122098.fb2
Genaugenommen waren es zwei Explosionen, die im Abstand von vier oder fünf Sekunden erfolgten; vielleicht eine Funktionsstörung der Waffe, vielleicht auch die vorzeitige Explosion des Treibstoffes, der die Detonation des Sprengkopfes verspätet folgte. Der erste, fast weiße Blitz ließ sämtliche Fensterscheiben zerbersten und drückte einen Teil der Mauern nach außen; zusammen mit einer fast formlosen Gestalt, verkohlt schon vom ersten Flammenblitz der Explosion und von einer fast mannslangen Glasscheibe regelrecht gepfählt, aber noch immer am Leben, denn sie schlug mit Armen und Beinen um sich und schrie in einer schrillen, fast unmenschlichenTonart, während sie in hohem Bogen auf den Hof hinausgeschleudert wurde.
Ehe sie auf dem Boden aufschlug und ihre furchtbaren Schreie endlich aufhörten, erfolgte die zweite Explosion.
Sie war unvergleichlich stärker als die erste. Die Mauern wölbten sich nach außen, als wäre das gesamte Gebäude nichts als ein bemalter Luftballon, der im Bruchteil einer Sekunde bis zum Zerreißen aufgeblasen wurde. Die Detonation mußte Fußboden und Decke des Raumes zerschmettert haben, denn plötzlich schossen auch aus den Fenstern der darunter liegenden Etage Flammen. Die Schieferplatten des Daches wurden davongewirbelt wie Papierschnipsel, die in einem Aschenbecher verkohlten.
Dann brach die gesamte Vorderfront des Gebäudes zusammen. Die Steine verloren ihren Halt und flogen in alle Richtungen davon, begleitet und gefolgt von einem Schwall lodernder Flammen und einem ungeheuren Tosen und Poltern. Trümmer und Glut prasselten wie apokalyptischer Steinregen auf den Hof herab.
Dort, wo der Gebetsraum gewesen war, erhob sich ein Ball aus orangeroten, wabernden Flammen, und in seinem Zentrum tobte ein noch helleres, gleißendes Licht, ein höllisches Fanal von der Form eines fünf oder sechs Meter großen Kreuzes, das Flammen in alle Richtungen spie und die erlöschende Glut immer wieder neu anzufachen schien. Eine zweite, noch schlimmere Hitzewelle schlug über Brenner zusammen und ließ ihn aufschreien. Voller Entsetzen starrte er seine Hände an, von denen sich die Haut in großen, nassen Blasen abzuschälen begann, und er spürte, daß die Hitze dasselbe seinem Gesicht antat.
Plötzlich fühlte er sich gepackt und hochgerissen. Blindlings schlug er um sich, spürte, daß er etwas traf, und begriff erst, als er Astrids Schrei hörte, daß sie es war, die ihn in die Höhe gezerrt hatte.
Aber bevor er auch nur einen halbwegs klaren Gedanken fassen konnte, erbebte das Kloster unter einem dritten Donnerschlag. Astrid stieß ihn vor sich her, während hinter ihnen rote Glut durch denTorbogen hereinschoß.
Das Wasser hatte dem Sturz seine tödliche Gewalt genommen, aber es war so kalt, daß es ihn allein dadurch beinahe umgebracht hätte. Die dünne Eisdecke, die er mit einem Finger hätte eindrücken können, verwandelte sich in eine Glasscheibe, durch die er mit furchtbarer Wucht hindurchgeprügelt wurde. Die Kälte traf ihn wie ein elektrischer Schlag, der ihn lähmte und zugleich eine glühende Nadel durch sein Herz bohrte.
Salid sank bis auf den Grund des kleinen Flusses. Er versuchte automatisch, sich zu bewegen, Schwimmbewegungen zu machen oder sich wenigstens herumzudrehen, um auf irgendeine Weise wieder an die Oberfläche zu gelangen. Es ging nicht. Er war wie gelähmt. Seine Lungen brannten. Seit er aus dem Cockpit des Hubschraubers geschleudert worden war, waren vielleicht zwei Sekunden vergangen, aber er hatte keine Zeit mehr gehabt, Luft zu holen, und die Atemnot wurde bereits jetzt unerträglich. Die Kälte lähmte ihn. Seine Glieder weigerten sich noch immer, ihm zu gehorchen, und seine Kleider sogen sich rasch voll Wasser und zerrten ihn mit ihrem Gewicht zusätzlich in dieTiefe.
