werdenden Kette aus Explosionen, die Steinsplitter bis gegen die Decke des Gewölbes schleuderten, rannten Astrid und er auf das jenseitige Ende des Tunnels zu, ohne die allerkleinste Chance, es zu erreichen.

Brenner spürte, wie er getroffen wurde.

Es tat nicht einmal weh. Und vielleicht war es gerade dieser Umstand, über den er sich wirklich Sorgen machen sollte, denn genaugenommen fühlte McCormack überhaupt nichts, nicht einmal die klebrig-feuchte Wärme, die in einem roten Strom zwischen seinen Fingern hindurchquoll und seine Hose und den Kunstlederbezug des Sitzes tränkte. Von einer imaginären Linie zwei Finger über seinem Gürtel abwärts an war sein Körper vollkommen taub.

McCormack wußte, was diese Taubheit zu bedeuten hatte, aber der Gedanke, gelähmt zu sein, erschreckte ihn nicht wirklich. Er drang nicht einmal richtig an sein Bewußtsein, ebensowenig wie jene zweite Erkenntnis, daß er sich keine großen Sorgen um die durchtrennten Nerven in seinem Rücken zu machen brauchte. Sein Leben als Querschnittgelähmter würde nicht lange dauern. Allerhöchstens so lange, wie er brauchte, um zu verbluten.

McCormack fühlte sich sonderbar leicht, auf eine Art fröhlich und gelassen, die an das Gefühl erinnerte, wenn er sich einen seiner seltenen Joints gegönnt hatte, nur viel angenehmer; denn es war vollkommen frei von jeder Schuld oder schlechtem Gewissen. Was ihm zugestoßen war, war ja auch zu absurd, als daß er irgend etwas anderes tun konnte, als sich darüber zu amüsieren. Lächelnd betrachtete er das winzige, kreisrunde Loch in der Glasscheibe vor sich. Die Panzerung hatte die MG-Salve zuverlässig abgehalten, viel besser sogar noch, als die Konstrukteure dieser Wundermaschine versprochen hatten. Von sicherlich fünfzig Geschossen hatte nur ein einziges die Panzerglasscheibe durchschlagen, hatte einen blutigen Kanal in seine Eingeweide gegraben, ihm das Rückenmark zerschmettert und ein sauberes Loch in die Rückenlehne seines Sitzes gestanzt, ehe es schließlich im Boden steckengeblieben war. McCormack konnte fühlen, wie das Leben aus ihm heraussprudelte, in einem klebrigen, warmen Strom, der nur deshalb bereits nachließ, weil der Druck in seinen Adern nicht mehr groß genug war, um ihn aufrechtzuerhalten. Wenn er die Hände herunternahm, würden ihm die Eingeweide auf die Knie fallen. Er wußte, was ein Geschoß wie das, das ihn getroffen hatte, in einem menschlichen Körper anrichtete. Er wollte Styper diesen Anblick ersparen. Außerdem würde die Wunde noch heftiger bluten, wenn er sie nicht weiter zusammenpreßte, und McCormack hatte schon eine Menge Blut verloren. Er machte sich ein bißchen Sorgen, daß die Kanzel bis unter das Dach vollaufen und sie in all dem Blut ertrinken würden.

Hysterie, konstatierte er mit einem kleinen, noch klar gebliebenen Teil seines Bewußtseins. Es ging zu Ende. Gott, er wußte nicht einmal, wer ihn umgebracht hatte!

Mühsam hob McCormack den Kopf. Er mußte sich entscheiden, ob er nach links zu Styper oder geradeaus zu dem anderen Helikopter sehen wollte – er war nicht sicher, ob er noch die Kraft hatte, beides zu tun. Er entschied sich für den Chopper.

Die Maschine war höchstens noch zweihundert Meter entfernt. McCormack hatte gehört, daß Styper zwei-oder dreimal auf sie gefeuert hatte, und mindestens einmal hatte er getroffen, denn sie zog eine schmierige, grauweiße Rauchwolke hinter sich her und wurde immer langsamer. Irgendwo vor ihnen war etwas, das dunkler und massiver aussah als der Wald, über den sie dahinjagten, aber es dauerte eine Weile, bis McCormack es als Gebäude identifizierte: ein Kloster oder eine kleine Burg vielleicht. Der Pilot des Chopper hielt darauf zu, wohl in der Annahme, daß Styper es nicht wagen würde, auf ihn zu schießen, wenn er das Gebäude als Deckung nutzte.