Trotzdem konnte er sehen, was über ihm vorging. Das Wasser des kleinen Flusses war glasklar. Er sah den verschwommenen Umriß des Helikopters, der unter den Einschlägen der Geschosse zur Seite getaumelt war wie ein Boxer unter den Hieben eines unsichtbaren Gegners, den winzigen, lodernden Stern, der auf ihn zuraste, ihn verfehlte und statt dessen in der Toröffnung verschwand und den Umriß des zweiten Kampfhubschraubers, der immer näher kam, als wolle sein Pilot nun wirklich in den Nahkampf übergehen. Eine Sekunde später explodierte die fehlgeleitete Rakete irgendwo im Inneren des Klosters. Salid sah grelles Feuer hinter der Toröffnung flackern, und er mußte flüchtig an die beiden Gestalten denken, die er gesehen hatte. Sie hatten keine Chance gehabt.
Endlich gelang es ihm, seine Glieder zu einer einzigen, matten Schwimmbewegung zu zwingen. Die Wasseroberfläche und die Umrisse der beiden Helikopter kamen immer näher, und Salid raffte noch einmal jedes bißchen Energie, das er in sich fand, zusammen, um sich weiter nach oben zu kämpfen, bis er endlich die Wasseroberfläche durchstieß und verzweifelt nach Luft schnappen konnte.
Salids Lungen füllten sich mit köstlichem, süßem Sauerstoff, und der stählerne Ring, der seine Brust zu zerquetschen begonnen hatte, zerbrach.
Der Chopper wurde von einer zweiten Salve der Gatlin-Gun des Apache getroffen und regelrecht zersägt. Die zerborstene Kanzel stürzte wie ein Stein zwanzig Meter neben Salid in den Fluß, das Heck prallte gegen die Mauer und explodierte.
Salid wurde von der neuerlichen Druck-und Hitzewelle erneut unter Wasser gedrückt, aber diesmal hatte er das Unheil kommen sehen und tief eingeatmet. Er kämpfte nicht gegen die unsichtbare Faust an, die ihn in den Schlamm des Flußgrundes pressen wollte, sondern machte im Gegenteil kräftige, schnelle Schwimmbewegungen, die ihn tief unter Wasser beförderten, weg von dem grausamen, tötenden Licht und den gefährlichen Trümmern, die den Fluß über ihm wie eine MG-Salve zerrissen. Salid wurde herumgewirbelt wie ein StückTreibholz, das einen Wasserfall hinunterschoß, aber er schwamm mit verbissener Kraft weiter, bis seine Lungen erneut nach Luft schrien und er einfach nicht mehr konnte.
Der Fluß, aus dem er emportauchte, dampfte wie eine Thermalquelle. Salid atmete keuchend ein und spürte, daß die Luft heiß war – und als er den Blick wandte, wußte er auch, warum.
Mit der Strömung trieb eine Lache aus brennendem Öl oder Treibstoff heran, um nachzuholen, was der ersten, großen Explosion mißlungen war.
Salid überschlug blitzschnell seine Chancen, ihr zu entgehen, atmete tief ein und tauchte, so rasch und so tief er konnte. Das Wasser über ihm fing Feuer, und Salid registrierte voller Schrecken, daß die Lache viel größer war, als er angenommen hatte. Aber er gestattete sich nicht, Furcht zu empfinden, die seine Reaktionen vielleicht um den entscheidenden Moment verlangsamt hätte, sondern schwamm rasch und so weit, bis er glaubte, seine Lungen müßten platzen; und auch dann noch ein Stück weiter.