McCormack wußte, wie wenig ihm das nutzen würde. Styper würde selbst dann das Feuer auf ihn eröffnen, wenn seine eigene Mutter in der Schußbahn stand. Er hatte seit seinem Eintritt in die Air-Force nur für den Moment gelebt, in dem er die Waffen dieser Kampfmaschine endlich einmal benutzen durfte.

Der Chopper stieß jetzt in immer steilerem Winkel auf das Kloster herab; noch ein paar Grad mehr, und aus seinem Sturzflug würde ein echter Sturz. McCormack sah zwei winzige Gestalten, die unter dem großen Torbogen standen und plötzlich herumfuhren, um davonzustürzen.

Styper feuerte. McCormack sah, daß der Chopper getroffen und zur Seite geschleudert wurde. Glassplitter explodierten aus seiner Kanzel, und McCormack glaubte etwas Großes, Dunkles aus der Maschine und in den Fluß stürzen zu sehen. Ganz plötzlich spürte er einen stechenden Schmerz in beiden Beinen. Er wußte, daß das unmöglich war, aber der Schmerz war da, ergriff seinen ganzen Körper und wurde immer schlimmer und schlimmer. McCormacks letzter Gedanke war, daß an all den Geschichten vom Fegefeuer und der ewigen Verdammnis vielleicht doch etwas dran sein konnte.

Styper feuerte aus allernächster Nähe eine Maverick auf den Chopper. Sie verfehlte ihr Ziel und verschwand auf einem lodernden Feuerstrahl im Inneren desTorgewölbes.

Aber da war McCormack bereits tot.

Brenner spürte nur einen Schlag. Er war so hart, daß er ihn nach vorne riß und nach einem letzten, taumelnden Schritt zu Boden schleuderte, tat aber nicht wirklich weh. Eine Art prickelnder Lähmung breitete sich in seiner Schulter und einemTeil des rechten Armes aus, und etwas Warmes und

Klebriges rann an seinem Rücken herab. Aber kein Schmerz. Was weh tat, war der Sturz. Brenner schürfte sich beide Handflächen und die rechte Wange auf, und in seinem Mund war plötzlich der bittere Kupfergeschmack von Blut. Aus den Augenwinkeln sah er, daß Astrid zusammen mit ihm vielleicht – hoffentlich! – von ihm – zu Boden gerissen worden war, dann schlitterte er wuchtig gegen die Wand des Torgewölbes und sah für einen Moment nur bunte Lichtpunkte und – blitze. Eine weitere Sekunde lang lag er reglos und mit angehaltenem Atem da und wartete auf denTod.

Er kam nicht, aber als Brenner die Augen öffnete und zurücksah, sah er ihn.

Er raste in eine flammende Lohe aus Glut gehüllt heran, ein weißglühendes, brüllendes Ungeheuer, das das Gewölbe mit einem Chaos aus Licht, Hitze und unvorstellbarem Lärm überflutete wie ein Höllenhund, der sich von seiner Kette losgerissen hatte. Es war –

Eine Rakete!

Brenners Begreifen und die verzweifelte Bewegung, mit der er sich herumwarf und schützend die Arme über das Gesicht riß, kamen praktisch im gleichen Moment; aber für eine Sekunde war er trotzdem nicht sicher, ob es nicht zu spät war. Eine Woge grausamer Hitze fegte über ihn hinweg, zu rasch, um ihn wirklich zu verletzen, aber heiß genug, jeden einzelnen Nerv in seinem Körper zum Kreischen zu bringen. Er schrie auf und hörte auch Astrids Schrei durch das Heulen des vorüberjagenden Geschosses, dann war der Dämon vorbei, raste weiter und plötzlich ein winziges Stück nach oben – und Brenner wußte, wo er einschlagen würde, eine Sekunde, bevor es wirklich geschah.