Flammen versengten sein Gesicht, als er auftauchte, aber das brennende Öl war eine Handbreit von ihm entfernt. Salid stöhnte vor Schmerz, als seiner Haut binnen einer Sekunde jede Feuchtigkeit entzogen wurde und sie aufplatzte. Um seine Augen zu schützen, preßte er die Lider aufeinander. Er warf den Kopf zurück, tauchte wieder unter und entfernte sich mit panischen Schwimmbewegungen ein kleines Stück von dem brennenden Benzin. Diesmal reichte sein Atem nicht, ihn sehr weit kommen zu lassen.
Ein schrilles Heulen drang an sein Ohr. Salid sah hoch und erblickte den Apache, der noch immer über den brennenden Trümmern des Chopper kreiste, wie ein Raubvogel, der sich mißtrauisch davon zu überzeugen trachtete, daß sein geschlagenes Opfer auch wirklich tot war. Im ersten Moment kam ihm der Anblick fast absurd vor; erst dann begriff er, daß trotz allem erst wenige Sekundenverstrichen sein konnten, seit er in den Fluß gestürzt und der Chopper explodiert war. Und vielleicht war es noch nicht einmal vorbei. Die Männer dort oben mußten ihn einfach sehen.
Und wie auf ein Stichwort hin schwenkte der Apache in diesem Moment zur Seite und hielt genau auf ihn zu!
Aber irgend etwas stimmte nicht mit der Maschine. Ihr Flug war unregelmäßig und taumelnd, das Motorengeräusch wurde immer schriller. Die Turbine schien zu stottern. Aus dem wießen Rauch war schwarzer, öliger Qualm geworden, der aus einer klaffenden Wunde in ihrer Flanke drang, und die Maschine war Salid jetzt nahe genug, daß er die beiden Gestalten in ihrem Cockpit erkennen konnte. Eine von ihnen war leblos nach vorne gesunken. Also hatte ihr erster Angriff doch Erfolg gehabt. Salid begriff mit einer Mischung aus Trauer und trotziger Resignation, daß der junge Pilot recht gehabt hatte und er unrecht. Sie hätten den Apache abschießen können, hätte Salid ihn nicht daran gehindert, ein zweites Mal zu feuern. Der stählerne Vogel war bereits waidwund gewesen. Sie hatten ihn gerade lange genug am Leben gelassen, damit er ihnen folgen und sie töten konnte, ehe er selbst starb.
Der Apache kam immer näher. Salid war für einen Moment überzeugt davon, daß er direkt auf ihn herabfallen würde, um die Geschichte mit einem Paukenschlag fast biblischer Gerechtigkeit zum Abschluß zu bringen. Aber dann kippte die Maschine plötzlich zur Seite, jagte so dicht über den Fluß hinweg, daß ihre Rotoren fast das Wasser berührt hätten, und fand noch einmal in die Waagerechte zurück. Taumelnd näherte sie sich dem Ufer, schoß auf das Kloster zu und gewann dabei immer mehr an Höhe.
Beinahe hätte der Pilot es sogar geschafft.
Der Apache jagte in steilem Winkel an der Außenseite des Klosters in die Höhe. Seine Kufen streiften das Dach, rissen Schieferplatten und Holz los. Aus dem Riß in ihrer Flanke, aus dem bisher nur Rauch gequollen war, sprühten plötzlich Funken, dann Flammen. Die Maschine taumelte. Der Heckrotor fiel aus, und der Apache begann zu kreiseln. Seine Kufen berührten zum zweitenmal das Dach, zertrümmerten den First, und diesmal konnte Salid sehen, wie etwas von der Maschine abbrach. Dann kippte der Apache wie ein Reiter, der aus dem Sattel eines bockenden Pferdes stürzt, über den Dachfirst in die Tiefe.
Die Explosion erfolgte fast unmittelbar darauf. Der Blitz war so grell, daß er für einen Moment das Licht der Sonne einfach auszulöschen schien. Salid sah, wie sich das gesamte Gebäude ein Stück in die Höhe zu heben und dann mit einem berstenden Schlag wieder zurückzufallen schien, dann schossen Flammen und Licht wie aus dem Herzen eines explodierenden Vulkanes senkrecht nach oben und setzten den Himmel in Brand.
Salid tauchte, um der Druckwelle zu entgehen, drehte sich unter Wasser herum und raffte das letzte bißchen Kraft zusammen, das er noch in seinem geschundenen Körper fand, um auf das Ufer zuzuschwimmen, während über ihm die Welt inTrümmer ging.
Was er in diesem Moment am deutlichsten begriff – obwohl es im Grunde vollkommen aberwitzig war-, war dieTatsache, daß der Ausspruch: »Schlimmer konnte es nicht kommen«, eine glatte Lüge war. Ganz egal, was geschah, es konnte immer schlimmer kommen, und vielleicht gab es sogar eine Art Naturgesetz, nach dem es immer schlimmer kommen mußte. Brenners Universum war zerbrochen, in einer einzigen, rotglühenden Sekunde. Aus einem Leben, das aus Zahlen und Arbeit, aus Langeweile und nicht mehr Abwechslung als den geliehenen Abenteuern in einem Buch oder Film bestanden hatte, war ein Chaos aus Feuer und Lärm geworden, das ihn in einem sich immer schneller drehenden Strudel auf das Ende zuriß. Brenner verstand nicht mehr, was mit ihm geschah. Fast wünschte er sich zu sterben, nur damit es endlich vorbei war.
Ein harter Stoß in die Seite schleuderte ihn gegen die Wand und zugleich in die Wirklichkeit zurück. Plötzlich spürte er wieder die Hitze, fühlte das Beben des steinernen Bodens unter seinen Füßen, der sich aufbäumte und wie unter Schmerzen schrie, und hörte das schreckliche Mahlen und Bersten, mit dem sich die scheinbar so unerschütterlichen Wände rings um ihn herum bewegten wie Theaterkulissen aus dünnem Papier. Automatisch taumelte er weiter, drehte den Kopf und begriff erst in diesem Moment, wessen Hand ihn in die Höhe gezerrt hatte.
Astrids Anblick versetzte ihm einen Schock. Er erkannte sie kaum wieder. Der Großteil ihrer Haare war zu einer klumpigen Masse verkohlt; das, was er von ihrem Gesicht noch erkennen konnte, war voller Blut und Ruß. Ihre Jacke schwelte, und die Hände, mit denen sie ihn gepackt hatte, fühlten sich feucht und klebrig an. Instinktiv versuchte er vor dem schrecklichen Anblick zurückzuweichen, aber Astrid hielt ihn mit unerwarteter Kraft fest. Fast schon beiläufig registrierte er, daß der weiße Verband, den Sebastian ihr angelegt hatte, schwarz geworden war. Ihre Hand mußte gebrannt haben. Mit einem Male wurde ihm klar, daß es ihr Körper gewesen war, der ihn wie ein lebender Schutzschild vor dem Gluthauch der Rakete bewahrt hatte. »Lauf! « schrie sie. »Schnell! Es ist noch nicht vorbei! «
Gleichzeitig versetzte sie ihm einen Stoß, der ihn in das Chaos aus Flammen und glühenden Steinen auf dem Hof hineintaumeln ließ. Brenner fand nicht einmal Zeit, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Bedeutung ihrer Worte, die Unmöglichkeit, daß sie in ihrem Zustand noch stehen, noch irgend etwas tun konnte, die Frage, woher sie wußte, wohin sie gehen sollten und vor allem, was noch passieren würde – all dies wurde ihm erst viel, viel später klar und ohne daß er auch nur auf eine dieser Fragen eine befriedigende Antwort gefunden hätte. Beinahe willenlos taumelte er neben ihr her über den brennenden Hof, direkt auf das Gebäude auf der anderen Seite zu, aus dessen Türen und Fenstern noch immer Flammen schossen. Die Hitze nahm noch zu, aber Astrid trieb ihn unbarmherzig vorwärts, mit einer Kraft, die ihn überrascht hätte, hätte er in diesem Moment auch nur einen klaren Gedanken fassen können.
Er konnte es nicht. Hätte er es gekonnt, wäre er vermutlich stehengeblieben und gestorben. Astrids verbrannte Hände stießen ihn unbarmherzig vorwärts. Er stolperte, stürzte und wurde wieder in die Höhe gerissen, ehe er auch nur den Schmerz registrieren konnte, der durch seine Hände schoß, als er versuchte, seinen Sturz auf dem glühendheißen Boden abzufangen.
Mehr gestoßen und gezerrt als aus eigener Kraft erreichte er das andere Ende des Hofes und die feuergeschwärzte Wand. Er sah erst jetzt, daß eine derTüren nicht aus den Angeln gerissen oder einfach pulverisiert worden war; eine niedrige, aber ungemein massiv wirkendeTür mit einem gewaltigen Schloß. Astrid versetzte ihm einen Stoß, der ihn haltlos gegen die Wand neben der Tür schleuderte, ließ endlich seine Schulter los und berührte die Tür. Brenner konnte nicht sehen, was sie tat, er war ganz sicher, daß sie ganz bestimmt keinen Schlüssel oder etwas Ähnliches hatte – aber plötzlich schwang die Tür auf und gab den Blick auf einen halbrunden, gemauerten Gang frei, der nach kaum zwei Schritten in die ersten Stufen einer steil nach unten führenden, ausgetretenenTreppe überging.
»Lauf!« schrie Astrid. »Schnell!«
Gleichzeitig packte sie seine Schulter, riß ihn ohne erkennbare Mühe herum und versetzte ihm einen Stoß, der ihn in den Gang um ein Haar kopfüber die Treppe hinuntergeschleudert hätte. Im allerletzten Moment fand er an den rauhen Steinwänden rechts und links der obersten Stufe Halt und kämpfte eine Sekunde mit verzweifelter Kraft um sein Gleichgewicht. Die Treppe verschwand nach wenigen Stufen in stygischer Finsternis, so daß er nicht sagen konnte, wie lang sie war. Aber er spürte, daß sie weit in dieTiefe führte; sehr weit.
»Lauf! « schrie das Mädchen noch einmal. »Rette dein Leben, denn du bist unschuldig! «
Vielleicht war es die ungewöhnliche Wahl dieser Worte, die ihn innehalten ließ; vielleicht fand er auch in diesem Moment zum erstenmal zumindest ein wenig in die Wirklichkeit zurück, die so jäh zu einem Alptraum geworden zu sein schien – aber Brenner lief nicht weiter, sondern drehte sich um und sah Astrid an.
Er kam niemals dazu, seine Frage zu stellen oder überhaupt irgend etwas zu tun, geschweige denn, zu begreifen, was geschah. Alles passierte in einer einzigen Sekunde, vielleicht weniger, aber er sah, hörte, fühlte und roch plötzlich mit geradezu phantastischer Schärfe, jener Klarheit, die nur Momente absoluter Todesgewißheit hervorzubringen vermochte:
Er sah Astrid, die mit weit ausgebreiteten Armen vor ihm stand, verbrannt, auf schreckliche Weise verletzt und doch
ohne eine Spur von Schmerz oder Furcht in den Zügen, aber er sah auch den Helikopter, der über und hinter ihr über dem Dach des Klosters erschien, wie ein brennender Stern, der vom Himmel taumelte, kippte –
Und explodierte.
Das letzte, was Thomas Brenner wahrnahm, war eine lodernde Feuerwalze, die sich brüllend vom Himmel herabsenkte und die Gestalt des Mädchens in einen Mantel aus Flammen hüllte. Dann ergriff ihn die Druckwelle und schleuderte ihn rücklings dieTreppe hinunter.
Hinterher wußte Salid selbst nicht genau, wie er das Ufer erreicht hatte. Vielleicht war es purer Zufall, daß ihn seine instinktiven Schwimmbewegungen in die richtige Richtung gebracht hatten, vielleicht auch das letzte der zahllosen Wunder, denen er seine Rettung bisher verdankte. Irgendwann gruben sich seine Hände plötzlich in warmen Schlamm, undseine Überlebensinstinkte ließen seine Finger sich krümmen und zupacken. Mit letzter Kraft schleppte er sich das flache Ufer hinauf und blieb liegen. Er hatte nicht mehr die Energie, ganz aus dem Fluß zu kriechen. Vom Bauchnabel abwärts lagen sein Körper und seine Beine noch im Wasser. Aber er war zumindest nicht mehr in Gefahr zu ertrinken.
Salids verbissener Kampf gegen die Bewußtlosigkeit und damit vielleicht den Tod dauerte lange, und er hätte ihn wahrscheinlich verloren, wäre nicht ein Verbündeter des Todes plötzlich und unfreiwillig zu seinem Helfer geworden. Das Wasser wurde immer kälter. Seine Beine begannen zu prickeln, und er konnte spüren, wie sein Körper von den Füßen aufwärts allmählich taub wurde. In dem Zustand halber Bewußtlosigkeit, in dem er am Ufer lag, sah er sic h plötzlich selbst, wie sie ihn finden würden, wenn sie nachsehen kamen, was hier passiert war: tot, von den Hüften abwärts in einen kompakten Eisblock eingefroren, aus dem man seinen Leichnam heraushacken mußte, wie den des Steinzeitmannes, den sie vor ein paar Jahren in den Alpen entdeckt hatten.
Irgendwie gab ihm diese absurde Vorstellung die Kraft, sich weiter das Ufer hinaufzuziehen und auf den Rücken zu wälzen. Salid war dabei nur auf die Kraft seiner Arme angewiesen. Seine Beine waren taub und gehorchten ihm nicht mehr.
Trotzdem explodierte ein entsetzlicher Schmerz in seiner Hüfte, als er sich herumdrehte. Salid keuchte, biß die Zähne zusammen, um einen Schrei zu unterdrücken, und sah an sich herab.
Der Morast neben seinem Bein hatte sich rosa gefärbt. Wo die aufgesetzte Jackentasche gewesen war, erblickte er nun ein zerfetztes Loch, unter dem rohes Fleisch sichtbar war. Im ersten Moment glaubte er, sich die Verletzung irgendwo im Fluß zugezogen zu haben, aber dann erinnerte er sich an den Schlag, der ihn aus dem Helikopter geworfen hatte. Eines der MG-Geschosse hatte ihn getroffen. Salid hatte es nicht einmal gespürt. Bisher.
Dafür machte sich die Wunde jetzt um so deutlicher bemerkbar. Und er wußte, daß das erst der Anfang war. Die Kälte betäubte seine Nerven, aber es war nur ein flüchtiger Aufschub, den er um so teurer würde bezahlen müssen. Die Wunde blutete nicht einmal sehr stark, aber Salid sah Knochensplitter hervortreten.
Ganz plötzlich wurde ihm klar, daß es vorbei war. Selbst wenn er die nächste Stunde überlebte und selbst wenn er entkam – Salid wagte nicht zu schätzen, welche von beiden Möglichkeiten die unwahrscheinlichere war – , würde er nie wieder der sein, der er noch vor einer Stunde gewesen war. Er war schwer verletzt und würde nie wieder richtig gehen können. Sein Gesicht war verbrannt; Salid hatte genug Verbrennungen gesehen, um zu wissen, daß er deutliche Narben zurückbehalten würde. Welche Verletzungen er noch davongetragen hatte, wußte er nicht, aber er wußte, daß es welche gab. Im gleichen Maße, in dem die lähmende Kälte nachließ, meldeten sich die Schmerzen. Überall. Es war ein Wunder, daß er sich überhaupt noch bewegen konnte. Aus Abu el Mot, dem Vater des Todes, war Salid der Krüppel geworden, das Narbengesicht – in einem einzigen, unachtsamen Moment, wegen der Unerfahrenheit eines Piloten und seines eigenen Leichtsinns, nicht auf das ungute Gefühl gehört zu haben, das ihn warnte.
Jeder andere an seiner Stelle hätte jetzt vielleicht aufgegeben. Doch Salid empfand keine Verzweiflung, sondern eine tiefe, fast schon heitere Gelassenheit, die ihn mit Kraft aus einer neuen, bisher unbekannten Quelle versorgte. Er bildete sich nicht ein, noch irgend etwas gewinnen zu können. Er bildete sich nicht ein, überleben zu können. Abu el Mot hatte seinen letzten Kampf gekämpft und verloren. Er hatte als Krieger gelebt, und er war als Krieger gestorben.